Das kaputte Kreuz des Südens
Autsch, ich habe Rücken. Kann mich nicht bewegen. Verdammte Designercouch. Und das alles nur, weil dieses Kind nicht einmal im eigens dafür vorgesehenen Gitterbett schlafen kann! Ich versuche, mich aufzurichten. Ein stechender Schmerz schießt von der Mitte meiner Wirbelsäule nach unten bis in die Zehen und nach oben in den Nacken.
Langsam öffne ich die Augen. Die Sonne scheint durch die dünnen weißen Gardinen ins Zimmer. Kleine Staubpartikel tanzen in einem Lichtstrahl, der auf Annes Bett fällt. Meine Kollegin schläft noch, aber ihre Tochter ist schon wach und versucht, die winzigen Staubsternchen zu fangen, grapscht in den Lichtstrahl, schaut in ihre leere Hand und greift erneut. Ein friedliches Lächeln liegt auf ihren Lippen.
Leonies langsame, fließende Bewegungen sehen aus wie Tai-Chi. Ich will sie eigentlich gar nicht stören, aber wenn jemand Anne schnell wecken kann, dann ihre Tochter.
»Leonie!«, zische ich. Sie schaut zu mir herüber. Als sich unsere Blicke treffen, lächelt sie vorsichtig.
»Schnee!«, erklärt sie mit ernstem Gesicht und versucht, den nächsten Staubpartikel zu fangen.
»Hilfe«, hauche ich.
Leonie sieht mich verständnislos an.
»Hipfe?«, fragt sie.
»Hilfe!«, wiederhole ich – auch wenn mir ein zweieinhalbjähriges Kind wohl kaum helfen wird.
Leonie nickt langsam. Dann zeigt sie ein Grinsen, das aussieht wie Milchzähnefletschen.
»Hüpfen!«, ruft sie, rutscht in Bauchlage über die Bettkante, steht kurz wackelig auf dem Boden und rennt auf mich zu.
»Nein, ich … Leonie … Hilfe!« Mit beiden Händen zieht sie sich auf das Sofa, kniet auf meinem Rücken und gluckst vor Freude.
»Nicht hüpf. . .«, beginne ich flehentlich, aber da springt sie schon auf meiner Wirbelsäule herum, als wäre ich der Freizeitpark Oberreith und mein Rücken das Kindertrampolin.
Ich schreie vor Schmerzen. Leonie brüllt mit mir um die Wette. Ganz klar, sie hat meine Geschichte vom Terrorgnom zum Vorbild genommen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich Anne aus dem Bett erhebt. Sie reibt sich die Augen.
»Was ist denn das für ein Lärm?«
»Hilfe!«, wiederhole ich.
Anne sieht zu uns herüber. »Wie schön! Ihr habt euch angefreundet!«
Nach zwei Stunden im Massageraum beruhigt der Bademeister meinen Rücken schließlich mit einer wärmenden Moorpackung.
»Ist bloß ein Hexenschuss«, diagnostiziert er.
»Ich wüsste schon, von welchem Hexchen«, bemerke ich und schaue zu Leonie und Anne hinüber, die sich auf einer Yogamatte mit einem wurstartigen Stillkissen eine Art Trutzburg gebaut haben.
»Sie wollte doch nur spielen«, behauptet Anne.
»Das sagen die Kampfhundebesitzer auch immer.«
Das Hexchen umklammert das Bein ihrer Mutter, schiebt die Unterlippe vor und schlägt die Augen nieder. Eine dicke Träne rollt an ihrer linken Pausbacke hinunter. Anne sieht mich mit strafendem Blick an. Schon kapiert.
»Komm, Terrorgnom«, locke ich versöhnlich. »Ich bringe dir ein neues Wort bei.« Die Kleine schaut scheu hinter ihrer Mutter hervor. Ich lasse meine Augen durch den Massageraum schweifen. Mein Blick bleibt an dem Plakat eines Pärchens beim Saunagang hängen. Die beiden tragen ja nur Handtücher um die Hüften. Unter dem Motiv steht »Sauna für die Seele«. Ich deute auf die Brust der Frau.
»Das ist ein Busen, Leonie«, sage ich.
»Busen«, wiederholt sie und nickt.
Anne schaut mich mahnend an und macht die Reißverschlussgeste.
Leonie deutet auf das Dekolleté ihrer Mutter. »Mama kleiner Busen«, stellt sie fest.
Anne kneift grimmig die Augen zusammen.
Der Bademeister und ich grinsen uns einen. Meinem Rücken geht es gleich um einiges besser.
»Bewegung und Wärme tun Ihnen gut. Sie sollten sich heute viel bewegen und in die Sauna gehen«, rät mir mein neuer Freund und dreht mich auf die linke Hüfte, sodass ich mich aufrichten kann. »Sieht aber schon viel besser aus.«
Stolz lächle ich Anne und Leonie an. Die Kleine deutet mit dem Zeigefinger auf meinen nackten Oberkörper und grinst ebenso stolz.
»Caspar großer Busen«, stellt sie fest.
Jetzt ist es Anne, die mit dem Bademeister um die Wette grinst. Dabei hat der deutlich mehr Oberweite als ich.
Auf dem Rückweg durch die Lobby greift Leonie mit links die Hand von Anne und mit rechts die meine. Ein fremder Vater nickt mir zu, ein anderer lächelt anerkennend. Das Architektenpaar grüßt, und sogar Obi winkt. Die perfekte Tarnung! Sollte irgendjemand daran gezweifelt haben, dass wir eine echte Familie sind, so haben wir ihn jetzt überzeugt.
An der Rezeption checkt gerade ein grau melierter Manager mit auffällig breitem Kreuz ein. Er trägt eine lederne Reisetasche über der stämmigen Schulter.
»Ich würde Ihnen ja gern ein anderes Apartment anbieten«, erklärt ihm Jeannie, »aber wir haben leider keine günstigen Einzelzimmer mehr frei.«
Der Anzugheini entgegnet: »Geld spielt keine Rolle.«
Nach der Massage bin ich einfach zu entspannt, um mich über so einen Prahlhans zu ärgern. Gleichmütig lächle ich zu Anne hinüber und deute mit dem Kopf verächtlich zu dem Schlipsträger. Dann fasse ich mit der anderen Hand Leonies Ellbogen und bedeute Anne, das Gleiche zu tun.
