10. Julias Facebook Status: Hilfe,
ich muss einen Vortrag halten!
Emma und ich betreten gemeinsam das Büro. Allein bei dem Gedanken gleich auf Benni und den Rest der Redaktion zu treffen, fängt mein Magen an Saltos zu schlagen. So nervös war ich seit meiner Einschulung nicht mehr. Damals musste ich mich vor lauter Aufregung übergeben, als mich mein damaliger Klassenlehrer nach meinem Namen fragte.
„Viel Glück!“, ruft Emma und nimmt hinter ihrem riesigen Schreibtisch Platz.
„Bis dann“, flüstere ich heiser. In meinen Händen halte ich drei Blätter. Meine Erinnerungen an die letzte Nacht sind verschwommen. Alles kommt mir irgendwie unwirklich vor. Am Wein kann es nicht liegen, eher am Schlafentzug. Schließlich war ich die ganze Nacht wach und habe wie im Rausch auf die Tasten meines Laptops eingehämmert bis ich den fertigen Text in der Hand hielt. Erst dann bin ich eingeschlafen. Aber das erste Mal seit meiner Trennung von Johann habe ich traumlos geschlafen und trotz der kurzen Nacht fühle ich mich ausgeruht und frisch. Ich habe ein dezentes Make-up und meinen Lieblingsduft aufgelegt. Das bringt mir normalerweise Glück.
Ich habe kaum auf meinem Stuhl hinter dem weißen Konferenztisch Platz genommen, da betritt Benni den Raum. Er sieht offensichtlich übernächtigt aus, was seiner Männlichkeit aber keinen Abbruch tut. Im Gegenteil! Irgendwie wirkt er mit dem Dreitagebart und den dunklen Augenringen verletzlich und sexy zugleich.
Das ist wirklich ungerecht! Wenn ich unausgeschlafen bin, sehe ich wie ein zerknautschtes Kissen aus, das man vergessen hat aufzuschütteln. Und meine Haare sind der absolute Alptraum! Gut, dass es heute nicht so ist. Auf diese Weise fühle ich mich Benni ein kleines bisschen überlegen. Er nickt kurz in meine Richtung. Kein „Hallo!“ oder „Wie geht es dir?“ Absolut nichts, nur ein Nicken. Eine neue Taktik?
Das Kleeblatt betritt den Konferenzraum. Blondi schiebt ihren Luxuskörper durch die Tür, gefolgt von Wiebke und Thomas.
„Hi“, begrüßt mich Blondi.
„Hallo“, antworte ich knapp und dann schweigen wir. Alle sind da, es fehlen nur noch Miriam und Elisabeth Hirsekorn. Die Anspannung im Raum ist förmlich zu spüren. Mist, meine Hände sind so feucht, dass mir der Stift aus den Fingern flutscht und geräuschvoll über die Tischplatte schlittert.
„Nervös?“ Blondis Tonfall ist bedauernd. Sie hätte auch „Versagerin“ rufen können, das hätte gleich geklungen.
Reiß dich zusammen, Julia! Ich schüttele den Kopf und sehe ihr geradewegs ins Gesicht. „Nöö.“
„Und, hast du deinen Bericht fertig?“
Ich nicke. „Ich, eine Tüte Gummibärchen und ein paar Gläser Rotwein haben die ganze Nacht daran gearbeitet.“
Gut gemacht, das klang richtig witzig.
Blondi kichert. Genau in diesem Moment betreten Elisabeth Hirsekorn und Miriam den Konferenzraum. Die Spannung im Raum wird noch größer. Elisabeth Hirsekorns Augen fliegen über uns hinweg. Immer wenn sie mich ansieht, habe ich das Gefühl ich müsse strammstehen und salutieren.
Als Erste kommt Wiebke mit ihrem Bericht über »Bed-and-Breakfast-Unterkünfte in Kapstadt und entlang der Gardenroute« an die Reihe. Zugegebenermaßen, der Bericht ist kein Überflieger, aber gut recherchiert, locker vorgetragen und mit nützlichen Details gespickt. Miriam nickt zufrieden als Wiebke fertig ist.
