11. Julias Facebook Status: Girls
Night out!
„Mach nicht so ein Gesicht, Pumbi! Es ist Freitagabend! Also nicht die richtige Zeit um Trübsal zu blasen.“ Meine beste Freundin nimmt mich in den Arm. „Du holst jetzt deinen schicksten Fummel aus dem Schrank und dann machen wir zusammen die Clubs unsicher. So wie früher. Ich habe Sergej schon gesagt, dass er heute Nacht nicht mehr mit mir rechnen kann.“
Ich schaue angewidert zur Seite. Ich habe überhaupt keine Lust auszugehen. Ich will nicht wie früher Clubs unsicher machen. Nein, so macht mir mein Single-Dasein überhaupt keinen Spaß. Eigentlich will ich nicht wieder da hinaus und mich auf den Single-Markt werfen, schon gar nicht nach dem heutigen Tag, nach dem heutigen Kuss. Will mich nicht beweisen müssen, mich nicht von meiner besten Seite zeigen, nicht über blöde Witze von Männern lachen, nur damit die das Gefühl haben, sie seien die Größten. Ich will nicht interessiert nicken und beeindruckt tun, wenn mir irgendein Kerl erzählt, dass er gerade zum Mitarbeiter des Monats bei McDonalds gewählt wurde. Ich will mich nicht anpreisen müssen, auch wenn ich das in meinem Alter noch nicht nötig habe.
Das war ganz anders, als ich mit Johann zusammen war. Da bin ich gerne am Wochenende wenn er arbeiten musste durch die Bars gezogen und habe mich anmachen lassen, denn da wusste ich ja, dass das alles nur ein Spiel ist und zu Hause ein Mann auf mich wartet, der mich liebt. Dachte ich jedenfalls. Was für ein schönes Gefühl! Du kommst nach Hause, ziehst vor der Haustür schon mal deine Schuhe aus, um ihn nicht aufzuwecken, und schleichst auf Zehenspitzen durch die Wohnung ins Badezimmer, wo du dir pflichtgemäß die Zähne putzt und die Spuren deines mittlerweile verlaufenen Make-ups entfernst, um dich dann an deinen Liebsten zu kuscheln. Wenn er dich dann fragt wie es gewesen sei, antwortest du mit einem leisen „Okay“ und dem Bewusstsein, dass du einigen Männern ein zweideutiges Lächeln geschenkt und sie beeindruckt hast – ohne dass du es nötig gehabt hättest, sie zu beeindrucken.
„Pumbi, du bist ja völlig durch den Wind!“, stellt Katja fest.
„Ich weiß auch nicht was mit mir los ist, aber die ganze Sache mit Johann nimmt mich irgendwie mehr mit, als ich gedacht habe. Und dann dieser Kuss ...“ Ich seufze theatralisch.
„Also, dieser Benni ist wirklich komisch. Erst verführt er dich im Zug und dann tut er so, als sei nichts passiert ...“, sie macht eine nachdenkliche Pause, „ ... dann plötzlich küsst er dich. Ich werde aus dem Kerl nicht schlau.“
„Ich auch nicht und das ist es ja, was mich so deprimiert. Du hättest ihn sehen sollen. Er sah so unglücklich aus und hat irgendwas davon gefaselt, dass er der Hirsekorn einen Gefallen schuldig sei.“ Ich schüttele den Kopf. „Vermutlich erpresst sie ihn irgendwie.“
„Wieso sollte sie ihn erpressen? Sie ist doch diejenige mit dem Geld.“
„Vielleicht ist sie doch seine Geliebte?“ Ich sitze plötzlich aufrecht und umklammere den Stift in meiner Hand. „Vielleicht wollte er Schluss machen?“ Der Gedanke gefällt mir. „Vielleicht hat er mir deswegen den Kuss gegeben? Eigentlich will er mich, aber wird von der alten Hirsekorn erpresst.“
„So wie du ihn mir beschrieben hast, passt das gar nicht zu einem Typen wie Benni, sich von einer Frau erpressen zu lassen. Findest du nicht?“
„Eigentlich nicht“, sage ich und verziehe das Gesicht. „Aber denk nur an Richard Gere in Ein Mann für gewisse Stunden. Der wird auch von so einer alten Schachtel ausgehalten.“
„Du meinst Lauren Hutton? Also hör mal, das ist eine Klassefrau und keine alte Schachtel!“, protestiert Katja.
„Ja, okay. Kann man vielleicht nicht vergleichen, aber irgendwie ist er von der Frau abhängig. Das kann ich mit jeder Faser meines Körpers spüren.“
„Hast du nicht gesagt, dass er dieses schicke Studio in eurem Gebäude hat?“
Ich nicke widerwillig.
„Na, dann macht die ganze Sache doch Sinn. Er hat eine Affäre mit der alten Hirsekorn und kann sich so seinen Traum vom tollen Studio als selbständiger Fotograf leisten.“
„Und was ist mit meinem Kuss?“
Kurzes Schweigen.
„Der Mann hat schließlich auch Bedürfnisse.“
Also, dass mich meine beste Freundin als das Bedürfnis eines Mannes abstempelt, finde ich entsetzlich.
„Hey Pumbi, jetzt zieh doch keine Schippe. Ich tappe genauso im Dunkeln wie du.“ Sie nimmt mich in den Arm. „Ich finde, du solltest die ganze Sache einfach auf sich beruhen lassen. Du wirst sowieso keine Antwort auf deine Frage bekommen, außer du fragst ihn direkt und das kannst du nicht, da Benni sich heute von dir fürs Wochenende verabschiedet hat.“
Manchmal hasse ich Katjas nüchterne Art, die Dinge zu sehen. Aber wo sie recht hat, hat sie recht. Ich nicke betrübt.
„So, und jetzt schmeiß dich in irgendeinen schicken Fummel.“
Die Bässe des Clubs wummern laut in meinen Ohren.
„Hallo, Schönheit.“
„Hä?“
„Darf ich dich auf einen Drink einladen?“
Wer stört mich da in meiner Depression? Wo ist Katja? Und warum quatscht mich dieser Typ von der Seite an, als würde ich nur auf ihn warten? Widerwillig hebe ich meine Augen und betrachte den Eindringling in meine Traueraura.
Ein äußerst hübsches Exemplar seiner Gattung hat sich vor mir aufgebaut, nur leider ein paar Jahre zu jung für mich. Und die Nummer mit der Schönheit habe ich vor Jahren hinter mich gebracht. Egal. Ich brauche eine Ablenkung. Ich mache einen Augenaufschlag, wie man ihn sonst nur in Hollywood-Filmen zu sehen bekommt, und öffne verheißungsvoll meine Lippen.
„Nur, wenn du meiner Freundin auch einen Drink spendierst.“
Er lächelt. Süß.
Er ist höchstens fünfundzwanzig. Er hat einen modischen Kurzhaarschnitt, breite Schultern und ein Lächeln, als ob er gerade aus einem Werbeplakat für Zahnpasta entsprungen ist. In diesem Moment hebt er sein Glas.
„Was kann ich dir und deiner Freundin also bringen?“ Er vertieft sein Dauerlächeln noch ein wenig.
„Sonne im Glas.“ Sollte lässig klingen, aber stattdessen ernte ich verständnislose Blicke meines Gegenübers.
„Aperol mit Sekt, bitte“, berichtige ich mich und lächele. Jetzt nickt mein Verehrer.
In diesem Moment kommt Katja zurück. Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet sie meinen Prinzen.
„Wie ich sehe, hast du schon Anschluss gefunden.“
„Äh, ja. Das ist ...“
„... Jan Becker.“
Er macht eine gespielte Verbeugung. Schnuckelig. Der Junge hat es echt drauf.
„Ich bin Savanna“, lege ich los. Jajaja, ich wollte schon immer einen geheimnisvollen Namen haben. Einen Namen, der nach Abenteuer, Erotik und Versuchung klingt. „Und das ist meine Freundin Katja.“ Ich streiche mir lässig eine Strähne hinters Ohr. Katja wirft mir einen Blick zu, der mir zeigt, dass ich kurz davor bin, meinen Verstand zu verlieren. Dabei mache ich doch nur das, was sie von mir verlangt hat: Ich amüsiere mich!
„Tja, ich geh dann mal die Drinks holen.“ Er lächelt schüchtern und geht. Um sicherzugehen, dass er auch wiederkommt, werfe ich ihm einen verheißungsvollen Blick voller Erotik hinterher.
„Savanna?“ Katja verzieht das Gesicht.
„Klingt toll, oder?“ Ich strahle und nehme den letzten Schluck aus meinem Glas. Ich wollte schon immer mal Savanna genannt werden.
„Was ist los mit dir?“ Katja schnüffelt misstrauisch an meinem Glas. „Vor einer Stunde musste ich dich fast zwingen mit mir auszugehen und jetzt baggerst du junge Typen an und gibst dich als Savanna aus.“
„Wieso? Du hast gesagt ich soll mich amüsieren – und genau das mache ich.“
„Indem du junge Kerle anbaggerst und sie dann zu Tode erschreckst?“
„Erstens hat Jan mich angesprochen und zweitens wird Frau doch ihren Spaß haben dürfen. Ich bin schließlich Single.“
„Ein ziemlich verwirrter Single“, stellt Katja fest.