Ich erkläre Leonie das Spiel »Engelchen, Engelchen, flieg«, das ich als Kind geliebt habe: an der Hand von Mama und Papa hoch in die Luft zu steigen. Aber Anne macht keine Anstalten mitzuspielen. Sie starrt mit offenem Mund zum Schlipsträger hinüber.
Ich sehe Leonie an. »Möchtest du mit Mama und Papa ›Engelchen, Engelchen, flieg‹ spielen?«
»Papa«, sagt Leonie leise. Geht doch.
Blöderweise sieht sie dabei nicht mich an, sondern starrt wie ihre Mutter zur Lobby hinüber. Jetzt lässt Leonie unsere Hände los.
»Papa!« ruft sie erneut – und rennt voller Freude zu dem großen Fremden. Der Bodybuilder geht in die Knie, breitet seine dicken Arme aus, fängt Leonie auf und drückt sie an sich.
»Überraschung!«, ruft er und freut sich, als wäre er selbst überrascht worden. Anne zuckt entschuldigend mit den Achseln und rennt dem Kerl ebenfalls in die Arme.
»Was machst du denn hier?«, ruft sie.
Der Kerl strahlt breit zurück und säuselt keck: »Ist rein beruflich.«
Ich stehe da und überlege, mal allein eine Runde »Engelchen, flieg« zu spielen. Und zwar aufs Zimmer. Aber noch haben die anderen Gäste nichts gemerkt. Vielleicht denken sie, wir haben einen guten Bekannten getroffen. Irgendwie wird es mir schon gelingen, mich aus der Nummer rauszuquatschen.
Jetzt küsst Anne den guten Bekannten auf den Mund, streichelt ihm zärtlich über das Gesicht und flüstert mit kaum glaubhafter Empörung: »Ich habe dir doch gesagt, dass du mich hier nicht überraschen sollst.« Noch ein langer Kuss, wie beim Happy End einer TV-Romanze.
»Aber ich habe dich doch so, so, so doll vermisst, mein kleiner Dickmops«, säuselt der Typ.
Ade, perfekte Tarnung, willkommen, Annes Verlobter. Wahrscheinlich hat sie ihm in ihren Telefonaten so sehr die Ohren vollgenölt, dass er persönlich das Revier abstecken wollte. Auch ich bekomme Herzklopfen – allerdings eher aus Angst, dass alles auffliegen könnte. Ich will meine Nachtlebenkolumne!
Jeannie sieht vom Empfangstresen erstaunt zu mir herüber. Ich grinse und nicke gleichmütig, als wären wir eine große Hippiefamilie und ich mit den Regeln der freien Liebe bestens vertraut. Bin ich aber nicht.
Es gibt ja so Typen, die kann man auf den ersten Blick nicht leiden. Auf den zweiten wird es leider auch nicht besser. Was hat der hier zu suchen? Er gefährdet unseren Auftrag. Als ich vor ihm stehe, mustern wir uns wie Obama und Osama oder wie Angelina Jolie und Jennifer Aniston. Doch statt ihm die Flasche Robbybobbys Blubberspaß über den Kopf zu hauen und ihn anschließend mit dem scharfkantigen Flaschenhals aufzuschlitzen, strecke ich ihm die Hand hin.
Da er meine angebliche Tochter in der einen und meine angebliche Frau in der anderen Hand hält, hat er keine mehr für mich frei und wirft mir nur einen gekünstelt-entschuldigenden Blick zu. Also stecke ich meine Hand wieder weg.
»Caspar Hartmann«, stelle ich mich vor. »Sie müssen Mr. Perfect sein?«
Mein Gegenüber lächelt wie ein Sieger, dem gerade der Zweitplatzierte gratuliert.
»Leonhardt«, sagt er und deutet auf die Kleine. »Wie Leonie, nur größer und härter. Ich bin ihr Vater.«
Mit hochgezogenen Augenbrauen überspielt Jeannie an der Rezeption höchst mäßig, dass sie jedes Wort verstanden hat. Anne löst sich endlich aus der Umarmung und kehrt zögernd zurück an meine Seite. Leonie dagegen bleibt auf Papas Arm. Ich schaue Annes Verlobten erstaunt an, als hätte ich ihn vorhin nicht richtig verstanden.
»Ihr Vater, sagten Sie? Wie schön. Dann haben wir ja etwas gemeinsam.«
Mr. Perfect scheint den Subtext nicht begriffen zu haben, denn er sieht mich fragend an. Anne flüstert ihm etwas ins Ohr. Jetzt geht ihm ein Licht auf, und er zwinkert mir zu, als wäre das Ötztal Moskau und wir beide amerikanische Geheimagenten. Er setzt Leonie auf den Boden.
»Komm, Leonie, Süße, geh mal, hihi, zum Papa«, sagt er grinsend.
Widerwillig kehrt Leonie zu mir zurück.
Nun stehen wir da, wie Adoptiveltern vor dem leiblichen Vater, der sich nicht von seinem ehemaligen Kind trennen kann.
Jeannie, die bis eben voll und ganz mit ihrem Computer beschäftigt war, durchbricht die Stille.
»Die Reicher-Onkel-Suite wäre noch frei«, erklärt sie. Wir schauen verdutzt. Die Rezeptionistin zuckt verlegen mit den Schultern. »Früher hieß die Präsidentensuite, aber seit wir ein Familienhotel sind, hat unsere PR-Managerin für alle Zimmer neue Namen erfunden.«
»Bestimmt eine tolle Frau«, vermute ich ätzend. Meine Laune ist im Keller, drittes Untergeschoss.
»Sie werden sie lieben«, murmelt Jeannie und unterdrückt ein Kichern. Doch für Albernheiten habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss zusehen, dass ich meine Tarnung auf die Reihe und Mr. Perfect aus dem Weg kriege.
