Schwitzen unterm Hollerbusch
Leonie hat gestern die ganze Kutschfahrt über, das ganze Abendessen lang und schließlich die ganze Nacht gejammert und gewimmert.
»Hast du Kaka?«, fragt Anne vor dem Frühstück. Leonie schüttelt nur traurig den Kopf. Ich auch. Eine Journalistin sollte sich echt gewählter ausdrücken. Außerdem fällt Verdauung unter Privatsphäre. Wenn mich Anne eines Morgens beim Verlassen des Schrankklos fragen würde, ob ich »Kaka habe«, würde ich mich sofort von ihr scheiden lassen. Auch Leonie scheint das Thema unangenehm zu sein. Sie entfernt sich immer wieder ein paar Meter von Anne und mir, hält sich am Bett oder am Schreibtisch fest und drückt mit zusammengepressten Lippen so sehr, dass ihr Tränen in die Augen treten. Irgendwann wimmert sie vor Schmerz. Alles klar: Verstopfung.
»Wir müssen das irgendwie aus ihr rauskriegen«, stellt Anne sachlich fest, als wäre sie ein Raumschiffcaptain, dessen Assistentin von Aliens geschwängert wurde. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die beiden, während ich im Internet nach Tipps des Familienministeriums suche. Dort finde ich »Das Ah und Oh beim schreienden Kind«, »Wickeln ein- und beidhändig«, »Das perfekte Schlaflied«, aber keine »Tipps zum Lockern von Verstopfung«.
Anne geht auf Leonie zu, aber die weicht zurück. Kann ich verstehen.
»Ich will dir doch nur helfen.«
Leonie schiebt die Unterlippe vor und dreht scheu ein Bein zur Seite. Sie flüstert etwas.
»Wie bitte?«, fragt Anne. »Wenn du etwas willst, musst du lauter sprechen.« Sie wendet sich zu mir und erklärt: »Kleine Kinder wissen oft am besten, was ihnen hilft. Wenn Leonie bei uns zu Hause Verstopfung hat, trinkt sie immer die Vinaigrette aus der Salatschüssel.«
»Wie überaus interessant«, erwidere ich und widme mich wieder meinen Recherchen. Da spüre ich, dass mich Leonie und Anne anstarren.
»Sag das noch mal«, flüstert Anne tonlos.
Leonie schaut mich traurig an. »Caspar bitte helfen.«
Das kann jetzt nicht ihr Ernst sein. Wie soll ich denn einer Zweieinhalbjährigen beim Stuhlgang assistieren? Rizinusöl einflößen? In der Armbeuge Furzgeräusche imitieren?
»Ich kann ja mal aus der Küche einen doppelten Espresso holen, der hilft meistens. Oder eine filterlose Zigarette.«
»Caspar bitte Kolette machen!«, sagt Leonie.
Ich sehe Anne fragend an, aber die zuckt nur mit den Schultern. »Mich will sie nicht dabeihaben.« Sie holt den Toilettenaufsatz aus der Tasche und drückt ihn mir in die Hand. »Stell dich nicht so an, sie ist nur ein Kind.«
Leonie kommt auf mich zu und streckt die Hand aus. Also klappe ich den Computer zu. Das war die Theorie, jetzt kommt die Praxis.
Im Schrank lege ich den Toilettensitz auf die Brille.
»Windel ausziehen«, verlangt Leonie. Na gut, wird schon nicht so schwer sein. Also: Schuhe und Hose aus, dann knöpfe ich den Body über ihrer Schulter zusammen, wie ich das bei Anne gesehen habe. Zuletzt setze ich Leonie auf den Toilettensitz und mich davor. Leonie starrt mich an, als wollte sie mich hypnotisieren. Ihre Beine reichen nicht mal bis zum Boden. Ich erinnere mich an Annes Du-musst-drücken-Präsentation, atme ein und presse die Luft in den Bauch. Leonie fixiert mich weiterhin.
»Na gut, Leonie, was soll ich machen?«
Keine Reaktion. Wir starren uns an wie Henry Fonda und Charles Bronson in »Spiel mir das Lied vom Tod«, bevor die beiden losballern. Draußen klopft jemand an der Tür. Von wegen schalldicht! Gedämpft höre ich Annes Schritte, dann Adorés Stimme, die nach mir verlangt. Meine Retterin.
Leonie stöhnt.