Anschließend stellt Thomas seinen Artikel über Namibia als angesagtes Reiseziel der kommenden Saison vor. Er hat einige Fakten über Land und Leute gesammelt und diese mit lustigen Anekdoten gespickt. Mit seinem guten Erzählstil schafft er es, dem Leser die Wüste und die Etosha-Pfanne mit ihren Farben bildlich vor Augen zu führen. Auch er stößt auf allgemeine Zustimmung in unserer Runde.
Dann ist Benni an der Reihe und präsentiert mit dem Beamer eine Reihe von Fotos, die er letztes Jahr bei seiner Rundreise durch Südafrika aufgenommen hat. Wie schon bei den Bildern in seinem Studio gelingt es ihm auch hier perfekt, die Atmosphäre der verschiedenen Landstriche einzufangen. Man spürt die Hitze förmlich auf der Haut und das Lachen der Menschen klingt einem in den Ohren. Einige Bilder haben aber auch einen kritischen Unterton und zeigen die Armut der Menschen, ohne jedoch deren Würde zu verletzen. Ich muss zugeben, ich bin ziemlich beeindruckt. Die Bilder werfen ein völlig neues Licht auf Benni. Das ist nicht der Benni, den ich bisher kenne, der immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, sondern ein kritischer Fotograf, der die Dinge von verschiedenen Blickwinkeln kritisch betrachtet.
Na toll! Gleich bin ich dran. Mutlos sinke ich immer mehr in meinem Stuhl zusammen. Mit meinem Bericht über Chris und seine Kunst komme ich mir vor wie ein Schulmädchen, das einen Aufsatz hält. Ich kneife die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass die Anderen verschwunden sind, wenn ich sie wieder aufmache.
Universum, tu was! Okay lieber Gott, wenn es dich gibt, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt mir aus der Patsche zu helfen!
Im Raum herrscht absolute Stille. Nur mein Herzschlag klingt wie der eines Sprinters direkt nach dem Rennen. Gespannt sehen alle zu mir herüber. Miriam gibt mir das Zeichen mit meinem Vortrag anzufangen. Meine Ohrläppchen pochen im Rhythmus meines Herzschlags. Fühlt sich verdammt wie Kammerflimmern an. Oh Gott, ich werde gleich ohnmächtig.
„Julia?“ Elisabeth Hirsekorns Stimme sticht direkt in meinen Magen. Ich nicke, zu mehr bin ich nicht fähig. Es ist so heiß in dem Raum und ich habe das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Mit zittriger Hand greife ich nach dem Wasserglas vor meiner Nase und nehme einen kräftigen Schluck. Das kühle Wasser tut gut und befeuchtet meine ausgetrocknete Kehle.
„Alles klar“, krächze
ich. Elisabeth Hirsekorn runzelt die Stirn, sagt aber
nichts.
Die Frau
findet mich bestimmt total doof. Ich
stehe auf, die Gesichter um mich herum verschwimmen leicht und ich
presse meine schlotternden Knie gegen das Tischbein, um das Zittern
zu unterdrücken.
Einatmen,
ausatmen,
einatmen,
ausatmen ...
„Wenn ich mir selbst eine Note geben müsste, würde ich mir eine Eins geben“, flöte ich.
„Wahnsinn. Dabei hast du dir vor Schiss den ganzen Tag fast in die Hose gemacht.“ Katja ist immer so herzerfrischend ehrlich.
„Das Beste war allerdings die olle Hirsekorn. Die war total begeistert von meiner Idee eines von Chris´ Bildern als Hauptgewinn für das große Preisausschreiben der Holiday Dream zu kaufen.