»Reicher Onkel passt super«, meint mein Kontrahent und unterschreibt, ohne hinzuschauen, die Formulare von Jeannie so jovial, als würde er den Urlaubsantrag seiner Sekretärin abzeichnen. Dabei verspricht er mir im Flüsterton, dass er den Schein wahren wolle – »für Anne und ihre Halbtagsstelle, nicht für dich«. Einerseits hasse ich Leute, die mich ungefragt duzen, andererseits gehört er ja zur Familie.
»Tut einfach so, als wäre ich nicht da. Ich verhalte mich ganz unauffällig.« Wahrscheinlich hat er deshalb die Präsidentensuite gebucht. Er gibt Jeannie das Formular zurück und starrt sie an, als wäre er Hypnotiseur.
»Ich bin übrigens der Patenonkel von der Kleinen und habe sie so sehr vermisst, dass ich sie unbedingt sehen musste.«
»Er mag sie halt so«, ergänzt Anne.
Jeannies Augenbrauen bleiben hochgezogen. »Natürlich.«
Mr. Perfect schultert seine Ledertasche.
»Ich werde mich mal frisch machen. Und ihr?«
Ich schaue Hilfe suchend zu Jeannie und bleibe an dem kleinen Aufsteller mit Wanderflyern hängen.
»Wir gehen wandern«, beschließe ich. Hauptsache, weg von diesem Typen. Anne sieht mich irritiert an und imitiert wieder diese Rückenleidengeste, die sie schon bei der Abreise nachgeäfft hat. Ich rolle mit den Augen.
»Der Bademeister hat gesagt, ich soll mich bewegen.«
Sie deutet hinüber zu Leonie. »Und was ist mit ihr?«
»Kommt in den Kinderwagen«, bestimme ich und fühle mich allmählich wieder etwas mehr wie der Paterfamilias.
»Auf dem Hinweg habe ich ein paar dunkle Wolken überholt«, mahnt Mr. Perfect. »Vielleicht solltet ihr lieber nur einen kurzen Spaziergang machen.«
Das hätte er wohl gern. Ich würde am liebsten so weit von ihm wegwandern wie möglich. Außerdem strahlt der Himmel in verlockend wolkenlosem Hellblau.
»Danke, aber ich gehe nicht zum ersten Mal zu Fuß«, kontere ich. Als Kind musste ich immer mit meinen Eltern in den Alpen herumkraxeln, obwohl ich die Latscherei gehasst habe. Dass diese Urlaube mittlerweile zwanzig Jahre her sind, braucht er nicht zu wissen.
Mr. Perfect zuckt so locker mit der Schulter, als würde er das Gewicht seiner Tasche darauf überhaupt nicht bemerken.
»Dann ist ja alles prima«, sagt er, gibt Leonie und Anne noch je einen Kuss und geht zu den Aufzügen. Wäre kein Wunder, wenn er stecken bleibt. Sein Ego wiegt schwerer als die zulässige Gesamtpersonenzahl.
»Das tut mir total leid«, flüstert mir Anne ins Ohr. »Ich habe dir ja gesagt, dass er mit anderen Männern in meiner Nähe nicht so gut klarkommt.«
»Alles im Griff«, beruhige ich Anne, die mich verlegen ansieht. Ich stelle mich an die Rezeption, zücke mein Portemonnaie und lege einen Fünfzig-Euro-Schein auf die Theke. Jeannie schaut verwundert.
»Der ist für Ihre Diskretion«, sage ich und nicke ihr aufmunternd zu. Sie zögert, deshalb wiederhole ich mit der einen Hand die bewährte Reißverschlussgeste, während ich mit der anderen hinter Mr. Perfect herdeute.
»Nicht, dass es wichtig wäre, aber das ist tatsächlich Leonies Patenonkel, Annes Bruder, mein Schwager, nur falls jemand fragt.«
Mr. Perfect steigt in den Lift. Der Psychologe tritt heraus. Jeannie lässt schnell das Geld unter ihrer Hand verschwinden und nickt kurz.
Ainberger bleibt direkt vor uns stehen und mustert mich mit einem Blick über den Brillenrand.
»Stehen Sie unter starkem psychischem Stress? Sie atmen so flach.« Wenn der mitkriegt, dass Leonies echter Vater angereist ist, kann ich den Familiencontest vergessen. Geistesgegenwärtig zieht Anne eine Windel aus ihrer Umhängetasche und deutet damit auf Leonie.
»Mein Mann hat eine sehr sensible Nase«, lügt sie. »Er riecht eine volle Windel vor allen anderen.« Ich nicke treudoof und schaue so naiv wie möglich.
»Ich wollte damit sogar schon mal zu ›Wetten, dass …?‹«, erkläre ich. Jetzt nickt Anne drauflos, als hätte ich gerade das klügste Statement der Menschheit abgegeben. Die Hand des Psychologen wandert weg vom Lederbüchlein. Er grüßt und geht weiter.
Ich deute dem Chefjuror hinterher. »Hat er eigentlich die Sache mit den Schnullern mitbekommen?«, frage ich Jeannie.
»Noch nicht.«
Ein weiterer Fünfzig-Euro-Schein wechselt den Besitzer.
»Eine Frage noch: Wo stehen eigentlich die Kinderwagen?«
»Im Kinderwagenraum.«
»Kann ich mir da einfach einen nehmen?«
»Nein, das wäre Diebstahl. Den anderen Eltern würde das nicht gefallen. Haben Sie denn keinen eigenen mitgebracht?«
»Siehste!«, zischt Anne und verdreht die Augen.
»Sie können die Kleine doch in die Kinderbetreuung im ersten Stock geben«, schlägt Jeannie vor. »Die geht bis heute Abend um sechs.« Kind abgeben klingt super. Ich beschließe, mich später mal kurz in sie zu verlieben – sobald ich geschieden bin.
»Das ist doch eine gute Idee, Schatz. So können wir endlich mal wieder etwas zu zweit unternehmen.«
Anne dreht auf dem Absatz um und zieht Leonie hinter sich her in Richtung Aufzug. Im Lift hängt noch der Herrenduft von Mr. Perfect: »Le Male« von Gaultier. Ich kann ihn wirklich nicht riechen.
