1. Julias Facebook Status: Hochzeitsvorbereitungen!

 

Jajajajaaaaa! Die können Gedanken lesen. Wahnsinn! Mein Herz klopft mir bis zum Hals, als ich die Zeilen auf dem Bildschirm lese. Das ist genau das, was ich mir schon als kleines Mädchen immer gewünscht habe. Alleine die Fotos! Ich seufze leise, während ich mir die mit Weichzeichner fotografierten Hochzeitsbilder an einem malerischen Strand ansehe. Genau das Richtige für mich und Johann.

Frau Julia Zoe Hartmann, jubiliere ich und lasse mir meinen zukünftigen Namen auf der Zunge zergehen. Zugegeben, das klingt nicht ganz so flüssig. Aber daran werde ich mich bestimmt gewöhnen. Julie Zoe Löhmer-Hartmann wäre durchaus eine Alternative für mich, aber Johann findet, dass mein Mädchenname irgendwie unsolide klingt. Ich starre weiter auf die Webseite von das Glückliche-Braut-Team. Inhaberin Rosalinde Rotermund, lese ich. Na, gegen diesen Namen ist Hartmann nicht mit Gold aufzuwiegen.

Johann und ich sind jetzt seit viereinhalb Jahren ein Paar. Ein typisches Paar, das sich Gute-Nacht-Küsschen zuwirft, bevor es das Licht ausmacht und das sich dreimal am Tag anruft, obwohl es sich täglich sieht. In unserem Fall sogar während der Arbeitszeit, denn Johann ist sozusagen mein Chef. Ich greife zum Telefon und setze dabei eine möglichst gleichgültige Miene auf. Schließlich müssen ja meine Kollegen nicht mitbekommen, dass ich während meiner Arbeitszeit privat telefoniere. Ich wähle die Nummer von Katja, meiner besten Freundin. Leider lebt sie in Hamburg seit sie die Stelle bei Blohm + Voss angenommen hat. Was bedeutet, dass unsere Kommunikation hauptsächlich über das Telefon stattfindet, da ich nun mal mit Johann in Freiburg wohne und ein Besuch zu Katja wie eine halbe Weltreise anmutet, vor allem, wenn man wie ich Flugangst hat und deshalb hauptsächlich auf Auto, Bus und Bahn angewiesen ist .

„Guten Tag. Katja Völkers am Apparat.“ Katjas Stimme klingt am Telefon immer unglaublich geschäftlich. Sie hat wuscheliges dunkles Haar und einen IQ von mindestens sechshundert. Außerdem ist sie der süßeste Mensch, den ich kenne.

„Ich bin’s“, gebe ich mich mit leiser Stimme zu erkennen. „Ich muss dir unbedingt etwas zeigen.“

„Julia, was ist passiert?“ Katjas Stimme bekommt diesen strengen Unterton. „Bist du zu Hause? Bist du krank?“ Sie weiß genau, dass Privatgespräche während der Arbeitszeit bei Hartmann & Sohn strengstens untersagt sind.

„Nö“, versuche ich sie zu beruhigen. „Ich habe nur gerade diese Internetseite entdeckt und ich muss unbedingt deine Meinung dazu hören.“

„Du siehst dir nicht schon wieder heimlich den Wedding Planner an, oder?“

Ich sehe mich irritiert um. Immerhin wäre es ja möglich, dass hier eine Live Cam installiert wurde, um die Mitarbeiter zu überwachen. Liest man schließlich oft genug in den Medien.

„Julia?“, fragt Katja am anderen Ende der Leitung.

„Äh, ja nein“, stammele ich. Katja hasst Froonk, den Wedding Planner. Ich hingegen finde es absolut toll, wie hingebungsvoll und mit wie viel Einfühlungsvermögen er sich den Herausforderungen einer Hochzeit stellt und für alles eine Lösung findet.

Katja schnaubt laut, um ihre Missbilligung über meine Handlungen kundzutun. Sie mag Johann nicht besonders und mit dem Gedanken, dass ich ihn bald heiraten werde, kann sie sich einfach nicht anfreunden. „Das ist doch nicht dein Ernst. Wenn du so weiter machst, feuern die dich noch!

„Geht nicht“, rufe ich triumphierend in den Hörer, „schließlich ist der Juniorchef zufällig mein zukünftiger Ehemann!“ Nicht, dass ich mir darauf etwas einbilde, aber ein paar Vorteile bringt es schon mit sich.

„Ihr habt euch gerade erst verlobt. Bis zur Hochzeit ist es noch fast ein Jahr“, wirft sie hinterher. „Da kann noch sehr viel passieren!“

Gleich bin ich genervt. Katja tut ja gerade so, als ob bis zum Hochzeitstermin noch eine halbe Ewigkeit hin wäre, dabei sind es nur knapp acht Monate und es gibt noch so viel zu organisieren.