„Pumbi, ich bin stolz auf dich. Vor einem Monat warst du noch total verzweifelt und jetzt bist du zur Karrierefrau aufgestiegen. Wer hätte das gedacht?!“
„Ach Quatsch, jetzt übertreibst du aber. Ich bin noch lange keine Karrierefrau, nur weil ich eine gute Idee hatte. Ein blindes Huhn findet schließlich auch mal ein Korn. Außerdem, ohne deine Fotos wäre ich niemals auf die Sache mit Chris gekommen. Genau genommen bist du also die Urmutter aller Ideen.“
„Das finde ich zwar sehr süß von dir, aber mal ehrlich, das Lob gebührt ausschließlich dir. Die Idee mit dem Preisausschreiben finde ich im Übrigen absolut genial. Das bedeutet, der Verlag kauft eines von Chris´ Bildern, du berichtest darüber in deinem Artikel und gleichzeitig stellt es der Verlag als Hauptgewinn in eurem Afrika-Preisausschreiben zur Verfügung. Korrekt?“
„Genau so. Die Hirsekorn war sogar so begeistert von Chris’ Bildern, dass sie ihn sofort persönlich kennenlernen wollte.“
„Ist nicht dein Ernst!?“
„Doch ...“ Ich verziehe das Gesicht.
„Aber das ist doch klasse, oder etwa nicht?“
„Eigentlich schon ...“
Ich schwinge die Beine auf meinen Schreibtisch und stelle das Telefon auf Lautsprecher.
„Wann hast du Chris das letzte Mal gesehen?“
„Wieso? Das muss zur Abiturverleihung gewesen sein.“
„Ich sag mal so, Chris´ Geschmack, was seine Klamotten anbelangt, hat sich seitdem grundlegend verändert.“
„Das musst du mir jetzt aber mal genauer erklären.“ Katja klingt irritiert. „Noch schlimmer, als seine zerrissenen Jeans und T-Shirts wo »null bock« draufsteht?“
„Schlimmer?! Kommt darauf an, wie man es sieht. Er trägt jetzt immer weiße Leinenhosen, die ungefähr so aussehen wie Judohosen.
„Wo ist das Problem?“, sagt Katja. „Eine Menge Männer tragen weiße Leinenhosen.“
„Ja, aber die meisten tragen Unterhosen darunter. Alles klar?“
„Oh! Du meinst er ist darunter völlig nackt und man kann seinen Schwanz sehen“, prustet Katja laut ins Telefon.
„Das sind also die Themen über die ihr Frauen euch unterhaltet, wenn keine Männer dabei sind.“
Ich falle vor Schreck fast vom Stuhl. Vor mir in der Tür steht Benni und grinst.
Scheiße! Der Typ hat wirklich eine Gabe in den unmöglichsten Momenten aufzutauchen.
„Benni“, rufe ich lauter als nötig. „Was willst du denn hier?“, frage ich und wünsche mir gleichzeitig im Boden zu versinken.
„Hä?“, scheppert es durch den Hörer.
„Äh, Katja, ich ruf dich gleich noch mal an.“ Hastig drücke ich den Knopf meiner Telefonanlage und beende das Gespräch.
„Wegen mir hättest du nicht aufhören müssen“, bemerkt Benni süffisant. „Ich fand das Gespräch eigentlich ganz interessant.“
„Das glaube ich dir gerne“, fauche ich ihn an.
„Warum denn so kratzbürstig heute Morgen? Du hast doch allen Grund zu feiern. Schließlich war dein Artikel ein voller Erfolg.“
„Findest du wirklich?“, sage ich möglichst gleichgültig. Soll er bloß denken, dass seine Meinung nicht relevant für mich ist.
„Wäre ich sonst hier?“
Dieses unverschämte Grinsen bringt mich noch um meinen Verstand. „Keine Ahnung.“ Ich zucke mit den Schultern. „Aber vielen Dank, trotzdem.“
„Miriam hat vorgeschlagen, dass wir uns zusammen mit dem Künstler treffen und ich ein paar Bilder davon mache. Sag mal, ist der Kerl ein Ex-Freund von dir?“
Ich schüttele den Kopf. „Auch wenn es dich eigentlich nichts angeht. Christian und ich sind zusammen in die Schule gegangen. In der Oberstufe waren wir sogar im selben Leistungskurs.“
„Lass mich raten – Kunst?“ Wieso klingt alles aus seinem Mund so, als würde er sich ständig über mich lustig machen?