Die knallrote Tür zur Kinderbetreuung steht weit offen. Anne, Leonie und ich betreten ein etwa dreißig Quadratmeter großes Zimmer. Darin stapeln sich Kindermobiliar, Spielzeug, Bücher, eine Tafel mit bunter Kreide, ein Kaufladen, eine Miniküche, sogar eine kleine Schaukel hängt an Seilen von der himmelblau bemalten Decke. Auf dem Boden liegt ein großer bunter Teppich, der offenbar aus Restbeständen ausgemisteter Kinderzimmer zusammengeflickt wurde. Ich identifiziere einen eingearbeiteten Spiegel, eine Rassel, mehrere Kuscheltiere, Knisterfolie und sogar durchsichtige Plastikstücke. Was mich aber am meisten irritiert, sind die kleinen Ausbeulungen, die aussehen, als würden sich unter dem Teppich Mäuse verstecken. Oder Reste von Kindern, die nach der letzten Saison unter den Teppich gekehrt wurden. Es gibt nur einen Weg herauszufinden, was unter den Hügeln steckt: Ich trete einfach mal drauf.
Es quietscht. Leonie, die mich staunend beobachtet hat, lässt Annes Hand los, begibt sich auf Mäusetritttour und hüpft von einer Erhöhung zur nächsten. Das Zimmer gefällt ihr offenbar sehr gut, hier gibt es ja auch alles, was das Kinderherz begehrt. Nur keine Betreuerin. Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Vielleicht wurde sie versehentlich in den Teppich eingenäht?
Leonie bleibt ein paar Meter vor uns stehen und mustert einen großen Schrank mit Bilderbüchern. Sie ist ganz aufmerksam, irgendetwas daran scheint sie zu fesseln. Aber was?
Plötzlich springt ein Mann mit einer Papphundemaske hinter dem Schrank hervor.
»Buh!!!«, brüllt er und stampft wenige Zentimeter vor Leonie mit dem Fuß auf, dass es nur so rumst. Leonie erschrickt fast zu Tode, ihre Gesichtszüge verharren eine Millisekunde in Schockstarre, dann brüllt sie los, wie ich es noch nie gehört habe.
Der Kerl trägt die einteilige graue Arbeitskluft des Hausmeisters. Ich gehe in Kampfstellung. Habe früher mal Karate gemacht, mit etwas Glück lande ich den ersten Schlag, bevor sich Hasso in meinen Fuß verbeißen kann. Vor meinem inneren Ohr höre ich schon das lustige Quietschen, das der Teppich von sich geben wird, wenn der Kerl gleich aufschlägt.
»Aus!«, ruft Anne laut.
Anstatt mich anzugreifen, bleibt der Typ einfach stehen wie ein begossener Pudel. Anne nimmt die rhythmisch schluchzende Leonie auf den Arm und versucht, sie zu beruhigen. Der Hundemann breitet die Arme aus. Leonie heult noch lauter.
»Habe ich Mist gebaut, Scheiße«, höre ich eine todtraurige Stimme hinter der Maske. Sie hat einen ungarischen Akzent.
»Sseiße«, wiederholt Leonie zwischen zwei Schluchzern. Anne hält ihrem heulenden Kind die Ohren zu.
»Herr Béla, sind Sie das?«
Mit beiden Händen nimmt der Mann die Maske ab. Darunter kommt der Hausmeister und Kellner des Hauses zum Vorschein. Offenbar ist er neuerdings auch noch Kindermädchen.
»Was soll denn diese Verkleidung?«, herrsche ich ihn an. »Sie haben Leonie fast zu Tode erschreckt!«
»Erzieherin ist jetzt auch schwanger. Muss ich einspringen.«
»Ja, aber das sollten Sie nicht so wörtlich nehmen.«
»In Ungarn Kinder mögen Erschrecken.«
»Ja, hier auch, aber mit etwas weniger Einsatz, bitte. Was soll diese Verkleidung?«
»Ist grau. Wie Hunde im Sprichwort.«
»Sie meinen, wie in: Nachts sind alle Katzen grau?«
Herr Béla zeigt Leonie seine Maske. »Hund?«, fragt er versöhnlich.
Leonie wirft sich in den nächsten Brüllanfall.
»Die reparieren wir«, meint Herr Béla und will Leonie auf den Arm nehmen, aber Anne dreht sich mit ihr weg. Durch zusammengebissene Zähne zischt sie mir zu: »Ich werde meine Tochter auf gar keinen Fall allein mit diesem Irren …«
»Ungar«, beharrt Herr Béla treuherzig. »Ich bin Ungar.«
»Sie können froh sein, dass ich meine Tochter auf dem Arm habe, sonst würde ich Sie erwürgen, Sie Muskelprotz«, ruft Anne wütend. »Hundert Watt in den Armen, aber in der Birne brennt kein Licht!«
Ob sie das auch schon mal zu ihrem Verlobten gesagt hat?
Herr Béla lächelt, wie er es offenbar immer macht, wenn er kein Wort verstanden hat. Anne dreht sich auf ihren absatzlosen Schuhen um und stürmt mit der schluchzenden Leonie aus der Kinderbetreuung.
»Frauen«, sage ich und zucke mit den Schultern.
Herr Béla sieht mich mit entrücktem Gesichtsausdruck an.
»Sie ist toll. So stolz.«
Kurz überlege ich, ihm ein Leckerchen zu geben, weil er Anne aus der Reserve gelockt hat. Andererseits habe ich seinetwegen nun doch Leonie an der Backe.
Ich verlasse nachdenklich das Zimmer. Herr Béla sieht mir hinterher. Als ich mich noch einmal umdrehe, ist er verschwunden, wahrscheinlich wieder hinter den Schrank.
An der Rezeption steht Anne neben Jeannie und Leonie. Aus dem Mund der Kleinen ragt der weiße Pappstiel eines Lutschers. Auf dem Boden steht eine Art Cabriorucksack.
»Was ist denn das?«, will ich wissen.