In diesem Moment taucht eine vertraute Silhouette im Hintergrund auf. Ich kneife die Augen zusammen. Öffne sie. Immer noch das gleiche Bild. Das kann doch nicht! Das ist unmöglich!
„Katja kneif mich!“
„Was?“
„Kneif mich sofort in den Arm, sonst schreie ich!“
„Autsch!“
„Was ist los?“
Ich kann nicht sprechen. Mit offenem Mund schaue ich zu, wie Benjamin Wagner zusammen mit einer spektakulären Blondine im Arm an die Bar geht.
Katja ist meinem Blick gefolgt. „Moment mal. Ist das etwa ...?“
Ich nicke. Zu mehr bin ich nicht fähig.
„Benni?“ Katja sieht mich überrascht an.
Ich weiß nicht warum, aber plötzlich ist mir zum Heulen zumute. Ich bin völlig verwirrt. Benni hier? Wer ist die Blonde? Was soll das ganze Theater? Zu allem Überfluss kommt genau jetzt Jan mit den Drinks zurück.
„Für die zwei schönsten Frauen im ganzen Raum.“ Er macht eine gespielte Verbeugung und reicht uns die Gläser. Ein richtiger kleiner Gentleman, mein Verehrer. Ich muss beide Hände nehmen, um das Glas festzuhalten. Mein ganzer Körper zittert vor Aufregung, nicht wegen Jan, sondern wegen Benni. Was für eine Frechheit von dem Kerl! Mir erst diese Geschichte mit der wichtigen Angelegenheit aufzutischen und dann hier so mir nichts dir nichts aufzutauchen, mit einer scharfen Blondine am Arm.
„Savanna!“ Jan prostet mir zu. Savanna. Aus seinem Mund klingt mein neuer Name wie eine süße Nachspeise, die ihm gerade auf der Zunge zergeht.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Benni seinen Arm um die Blonde legt, während sie ihren Kopf nach hinten beugt und lacht. Mist, verdammt! Ich nehme einen tiefen Schluck aus meinem Glas.
„Übel geiler Laden hier.“ Jan wippt im Takt der wummernden Musik. Was waren das doch für Zeiten, als Michael Jackson in allen angesagten Clubs lief und ich heimlich zu Hause den Moon Walk geübt habe. Seufz! Man muss sich vorstellen, ich habe tatsächlich mal einen Jungen geküsst nur weil er den Moon Walk konnte und damit der coolste Typ an der gesamten Schule war. Damals gab es noch Popper und man sagte auch noch Dinge wie »echt knorke«. Aber ich muss mich wohl dem Wortschatz meines jugendlichen Begleiters anpassen, wenn ich nicht als völlig veraltet erscheinen will.
„Ja, voll krass.“ Der Satz bringt mir ein Lächeln von Jan und einen ungläubigen Blick von Katja ein.
Möglichst unauffällig werfe ich einen Seitenblick zu Benni und der Blondine. Die Beiden stehen dicht beieinander und reden. Die Art und Weise wie sie es tun, lässt vermuten, dass sie miteinander vertraut sind. Benni legt seine Hand auf ihre Schulter und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Blonde lächelt. Mir versetzt die Szene einen Stich in die Magengegend. Schnell wende ich meinen Blick wieder ab. Ich stürze das halbe Glas in meiner Hand auf einmal herunter. Eigentlich sollte mir der Blödmann doch egal sein. Der und sein lächerlicher Kuss!
Jan lächelt mich an. Seine Fingernägel sehen leicht ungepflegt aus. Ach, ich darf die Sache nicht so eng sehen. Schließlich will ich ihn ja nicht heiraten, sondern nur Sex mit ihm haben. Wilden, ungezügelten Sex – die ganze Nacht. Einen Orgasmus nach dem anderen und wenn ich keine habe, werde ich sie vortäuschen und dafür sorgen, dass Benni davon erfährt. Der soll bloß nicht glauben, dass ich auf ihn gewartet habe, nur weil er mir einen bescheuerten Abschiedskuss gegeben hat! Idiot!
Katja winkt mich zu sich heran und flüstert mir ins Ohr, so dass Jan uns nicht hören kann.
„Du hast mir gar nicht erzählt, was für eine absolute Granate der Typ ist!“
„Wer? Jan?“
„Nee, dein Benni natürlich. Dem kann dieser Jan doch nicht das Wasser reichen.“
„Och. Findest du?“ Ich blinzele heimlich in Bennis Richtung. Tatsächlich sieht Benni heute Abend umwerfend aus. Er trägt eine von diesen absolut angesagten lässigen Jacken, darunter ein T-Shirt und Jeans. Allerdings hat er immer noch diese Schatten unter den Augen, aber das tut ihm keinen Abbruch. Wahrscheinlich hatten die Beiden die ganze Nacht wilden Sex und die Augenringe sind so eine Art Trophäe. „Ja, sieht ganz nett aus.“
„Ganz nett? Nett ist die kleine Schwester von »scheiße«. Bist du blind? Der Typ ist der absolute Hammer!“ Katja gibt mir einen kräftigen Stoß in die Seite. „Kein Wunder, dass du dich in den verknallt hast.“
„Ich bin nicht verknallt!“, protestiere ich ein wenig heftiger als nötig. Natürlich bin ich nicht blind, aber ich habe keine Lust vor Katja zuzugeben, dass Benni mit seinen braunen Augen absolut mein Typ ist.
„Pumbi, ich bin deine älteste Freundin. Ich weiß wenn du verknallt bist – bevor du es weißt. Und so wie du Benni anstarrst, bist du bis über beide Ohren in den Typen verknallt.“
„Unsinn! Ich finde ihn ganz nett, das ist ...“
„Hast du Lust zu tanzen?“ Jan tänzelt leicht unbeholfen vor mir. Anscheinend hat er beschlossen unser Gespräch zu beenden und meine Aufmerksamkeit zurück zu erlangen.
„Klar!“ Ich werfe einen triumphierenden Blick in Katjas Richtung, bevor ich mit verführerisch schwingender Hüfte in die Menge der Tanzenden abtauche. Katja schüttelt den Kopf, aber das ist mir egal.
Also platziere ich mich so auf der Tanzfläche, dass ich Benni von meiner Position aus sehen kann. Der ist allerdings derart in das Gespräch mit der blonden Sexbombe vertieft, dass er nichts um sich herum wahrzunehmen scheint.
Jan jedenfalls hält sich für den Tanzgott und reibt seine Hüften an mir, als ginge es darum, mich jetzt gleich hier auf der Tanzfläche zu begatten. Das erinnert mich unschön an meine Judostunden in der Schule, wo ich den Großteil der Zeit damit beschäftigt war, mich aus den Armen meines Gegners zu winden, um nicht im hohen Boden durch einen Ogoshi auf den Boden befördert zu werden. Aber so schnell lasse ich mich nicht entmutigen. Ich lasse meine Hüfte verführerisch kreisen und werfe meinen Kopf in den Nacken.
Baby let’s rock!
Gegen mich ist Jennifer Grey aus Dirty Dancing doch nur ein billiger Abklatsch. Normalerweise bin ich, was das Tanzen anbelangt, eher zurückhaltend, aber heute fühle ich die Beats in meinem Bauch. Heute Nacht bin ich eine Göttin. Ich spüre meine Füße kaum noch. Nehme die Blicke der Männer wahr, die wie immer entlang der Tanzfläche stehen, um potenzielle Opfer auszumachen. Ich lasse meine Hände entlang meines Körpers streichen, werfe verheißungsvolle Blicke zu Jan und schwinge meine Hüften im Rhythmus der Musik. Dann werfe ich einen kurzen Kontrollblick zu Benni. Aber Benni scheint mich überhaupt nicht zu bemerken, stattdessen flirtet er unverhohlen mit seiner Begleiterin. Irgendwie kommt mir das Gesicht der Blonden bekannt vor ... wo hab ich die nur schon mal gesehen? Ha, jetzt weiß ich es! Die Blonde an Bennis Seite ist die Frau auf den Fotos in Bennis Galerie! Was immer zwischen den Beiden läuft, es geht schon länger!
Jans Gesicht kommt dem meinem sehr nahe. Seine Lippen kleben förmlich an meinem Ohr.
„Wie wär‘s, wenn wir zu mir gehen?“
Bitte? Jetzt bin ich ernsthaft irritiert. Habe ich das richtig verstanden? Wahrscheinlich hat ihm irgendein unerfahrener Trottel mal gesagt, dass ältere Frauen total scharf auf jüngere Männer sind und sofort Sex haben wollen. Zugegeben, das war eigentlich der Plan – aber jetzt sofort? Nein, ich muss Benni noch eine Weile beobachten. Ich will wissen, was es mit der Blondine auf sich hat.
„Ich muss kurz auf die Toilette. Nicht weglaufen“, flüstere ich so verführerisch in sein Ohr, wie es bei dem Lärm möglich ist , worauf Jan mir zunickt.