„Stimmt genau. Christian war schon damals so etwas wie ein Genie. Gegen seine Bilder wirkten meine immer richtig stümperhaft.“
„Wenn du ihn so gut kennst, dürfte es doch nicht allzu schwierig sein ein Treffen mit ihm zu verabreden.“
„Ich schätze schon. Wobei, bei Chris weiß man das nie so genau. Der lebt in seiner eigenen kleinen Welt ...“
„.. und trägt keine Unterhosen“, unterbricht mich Benni lachend.
„Genau!“, falle ich in das Lachen mit ein.
„Klasse! Dann lass uns doch noch diese Woche einen Termin machen. Am besten gleich morgen“, schlägt Benni vor. „Ich möchte die Aufnahmen so schnell wie möglich im Kasten haben.“
Na der hat es aber eilig! „Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Ich rufe Chris gleich mal an“, stimme ich zu.
„Prima.“ Benni geht in Richtung Tür. Meine Güte, der Mann hat aber auch einen knackigen Hintern. Ein schöner Po bei einem Mann ist ein äußerst seltenes Attribut, das man als Frau gar nicht genug würdigen kann. Schließlich will man als Frau auch etwas haben, woran man sich beim Sex festkrallen kann und das sollte möglichst nicht ein Bierbauch oder das klassische Hüftgold sein.
„Dann sehen wir uns spätestens zum Interview.“ Benni dreht sich noch einmal um. Hastig senke ich den Blick. Schließlich soll er nicht merken, dass ich ihm auf den Hintern starre.
„Bis dann!“, rufe ich so beiläufig wie möglich.
„Hier wohnt also dein Freund“, bemerkt Benni trocken.
Ich habe es tatsächlich geschafft, Chris zu einem Termin gleich am nächsten Tag zu überreden. Benni wuchtet sich die schwere Fototasche über die Schulter. Geschieht ihm recht, dass das Ding so schwer ist. Ich hingegen habe nur einen Notizblock, zwei Stifte, falls einer abbricht, und mein Aufnahmegerät dabei. Ach ja, und meine Brille für den intellektuellen Touch.
„Chris ist nicht mein Freund“, brumme ich.
„Sollte auch ein Witz sein“, entgegnet Benni, während er neben mir herschlurft.
Ich bin total aufgeregt. Mein erstes wirkliches Interview mit einem Künstler. Okay, der kleine Schönheitsfehler bei der ganzen Sache ist, dass es sich hierbei um Chris handelt. Chris aus der Schule!
Im Moment bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob das mit Chris und seiner Malerei eine so gute Idee war. Ich seufze. Ich bin Profi. Ich werde mich dadurch nicht beirren lassen und ganz professionell vorgehen. So wie ich es bei jedem Anderen auch getan hätte. Das wird mein erster richtiger, von mir verfasster Artikel unter dem mein Name stehen wird.
Die Gegend wirkt ein bisschen abgerissen. Lauter Altbauten mit niedlichen kleinen gusseisernen Balkonen, auf die die Bewohner kleine Tische und Stühle gestellt haben. Es wirkt gemütlich, so als ob hier jeder jeden kennt.
„Coole Gegend“, stelle ich fest.
„Absolut angesagtes Künstlerviertel. Hier wohnen Alternative und Etablierte friedlich nebeneinander. Der Ausländeranteil ist relativ hoch.“ Er deutet auf den türkischen Gemüsehändler, der direkt neben Chris Haus seinen Laden hat. Der Duft von frischen Kräutern und Gewürzen zieht uns in die Nase.
„Mhm.“
Ich suche Chris’ Namen auf der Klingelleiste. Meine Hand zittert leicht, als ich den passenden Klingelknopf drücke.