Die Frauen sehen mich erstaunt an. Anne hebt das Teil hoch. »Eine Kraxe, du Depp. Für Leonie.«
Ich muss an die Bilder von Eingeborenen denken, die ihren Nachwuchs in Bambusgestellen auf dem Buckel herumschleppen. Hatte nicht sogar Ötzi, die traurige Mumie des Ötztals, so ein Ding dabei? Ist er vielleicht sogar unter dem Gewicht seiner Kraxe tot zusammengebrochen?
Anne wühlt die Verschlüsse, Riemen und Taschen beiseite, dann setzt sie Leonie in die Trage.
»Aber mein Rücken«, wende ich ein.
»Du musst das Gewicht auf den Hüftgurt verlagern, dann belastet es dein Kreuz nicht.«
Sie befiehlt mir, mich vor die Kraxe auf den Boden zu hocken, das Ding umzuschnallen und hochzukommen.
»Oder soll ich Leonhardt bitten, uns zu helfen?«
»Auf gar keinen Fall.«
Der Weg in die Armschlaufen erweist sich als Kraftakt. Dann bin ich drin. Vorsichtig lehne ich mich nach vorn, um Leonies Gewicht auszugleichen. Mit einer Hand greife ich den Empfangstresen und ziehe mich hoch. Kaum habe ich mich aufgerichtet, höre ich direkt hinter meinem Kopf ein Glucksen und dann Leonies Stimme: »Bin groß geworden.«
Anne lacht erleichtert. Mir ist allerdings nicht nach Lachen zumute, denn ich habe das Gefühl, mir hämmert jemand kleine Nägel in die Wirbelsäule. Wahrscheinlich Leonie. Aber lieber schleppe ich im Alleingang meine Alibitochter im Rucksack über die Berge, anstatt sie hier den ganzen Tag mit Mr. Perfect zu teilen. Job ist Job.
Wir lassen uns von Jeannie erklären, wo wir den »Familienwanderweg zur Marendalm« finden.
Die Sonne strahlt, als wir das Hotel verlassen, der blaue Himmel lässt mich kurz das Gewicht vergessen, das auf meinen Schultern lastet.
Doch schon an der ersten Kreuzung scheiden sich die Geister. Anne glaubt, zur Marendalm müsse man die kleine Asphaltstraße nehmen, die links neben dem herrlich steinigen Bergweg in die Natur gefräst wurde.
»Wir stimmen ab«, schlägt sie vor. Ohne meine Reaktion abzuwarten, zeigt sie mit dem Finger auf Leonie, dann auf sich und zählt: »Eins, zwei für links.« Dann deutet sie auf mich: »Leider nur eine Stimme für rechts. Keiner sonst?« Anne dreht sich suchend um, zuckt mit den Schultern und begibt sich nach links auf den Asphaltweg.
Moment einmal, wir sind hier nicht im italienischen Parlament.
»Du weißt doch gar nicht, wofür Leonie stimmt. Sie zieht die ganze Zeit an meinem rechten Ohr, also will sie nach rechts gehen.«
Anne bleibt stehen. »Ich bin ihre Mutter.«
»Und ich bin ihr Vater.«
»Bist du nicht. Links ist richtig, hat Jeannie gesagt.«
»Später ist links richtig. Erst mal müssen wir auf einen Wanderweg kommen. Dein Weg sieht eher so aus, als führte er direkt auf die Autobahn.«
»Na gut, wenn du dir so sicher bist. Aber wehe, wir verlaufen uns!«
»Ist es eigentlich üblich, dass man sich in einer Beziehung ständig bedroht?«
»In unserer schon.«
Anne schimpft noch etwas weiter, aber das höre ich zum Glück nicht mehr, denn Leonie hat mir ihre kleinen Finger bis zum zweiten Knöchel in die Ohren gesteckt.
Schweigend gehen wir die nächsten hundert Meter bergauf. Leonie scheint den Ausflug zu genießen, entstöpselt meine Ohren, deutet auf alles, was sie sieht, und plappert munter drauflos. Sie entdeckt einen »Taktor«, dann: »Oh, eine Kuh!« Ich versuche Leonie mal wieder dazu zu bringen, mich Papa zu nennen – jetzt wo wir uns auch körperlich so nah sind. Wenigstens, um Mr. Perfect zu ärgern. Aber sie weigert sich. Leider habe ich die Gummimannles im Hotel vergessen.
Also starre ich weiter mit gebeugtem Rücken auf meine Füße, die sich Schritt um Schritt nach oben kämpfen. Ich muss mich auf regelmäßiges Atmen konzentrieren. Anne marschiert straff vorneweg.
»Na, wer ist jetzt das wilde Mannle?«, foppt sie mich. Das muss ich mir nicht bieten lassen. Ich mobilisiere alle meine Kräfte. Auf der ersten Anhöhe habe ich sie eingeholt. Blöderweise endet der Weg hier in einer Wiese.
»Wir können ja einen Eingeborenen fragen«, schlage ich vor. Leider ist weit und breit kein Mensch zu sehen – nicht mal Eltern mit Kindern. Die trifft man ja sonst überall. Anne deutet den Weg hinunter, den wir uns gerade mühevoll hochgekämpft haben.
»Unten war ein Wegweiser. Lass uns noch mal zurückgehen.«
Ich nicke schweigend und beschließe, ihr von nun an einfach hinterherzulaufen. Anne deutet zum Horizont. Am Rand des blauen Himmels ziehen ein paar Wölkchen auf.
»Wir können auch gleich wieder zurück«, meint sie. »Das sieht nach Regen aus.«
»Da hinten?« Ich schüttele entschieden den Kopf. »Dass ich nicht lache. Wir sind gerade erst losgegangen, jetzt wird gewandert, basta.«
Auch auf dem Rest der Strecke gibt es immer einen oberen und einen unteren Weg. Meinem Gefühl nach ist immer der obere Weg richtig, Anne will lieber den unteren gehen. Wie im echten Leben. Obwohl ich total außer Puste bin, streite ich mich alle fünfhundert Meter mit meiner Kollegin, die aus jeder Abzweigung eine Grundsatzdiskussion macht. Manchmal habe ich das Gefühl, sie ist nur aus Prinzip anderer Meinung. Ich werde mich jedenfalls nicht um des lieben Friedens willen fügen. Auch aus Prinzip.