„Schon fertig?“ Katja mustert mich streng, als ich völlig außer Atem den Rest meines Drinks hinunter stürze.
„Jetzt sei doch nicht so eine Spaßbremse! Schließlich hast du mich hierher geschleppt.“ Mein Mund ist von der Tanz-Anstrengung total ausgetrocknet. Ah, die Bedienung kommt gerade an unserem Tisch vorbei.
„Meine Güte, Sie schickt der Himmel!“, schreie ich ihr ins gepiercte Ohr.
Die Frau sieht mich völlig verständnislos an. Na ja, kann ja nicht jeder meinen Humor haben – sie hat ihn jedenfalls nicht.
„Einen Aperol auf Sekt, bitte.“ Sie nickt und geht. Ein echtes Sprachwunder eben!
„Meinst du nicht, dass du genug hast?“ Katja deutet mit einer Kopfbewegung auf mein leeres Glas und macht dabei ein besorgtes Gesicht.
„Ach Katja! Jetzt bleib mal locker! Ich bin halb am Verdursten.“ Ich wedele mir Luft mit der Hand zu.
„Ein Wasser hätte es auch getan“, murrt sie.
„Ich habe total vergessen, wie anstrengend tanzen ist“, ignoriere ich ihre letzte Bemerkung geflissentlich.
„Wenn man so tanzt wie du, vielleicht. Sag mal, was sollte das auf der Tanzfläche werden? Eine Art Fruchtbarkeitstanz?“
Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. „So tanzt man heutzutage! Ich passe mich nur an."
Die Bedienung kommt mit meinem Drink. Gierig nehme ich einen tiefen Schluck, was Katja mit einem bösen Blick quittiert.
„Ah, das tut gut! Ich muss dringend auf Toilette.“
„Alles okay mit dir? Soll ich mitkommen?“
„Wirklich, Katja, ich bin ein großes Mädchen und durchaus in der Lage alleine aufs Klo zu gehen. Wenn Jan nach mir fragt, ich bin gleich wieder da.“
Katja nickt und seufzt laut.
Eigentlich muss ich gar nicht auf die Toilette. Der wahre Grund ist, dass mir der Schweiß in Strömen den Rücken herunter läuft. Ich brauche dringend eine Rundumerneuerung.
In dem Club ist es so dunkel, dass ich Mühe habe meinen Weg zu den Toiletten zu finden. Halbblind taste ich mich durch die Menschenmenge, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippt.
„Julia, was machst du denn hier?“ Benni steht vor mir.
Einatmen! Ausatmen!
Ich hebe trotzig den Kopf. „Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen. Hattest du nicht gesagt, du müsstest etwas regeln?“
„Hey, jetzt sei nicht sauer. Ich muss wirklich etwas regeln und dass ich hier bin, ist ein Teil davon."
„Die hübsche Blondine auch?"
Ein amüsiertes Lächeln huscht über Bennis Gesicht. „Bist du etwa eifersüchtig?"
„Was? Ich?" Meine Stimme klingt schrill. „Benni, bitte mach dich nicht lächerlich. Wieso sollte ich eifersüchtig sein? Nur weil du mir diesen kleinen, absolut nichtssagenden Kuss gegeben hast? Du und ich, wir beide wissen, dass der Kuss nichts zu bedeuten hat. Ein harmloser Kuss unter Arbeitskollegen."
„Ist das so?" Benni starrt mich an und er sieht überhaupt nicht mehr freundlich aus.
Ich schlucke angesichts seiner sauren Miene. Was bildet sich der Typ eigentlich ein? Erst küsst er mich, haut ohne ein weiteres Wort ab und taucht dann mit einer umwerfend hübschen Blondine im Arm auf. Der kann doch unmöglich glauben, dass ich auch nur ansatzweise eifersüchtig auf ihn bin. Er und sein blöder Kuss sind mir egal.
„Lass uns wie zwei erwachsene Menschen mit der Sache umgehen. Du hattest einen schwachen Moment und ich war gerade in der Nähe. Na und? Du kannst also mit ruhigem Gewissen zurück zu deiner Blondine gehen, bevor du wirklich Probleme bekommst, die du regeln musst.“ Habe ich gerade diesen absolut erwachsenen Satz gesagt? Ich drehe mich um und lasse den sprachlosen Benni in der Menge stehen.
Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich endlich vor dem Spiegel in der Toilette stehe. Auf meinem Gesicht haben sich verräterische Spuren der Anstrengung gebildet. Kreisrunde rote Flecken zieren mein Gesicht und den Hals. Mein Lippenstift ist so gut wie nicht mehr vorhanden. Oje, meine Haare! Verschwunden ist die seidige Matte, stattdessen hat es sich der Pudel auf meinem Kopf wieder gemütlich gemacht. Lediglich meine Mascara hat den Anstrengungen getrotzt und hält, was sie verspricht. Ich bin so begeistert, dass ich für einen Augenblick ernsthaft erwäge, der Firma Clinique meinen Dank für diese tolle Erfindung der wasserfesten Wimperntusche auszusprechen.
Seufzend mache ich mich ans Werk. Die Zeiten, in denen ich kurz vor dem Weggehen nur eine getönte Tagescreme und etwas Mascara aufgetragen habe, sind längst vorbei. Mittlerweile beherbergt mein Regal im Badezimmer eine beachtliche Ansammlung von Anti-Aging Cremes und Make-ups mit lichtreflektierenden Partikeln, um die ersten Fältchen zumindest optisch verschwinden zu lassen.. Gelobt sei die moderne Kosmetikindustrie. Abends gehe ich nie ins Bett ohne mich sorgfältig abzuschminken und eine Nachtcreme mit möglichst vielen Wirkstoffen aufzutragen. Auf Sprüche wie: „Ich liebe jede einzelne meiner Falten, denn sie erzählt eine Geschichte“, kann ich voll verzichten. Ich will meine Geschichten selbst erzählen und vor allem nicht mit meinem Gesicht!
Puh, fertig. Endlich! Ein letzter kontrollierender Blick in den Spiegel. Gar nicht übel für eine neunundzwanzigjährige Frau.
Aber was ist das?
Ich trete einen Schritt zurück, um das Desaster zu begutachten. Unter meinem Achseln schimmern dunkle, verräterische Schweißflecken. Dieses blöde Öko-Deo, das mir meine Mutter geschenkt hat, scheint seinen Dienst vorzeitig aufgegeben zu haben. Panisch sehe ich mich um. An der Wand hängt eines dieser Turbogebläse, mit denen man seine Hände trocknen kann. Das Ding schickt der Himmel!
Ich drücke den roten Knopf des Gerätes und sofort pustet das Teil unter lautem Getöse warme Luft in den Raum. In gebückter Haltung stelle ich mich so unter das Gebläse, dass die warme Luft genau auf meine Achseln trifft.
Prima! Die zweite Seite ist fast trocken, als eine Gruppe junger Mädchen gackernd den Raum betritt. Bevor ich es verhindern kann, haben sie mich entdeckt. Mein Anblick, wie ich halbgebückt unter dem Gebläse hänge, macht die Mädchen sofort sprachlos. Ich werfe ihnen ein Ist-alles-völlig-normal-Lächeln zu und sehe zu, dass ich mit meinem hochroten Kopf Land gewinne. Beim Rausgehen höre ich die jungen Mädchen laut losprusten.
... Die Arme hat bestimmt ihre Wechseljahre.
... Ich hab ja gleich gesagt, hier sind nur Ältere...
Na toll! Haben die keine Augen im Kopf? Ich und Wechseljahre! Ich stehe in der Blüte meines Lebens. Ich bin der Inbegriff von Jugend! Wütend und ein kleines bisschen frustriert gehe ich zurück zu Katja an den Tisch, schnappe mir mein Glas und trinke es mit einem Zug leer.
„Oha!“, sagt Katja. „Was ist denn mit dir passiert? Du guckst, als wäre dir unterwegs E.T. begegnet.“
„So was Ähnliches!“ Ich drehe mich suchend nach Jan um. Ups. Fast hätte ich das Gleichgewicht verloren.
„Sollten wir nicht langsam mal nach Hause?“, drängelt Katja. Die alte Nervensäge!
„Jetzt geht der Spaß doch erst richtig los!“ Ich schnappe mir Katjas Glas und trinke es mit einem Zug leer. „So, und jetzt will ich tanzen ...“
„Pumbi, ich finde wirklich, wir sollten gehen.“
„Auf keinen Fall! Wo ist mein Prinz?“
Katja schüttelt den Kopf „Falls du den Kleinen von vorhin suchst, der wollte nur kurz einen Drink holen und ist seitdem nicht mehr aufgetaucht. Da hat sich dein Prinz wohl zum Frosch verwandelt.“
„Echt komisch! Ich leide und du machst dich lustig über mich.“
„Ach komm schon. So war es doch nicht gemeint“, lenkt Katja ein. „Sergej hat mich gerade angerufen. Er ist früher fertig als gedacht und würde auf einen Drink in der China Lounge vorbeischauen.“
„Wirklich?“ Im selben Moment als ich es ausgesprochen habe, weiß ich, ich hätte lieber den Mund halten sollen. Aber das war schon immer mein Problem. Wenn ich etwas getrunken habe, liegt mein Herz auf der Zunge und alles verlässt ungefiltert meinen Mund.