„Alles okay mit dir?“
Ich nicke.
„Nervös?“ Seine Frage klingt erstaunt.
Ich nicke.
„Aber warum?“
„Ist mein erstes Interview“, gebe ich zu.
„Du machst Witze!“ Er sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, was bei jedem Anderen streng, aber bei Benni absolut zum Anbeißen aussieht. „Klar ist das dein Ernst“, beantwortet er sich die Frage selbst. „Du bist echt der größte Chaot, der mir jemals über den Weg gelaufen ist.“
„Ist das schlimm?“, frage ich. Benni steht keine Armlänge von mir entfernt. Ein paar Mädchen schlendern an uns vorbei und wir schweigen einen Moment. Ich lehne mich gegen die Haustür.
„Nein, überhaupt nicht.“ Er sieht mir in die Augen. „Es macht es nur so schwer, dich einzuschätzen.“
Ich spüre wie sich meine Wangen färben und räuspere mich befangen.
„Und ... äh ...“, sage ich und sehe weg. „Deswegen bist du immer so ...“
Der Summer scheppert und die Tür springt mit einem Ruck auf.
Hoppala!
Ich bin so überrascht, dass ich mich fast auf die Nase lege. Starke Arme halten mich fest. Ich bekomme Herzklopfen und streiche mir nervös die Haare zurück. Was ist nur los mit mir? Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er mir gegenüber deswegen immer so komisch ist, aber der Moment ist vorbei und ich lasse es lieber. Vielleicht bilde ich mir das Ganze ja auch nur ein.
„Hast du dir weh getan?“ Bennis Stimme klingt besorgt.
Ich schüttele den Kopf und habe das dringende Bedürfnis mich bei Benni für meine Schusseligkeit zu entschuldigen. „Nee, das war wieder typisch für mich. Solche Dinge passieren mir ständig.“
„Habe ich schon bemerkt.“ Benni grinst.
„Ach“, sage ich und bekomme heiße Wangen.
„Aber das macht dich ja gerade so liebenswert“, führt er seinen Gedanken zu Ende.
Für einen Moment verlangsame ich meine Schritte. War das jetzt etwas Gutes? Ich entscheide mich für »ja« und gehe freudig weiter. Benjamin Wagner mag mich. Er findet mich liebenswert. Ein leichtes Glücksgefühl überkommt mich.
Bei Chris herrscht das totale Chaos. Der Boden ist mit Klamotten übersät.
„Man könnte meinen, du hast keine Schränke.“ Ich steige über einen Kleiderhaufen hinweg, um zum Atelier zu gelangen.
„Weißt du, ich beschäftige mich lieber mit den wichtigen Dingen des Lebens“, lautet die künstlergerechte Antwort. Chris grinst dämlich.
„Schon klar“, murmele ich und folge Chris in sein Atelier.
Äußerlich hat sich Chris seit unserer letzten Begegnung bei Penny kaum verändert. Vielleicht hat er ein paar Falten mehr, ansonsten ist er noch immer ganz der Alte. Wie befürchtet, trägt er eine seiner berühmt-berüchtigten weißen Leinenhosen und dazu eine Art Tunika. Gott sei Dank! Die Tunika reicht ihm bis zu den Knien und bedeckt somit sein baumelndes Gemächt. Benni grinst mir zu, als er meinen Blick auffängt. Ich grinse zurück. Wir sind wie zwei Verschworene, die sich auch ohne Worte verstehen.
Das Atelier sieht genau so aus, wie ich es mir vorgestellt habe. Überall Farben, Papier, Pinsel und Gläser voll mit Sand soweit das Auge reicht. Auf dem Boden liegt eine große Leinwand ausgebreitet, auf der, mit gekonnten Strichen, eine Art Landschaft gemalt ist. Ein Spiel aus Licht und Schatten, das noch nicht fertig zu sein scheint.