Schließlich kommen wir doch noch auf der Marendalm an – über Umwege, da bin ich mir sicher. Wir essen Dampfnudeln mit Vanillesoße. Schmeckt köstlich, ich kann mir gar nicht erklären, warum wir die einzigen Gäste sind. Die Marendalm erinnert mich an die Skiurlaube meiner Kindheit mit der ganzen Familie. Damals mochte ich die Vater-Mutter-Kind-Nummer noch.
Allerdings kann ich mich nicht daran erinnern, dass ich schon nach zehn Minuten mit gelangweiltem Gesicht den Teller weggeschoben und so lange geschrien hätte, bis mich meine Eltern auf den Boden setzten – so wie Leonie.
Aber nicht mal das kann mich aus der Ruhe bringen. So ungern ich das auch sage, die Kollegen hatten recht: Die Berge wirken erholsam. Der Stress der vergangenen Monate fällt allmählich ab.
Auf dem Rückweg ziehe ich die gesunde Luft tief in meine Lungen. Leonie singt fröhlich »Grün, grün, grün sind alle meine Kleider« vor sich hin.
Auf einmal rotten sich über uns die Wolken wie Wölfe zusammen. Von allen Seiten zerrt schwülwarmer Wind an uns. Ich muss aufpassen, dass ich nicht das Gleichgewicht verliere.
Plötzlich öffnet sich der Himmel, und es strömt Regen auf uns herab, als würde der liebe Gott sein gigantisches Kinderplanschbecken ausleeren. Wir sind nass, bevor wir empört nach oben schauen können. Anne zieht eine Plane aus einem Geheimfach der Kraxe und spannt sie über Leonie. Die schlingt vor Schreck ihre Arme um meinen Kopf und hält mir dabei die Augen zu. Gleichzeitig bläst der Wind in die Plane und weht mich wie ein Segelboot hin und her. Ich strauchele, kann mich aber gerade noch fangen.
»Wie weit ist es noch?«, brüllt Anne.
»Du hast doch immer den Überblick«, schreie ich zurück. »Oder nicht?«
Aber Anne sieht sehr verloren aus.
»Mir nach!«, bestimme ich und stapfe los. Diesmal folgt mir Anne ohne Widerworte. Auch Leonie ist ganz still geworden und hat ihre kalten Hände jetzt unter meinem Kinn gefaltet. Leider kann ich den Verlauf des Wegs kaum erkennen, die Sicht geht bestenfalls noch bis zum nächsten Baum. Zum ersten Mal ahne ich, was es bedeutet, Verantwortung für eine Familie zu haben. Gefällt mir gar nicht.
Fünf Minuten später sind wir klitschnass. Ich höre Leonie in der Kraxe niesen. Meine Turnschuhe sind so glitschig, dass jeder meiner Schritte quietscht.
»Hör mal, ein Frosch«, versuche ich sie aufzumuntern, werde aber von einem Blitz unterbrochen. Es folgt ein gewaltiger Donnerschlag, der von den Bergwänden widerhallt. Leonie schluchzt und murmelt bibbernd: »Keine Angst.« Sie klammert sich an mich.
Ich beiße die Zähne zusammen. Von Regentropfen kann man hier gar nicht mehr sprechen, das sind eher Wasserfälle. Leonie niest erneut.
»Halt!«, höre ich Anne hinter mir. »Wir müssen uns unterstellen, sonst holt sich Leonie eine Lungenentzündung.«
»Unter die Bäume? Bei Gewitter?«
Anne zuckt mit den Achseln. Hilflos breitet sie die Arme aus.
»Ich weiß es doch auch nicht! Okay, dein Weg ist der richtige, du hast gewonnen! Aber zeig ihn uns bitte!«
Ich lasse den Kopf hängen. Warum wollte ich auch unbedingt wandern?
Als ich den Kopf wieder hebe, sehe ich zwei Autoscheinwerfer. Sie gehören einem Pick-up, der sich mit Allradantrieb durch tiefe Pfützen und über hohe Steine den Berg heraufkämpft. Anne und ich winken wie Schiffbrüchige, die in der Ferne das Traumschiff gesichtet haben. Der Wagen kommt näher und hält direkt vor uns. Ein Kerl in orangefarbenem Regencoat springt heraus, in der Hand hält er einen Schirm. Ich laufe zu ihm hin, um die Verhandlungen zu übernehmen. Um ehrlich zu sein, würde ich ihm sogar Anne und Leonie anbieten, um hier wegzukommen.
Irgendwoher kommt mir der Fahrer bekannt vor. Auf seinem Schirm erkenne ich das Logo eines Arm in Arm joggenden Pärchens und darunter den Schriftzug Mr. & Mrs. Perfect.
Schützend hält Annes Verlobter den Schirm über mich. Nein, er hält ihn über Leonie. Das abperlende Wasser läuft direkt in meinen Kragen.
Anne fällt ihm um den starken Hals.
»Hat es doch angefangen zu regnen, was?«, fragt er spöttisch. »Konnte niemand ahnen, oder?«
Ich schüttele stumm den Kopf.
»In den Bergen ändert sich das Wetter von einer Sekunde zur anderen«, belehrt er mich und sieht sich um. »Ihr seid die einzigen Wanderer weit und breit.« Mr. Perfect hebt Leonie aus der Kraxe. Sie kuschelt sich sofort an seine rettende Brust. »Jetzt kommt erst mal rein, ich habe Handtücher, heißen Tee und trockene Sachen mitgebracht.« Verwunderlich, dass er nicht zufällig auch noch ein Vier-Sterne-Menü und elektrische Heizkissen dabeihat.
Anne, Leonie und Mr. Perfect steigen ein. Kurz bevor ich ebenfalls in den Wagen klettern kann, zieht Mr. Perfect von innen die Tür zu, tritt aufs Gas und fährt los. Will der mich hier etwa zum Sterben zurücklassen? Ich renne dem Auto hinterher. Da geht die Beifahrertür auf. Ich steige ein, ehe es zu spät ist. Mr. Perfect sieht mich an, grinst und knufft mit seiner Bärenfaust gegen meine Schulter.