Anne erklärt Adoré da draußen, dass ich gerade »sehr beschäftigt« sei. Eigentlich würde ich meine Angelegenheiten am liebsten selbst regeln, aber ich kann Leonie nicht hängen lassen. Vielleicht stört sie einfach nur der blöde Toilettensitz? Könnte ich verstehen, darauf sitzt man ja wie auf dem Präsentierteller. Also hebe ich die Kleine hoch, stupse den Aufsatz vom Klo und setze sie wie einen Erwachsenen direkt auf die Brille. Leonie stützt sich seitlich mit beiden Händen ab, was ihr offenbar ganz leichtfällt. Geht doch!
Draußen erklärt Anne Adoré gerade irgendetwas. Wenn Männer nicht dabei sind, sprechen Frauen ja viel offener. Ich horche nach guter alter Indianerart direkt am Furnier. Was reden die beiden da nur? Muss mich konzentrieren. Das fällt mir allerdings zusehends schwer, weil es plötzlich stinkt. Ich drehe mich um.
Leonie steckt bis zu den Schultern in der Schüssel. Offenbar ist sie ins Klo gefallen und hat sich dabei so erschreckt, dass sie ihre Verstopfung losgeworden ist. Anstatt zu weinen, strahlt Leonie über das gelungene »große Konzert« wie eine Stardirigentin nach der Premiere.
Vorsichtig hebe ich sie hoch, stelle sie auf den Toilettenrand und putze ihr den Po ab. Dabei atme ich nur durch den Mund. Wer immer behauptet hat, Kinderkacke würde nicht stinken, hat garantiert nicht Leonie gemeint.
Anne klopft gegen die Tür. »Ist alles okay da drinnen? Ihr habt die Feuchttücher vergessen.«
Wenig später sitzen wir beim Frühstück. Anne ist unendlich stolz auf Leonie und seltsamerweise auch auf mich. Dabei versuche ich nur, das Erlebte zu vergessen. Aber Leonie wird nicht müde, ihrer Mutter von dem erfolgreichen Geschäft zu berichten. Dass ihre Tochter ins Klo gefallen ist, hält Anne für kindliche Flunkerei. Mich interessiert viel mehr, was Adoré vor der Tür gemacht hat. Anne meint, sie habe nur mit mir persönlich reden wollen. Wahrscheinlich ist sie bereit für unser nächstes Date.
Wie zufällig taucht auch Mr. Perfect auf und setzt sich zu uns an den Tisch, obwohl Anne ihm Abstinenz befohlen hat. Mich nervt der Kerl mit seinem falschen Getue. Außerdem ist das Frühstücksbüfett vom irischen Clan komplett leer geräumt. Denen steckt wohl noch die letzte Hungersnot in den Knochen. Also verkrümele ich mich zum Lesen in die Lobby. Dort sitzt Adoré, als würde sie auf mich warten.
Sie will mit mir spazieren gehen.
»Können wir uns nicht heute Abend sehen?«, frage ich mit mindestens zweideutigem Unterton. »Vielleicht in deinem Zimmer?«
Aber Adoré schaut nur traurig aus ihren schönen Augen. »Wir müssen reden.«
Ich sehe nach draußen: Es regnet schon wieder.
Unter dem romantischen Dach eines Schirms mit dem Aufdruck »Zum Wilden Mannle« erklärt sie mir, dass »alles ein Fehler« war. Sie sagt, der Sex sei eine einmalige Sache gewesen, um der guten alten Zeiten willen – nicht weiter von Bedeutung. Ich glaube ihr kein Wort.
Und da sie schon einmal dabei ist, erzählt sie mir gleich noch, warum sie mich vor Jahren einfach wortlos verlassen hat. Sie sei damals verlobt gewesen und habe ihre Beziehung nicht zerstören wollen. Toll, das hätte sie mir ruhig mal damals sagen können. Außerdem hat sie sich wirklich nicht sehr verlobt benommen.
»Ein Jahr später habe ich mich scheiden lassen«, erklärt Adoré. »Nicht deinetwegen, du warst nur einer von vielen Gründen.« Autsch.
»Ich kann mich ja auch scheiden lassen«, entgegne ich. »Schon in einer Woche. Ist echt kein Problem.«
Sie schüttelt traurig den Kopf. »Du bist nicht nur verheiratet, du hast eine Tochter, die ihren Vater braucht. Den will ich ihr nicht nehmen.«
»Es ist nicht so, wie es aussieht«, setze ich an, aber Adoré winkt schon ab.