„Warum fragst du so komisch?“
„Na ja, ich meine ...“
„Was?“
Auf Katjas Stirn bildet sich diese gefährliche Falte, die sie immer bekommt, wenn sie kurz davor ist zu explodieren.
„Du weißt schon ...“
„Was denn?“
„Du weißt, ich mag Sergej! Aber ich kann ihn mir beim besten Willen nicht hier vorstellen...“
„Du meinst, er ist zu alt?“
Dünnes Eis! Vorsicht jetzt!
„Ich dachte einfach, er steht mehr auf klassische Musik“,
„Und wenn schon ...
„Hey, da bist du ja wieder!“ Jan steht plötzlich vor mir.
„Tschuldigung, ich musste dringend mal für kleine Mädchen“, kichere ich wie ein Backfisch. Katja verdreht die Augen.
„Ich wollte kurz nach draußen, eine durchziehen. Kommst du mit?“, fragt mich mein Retter. Eigentlich bin ich ja Nichtraucher, aber ich möchte auf keinen Fall spießig erscheinen, deshalb nicke ich freudig.
„Kommst du?“, frage ich Katja.
„Glaubst du etwa, ich bleibe hier zwischen all den Raubtieren alleine?“ Sie deutet auf eine Gruppe Männer mittleren Alters, die uns lüstern mustern.
Draußen empfängt uns die milde Nachtluft. Während Katja nach Sergej Ausschau hält, zaubert Jan einen Joint aus seiner Jackentasche. Ich hebe erstaunt den Kopf und sehe ihn an.
Jan, der meinen Blick auffängt, grinst leicht blöde. „Spezialmischung für besonders schöne Abende.“ Oha, mein Prinz hat es also faustdick hinter den Ohren. Doch nicht so unschuldig, wie ich dachte.
„Möchtest du auch einen Zug?“ Er hält mir lockend den Joint vor Gesicht. Ich zögere. Der Joint wippt vor meinem Gesicht auf und ab. Ach, warum eigentlich nicht? So ein kleiner Zug wird mir schon nicht schaden.
12. Julias Facebook Status: Das muss die Hölle sein!
Mein Kopf fühlt sich an, als würde er in einem Schraubstock stecken. Wo bin ich? Ist das die Hölle? Zumindest stinkt es wie in der Hölle – sauer und nach Alkohol. Ich schmatze leise. Angeekelt verziehe ich das Gesicht. Mein Mund schmeckt so, wie es riecht. Der Kopf tut mir höllisch weh. Warum nur? Ich versuche mich zu drehen, aber mein Körper fühlt sich an, als ob er nicht zu mir gehört, irgendwie taub. Mein Magen dagegen hat die Drehung bereits vorgenommen und entleert sich in einem perfekt platzierten Eimer direkt neben meinem Bett. Ich öffne die Augen und das erste, was ich sehe, ist meine eigene Kotze. Das ist zu viel! Stöhnend lasse ich mich zurück aufs Bett fallen. Ich bin definitiv nicht in der Hölle, auch wenn es sich im Moment so anfühlt, sondern in meinem Bett.
Was ist passiert?
Außer dem dumpfen Schmerz hinter meinen Augen ist da absolut nichts. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was in den letzten Stunden oder, oh Schreck, waren es gar Tage, passiert ist. Bitte, lieber Gott, lass mich einfach nur jetzt und hier sterben!
Ich warte, aber nichts passiert. Anscheinend hat der liebe Gott gerade Wichtigeres zu tun, als mich aus meiner Qual zu befreien.
„Hallo“, Katjas Stimme scheppert gegen meine Ohrmuscheln. „Wieder unter den Lebenden?“
„Hast du mich hierher gebracht?“, stöhne ich und wische mir mit dem Handrücken über den Mund. Katja verzieht das Gesicht.
„Nein, ich bin nur als deine Bewacherin hier.“ Katja klingt völlig normal. Keine Spur von Abgeschlagenheit. „Sergej macht gerade Frühstück.“
Mein Magen bäumt sich bei dem Gedanken an Essen erneut auf. Würgend hänge ich mit dem Kopf über dem Eimer, bis mir die Tränen in den Augen stehen. Stöhnend lasse ich mich zurückfallen.
„Was ist passiert?“
„Das sollte ich eigentlich dich fragen“, entgegnet Katja vorwurfsvoll. „Was ist nur in dich gefahren? Seit Johann mit dir Schluss gemacht hat, lässt du dich plötzlich volllaufen, als gäbe es kein Morgen. Und seit wann rauchst du Joints? Das ist voll krass!“
„Krass? Mhm.“
„An was kannst du dich denn noch erinnern?“, fragt Katja. Mit angeekeltem Gesicht nimmt sie den Kotzkübel und stellt ihn vor die Schlafzimmertür. Anschließend setzt sie sich im Schneidersitz zu mir aufs Bett.
Ich forsche in den Tiefen meiner Hirnwindungen nach Antworten, aber bis auf ein paar schemenhafte Bilder ist da nicht viel. Ich erinnere mich an Jan und dass ich mit ihm getanzt habe. Ich erinnere mich daran, dass mir Jan einen Joint angeboten hat, und dass ich mich noch nie so leicht gefühlt habe. Ich erinnere mich an einen Schrei.
„Hast du geschrien?“, frage ich zaghaft. Ein schreckliches Gefühl beschleicht mich.
Katja nickt. „Allerdings. Ohne mich würdest du jetzt wahrscheinlich in Jans Bett liegen und bitter bereuen, was du getan hast.“
„Äh, was genau habe ich denn getan?“ Ich fange an zu schwitzen bei dem Gedanken, was jetzt kommt.
„Du hast den gesamten Club mit deiner Showeinlage unterhalten.“ Katja gehört nicht zu der Sorte Mensch, die ein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen. „Erst bist du auf der Tanzfläche herumgehüpft und anschließend hast du: „ICH BRENNE, ICH BRENNE “ geschrien und versucht, dir die Klamotten vom Leib zu reißen.“ Katja grinst.
Ich stöhne und sinke noch tiefer ins Kissen. „Habe ich mich ... ausgezogen?“ Mein Mund ist trocken.
Katja schüttelt den Kopf. „Hättest du bestimmt, wenn Benni nicht dazwischen gesprungen wäre und dich aus dem Club gezerrt hätte.“
Mein Herz setzt einen Schlag aus. „Benni hat mich nach Hause gebracht?“
Nicht genug, dass ich mich im Club vor allen Leuten zum Affen gemacht habe, indem ich laut „ICH BRENNE!“ geschrien habe. Benni hält mich nun endgültig für die totale Versagerin. Oh mein Gott, das ist der absolute Alptraum!
„Warum hast du mich nicht davon abgehalten?“
„Wie denn?“, entrüstet sich Katja. „Du hast dich an Jan geklammert, als wäre er dein siamesischer Zwilling und dann bist du wie ein Derwisch auf der Tanzfläche herumgehüpft. Glaub mir, nur eine ausgebildete Spezialeinheit hätte dich aufhalten können.“ Katja grinst.
Mein Herz rutscht bis in die Füße. Scheiße. Ich habe es mal wieder gründlich vermasselt. Benni hält mich bestimmt für die totale Idiotin.
„Benni hat dich übrigens den ganzen Weg bis zum Taxi getragen. Zur Belohnung hast du ihm gleich mal aufs T-Shirt gekotzt.“
„Oh, nein“, stöhne ich. „Nicht schon wieder!“
Katja scheint im Gegensatz zu mir richtig Spaß daran zu haben mir jedes peinliche Detail der vergangenen Nacht zu erzählen. Am besten ich bringe mich gleich hier und jetzt um.
„Und du hast die ganze Taxifahrt über davon gefaselt, dass ihr füreinander bestimmt seid.“ Katja ringt sich ein Lächeln ab.
„Das habe ich nicht wirklich gesagt!“ Mir ist schlagartig wieder übel.
Katja nickt. „Doch, hast du.“
„Oh, Gott. Ich muss hier weg und zwar sofort.“ Ich richte mich hastig auf. Sofort dreht sich alles.
Katjas Hand drückt mich wieder sanft nach unten. „Nichts dergleichen machst du. In deinem Zustand schaffst du es ja noch nicht einmal bis zur Toilette. Heute ist Samstag und da kannst du eh nichts machen. Nein, du bleibst schön liegen und kurierst dich aus.“
„Und was ist mit Benni?“
„Ich denke, du solltest dich bei ihm entschuldigen.“ Katja sieht mich mit ernster Miene an.
Ich nicke. „Ich habe ganz schön Scheiße gebaut. Glaubst du, er denkt jetzt ...?“
„Dass du auf ihn stehst? Nachdem was du gesagt hast ... könnte schon sein.“
„Scheiße“, entweicht es mir laut. Ich werde nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol trinken und nie wieder einen Joint rauchen oder tanzen oder „ICH BRENNE!“ brüllen, aber das nützt mir im Moment reichlich wenig. Ich werde mich morgen bei Benni entschuldigen und dann werde ich einen riesigen Bogen um ihn machen. Und zwar für immer.