„Sind das die Bilder, über die wir gesprochen haben?“ Benni bringt sich in Position und fängt an zu fotografieren. Ich stelle mir vor wie er laut ruft: „Yeah Baby yeah ... gut machst du das! ... Zeig es mir!“ Ich kann ein Kichern gerade noch in letzter Minute unterdrücken. In Gedanken sehe ich Katjas strengen Blick vor mir. Also reiße ich mich zusammen und denke an Vox Tours. Judith würde sicher nicht kichernd losprusten.
„Das habe ich von meiner letzten Reise in die Wüste Thar mitgebracht.“ Chris präsentiert stolz die unzähligen Gefäße, die ungeordnet neben der Leinwand aufgebaut am Boden stehen. Große und kleine Flaschen gefüllt mit Sand in allen Schattierungen. Wie umständlich! Für das bisschen Sand durch halb Afrika zu reisen!
„Hättest du nicht auch einfach Sand von der Ostsee nehmen können?“, platzt es aus mir heraus. „Ich meine, das wäre doch deutlich einfacher.“ Mal ehrlich, wer kann schon den Unterschied zwischen Wüstensand und Ostseesand erkennen? Für einen Moment herrscht eine bedrückende Stille. Vielleicht hätte ich doch besser meinen Mund halten sollen?!
Chris starrt mich mit offenem Mund an. Kein schöner Anblick. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der mit offenem Mund gut aussieht. Man wirkt immer leicht debil. Seit ich einmal während eines Rückfluges von Griechenland nach Deutschland eingeschlafen bin und Katja mich dabei fotografiert hat, wie ich mit offenem Mund an der Schulter eines mir unbekannten Sitznachbarn eingeschlafen bin, habe ich in dieser Beziehung echt einen Schaden weg. Sie hat sich auch nicht gescheut mir zu berichten, dass mir ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel hing und sich eine feuchte Stelle auf dem Shirt jenes Sitznachbarn gebildet hatte. Brrr.... Bei dem Gedanken an dieses Foto bekomme ich heute noch Herpes in der Größe eines Blumenkohls.
Chris fängt an zu lachen. „Das ist mal wieder typisch unser Moptodel. Kein Mensch würde mir eine solche Frage stellen – keiner, außer dir.“ Er wischt sich über die Augen. Benni beugt sich dicht zu mir und flüstert.
„Moptodel?!“
„Äh ja ...“ Mir bleibt heute wirklich nichts erspart. »Moptodel« ist mein Spitzname aus der Schulzeit. So eine Mischung aus Trottel, Model und Top. Ich glaube es war Birtes Idee. Ein Grund mehr sie bis heute zu hassen. Ich seufze. „Blöder Spitzname. Einfach nicht drüber reden .“
Er nickt. Da ist es wieder, dieses freche Grinsen auf seinem Gesicht. Er lacht mich aus. Ich weiß es. Ich werfe ihm einen strafenden Blick zu und wende mich wieder an Chris.
„Natürlich könnte ich einfach Sand von der Ostsee nehmen, aber wer würde dann schon meine Bilder kaufen? Wenn jemand Kunst kauft, möchte er etwas Besonderes, etwas Einzigartiges besitzen. Das Bild soll eine Geschichte erzählen oder Gefühle auslösen. Was würde ein Bild mit Ostseesand wohl bei dir für Gefühle oder Erinnerungen auslösen?“
Ich grinse. „Strandkörbe, kaltes Wasser, dicke Menschen und der Geruch nach Sonnencreme. Ach ja, und Langeweile.“ Die Kamera klickt. Benni hat sich unauffällig zwischen uns aufgebaut.
Chris nickt. „Genau. Und was löst die Wüste bei dir aus?“
„Wärme, Abenteuer, Geheimnis und Gefahr“, sage ich nach kurzer Überlegung.