»Du bist mit Frau und Kind in einem Familienhotel. Heute Morgen warst du mit deiner Tochter auf dem Klo. Willst du mir sagen, das sei alles nur gespielt?«
Kurz denke ich an Herrn Schade, an die Kolumne, an Anne und ihre Halbtagsstelle, an meine berufliche Zukunft. Will ich all das für eine Frau aufs Spiel setzen?
»Ja«, sage ich. »Das ist alles nur gespielt. Ich bin hier undercover.«
Adoré lächelt. »Du hast mich immer zum Lachen gebracht, Caspar. Aber es ist zu spät. Du hast eine Familie, für die du sorgen musst. Ich werde dich nicht daran hindern.«
Sie nimmt mir den Schirm ab, bleibt stehen und stoppt auch meinen Schritt mit ihrer Hand auf meiner Brust. Dann gibt sie mir einen Kuss auf den Mund.
»Sehen wir uns später?«, frage ich verzweifelt.
Sie schaut mir tief in die Augen. Sind das darin Tränen oder Tropfen?
»Adieu«, haucht sie theatralisch und lässt mich im Regen stehen.
Wie ein angeschossener Zombie stapfe ich zurück ins Hotel. Im Speisesaal sitzen Anne und Leonie beim Kaffee. Allein. Mr. Perfect hat der Hoteldirektorin versprochen, sich mal das hauseigene Fitnesscenter anzusehen.
Ich setze mich zu meiner Fake-Familie.
»Caspar aua«, erkennt Leonie auf den ersten Blick.
Anne nickt. »Ich hole dir was Süßes, dann reden wir«, beschließt sie.
Als sie aufgestanden ist, leere ich eine ganze Packung Gummimannles vor Leonie aus. Sie steckt sich je einen in den Mund und sagt immer wieder: »Danke, Papa.« Das tröstet mich ein bisschen. Als Leonie einmal ein Gummimannle aus dem Mund fällt und ich mich bücke, um es aufzuheben, sehe ich am anderen Ende des Saals Adoré. Sie sitzt mit Frau Sommer am Tisch, offenbar haben die beiden eine berufliche Besprechung. Meine Laune sinkt um vierhundert Prozent.
Nur ein paar Tische von uns entfernt sitzen ein paar Iren, starren zu mir herüber und ziehen betrübte Gesichter. Als sich unsere Blicke treffen, steht ein irischer Vater auf und kommt mir mit gezücktem Taschentuch entgegen. Super, verarschen kann ich mich selbst. Genau genommen mache ich das gerade rund um die Uhr. Als der Mann direkt vor mir steht, simuliert er einen Nieser, den er mit dem Taschentuch auffängt. Dann hält er mir das karierte Stofftuch hin: »Don’t cry, little boy«, sagt er mit sarkastischem Unterton.
Aber da kommt Anne schon mit zwei großen und einer kleinen Schüssel voller weißem Sahnequark zurück. Sie sieht dem Iren hinterher, der sich nach seinem Scherz gleich zu seiner johlenden Familie verkrümelt hat.
»Inzest kann tatsächlich erschreckende Auswirkungen aufs Gehirn haben«, kommentiert Anne trocken und stellt mir das Dessert hin. »Das hier sollte dich entweder aufmuntern oder vergiften. Nennt sich ›Familienglück‹ – offenbar eine Art ungarische Quarkspeise.«
Ich seufze. In der Tat bin ich gerade ganz dankbar, hier mit Anne und Leonie zu sitzen. Ist fast so gut, wie sich mit Schnaps unter den Tisch zu saufen. Und das »Familienglück« schmeckt gar nicht mal so schlecht. Anne stellt auch Leonie eine Schüssel hin.
»Ausnahmsweise!«, erklärt sie fest. »Damit sich Mama und Caspar unterhalten können.« Sie füttert Leonie mit dem ersten Löffel. Leonie sperrt den Mund auf wie ein kleiner Vogel, verschlingt das »Familienglück« mit einem Happen und zeigt ihrer Mutter grinsend die Milchzähne.
»Danke, Papa.«
Anne schaut mich überrascht an. »Hast du das gehört?«
Ich nicke abwesend und schaue zu Adoré hinüber. Die scheint meinen Blick zu spüren, denn sie dreht sich kurz zu mir um, mustert mich und wendet sich wieder ihrer Chefin zu.