Ich sitze frisch geduscht in Katjas Küche und klammere mich an meinem Latte Macchiato fest, während ich darüber nachdenke, wie ich meinen Fauxpas von gestern Nacht wieder gut machen kann.
„Ich kann doch nicht so einfach zu ihm hingehen und mich entschuldigen“, brumme ich. „Außerdem hat er mir selbst gesagt, dass er am Wochenende keine Zeit hat. Ich habe noch nicht einmal seine Telefonnummer, sonst würde ich ihm eine SMS schreiben.“
„Blöde Ausrede! Eine SMS zu schicken wäre echt mies von dir, das macht man nicht! Du sollst ja auch keine langen Reden schwingen. Ein schlichtes »Entschuldigung« würde da genügen. Ich finde, dein Benni ist echt ein netter Kerl. Gib zu, du bist nur zu feige!“
Ich schüttele widerwillig meinen Kopf. „Bin ich nicht. Außerdem finde ich, dass Benni eigentlich an der ganzen Sache schuld ist.“
Katja tauscht einen kurzen Blick mit Sergej, der schweigend an der Küchenzeile lehnt. Dann zeigt sie mir einen Vogel.
„Du hast ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Typ rettet dich aus den Klauen dieses pubertierenden, geifernden Jünglings, du kotzt ihm dafür auf sein T-Shirt und zum Dank behauptest du, er hätte an allem Schuld. Ich weiß wirklich nicht, was in deinem Kopf zur Zeit vorgeht – aber normal ist DAS nicht.“
„Er hat mich schließlich geküsst und ist dann mit dieser Schnepfe aufgetaucht. Ich weiß nicht mehr, was ich von ihm denken soll. Der Mann macht mich völlig verrückt.“
„Das merkt man“, sagt Katja trocken. „Warum hast du ihn nicht einfach gefragt, wer die Frau an seiner Seite ist? Wäre die einfachste Methode gewesen und hätte dir vielleicht den Kater erspart." Sergej sagt gar nichts, sondern sieht mich nur nachdenklich an. Es klingelt an der Haustür. Katja steht auf.
„Wer kann das nur sein? Erwartest du jemand?“
„Nee, und in meinem Zustand will ich auch niemanden sehen.“
„Is klar.“ Katja zwinkert mir zu.
Ich fühle mich zwar etwas besser, aber fit bin ich noch lange nicht.
„Ich geh in mein Zimmer. Meinen Anblick möchte ich wirklich niemanden zumuten“, entschuldige ich mich. „Danke für den Kaffee.“ Ich drücke Sergej einen Kuss auf die Wange, anschließend schlurfe ich mit der Tasse Kaffee in der Hand zurück in mein Zimmer.
„Hallo Savanna“, vernehme ich die vertraute Stimme. Ganz langsam hebe ich den Kopf und blinzele ins Licht. Es ist Benni. Er grinst mich an.
„Hi“, sage ich, etwas benommen. Gott sei Dank liege ich bereits, sonst wäre ich auf der Stelle umgefallen. Woher weiß Benni von Savanna? Was habe ich noch alles gemacht?
„Ich wollte mal nachsehen wie es dir geht, nachdem du gestern deutlich angeschlagen warst.“ Er lächelt mich fast unmerklich an.
Ich bringe Katja um, wenn ich sie zwischen die Finger bekomme! Warum hat sie Benni reingelassen? Sie weiß, dass ich mich wegen meines Aussetzers von gestern Nacht in Grund und Boden schäme. Benni hält mich jetzt bestimmt für eine Alkoholikerin mit Drogenproblemen. Und dann noch dieser Name: Savanna! War klar, dass er sich darüber lustig machen würde.
„Äh, ganz gut.“ Das ist gelogen. „Mein Name ist Julia“, füge ich spitz hinzu. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass ichschrecklich aussehen muss. Im Gegensatz zu Benni, der sieht nämlich aus wie ein griechischer Gott. Ich bin völlig ungeschminkt, trage meine ausgewaschene blaue Jogginghose und dazu ein ausgeleiertes, schlammfarbenes T-Shirt. Meine Haare sind zwar frisch gewaschen, aber lediglich mit einem Gummi zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden.
Benni tritt leise ein und schließt die Tür hinter sich. Er runzelt kurz die Stirn. Überall liegen Klamotten auf dem Boden und bestimmt riecht es noch nach Kotze. Wie unangenehm! Betretenes Schweigen.
„Benni, ich wollte ... ich wollte dir nur sagen ...“ Ich hole tief Luft. Bennis Augen hängen an meinen Lippen und mir bleiben die Worte bei dem Anblick seiner Augen im Halse stecken. „Es tut mir leid wegen gestern. Normalerweise bin ich nicht so ... ich rauche nie ... ich meine ... ich habe noch nie ..."
Ohne Vorwarnung beugt sich Benni vor und diesmal gibt es kein Zögern. Sein Mund trifft auf meinen, süß und entschlossen. Seine Lippen öffnen meine und seine Bartstoppeln pieksen in meinem Gesicht. Es fühlt sich gut an. Bei Johann haben sich die Bartstoppeln nie gut angefühlt und außerdem hatte ich hinterher lauter kleine Pickelchen im Gesicht. Aber das ist mir jetzt egal!
Benjamin Wagner küsst mich! Mir stockt der Atem, als er mich so nah zu sich heranzieht, dass ich mit meinen Händen die Muskeln unter seinem Shirt fühlen kann. Sein Mund schmeckt süß und seine Zunge ist rau und weich zugleich. In meinem Kopf dreht sich alles, nur dieses Mal liegt es nicht am Alkohol.
Oh Gott, ich will es! Ich will mehr!!
Plötzlich entzieht er sich und ich fühle mich, als würde ich aus einem Traum gerissen.
„Julia, entschuldige. Ich wollte dich nicht ...“
„Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es tut mir so leid Benni“, höre ich mich mit schwerer Zunge sagen. „Ich habe mich wie eine Idiotin benommen.“
„Eigentlich bin ich gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen“, sagt er und sieht mich mit Dackelaugen an. „Ich wollte dir noch erklären, warum ich ..., aber du warst so sauer, dass ich ..." Ich unterbreche ihn, indem ich seine Augen mit kleinen Küssen bedecke. Benni lässt es geschehen. Anschließend nimmt er meinen Kopf zwischen seine weichen Hände und gibt mir einen weiteren Kuss, der mich zu Wachs in seinen Händen werden lässt.
Mein Gott, der Mann kann küssen! Auf einer Skala von eins bis zehn wäre dieser Kuss eine glatte Elf! Ich kann gar nicht genug davon bekommen. Ich streichle mit meinen Händen durch seine Haare, sauge ihren Duft auf, während seine Hände meinen Körper entlang nach unten gleiten. Dort wo seine Haut die meine berührt, fange ich an zu brennen. Ich habe das Gefühl in Flammen aufzugehen.
„Julia ...“ Sein Atem geht stoßweise. „Wir sollten reden ...“
Nein, ich will jetzt nicht reden. Ich will Benni spüren. Jetzt, hier und sofort.
„Später“, keuche ich. Für einen kurzen Augenblick herrscht Schweigen. Benni blickt mir so intensiv in die Augen, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Ich blicke zurück und das Blut rauscht mir in den Ohren. Dann küssen wir uns. Seine Küsse werden fordernder. Er zieht mir das T-Shirt über den Kopf. Ich fröstele. Gekonnt hakt er meinen BH auf. Wie oft hat er das wohl schon in seinem Leben gemacht? Ich ziehe ihm im Gegenzug sein Shirt aus. Sein Oberkörper sieht genau so aus, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe. Muskulös, aber nicht übertrieben. Genau richtig eben. Sein Mund dringt zu meinen Brustwarzen vor und ich schnappe vor Erregung nach Luft. Benni lacht heiser, als er mich zu sich nach unten zieht. Seine Haut ist herrlich weich und warm. Seine Lippen wandern nach unten. Ich keuche, als er meinen Bauchnabel erreicht und seine Zungenspitze kleine Kreis darum beschreibt.
Meine Güte, wir haben wirklich Sex miteinander! Er zieht mir den Slip aus. Wow, das geht aber schnell! Seine Hände sind überall. Fast bin ich versucht zu blinzeln, ob Benni vielleicht ein Paar zusätzlicher Arme gewachsen sind. Wie macht der das? Johann hatte beim Sex eine feste Routine an die er sich immer hielt. Küssen, Ausziehen, an meiner Brust saugen, hilfloses Fummeln und dann ging es zur Sache. Das Ganze dauerte meist nicht mehr als die durchschnittlichen bundesdeutschen acht Minuten. Das hat seine Vorteile. Man weiß genau, was als Nächstes kommt und kann sich dadurch gleichzeitig noch Gedanken machen, was man heute Abend so essen möchte. Aber das, was Benni mit mir anstellt, erfordert all meine Sinne. Ich keuche hilflos. Alles geht so schnell, dass ich kaum noch weiß wie mir geschieht. Eben war ich noch voll bekleidet und voller Kummer und jetzt bin ich nackt und erregt wie noch nie in meinem Leben. Na, das nenne ich mal einen Wendepunkt! Plötzlich steigt in mir ein kleines Kichern auf. Benni hebt überrascht den Kopf.