„Exakt! Welches der beiden Alternativen würdest du dir an die Wand hängen wollen?“
Die Antwort ist klar. „Wüste.“
Chris nickt zufrieden. „Weißt du, ich habe mich vor Jahren bei einer meiner Reisen in die Wüste verliebt. Mich begeistern die Menschen und ihre Geschichten, deren Leben. Aber am meisten fasziniert mich die Natur dort.“
Ich wende mich wieder Chris zu, dessen Hände mittlerweile mit bunter Farbe beschmiert sind. Er ist voll in seinem Element, seine Bewegungen sind fließend und seine Hände scheinen einer imaginären Musik zu folgen.
Auch Benni wirkt hoch konzentriert. Mein Gott, der Mann sieht sogar sexy aus, wenn er arbeitet. Sein ganzer Fokus ist auf Chris gerichtet. Es ist das erste Mal, dass ich Benni bei der Arbeit beobachte. Ich bin begeistert. Seine schlanken Finger umfassen die Kamera fast liebevoll. Wie fühlt es sich wohl an, wenn er mich berühren würde? Hat er weiche Haut? Bestimmt. Schöne Hände sind selten bei Männern. Benni hat schöne Hände. Ebenso schöne Zähne. Schon zwei Attribute, die ihn in die oberen Ränge des Männerolymps befördern – ganz abgesehen von dem knackigen Po.
„Julia, hörst du mir noch zu?“ Chris zwinkert mir zu. Hat er was gemerkt? Warum sieht er mich so bedeutungsvoll an?
Wieder spüre ich, wie ich rot werde und senke hastig den Kopf. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Benni erstaunt zu mir rüber sieht. Seine braunen Augen glänzen im Licht.
„Äh, entschuldige“, murmele ich, „ich habe nur einen Moment nachgedacht.“
„So kann man es auch ausdrücken“, spöttelt Chris und macht eine unauffällige Kopfbewegung in Richtung Benni, der sich gerade über das Bild beugt und eine Detailaufnahme macht.
Konzentriere dich! Benni ist nur dein Fotograf. Du bist gerade von deinem Verlobten betrogen worden. Hör auf, ständig über Benni nachzudenken. Männer sind erst einmal tabu.
Eine Hand legt sich auf meinen nackten Arm. Ich zucke zusammen. Es ist Benni. Er steht direkt hinter mir. Seine körperliche Nähe macht mich nervös.
„Was hältst du davon, wenn wir dich und Christian ...“
„Chris, bitte“ unterbricht ihn Chris.
Benni nickt. „Ich würde gerne ein Bild von Chris und dir machen.“
„Keine gute Idee“, protestiere ich. Meine Haut prickelt an der Stelle, als er die Hand wieder wegnimmt.
Ich kann Bilder von mir nicht leiden. Meistens sehe ich aus wie ein Marzipangesicht mit einem Pudel auf dem Kopf.
„Doch“, besteht Benni. „Deine Leser sollen sehen, wer die sympathische Frau ist, die hinter dem Artikel steht. Außerdem wirkt es so authentischer.“ Er dreht an seinem Objektiv. „Chris, du könntest Julia dabei noch ein bisschen von deinen Reisen nach Afrika erzählen“, schlägt er vor. Chris kniet auf dem Boden und ich folge seinem Beispiel. Benni platziert sich an der Stirnseite des Bildes.
Chris schüttet den Sand mit einer schwungvollen Bewegung über der Leinwand aus, dann nimmt er einen Topf mit Farbe und vermengt scheinbar ohne Konzept den Sand mit der Farbe. Es folgen Bewegungen, wie bei Kindern, die mit Matsche spielen. Sein Gesicht bekommt einen konzentrierten, leicht verrückten Ausdruck. Wahnsinn und Genie liegen eben doch dicht beieinander.
„Das ist echt cool gelaufen“, stellt Benni später zufrieden fest.„Aber mal ehrlich, eine kleine Macke hat der Typ schon.“
Ich nicke. „Schätze mal, Chris war ein bisschen zu lange in der Sonne.“ Wir beide lachen.