»Wie war denn dein Spaziergang?«, will Anne wissen. »Hast du mehr über das Hotel erfahren? Oder über die Liebe?«
Lässt die denn nie locker? Leider bin ich zu schwach, um zu lügen. Also sage ich nur: »Es ist vorbei.«
Anne wirkt nicht überrascht. Sie schaut zu Adoré hinüber. »Glücklich sieht sie aber nicht aus.«
»Da haben wir etwas gemeinsam.«
»Du musst um sie kämpfen.«
»Ich muss schon um diesen Bubsi kämpfen.«
»Ich meine es ernst.«
»Das hat keinen Sinn. Sie denkt, ich bin verheiratet.«
Anne nickt und überlegt. »Wir machen sie eifersüchtig.«
Ich stutze. Was meint sie denn mit wir? Außerdem wäre das sicherlich die falsche Taktik.
Doch Anne grinst nur. »Überlass das mir. Ich habe etwas mehr Ahnung von Frauen als du. Gerade für solche Modelmädchen gilt: Wenn du sie ignorierst, werden sie ganz verrückt nach dir.«
Wie gern würde ich ihr glauben. Aber gerade ignoriert Adoré eher mich – was mich verrückt macht. Anne taucht ihren Löffel in das »Familienglück«, lädt eine kleine Portion auf und hält ihn mir lockend vor die Nase. Ist sie jetzt völlig verrückt geworden?
Ich weigere mich, den Mund zu öffnen. Habe ja schon davon gehört, dass Zärtlichkeit zwischen Paaren irgendwann zu infantilem Quatsch kippt, aber erstens sind wir kein echtes Paar, und zweitens bin ich kein Baby. Aber Anne bleibt beharrlich. Jetzt fliegt sie mit dem Löffel vor meiner Nase herum und macht dabei: »Brrrrrrrr – Flugzeug will landen. Tower, erbitte Landeerlaubnis.«
Leonie klatscht vor Freude in die Hände. Ich würde das Flugzeug am liebsten mit einer Luft-Boden-Rakete abschießen. Aber leider sind wir hier nicht in Afghanistan.
Leonie schaut ganz verwundert und sperrt ihren Mund vorbildlich weit auf. Dabei macht sie »Aaaaah!« Aber das Flugzeug will diesmal nicht bei ihr landen.
Plötzlich greift Anne mit der linken Hand nach vorn und hält mir die Nase zu. Ich schnappe nach Luft – und drin ist der Löffel.
»Mach mit«, zischt Anne mir zu. »Die hat schon herübergeschaut.«
»Sie denkt, wir hätten ein Kind, da wird ein bisschen Füttern kaum ihre Meinung ändern.«
»Was hast du zu verlieren?«
Jetzt reicht es. Ich lasse mich doch hier nicht für blöd verkaufen. Mal schauen, wie weit Anne bereit ist zu gehen. Als das Flugzeug beim zweiten Mal heranrauscht, greife ich ihr Handgelenk und halte es fest. Anne hält erstaunt inne und sieht mir in die Augen. Darin erkenne ich nicht nur Abneigung.
»Wird das jetzt eine Flugzeugentführung?«, säuselt sie mit einer überraschend weichen Stimme, die ich ihr nach all den Streitereien der vergangenen Tage gar nicht zugetraut hätte. »Dann bin ich ja jetzt völlig in Ihrer Gewalt.«
Ich habe dieses Spiel schon oft genug gespielt. Die ersten Anzeichen weiblicher Verführungskunst bringen mich nicht mehr aus dem Konzept. Meine Finger streichen Annes nackten Unterarm entlang zum Ellbogen und wieder zurück zum Handgelenk. Die kleinen blonden Härchen an Annes Arm stellen sich auf, als sich eine Gänsehaut über ihren Arm zieht. Sie schließt genießerisch die Augen und öffnet sie wieder. Ihr Wimpernschlag verdrängt Adoré tatsächlich für den Bruchteil einer Sekunde aus meinem Kopf. Ist das hier tatsächlich noch meine ökige Emanzenkollegin, mit der ich seit Jahren im Streit liege und in letzter Zeit wenn nicht das Bett, so doch immerhin den Tisch teile?