„Soll ich aufhören?“
„Untersteh dich!“ Und dann macht Benni weiter.
Ich bin verliebt! Neben mir liegt der erotischste Mann mit dem ich jemals Sex hatte! Und wir haben mindestens drei Mal miteinander geschlafen. Bei einem Mal kann es sich noch um einen glücklichen Zufall handeln, aber drei Mal mit dem gleichen Mann sauguten Sex zu haben, das ist galaktisch. Bei Johann habe ich während des Sexes oft an Fettverbrennung gedacht, um der Sache irgendwie einen Sinn zu geben. Aber es ist nicht nur der Sex, es ist alles. Das Gesamtpaket stimmt. Mein Körper fühlt sich an wie geschunden. Herrlich!
Benni liegt mit geschlossenen Augen neben mir. Er sieht geradezu malerisch aus, wie er da so liegt auf dem Rücken, die Arme zur Seite gelegt und völlig entspannt. Seine glatte Brust hebt und senkt sich in regelmäßigen Abständen. Vielleicht sollte ich mich kurz aus dem Bett schleichen und ein wenig Make-up auflegen. Mit Schrecken wird mir bewusst, dass ich meine Beine heute Morgen nicht rasiert habe und ich überlege panisch, wie ich es anstellen kann meine Beine kurz zu rasieren, ohne dass Benni es merkt. Schließlich möchte ich, dass er mich in meinem besten Zustand sieht, wenn er aufwacht.
Benni räkelt sich leicht neben mir. „Hey.“ Er sieht mich mit sanftem Blick an. Zu spät. Ich werde wohl so bleiben müssen, wie ich jetzt aussehe. Ungeschminkt, leicht blass mit kratzigen Beinen.
„Hey, du ...“ Zu mehr komme ich nicht, denn Benni zieht mich zu sich herunter. Ich kuschle mich mit dem Kopf auf seinen nackten Oberkörper, presse mein Ohr gegen seinen Brustkorb, dass ich sein Herz schlagen höre. Das hat auch den Vorteil, dass Benni mein ungeschminktes Gesicht so nicht sieht. Eine Weile liegen wir in dieser Stellung zusammen und genießen die Nähe des Anderen. Im Hintergrund ist ein Rumoren zu hören. Katja hantiert in der Küche.
„Möchtest du auch etwas trinken?“, flüstere ich Benni ins Ohr.
Er nickt. „Dich.“
Als Antwort heben hundert Schmetterlinge in meinem Bauch gleichzeitig ab.
„Ich habe tierisch Durst. Möchtest du vielleicht einen Happen essen? Es ist schon relativ spät und ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.“ Ich kichere wie ein Backfisch. „Ich bin mir sicher, wir haben etwas Leckeres im Kühlschrank.“ Was ich ihm nicht sage ist, dass ich nach gutem Sex immer einen so unglaublichen Hunger habe, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen. In unserem Fall einen Sexmarathon.
Benni springt mit einem Satz aus dem Bett. „Scheiße! Wie viel Uhr ist es?“ Er sieht irre süß aus mit seinen zerstrubbelten Haaren und diesem verwirrten Gesichtsausdruck.
„Äh, keine Ahnung. Warte mal ...“ Ich taste mit der Hand nach meiner Armbanduhr. „Kurz nach acht. Warum?"
„Mist!“, flucht mein Traumprinz und schmeißt sich in seine Jeans.
„Was ist los?“, frage ich irritiert. Hätte ich doch bloß nicht erwähnt, wie spät es ist.
„Ich hätte schon vor knapp einer halben Stunde ... ich muss los.“ Er streicht sich durch die Haare.
„Aber du kannst doch nicht ...“ Ich richte mich auf. Sein Blick fällt auf meine nackten Brüste, „... nicht einfach gehen. Ich meine, wir hatten gerade den hammermäßigen Sex ...“
„Ich würde auch viel lieber bei dir bleiben. Glaub mir, bitte. Aber ich muss zu dieser Verabredung!“ Er hebt die Schuhe vom Boden auf und setzt sich zu mir auf die Bettkante.
„Du hast eine Verabredung? Es ist Samstagabend ...“ Ich bin enttäuscht. Mein ganzer Körper pocht noch von seinen Zärtlichkeiten. „Nur noch eine halbe Stunde.“
„Ja, ich weiß. Aber du musst mir wirklich glauben, ich muss da hin.“ Seine dunklen Augen sind fast undurchdringlich. „Es ist wichtig für mich.“ Er nimmt meine Hand.
„Und ich? Bin ich nicht wichtig für dich?“ Ich kann kaum sprechen.
„Natürlich bist du mir wichtig, Dummerchen.“ Er beugt sich zu mir und gibt mir einen Kuss. „Ich melde mich bei dir.“
Mein Mund ist kribblig und feucht. „Na dann ... bis später.“
„Tschüss“, murmelt er. „Und grüß deine Freundin von mir. Sie ist wirklich nett.“
„Werde ich ihr ausrichten“, murmele ich. Am liebsten würde ich ihn packen und zu mir ins Bett ziehen, aber irgendwie gelingt es mir, mich zu beherrschen. Die Tür klappt hinter ihm ins Schloss und ich bin alleine.
Ein bisschen frustriert, aber trotzdem glücklich, schlüpfe ich aus dem warmen Bett in meine Jogginghose und betrachte mein Gesicht im Spiegel. So sieht eine Frau aus, die gerade den besten Sex ihres Lebens hatte. Wow! Mein Gesicht scheint zu glühen. Meine Augen glänzen. Keine Pickelchen wie bei Johann. Das ist ein Zeichen!
Was war nur so dringend, dass Benni so Hals über Kopf los musste? Mit dem Gang eines Preisboxers gehe ich in die Küche, wo ich Katja mit irgendetwas klappern höre.
„Na“, begrüßt mich Katja und kichert hysterisch. „Das war aber ein langes Gespräch.“ Dabei zieht sie das »a« von lang übertrieben. Ich strahle sie an wie ein Honigkuchenpferd. Mein Leben hat wieder einen Sinn bekommen. Männer sind nicht länger meine Feinde. Männer sind eine Ergänzung meiner selbst. Der Tag ist mein Freund.
„Ich bin aus dem Reich der Toten zurückgekehrt“, platze ich heraus. Ich habe das Gefühl, vor Glück laut schreien zu müssen.
„Das habe ich gehört“, grinst Katja mich an.
„Oh!“ Meine Wangen stehen in Flammen.
„Macht nichts. Ich habe einfach den Fernseher lauter gedreht. Ich wusste gar nicht, was für ein Tier du bist. Rrrrrrrrrrr." Sie formt die Hand zur Tigerkralle.
Ich erröte erneut wie ein Schulmädchen, das man beim ersten Kuss erwischt hat.
„Katja. Ich bin total verliebt“, verkünde ich.
„Na endlich“, seufzt Katja. „Wurde ja auch Zeit, dass du über Johann hinwegkommst.“
Jetzt, wo sie es sagt, wird mir bewusst, dass ich tatsächlich keine Sekunde an Johann gedacht habe und das, wo ich doch Sex mit einem anderen Mann hatte. Erstaunlich! Schon wieder muss ich hysterisch kichern. Ich werte das als gutes Zeichen.
„Und wo ist dein Traumprinz jetzt?“ Katja schielt in Richtung Tür.
Ich zucke mit den Schultern. „Hatte irgendeine wichtige Verabredung“, brumme ich.
Katjas Augenbraue schnellt nach oben. „Und du hast ihn einfach so gehen lassen?"
„Vertrauen ist die Basis einer jeden guten Beziehung“, erkläre ich stolz. Das habe ich mal in einem Beziehungsratgeber gelesen.
„Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser!“
Typisch Katja! Immer misstrauisch und immer so vernünftig. „Also, ich sag mal so: Nach dem Sex, den wir hatten, muss er sich einfach bei mir melden.“ Bei dem Wort Sex macht mein Magen einen kleinen Hüpfer. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken. So ist das immer, wenn meine Hormone die Überhand gewinnen. Mein Verstand schaltet sich zeitgleich ab. Eine meiner schlechten Eigenschaften. Meine Mutter hat schon immer gesagt, dass wir Löhmer-Frauen dazu neigen, mit unserer Gebärmutter zu denken und nicht mit unserem Kopf.
„Und wie geht es jetzt weiter zwischen euch beiden?“
„Katja, ich habe heute das erste Mal mit dem Mann geschlafen. Ich weiß nicht, wie es weiter geht.“
„Das bist wieder typisch du. Wenn man dich mal alleine lässt. Und was ist mit der Blonden?“
Augenblicklich hat Katja alles verdorben. Mein Glücksgefühl ist mit einem Schlag verschwunden. Katja hätte, bevor sie mit Benni ins Bett gestiegen wäre, erst einmal seine Vita studiert und ihn nach seinen bisherigen Beziehungen ausgefragt. Katja geht nie mit einem Mann ins Bett, von dem sie nicht vorher seine Sozialversicherungsnummer gesehen hat.