»Scherzchen gemacht«, freut er sich. »So viel Zeit muss sein.«
Dann tritt er endlich aufs Gas.
Nach zwei Saunagängen haben meine Knie aufgehört zu zittern, und meine Füße sehen nur noch ein bisschen blau aus. Anne und Leonie haben es sich währenddessen in Mr. Perfects Suite gemütlich gemacht. Im Spa-Bereich schenke ich mir ein Glas Limonenwasser ein und bereite mich mental auf die Vorwürfe von Anne vor.
Das war heute echt ein bisschen viel. Selbst einen Saunagang mehr hätte ich wahrscheinlich nicht verkraftet. Fühle mich irgendwie seltsam kribbelig. Hoffentlich habe ich mir bei der Kraxenschlepperei keinen Nerv eingeklemmt.
Egal, erst mal rauf ins Zimmer und schauen, wie es meiner Fake-Familie geht. Ich öffne die Tür zum Badebereich und renne direkt in Mr. Perfect. Der macht das wohl mit Absicht. Anstatt sich zu entschuldigen, sieht er mir in die Augen.
»Lust auf einen Aufguss?«, fragt er. »Oder hattest du davon heute schon genug?«
Eigentlich hatte ich das tatsächlich, aber nach Mr. Perfects Rettungsaktion schulde ich ihm mehr als einen Gefallen. Und der Bademeister hat gesagt, dass Wärme meinem Rücken hilft.
Also mache ich auf meinen Hotellatschen kehrt, ziehe meine Badehose wieder aus und greife mir ein neues Handtuch.
Mr. Perfect kommt aus der Dusche und präsentiert stolz seine Muckis. Wir mustern uns. Als mein Blick an seinem massiven Brustmuskel hängen bleibt, wünsche ich mir kurz Leonie herbei, damit sie ihm einen »Riesenbusen« attestiert.
»Arbeitest du eigentlich an deinen Problemzonen?«, fragt er mit der unverblümten Direktheit eines Fitness-Coachs. Er deutet an sich herunter. »Hättest du nicht auch gern so einen Sixpack?«
Ich lächle verlegen. »Ach, um ehrlich zu sein, hätte ich nach diesem Tag lieber so einen Sixpack.« Ich mache mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger die Trinkergeste.
Mr. Perfect schüttelt den Kopf. »Das sieht man. Aber darüber können wir später noch mal reden. Jetzt ist erst mal Lindenblütenaufguss in der Finnischen angesagt, Sportsfreund.«
Na ja, das klingt ja ganz entspannt.
Vor der finnischen Sauna steht ein riesiger Holzbottich, in dem ein erwachsener Mann leicht Platz hat. Auf den Entspannungsliegen davor hat sich Familie Fröhlich mit vier großen und kleinen Körben voller Spa-Equipment niedergelassen. Mist, ich hatte gehofft, Frau Fröhlich in der Sauna zu sehen. Ich grüße sie mit einem Kopfnicken, aber sie schließt simultan mit ihrem Mann und ihren Kindern die Augen und dreht den Kopf zur Seite.
Durch eine dicke Glastür, an der innen Schweiß kondensiert, betreten wir die Sauna. Der riesige Raum ist bis auf den letzten Holzplatz besetzt: Schwitzende Schultern kleben an perlenden Oberarmen und Schenkeln. Auf drei Etagen reiht sich altes und junges, festes und wabbeliges Fleisch der Gäste um einen großen Steinhaufen.
Kaum haben wir die Tür geöffnet, schlägt mir eine glühende Hitzewelle entgegen, wie ich sie sonst nur aus Backöfen kenne. Mit halb geschlossenen Augen schaue ich kurz umher, erkenne aber nur den Hotelpsychologen. Der ist, was nackte Körper angeht, bestimmt an die ärztliche Schweigepflicht gebunden.
Auf der untersten Holzstufe sind noch einige Plätze frei. In der Hoffnung auf ein wenig Luftzug setze ich mich nah an den Ausgang.
Mr. Perfect dagegen steigt die Saunaebenen mit großen Schritten empor und verkündet: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt!« Ob Anne wohl weiß, wie der sich benimmt, wenn sie nicht dabei ist?
Mr. Perfect quetscht sich ganz oben zwischen zwei junge Mütter. Die Frauen schauen betreten zur Seite.
»Na, meine Damen?«, schäkert er und beäugt sie, wie er eben mich gemustert hat. »Bei schlechtem Bindegewebe im Hüftbereich sprechen wir Mediziner übrigens auch von Planschbecken.«
Eine der Mütter steht auf. »Was fällt Ihnen ein?«, beginnt sie sich zu ereifern, doch Mr. Perfect kommt ihr zuvor: »Ein Trainingsplan für dich, Dickerchen, der fällt mir ein. Hat meiner Frau nach der Geburt auch geholfen.«
Nun steht auch die andere Frau auf.
»Männer!«, zischen sie und verlassen die Sauna. Zum Glück kennt mich hier niemand.
»Caspar«, ruft Mr. Perfect. »Hier ist ein Platz mit guter Aussicht.«
Es wird nichts helfen, mich taub zu stellen. Beim zweiten »Caspar« nehme ich mein Handtuch und bahne mir den Weg durch die Reihen der Nackten, wobei ich versuche, nicht auf nassen Schenkeln auszurutschen.
Nach vier »Sorrys« komme ich neben Mr. Perfect in der dritten Etage an, nah am Steinhaufen. Dieser Platz ähnelt von der Atmosphäre her dem ersten Wagen einer Achterbahn.
Ich schaue nach links. Direkt neben mir sitzt Ehepaar Eisenstein. Mit aller Kraft zwinge ich mich, den Blick auf ihren Gesichtern ruhen zu lassen. Frau Eisenstein grüßt mich mit ihrem gütigen Lächeln. Offenbar haben die beiden kein Wort von dem verstanden, was sich Mr. Perfect eben geleistet hat. Die alte Frau bewegt ihren faltigen Oberschenkel etwas zur Seite, sodass ich sie beim Hinsetzen nicht berühre. Ihr Mann streichelt ihr zärtlich über den krummen Rücken.