»Flirtest du mit mir?«, fragt sie leise. In ihrer Stimme liegt mehr Süße als in einer doppelten Portion »Familienglück«. Meine Finger gleiten von ihrem Unterarm über das Handgelenk zu Annes Handteller und zeichnen die Lebenslinie nach.
»Wie das Leben manchmal so spielt«, flüstere ich unverbindlich. Eigentlich wollte ich etwas tiefer und bestimmter sprechen, aber meine Stimmbänder bringen nur ein scheues Krächzen heraus. Anne hält meinen Blick und lässt ihre Finger in meine gleiten. Unsere Ellbogen ruhen auf dem Tisch, die Finger spielen miteinander, ineinander, lösen sich aber nie völlig voneinander.
Leonie lässt ihren Löffel scheppernd in die leere Dessertschüssel fallen.
»Fertig!«, verkündet sie stolz. Dann sieht sie uns an. »Bitte Bussi!«
Anne beugt sich, ohne meine Hand loszulassen, zu ihr und haucht ihr einen zarten Kuss auf die Wange, der sehr, sehr weit von einem Mutter-Tochter-Schmatzer entfernt ist. Dabei lässt sie mich nicht aus den Augen. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass vielleicht auch ich gern so einen Kuss auf die Wange bekommen hätte. Leonie schüttelt den Kopf.
»Nein, Caspar Bussi.«
Anne grinst mich an. »Du hast sie gehört.«
Ich seufze und drücke Leonie auch einen Kuss auf die Backe, einen echten Schmatzer, wie es sich geziemt. Aber auch damit ist Leonie nicht zufrieden. Sie haut mit beiden Patschehändchen auf die Tischplatte und sieht uns mit kindlichem Ernst fast schon ein wenig tadelnd an.
»Nein!«, erklärt sie. »Nicht Leonie. Mama und Caspar Bussi. «
Unsere Blicke, die sich gerade kurz verloren hatten, finden sich wieder. Gegen meinen Willen muss ich lächeln. Anne auch. Sie schlägt die Augen nieder. Gehört das noch zum Plan, Adoré eifersüchtig zu machen? Oder haben wir gerade ein neues Spiel begonnen? Vielleicht bin ich emotional etwas durcheinander, oder ich projiziere meine Gefühle für Adoré auf die nächstbeste weibliche Person, nämlich auf meine Kollegin, oder …
»Leonie, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagt Anne. Wusste ich es doch, sie spielt nur. Wie alle Frauen. Jetzt bin ich am Zug.
»Komm schon«, necke ich sie. »Oder traust du dich nicht? Wir sind doch offiziell verheiratet, was hast du zu verlieren? Ich dachte, du wolltest Adoré eifersüchtig machen?«
Anne legt ihre Ellbogen auf den Tisch und beugt sich vor.
»Forderst du mich jetzt hier rein beruflich dazu heraus, meine Tarnung unter Beweis zu stellen?«
Auch ich komme näher, bis unsere Köpfe nur noch eine Hand breit voneinander entfernt sind.
»Bussi, bitte!«, höre ich Leonies Stimme etwas fordernder. Ich sehe Anne lächeln und kann nicht anders, als es zu erwidern. Irgendetwas zieht mich zu ihr.
»Ich will euch Turteltäubchen ja nicht stören …«, höre ich Mr. Perfects Stimme direkt neben uns. Anne schreckt zurück und zupft ihre Kleider zurecht, als hätte uns ihr Verlobter in flagranti erwischt.
»Das war rein beruflich«, erklärt sie in dieser beherrschten, etwas hektischen Stimme, die so gar nicht der vorherigen ähnelt. »Stimmt’s, Caspar?« Sie sieht mich Hilfe suchend an.
»Absolut«, bestätige ich. »Wir waren gerade in einer Besprechung und würden damit jetzt auch gern weitermachen.«
Anne steht auf und stellt sich demonstrativ neben Mr. Perfect. »Wegen dieser Pressefrau …«, setzt sie an und deutet zu Adorés Tisch, auf dem Jeannie gerade eine neue weiße Tischdecke drapiert.
»Eben saß sie doch noch dort, oder, Caspar?«
»Absolut«, bestätige ich erneut.