Und was mache ich? Ich hüpfe mit Benni ins Bett ohne vorher die wesentlichsten Dinge geklärt zu haben. Wie zum Beispiel: Wer ist die Frau an seiner Seite gewesen? Was sind das für wichtige Termine, dass er mich schon das zweite Mal in zwei Tagen sitzen lässt? Ich habe noch nicht einmal seine Telefonnummer. Plötzlich fühle ich mich schrecklich elend. Und dumm!
„Pumbi, jetzt mach nicht so ein Gesicht.“ Katja nimmt mich in den Arm. „Das klärt sich bestimmt alles auf, wenn ihr euch das nächste Mal wiederseht.“
Ich nicke. „Bestimmt.“ Klingt nicht sonderlich überzeugend.
„Du hast selbst gesagt, dass ihr gigantischen Sex hattet. So etwas lässt sich kein Mann lange entgehen. Spätestens morgen früh steht Benni wieder bei dir auf der Matte und will mehr davon.“
Die Aussicht zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich will definitiv auch mehr davon.
„Was hältst du von der Idee: Wir bestellen uns eine Kleinigkeit zu essen vom Thai und sehen uns dabei einen Film an? Das beruhigt die Nerven.“ Katja blinzelt mich an.
„Aber nur, wenn ich dabei so richtig weinen kann“, verlange ich. Ich finde, wenn man geweint hat, fühlt man sich hinterher gleich wieder besser.
„Also die Brücken am Fluss“, seufzt Katja.
„Au ja!“ Ich klatsche begeistert in die Hände. Die Brücken am Fluss ist definitiv einer meiner Lieblingsfilme und gehört zu Katjas und meinem Notfallprogramm bei Liebeskummer. Clint Eastwood und Meryl Streep – seufz! Als ich den Film das erste Mal gesehen habe, habe ich so geweint, dass unsere im Anschluss geplante Kneipentour ausfallen musste. Katja und ich haben uns im Kino regelrecht aneinander geklammert. Herrlich! Das ist eine Sache, die kann man nur mit einer Frau oder einem schwulen Freund erleben. Mit einem Mann in einen Liebesfilm zu gehen, kommt Folter gleich. Da muss man sich dann ständig irgendwelche Kommentare anhören, wie:
... Worauf wartet der Typ eigentlich?
... hör auf zu labern und schnapp dir die Braut.
... ist das langweilig.
... Megan Fox sieht echt scharf aus.
... jetzt weint die blöde Kuh schon wieder!
... der Ring ist viel zu teuer, ein Blumenstrauß hätte es auch getan, du Depp!
Nein, ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, niemals mit einem Mann Liebesfilme oder Komödien zu sehen. Mit Männern erlebe ich lieber meine eigene Liebesgeschichte.
„Das war doch wieder schön“, seufze ich ergriffen, als der Film zu Ende ist. Katja nickt und greift nach der Fernbedienung. Um uns herum bietet sich das gewohnte Bild der Verwüstung, wenn Katja und ich zusammen einen Film sehen. Leere Chipstüten, eine halb leere Weinflasche und zwei ausgelöffelte Eisbecher von der Eisdiele direkt neben Katjas Haus. Was ich im Übrigen ungemein praktisch finde! Eben mal die Hausschuhe angezogen und die zehn Schritte nach draußen gemacht und schon kehrt man keine fünf Minuten später als stolze Besitzerin eines Spaghetti-Eis-Bechers inklusive fünftausend Kalorien auf das eigene kuschelige Sofa zurück.
Katja zappt gelangweilt durch die unzähligen Programme, von denen man dreiviertel direkt in die Tonne treten kann.
„Halt!“ Ich springe mit einem Ruck vom Sofa.
Katja sieht mich verstört an.
„Schalt sofort zurück!“, befehle ich ihr. Mein Herz macht einen Aussetzer.
„Oh Gott.“ Katja starrt fassungslos auf den Fernseher.
Da ist er. Benni. Mein Traumprinz. Aber er ist nicht allein. An seiner Seite steht das blonde Model von gestern Nacht und der Überraschungen noch nicht genug – Elisabeth Hirsekorn. Ich bin völlig verwirrt. Was haben die drei im Fernsehen verloren?
„Was? Ist das nicht?“ Katja deutet mit dem Finger auf Benni.
Ich nicke. „Pssst!“ Ich lege den Finger auf den Mund und starre wie gebannt auf die Mattscheibe. Keiner von uns beiden wagt es zu atmen. Die dunkelhaarige, sehr elegante Moderatorin wendet sich an Elisabeth Hirsekorn.
„Frau Hirsekorn. Die heute statt gefundene, außertourliche Betriebsversammlung in der Verlagsgruppe Hirsekorn hat zu Spekulationen über ihren möglichen Rücktritt entfacht."
Wir hatten eine Betriebsversammlung? Samstags?
„Von wann ist die Sendung?" Ich suche nach der Programmzeitschrift.
„Von heute Abend", beantwortet Katja meine Frage und deutet auf das Zeichen in der rechten Bildschirmecke. Live!!!
Ich werfe einen kurzen Blick auf die Uhr. Kurz nach Zehn!
„Wie ernst dürfen wir diese Gerüchte nehmen und wenn ja, was führt Sie zu diesem Entschluss?“ Sie richtet das Mikrofon auf Elisabeth Hirsekorn. Benni sieht dabei mit ernster Miene in die Kamera. Seine Augen schimmern im Studiolicht.
Mein Gott, ich will ihn auf der Stelle küssen. Aber warum hat er mir nicht erzählt, dass er einer Pressekonferenz mit der Hirsekorn beiwohnen muss? Komisch!? Oder besser – Mal wieder typisch Mann: Alle wichtigen Dinge behalten sie für sich.
„Wie Sie wissen, habe ich den Verlag in den Siebzigern aus dem Nichts zu einem der erfolgreichsten Verlagsgruppen Deutschlands aufgebaut."
Die Moderatorin nickt zustimmend. Das Klicken von Kameras ist zu hören, Blitzlichter flammen auf.
„Wir haben unseren Erfolg auf eine ehrliche, solide Berichterstattung aufgebaut. Unsere Zeitschriften spiegeln das Interesse unserer Leser wieder.“ Sie holt tief Luft. „Ich gebe es zwar ungern zu, in dieser Hinsicht unterscheide ich mich nicht von anderen Frauen, aber ich bin mittlerweile über sechzig. Ich glaube zwar, dass ich für mein Alter noch immer eine moderne Frau bin“, die Moderatorin nickt zustimmend, „aber irgendwann ist es an der Zeit seinen Platz an die jüngere Generation abzugeben.“ Elisabeth Hirsekorn macht eine bedeutungsvolle Pause, wie ein Magier kurz bevor er das Kaninchen aus dem Hut zaubert.
„Und dieser Moment ist nun gekommen?“, fragt die Moderatorin.
Elisabeth Hirsekorn nickt huldvoll. Sie winkt Benni und das blonde Model zu sich. Ich halte gespannt die Luft an.
„Darf ich ihnen vorstellen: Benjamin und Arianne Wagner...“
„Was ... mein Traummann ist verheiratet!?“ Ich schreie. „Der Schuft!" In meinem Kopf dreht sich alles.
„... meine beiden Kinder aus meiner ersten und einzigen Ehe.“ Im Hintergrund sind einige Lacher zu hören. Ich hingegen bin zur Eissäule erstarrt.
Benni ...
... mein Benni ist der Sohn von Elisabeth Hirsekorn.
Mir klappt die Kinnlade runter, während ich wie gebannt auf den Bildschirm des Fernsehers starre.
„Äh ...“ Die Moderatorin wirkt verstört. „Ihre Kinder?“ Okay, anscheinend bin ich nicht die Einzige, die nicht weiß, was hier vorgeht.
Elisabeth Hirsekorn lacht. „Meine Kinder! Wobei das Wort »Kinder« in Anbetracht dieser mittlerweile auf eigenen Füßen stehenden Erwachsenen ein bisschen fehl am Platz ist. Aber ja, meine Kinder Benjamin und Arianne.“ Sie umfasst die Taille von beiden und demonstriert so ihre Familienzugehörigkeit vor der gesamten Nation. „Ich habe es immer vorgezogen, die Identität und damit die Privatsphäre meiner Familie auch wirklich privat zu halten. Aber nun ist der Zeitpunkt gekommen, wo die Beiden selbst für sich sprechen können."
Oh, Mann! Und ich habe gedacht, Benni hätte ein Verhältnis mit der Hirsekorn. Plötzlich komme ich mir vor wie der größte Trottel. Wie konnte ich nur so daneben liegen?! Jetzt, wo die drei nebeneinander stehen, ist die Familienähnlichkeit nur allzu offensichtlich. Die gleichen Augen, die gerade Nase. Ja, sogar der Mund ist ähnlich. Was bin ich nur für eine Idiotin! Katja scheint das Gleiche gedacht zu haben, denn sie wirft mir einen Mensch-Pumbi-du-Depp-Blick zu.