Kaum habe ich mich hingesetzt, fühle ich mich wie mittags in der Sahara unter einem Heizpilz. Der Platz hier ist tatsächlich die Hölle. Von oben kann man die Problemzonen der anderen Gäste noch deutlicher erkennen als von unten. Leider bin ich so eingepfercht, dass ich den Aufguss wohl bis zum Ende aussitzen muss.
Jetzt betritt der Bademeister den Raum. Er trägt einen hölzernen Eimer mit einer Kelle und um die Lenden nichts als ein Handtuch. Die vielen Aufgüsse haben seine Haut ledrig rot gefärbt. Sein Gesichtsausdruck hat alles Gütige verloren, keine Spur mehr von Wellness, Ayurveda oder Wohlfühlmassage. Sein Blick schweift über die Wartenden wie der des Opfermeisters einer Saunasekte über die Jungfrauen, die gleich ins Feuer geworfen werden. Ich grüße ihn mit einem Kopfnicken, aber er scheint mich nicht zu erkennen. So muss die Hexe geschaut haben, als sie Hänsel und Gretel backen wollte.
»Hohoho!«, ruft der Mann. »Seid ihr bereit, durch die Hölle zu gehen?«
Die Hölle? Ich dachte, das hier sei der Lindenblütenaufguss? Ich schüttele den Kopf. Aber das interessiert niemanden.
Der Bademeister fährt in ernstem Ton fort: »Wenn irgendwem schwindelig wird, bitte rausgehen. Wenn jemand Herzrasen kriegt, bitte sofort raus – vor allem die Herren. Die Damen dürfen gern hier drin umkippen, dann belebe ich sie wieder.« Er macht einen Kussmund und zwinkert ironisch.
Die Gäste lachen – wie erwartet. Mr. Perfect klatscht sich sogar mit der Pranke auf den Oberschenkel, dass ein paar Schweißperlen auf meinem Bauch landen.
»Und schon geht es los«, kündigt der Zeremonienmeister an und gießt genüsslich eine große Kelle Wasser aus dem Kübel auf den Steinhaufen. Es zischt. Noch eine Kelle, noch ein Zischen. Die Hitze steigt, meine Haut brennt. Kelle, Zischen, Kelle, Zischen. Kann kaum noch atmen. Auch die anderen Gäste kneifen die Augen zusammen. Ein älterer Mann setzt seine Brille ab, ein anderer steigt von der dritten auf die zweite Etage hinunter.
Mr. Perfect grinst unbeirrt. Schweißperlen kullern über die verschiedenen Wölbungen seines Körpers. Bei mir wachsen sie aus der ersten Bauchfalte, kullern in die zweite Bauchfalte und verschwinden in der dritten. Ich kann jede Pore meiner Haut genau erkennen, wie unter einem Mikroskop.
»Bitte anschnallen, ich starte den Propeller«, kündigt der Bademeister an und nimmt das weiße Saunahandtuch von den Schultern. Wie ein Cowboy wirbelt er es über seinem Kopf, während er durch den Raum schreitet. In Schüben peitschen die Hitzewellen auf uns ein. Offenbar wedelt der Kerl den Sauerstoff hinaus, denn ich kriege kaum noch Luft. Muss schneller atmen. Meine Finger kribbeln, die Beine auch. Tiefer Luft holen.
Der nächste Aufguss. Die ersten Gäste verlassen bereits die Sauna, darunter der Psychologe.
»Feiglinge«, ruft Mr. Perfect ihnen hinterher. »Flüchtlinge!«
Der Bademeister grinst, Frau Eisenstein nickt gesellig. Mir wird ein bisschen schwindelig, deshalb stütze ich mich mit den Ellbogen auf meinen Knien ab. Sind bestimmt die Entzugserscheinungen vom Nichtrauchen.
Vor jeder Reihe, in der starke Männer sitzen, wedelt der Bademeister eine Extrarunde. Das ist die dunkle Seite der Männlichkeit: immer ans Limit, ganz egal, ob beim Saufen oder in der Sauna. Vielleicht sollte ich doch mal kurz frische Luft schnappen? Nein, ich werde mir vor Mr. Perfect keine Blöße geben.
Jetzt steht der Bademeister direkt vor uns. Er sieht mich etwas besorgt an. »Alles okay?«, fragt er.
Ich nicke. Meine Knie sind mittlerweile eh zu weich, um aufzustehen. Und ich möchte auf keinen Fall beim Rausgehen straucheln. Ist bestimmt gleich vorbei. Mein Herz klopft so laut, dass die anderen es eigentlich hören müssen.
»Dann mal her mit der Hitze, junger Mann«, sagt Oma Eisenstein und nickt dem Bademeister voller Vorfreude zu. Mr. Perfect, der auch schon ordentlich schwitzt, reckt den Daumen nach oben. Sogar ich ringe mir ein Nicken ab.
Der Bademeister grinst. In bester Autoscooter-Manier ruft er: »Bitte aaanschnaaallen, die letzte Runde beginnt!«
In einem Schwall schüttet er den Rest Wasser aus dem Eimer über die Kohlen. Das Zischen ist unerträglich, die Luft verdampft. Ich muss an die Wirtschaftsbosse denken, die in dieser Sauna ihr Leben gelassen haben. Mir wird so schummerig, dass ich den Kopf nicht mehr heben kann. Mein Puls rast. Raus. Doch ich kann nicht aufstehen.
Der Bademeister beginnt, sein Handtuch zu schwingen. Ich ringe nach Luft. Mr. Perfect schaut mich an. Seine Lippen bewegen sich, aber ich verstehe ihn nicht.
Mit letzter Kraft drehe ich mich weg von ihm, zu Frau Eisenstein. Die nickt mir freundlich zu. Ich versuche ein Lächeln. Dabei verliert mein Körper auch das letzte bisschen Spannung, und ich spüre gerade noch, wie ich mit dem Gesicht voraus in Oma Eisensteins nackten Schoß kippe.