Mr. Perfect sieht von Anne zu mir, dann zu Leonie und wieder zu seiner Verlobten. »Ich habe mir das Fitnessstudio angesehen und in einem Kabuff etwas Schwimmspielzeug gefunden. Habt ihr Lust auf ein bisschen Bewegung?«
»Jaaaa!«, ruft Leonie, die schon lange genug in ihrem Kindersitz hockt. Auch Anne nickt.
»Ich trinke noch in Ruhe meinen Kaffee aus«, behaupte ich.
Mr. Perfect hebt Leonie aus dem Sitz, verabschiedet sich mit Zeige- und Mittelfinger an der Stirn und schiebt Anne in Richtung Spa. Ich bleibe noch ein paar Minuten sitzen, um das alles sacken zu lassen. Dann hole ich mir noch eine kleine Portion »Familienglück«.
Anstatt mit dem Lift auf mein Zimmer zu fahren, steige ich die sechs engen Treppen hinauf, was meine Laune gleich wieder Richtung Nullpunkt senkt. Aber die Iren haben offenbar so oft auf die Nothalttaste gedrückt, dass der Aufzug nun tatsächlich kaputt ist. Dabei müssen die gerade echt Pluspunkte sammeln, nicht nur wegen der morgendlichen Lärmerei. Im Hotel munkelt man, dass sie bei einem Ausflug in den Streichelzoo, den sie gestern auf eigene Faust unternommen haben, ein Schaf verprügelt hätten. Der Clanchef hat als Entschuldigung offenbar nur gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, von einem Schaf angefallen zu werden, bei ihnen zu Hause höher sei, als sich in Nordirland eine Kugel einzufangen. Außerdem habe das Schaf sie provoziert. Jedenfalls wollte sich nach dem Zwischenfall kein Tier mehr von ihnen streicheln lassen.
Am frühen Abend gabeln mich Anne und Leonie in der Lobby auf. Ihre Gesichter sind bestens durchblutet, und Leonie gähnt bereits. Mr. Perfect lässt sich entschuldigen. »Er will noch ein paar Geräte testen. Außerdem ist er seit Neuestem auf Diät und möchte von nun an abends nichts mehr essen«, erklärt Anne etwas gequält. Nichts dagegen, aber offenbar haben sie und ich nun jeweils ein Beziehungsproblem.
Während wir essen, musiziert mitten im Raum ein Jazztrio mit Kontrabass, Geige und Oboe. Die Musiker sehen südländisch aus und marschieren lächelnd zu dritt zwischen den Tischen hindurch. Leonie und ein paar andere Kinder laufen ihnen im Sicherheitsabstand von ein paar Metern hinterher. So haben Anne und ich heute schon zum zweiten Mal etwas Privatsphäre.
»Woher kennst du die Pressefrau eigentlich?«, will Anne wissen.
»Vom Studium. Sie war meine erste große Liebe. Hat mich entjungfert. Ist schon lange her, also das vorletzte Mal.«
»Ist sie der Grund dafür, dass du so geworden bist?«
Verdammte weibliche Intuition.
»Dass ich wie geworden bin?«
»Beziehungsphobiker, Frauenhasser und Zukunftsfeind.«
Ich lächle wieder. Anne trinkt einen Schluck Wein. Muss mich zusammenreißen.
Das Trio spielt jetzt eine Jazzversion des Klassikers »Lord of the Dance«. Ich sehe zu den Iren hinüber. Sie sind aufgestanden und klatschen zur Musik in die Hände, so laut, dass Leonie ängstlich zu uns flieht. Ein irischer Vater stellt ein kleines Mädchen im Kleid auf den Tisch, das beim Stepptanzversuch gleich mehrere Gläser durch die Gegend tritt. Ich deute mit dem Kopf zur Direktorin hinüber, die lächelnd aufsteht und die Scherben einsammelt. Aber Anne lässt sich nicht ablenken.
»Wenn sie deine große Liebe ist, muss ich das wissen.«
»Weil sie unseren Auftrag gefährden könnte?«
»Nein. Weil sie dich wieder glücklich machen kann.«
Ich lache spöttisch, als hätte Anne mir gerade erzählt, alle verfeindeten Ethnien dieser Welt müssten bloß gemeinsam in eine riesige Familiensauna gehen – und schon herrsche Weltfrieden.
Seltsamerweise schaffen wir es heute Abend nicht, uns länger als einen Sekundenbruchteil in die Augen zu sehen. Müssen wir auch nicht, denn die Iren fangen nun an, lauthals mitzugrölen. Einige Gäste schauen echauffiert hinüber, ich dagegen bin dankbar für die Ablenkung.