„Verstehe ich Sie falsch, wenn ich behaupte, dass Ihre Kinder in Zukunft das Unternehmen leiten werden?“, fragt die Moderatorin reißerisch.
„Keineswegs, genau das ist der Plan", bestätigt Elisabeth Hirsekorn mit sichtlich zufriedener Miene. Benni sieht irgendwie überhaupt nicht glücklich aus. Seine Schwester hingegen blickt, ganz die Geschäftsfrau, offen in die Kameras.
Ich lasse mich zurück aufs Sofa fallen. Mein Prinz, der zukünftige Verlagschef! Warum hat er mir nicht davon erzählt?
„Wusstest du davon?" Katja sieht erstaunt zu mir.
Ich schlucke. „Ich bin genauso von den Socken wie du."
„Aber das ist doch klasse", jubelt Katja. „Freu dich doch! Benni sieht nicht nur nett aus, sondern verfügt auch noch über das nötige Kleingeld. Besser hätte es doch gar nicht kommen können. Mit Verlagschefs kennst du dich doch allmählich aus. Du hast vielleicht ein Glück!"
Ich fühle mich gar nicht glücklich. Das ist genau das, wovor ich weggelaufen bin. Mir dreht sich der Kopf. Benni, der neue Verlagschef des Hirsekornverlags-Imperiums. Benni, der Sohn von Elisabeth Hirsekorn. Der Benni, mit dem ich vor knapp einer Stunde noch geschlafen habe. Der Benni, dem ich alle meine kleinen Geheimnisse anvertraut habe.
Auf einmal fügt sich alles wie ein Puzzle zusammen. Die Blicke, die Benni und die Hirsekorn miteinander getauscht haben, waren vertraute Blicke, die nur zwischen Mutter und Sohn vorkommen. Wissend und im stillen Einvernehmen. Warum in Gottes Namen hat er nicht von seiner Mutter erzählt?
Spionage, schießt es mir in den Kopf. Hat Benni die Angestellten des Verlages ausspioniert? Mir wird heiß und kalt. Ein Schweißtropfen läuft mir kitzelnd zwischen den Brüsten herunter bis er in meinem BH versackt. Meine intimen Geständnisse im Zug, mein gefälschtes Zeugnis, all die kleinen Schwindeleien von denen ich Benni erzählt habe! Wahrscheinlich hat er alles brühwarm seiner Mutter erzählt und die beiden haben sich über mich, bei einem gepflegten Glas Wein, totgelacht. Sein Fotoatelier, eine Art Tarnungsmanöver? Warum der ganze Aufwand? Seine Affäre mit mir ... ebenfalls geheim. Ich schlucke erneut. In meinem Hals steckt ein Kloß, der nicht verschwinden will.
„Pumbi, du siehst echt scheiße aus!" Katja nimmt meine Hand, während sich die Moderatorin im Fernseher an Benni und seine Schwester wendet.
„Herzlichen Glückwunsch an Sie beide!" Bennis Gesichtsausdruck bleibt ernst.
„Wie aus Verlagskreisen zu hören ist, wollen Sie das Konzept für eine ihrer erfolgreichsten Zeitschriften, die Holiday Dream, verändern. Ein Schritt in eine neue Zukunft unter ihrer Führung?"
Benni schüttelt den Kopf. „Sie sind überraschend gut informiert."
Die Moderatorin lächelt geschmeichelt.
„Aber nein, hierbei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt, an dem meine Mutter maßgeblich beteiligt ist. Meine Mutter ist noch immer der innovative Kopf des Unternehmens." Benni wirft seiner Mutter einen wütenden Blick zu. Was hat das nur wieder zu bedeuten?
„Glauben Sie, dass Sie mit dem neuen Konzept der Holiday Dream wieder den Sprung in die oberste Liga schaffen werden?“
„Ach, kommen Sie“, sagt Benni und lehnt sich lässig zurück, „wir denken, dass wir unsere Kunden und den Markt kennen und die Situation richtig einschätzen.“
„Die Situation?“, fragt die Moderatorin spitz nach.
Elisabeth Hirsekorn nickt. „Ehre, wem Ehre gebührt. Zuerst einmal möchte ich klarstellen, dass es sich hierbei um eine Idee meines Sohnes Benjamin handelt, die ich nur allzu gerne aufgenommen habe und zu der ich in ihrer ganzen Konsequenz stehe. Ich glaube, seine Idee des neuen Konzeptes ist brillant und unsere Leser werden begeistert sein."
„Das war meine Idee!" Jetzt bin ich wütend. Wie kann diese Frau nur allen Ernstes behaupten, es wäre Bennis Idee. Wo sie doch genau weiß, dass es meine Idee war, die Holiday Dream neu aufzuziehen. Mein Puls rast. „Habe ich schon erwähnt, dass ich die Hirsekorn hasse?", sage ich ohne meinen Blick vom Fernseher zu wenden. Katja tätschelt mir beruhigend die Hand, während Elisabeth Hirsekorn gelassen fortfährt.
„Ja, allerdings. Die Zeiten haben sich, wie schon erwähnt, geändert und damit die gesamte Verlagssituation. Früher, zu Gründerzeiten der Holiday Dream, war das Reisen etwas Elitäres. Selbst die Stewardessen waren damals handverlesen und gehörten zu einer privilegierten Gruppe. In der ersten Klasse bereitete noch ein echter Koch die Mahlzeiten zu und wir durften rauchen." Gelächter ertönt aus dem Hintergrund. Elisabeth Hirsekorn lächelt. „Der Anspruch der Menschen an ihren Urlaub hat sich geändert und wir möchten uns mit unseren Lesern verändern. Zwar werden wir weder den Erste Klasse-Koch zurückbringen, noch wird das Rauchen in Flugzeugen wieder erlaubt werden, aber wir können unseren Lesern Tricks und Tipps vermitteln, mit deren Hilfe sie aus ihrem individuellen Urlaub das Beste herausholen können. »Am Puls der Zeit!« lautet das Motto." Sie macht eine Pause, um das Gesagte bei den Anwesenden sacken zu lassen. „Aber mehr werde ich Ihnen an dieser Stelle nicht verraten. Machen Sie sich lieber selbst ein Bild. Sie alle sind herzlich eingeladen zu der Präsentation unserer Jubiläumsausgabe", beendet sie ihre kleine Ansprache.
„Dann dürfen wir also auf die Umsetzung ihrer Idee gespannt sein, Herr Wagner." Die Moderatorin lächelt Benni zu. Benni zuckt bei ihren Worten kurz zusammen, hat sich aber sofort wieder im Griff.
Jetzt ist die Gelegenheit alles richtigzustellen. Dies ist der Moment, um sich das Mikrofon zu schnappen und der Welt zu verkünden, dass ich, Julia Zoe Löhmer es war, die die Idee mit dem Makeover der Holiday Dream hatte.
Aber Benni schweigt.
Feigling!
Memme!
Arschloch!
Ich möchte schreien, aber stattdessen kommt ein Schluchzen aus meiner Kehle. Tränen steigen mir in die Augen. Ich widerstehe dem Drang mit den bloßen Fäusten auf den Fernseher einzutrommeln. Ich komme mir betrogen, verraten und verkauft vor.
„Pumbi, das ist bestimmt nur ein blödes Missverständnis. Ich bin mir sicher, dass er gleich anruft und sich bei dir entschuldigt."
„Der kann mir gestohlen bleiben. Erst führt er mich mit seinen Lügen hinters Licht und dann in sein Bett." Ich schnappe wütend nach Luft. „Und jetzt klaut er mir noch meine Idee. Mit so einem Mann will ich nichts mehr zu tun haben." Eine Träne kullert mir die Wange herunter.
„Pumbi, soll ich Sergej anrufen? Der hetzt die gesamte russische Mafia auf deinen Benni."
Ich muss unter Tränen lachen. „Der Gedanke ist absolut verlockend ... aber lieber nicht. Würde ihm zumindest recht geschehen. Warum falle ich nur immer auf solche Idioten rein? Da war ja Johann noch besser, der hat mich wenigstens nicht vor der ganzen Welt verleugnet."
„Dafür hat er dich mit Titten-Annette betrogen. Auch nicht gerade eine Meisterleistung", bemerkt Katja trocken.
„Noch eine Frage für alle, die uns zuschauen. Wann wird die Jubiläumsausgabe erscheinen?", fährt die Moderatorin fort.
Benni räuspert sich. Hoffnungsvoll starre ich ihn an. Sag es!
Benni schweigt.
Die Moderatorin reicht das Mikrofon an seine Schwester weiter.
„Die Jubiläumsausgabe wird wie immer pünktlich zum Monatsende erscheinen." Arianne strahlt in die Kamera.
„Vielen Dank! Mein Name ist Isabella Antinori und das waren die Aktuellen News live aus Hamburg“, verabschiedet sich die Moderatorin.
Das war's dann wohl.