„Trotzdem glaube ich, dass er mit seinen Bildern erfolgreich wird. Die Idee ist gut und malen kann er auch.“
„Katja und ich waren uns schon immer einig, dass Chris mit seinem Können auf Dauer Erfolg haben würde. Du hättest mal sehen sollen, wie der in der Oberstufe gemalt hat! Gegen ihn hatte keiner von uns eine Chance“, sage ich locker.
„Ich wette, du warst aber auch ziemlich gut.“ Benni lächelt mich warmherzig an.
Und mein Magen macht wieder einen dieser kleinen Hüpfer, die er in letzter Zeit immer macht wenn Benni in meiner Nähe ist.
„Hast du dir schon überlegt, wann wir uns zusammensetzen, um die Fotos auszusuchen?“ Ich denke kurz nach. „Ich könnte den Artikel bis morgen Abend fertig haben.“
„Lass uns nächste Woche treffen.“ Sein Gesichtsausdruck hat sich verändert. Er wirkt plötzlich ernst.
„Warum erst nächste Woche? Miriam möchte den Artikel so schnell wie möglich haben", beharre ich. „Und du hast selbst gesagt, dass du die Bilder so schnell wie möglich im Kasten haben willst.“
Benni schüttelt den Kopf. Seine wunderbaren braunen Augen sehen mich traurig an. Er nimmt meine Hand in seine beiden Hände.
„Ich kann dieses Wochenende nicht. Da ist eine total wichtige Sache, die ich nicht aufschieben kann und die meine ganze Zeit in Anspruch nehmen wird. Sorry! Das Treffen muss bis nächste Woche warten.“
Bitte? Wichtige Sache? Was kann wichtiger sein als der Artikel für die Sonderausgabe der Holiday Dream!
Er seufzt und sieht überhaupt nicht mehr glücklich aus. Jetzt erst fallen mir seine dunklen Augenringe auf. Rasiert ist er auch nicht.
„Benni?“
„Ja?“
„Es geht mich ja nichts an, aber ich werde dich trotzdem fragen. Ist bei dir alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie gestresst.“
„Bei mir ist ne Menge los und ich muss ein paar Sachen in Ordnung bringen. Elisabeth ...“ Benni sieht ertappt in meine Richtung. „Äh, ich meine, Frau Hirsekorn hat mich um einen Gefallen gebeten, den ich unmöglich ablehnen kann, auch wenn ich viel lieber hier ...“ Er sieht, mir tief in die Augen, „... bei dir wäre.“
Ich schweige.
Wir schauen uns an, dann beugt sich Benni zu mir herunter und küsst mich. Nur einen Wimpernschlag lang berühren sich unsere Lippen aber ich stehe unter Strom. Mein Herz rast, meine Beine zittern und mein Atem geht stoßweise. Gut, dass ich sitze, sonst wäre ich umgefallen. Meine Selbstsicherheit ist mit dem Kuss verpufft. Ich meine, erste Küsse sind schließlich alles entscheidend. Und können wahnsinnig enttäuschend sein, wenn der Angebetete zum Beispiel wie ein Anfänger küsst und man gleichzeitig weiß, dass er es auch niemals lernen wird.
Diesen Kuss gerade fühle ich bis in die Fußspitzen. Benni ist definitiv keiner dieser Anfänger.
„Julia?“ Ich öffne meine Augen. Benni lässt meine Hand los. „Es tut mir echt leid. Aber ich muss jetzt gehen.“
Ich starre ihn entgeistert an. „Wie, jetzt?“
„ Es tut mir echt leid. Aber ... es ist wirklich wichtig.“
Ich nicke. Zu Worten bin ich in diesem Moment nicht fähig. Ich spüre immer noch seine Lippen auf meinen.
„Julia, ich muss wirklich weg“, sagt Benni, als er mein Gesicht sieht. „Aber wir sehen uns, sobald ich wieder da bin, okay? Gleich Montag. Und dann machen wir genau an diesem Punkt weiter.“
„Okay.“ Ich versuche zu lächeln. „Das wäre schön.“
Dann geht er davon. Eine Weile höre ich noch seine Schritte.