»Schau dir die Iren an. Keine guten Vorbilder, oder? Ob die wohl am Contest teilnehmen?«
»Ja, wie alle unsere Stammgäste«, antwortet die Direktorin, die plötzlich direkt hinter mir steht. Offenbar ist ihr die irische Ausgelassenheit an ihrer Tafelrunde etwas zu viel geworden. »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
Ich falte die Serviette zusammen und nicke. »Ist wirklich ein ganz tolles Familienhotel. Gibt es eigentlich auch Kurse ausschließlich für Väter?«
Frau Sommer schaut überrascht, dann gewinnt ihr diplomatisches Lächeln die Überhand. »Nein, noch nicht. Aber vielleicht könnten Sie ja einen anbieten? Bei uns ist so viel ausgefallen, dadurch haben wir Platz für Ideen unserer Gäste. Vielleicht so ein richtig männlicher Kurs – Boxen oder Fußball?«
Anne schaut von der Direktorin zu mir und grinst süffisant. »Er kann Karate«, prahlt sie, ganz die stolze Ehefrau. Blöde Kuh.
»Karate?« Frau Sommer scheint gleichzeitig erstaunt und erfreut. »Das ist ja toll!«
»Aber ich habe gar keinen Anzug hier, den müsste ich mir erst aus München schicken lassen …«
Doch Frau Sommer ist bereits Feuer und Flamme. »Super. Sobald er angekommen ist, plane ich Sie ein. Ihrem Punktekonto wird eine Schulung im Bereich Bewegung und Koordination bestimmt den entscheidenden Aufschwung verschaffen.«
Ich stutze. Den Bubsi hatte ich ganz vergessen. Wie bescheuert wäre das denn, wenn ich den tatsächlich gewinnen sollte? Für die Geschichte kriege ich am Ende vielleicht sogar einen richtigen Journalistenpreis. Lust auf Karate habe ich auch. Es hat mich als Kind so ausgepowert, dass ich keine Lust mehr auf Randale hatte. Außerdem lenkt es mich sicher davon ab, wegen Adoré Trübsal zu blasen. So ein bisschen Kampfsport macht sich auch gut in meiner Reportage. Dabei kann ich endlich mal mit den anderen Vätern unter vier Augen über ihre Probleme reden – ohne dass Anne etwas davon mitbekommt.
»Abgemacht.« Frau Sommer und ich besiegeln den Deal mit Handschlag.
Wie zur Bestätigung meines Statements beendet das Jazztrio in diesem Moment seinen Ausflug in die Folkmusik. Die Iren applaudieren frenetisch, heben die Gläser zum Anstoßen in die Luft und werfen sie dann hinter sich, wo Jeannie und Herr Béla entweder die Gläser fangen oder die Scherben wegfegen. Die ersten Eltern bringen ihre Kinder in Sicherheit. Frau Sommer klatscht artig. Die Musiker beratschlagen flüsternd, welchen Song sie als Nächstes bringen sollen.
Doch bevor das Trio erneut beginnen kann, höre ich Leonies glockenhelles Stimmchen: »Drei Chinesen mit dem Kontrabass saßen auf der Straße und erzählten sich was. Da kam die Polizei und fragt: Was ist denn das? Drei Chinesen mit dem Kontrabass.«
Nach und nach stimmen auch die anderen Kinder ein. Sehr treffend. Die drei sind zwar keine Chinesen, haben aber unverkennbar Migrationshintergrund.
Einige Eltern grinsen, nur die Mienen der Architekten wirken so starr wie die Deutsche Oper. Während Frau Sommer den Iren Genese und Bedeutung dieses Volkslieds zu erklären versucht, stimmt Leonie die erste Variation an: »Dro Chonoson mot dom Kontroboss …« Dabei strahlt sie auffordernd den Kontrabassisten an.
»Mukiz, ja?«, fragt sie. Wenigstens eine hat ihre gute Laune nicht verloren. Der Musiker lässt sich nicht lange bitten und greift in die Saiten. Wenig später singt der ganze Saal von den dro Chonoson, den dra Chanasan und den dri Chinisin mit dim Kintribiss und schließlich noch eine neue, gälische Variante, die ich nicht verstehe, aber bei der ich trotzdem mitsinge.