Mit der Planung des schönsten Tags seines Lebens kann man gar nicht früh genug anfangen. Schließlich freue ich mich schon auf diesen Tag, seit ich ein kleines Mädchen bin“, appelliere ich an ihr schlechtes Gewissen. „Ich erinnere dich nur an die Hochzeit von Kronprinzessin Viktoria letztes Jahr. Da hast du Rotz und Wasser geheult und gesagt, dass du genau so heiraten möchtest. Dagegen bin ich mit meinen Wünschen direkt bescheiden.“

Ich werde diesen herrlichen Nachmittag zusammen mit dem schwedischen Königshaus nie vergessen. Katja und ich hatten es uns auf meinem roten Sofa so richtig gemütlich gemacht. Ich trug das schwarze Cocktailkleid, das mir Johann bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub auf Sylt geschenkt hat und Katja hatte dieses wahnsinnig ausgeflippte Kleid von Gaultier an, das sie vom Russen geschenkt bekommen hatte. Dazu gab es unser beider Lieblingsgetränk: Prosecco mit Aperol auf Eis.

Es war eine wunderschöne, herrlich romantische Hochzeit. Katja und ich haben während der gesamten Zeremonie geweint. Eigentlich wollten wir hinterher noch in einen der angesagten Clubs feiern gehen, aber unser Make-up war völlig ruiniert und die Augen derart verquollen, dass wir darauf verzichtet und uns stattdessen Ein Herz und eine Krone angesehen haben. Ich liebe diesen alten Schinken! Audrey Hepburn sieht einfach traumhaft aus und welches Mädchen würde nicht gerne auf diesem Roller sitzen und sich an Gregory Peck festklammern, während sie durch das nächtliche Rom fahren.

Am Anfang meiner Beziehung mit Johann dachte ich, er würde genauso empfinden. Deshalb habe ich ihm einen gemeinsamen Videoabend vorgeschlagen. Johann war zunächst ganz begeistert von der Idee. Also bin ich losgezogen, habe den Film aus der Videothek besorgt, unsere Wohnung in romantisches Kerzenlicht getaucht und ein paar Leckereien auf den Tisch gestellt. Es sollte schließlich alles perfekt sein. Doch der Abend fing schon holprig an, als ich die DVD einlegen wollte und Johann mich fragte, ob das der neue Streifen mit Megan Fox sei. Sein begeisterter Gesichtsausdruck, während er ihren Namen aussprach, eigentlich allein schon die Frage an sich sorgten bei mir für leichte Verstimmung.

Für jede normale Frau, und dazu zähle ich mich, ist Megan Fox mit ihren gemachten Brüsten und dem Dauer-Abo beim Schönheitschirurgen ein Angriff auf das Selbstwertgefühl.

Als ich Johann dazu meine Meinung sagte, zuckte er nur gelangweilt mit den Achseln: „Ist mir egal. Megan Fox ist eine echt scharfe Braut. Wenn das das Ergebnis ist, wenn man sich heutzutage unters Messer legt, kann ich nur sagen: Ein Hoch auf die plastische Chirurgie! Johanns Begeisterung schlug in herbe Enttäuschung um, als er merkte, was ich da für einen Film eingelegt hatte. Meine Bemerkung, dass Audrey Hepburn viel schöner und nicht operiert sei, quittierte er nur mit einem Achselzucken. Irgendwie konnte er sich danach auch nicht für die Handlung des Films erwärmen,. Jedenfalls erwischte ich Johann genau bei der Szene, als Audrey Hepburn ihre Hand in den berühmten Mund der Wahrheit den Bocca della Verita steckt, wie er gelangweilt seine E-Mails auf dem iPhone checkte. Da wurde mir schlagartig klar: Emotionen sind Frauensache! Ich seufze wehmütig bei dem Gedanken an jenen Abend.

„Hier.“ Ich tippe auf die Stelle auf meinem Desktop. Sofort ziert ein hässlicher Fingerabdruck die Scheibe. „Hier steht ... Ich zitiere: „ ... Hochzeitsvorbereitungen sind sehr zeitaufwendig und erfordern eine präzise Planung ... Du sagst doch immer, ich soll mich rechtzeitig um alles kümmern, und jetzt meckerst du.“ Ich schnaube beleidigt in den Hörer.

„Okay, okay“, seufzt sie und ich weiß, ich habe gewonnen. „Also sag schon, damit ich die Seite aufrufen kann.“

Genau darum könnte ich mir keine bessere Freundin als Katja wünschen. Claudia Rauenberg, mit der ich befreundet war, bevor Katja zu uns gekommen ist, hätte jetzt die Stirn gerunzelt und gesagt: „Das ist doch Quatsch.“ Oder noch schlimmer: „Das ist doch nur ein Kleinmädchentraum.“  Katja dagegen versteht mich voll und ganz, auch wenn sie oft einen auf vernünftig macht. Aber das ist auch ihr Job. Sie ist eigentlich Wirtschaftsingenieurin, in letzter Zeit arbeitet sie allerdings im Marketing. Ich nenne ihr die Webadresse.

„Oh, Julia“, flüstert sie, „das sieht ja hinreißend aus.“ Einen Moment lang schweigen wir beide.

Und dann verdirbt Katja wieder alles. „Meinst du nicht, dass Johann die Krise kriegt, wenn er hört, was du so alles planst?“

„Warum?“, sagte ich leicht säuerlich. „Schließlich liebt mich Johann und will nur das Beste für mich.“ Ich spiele nervös mit meinem Kugelschreiber.

„Na ja, bei unserem letzten Treffen hatte ich den Eindruck, als würde Johann sich eher etwas Kleines vorstellen ... etwas Preiswerteres.“

„Hochzeiten am Strand sind ja schließlich nichts Ungewöhnliches mehr“, verteidige ich ihn, auch wenn mich der Verdacht beschleicht, dass Katja mit ihrer Einschätzung nicht ganz  verkehrt liegt. Aber das kann ich natürlich unmöglich zugeben. Schließlich reden wir hier von meinem zukünftigen Ehemann. „Außerdem bieten die hier so ein Gesamtpaket an. Das ist deutlich günstiger und ich kann trotzdem noch meine Wünsche äußern.“

„Na dann“, lenkt Katja ein. „Sieht jedenfalls klasse aus. Sag mal, ist das da im Hintergrund auf dem Strandfoto ein Supermarkt?“

Ich kneife die Augen zusammen und komme so dicht an den Bildschirm, dass meine Nase ihn fast berührt. Tatsächlich sind im Hintergrund die Umrisse eines bekannten Discounters zu sehen. Ich schweige und ziehe mit den Zähnen einen Hautfetzen am Daumen ab. Eine schlechte Angewohnheit, wenn ich nervös bin.

„Mhm, ich muss ja nicht unbedingt diese Agentur nehmen. Es gibt schließlich hunderte davon im Netz.“

„Wenn du willst, kann ich mich ja mal umsehen“, schlägt Katja vor.

„Prima“, sage ich glücklich. Katja hat mal ein Praktikum bei einer PR-Agentur gemacht und ist ein echtes Organisationstalent.

„Gut, ich mach dann mal weiter. Vor mir liegt noch ein Riesenstoß Arbeit und der Russe hat sich heute Mittag zur Besichtigung angesagt.“ 

Der Russe, wie Katja ihn nennt, ist der größte Kunde von Blohm + Voss. Ihm hat sie letztendlich ihren Job dort zu verdanken. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass Katja und er ein Paar sind, auch wenn sie diesen Umstand zu verschweigen versucht. Aber als ihre beste Freundin kenne ich sie genau! Die Art und Weise, wie sie über den Russen redet, lässt eindeutig darauf schließen, das sie Hals über Kopf in den Mann verliebt ist.

„Okay, bis später“, verabschiede ich mich und hänge den Hörer ein.

Zufrieden betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster. Ja, ich sehe aus wie eine klassische Businessfrau. Meine Haare, die zu einem gewissen Eigenleben neigen, sind sorgfältig glatt geföhnt, ich trage dezente Perlenohrringe und eines dieser typischen, schmal geschnittenen Kostüme, wie sie eigentlich nur Frauen ab vierzig tragen sollten. Aber wenn man die zukünftige Schwiegertochter des Bosses ist, muss man auf sein Äußeres achten. Außerdem kaschiere ich so meine überflüssigen Pfunde. Mein Körpergewicht war schon immer mein Problem. Bereits in der Grundschule war ich ein bisschen pummelig, was meine Mutter bei Familientreffen immer als Babyspeck abgetan hat, der spätestens mit meiner Pubertät und dem damit verbundenen Wachstum verschwinden sollte. Zu meinem Leidwesen bin ich weder großartig gewachsen, sondern bei einer Körpergröße von knapp einem Meter achtundsechzig stehen geblieben, noch ist mein Babyspeck von damals verschwunden. Ich wende meinen Blick ab und versuche besonders geschäftsmäßig zu wirken, während ich mich wieder dem Internet zuwende, um die Kommentare zu meinem letzten Status Update zu lesen.

 

 

„Frau Löhmer?“ Ich reiße den Kopf hoch und sehe meinen zukünftigen Schwiegervater vor mir stehen. „Haben Sie den Artikel über den Holunder fertig?“ Er kann sich mit dem Du nicht recht anfreunden. Mein Schwiegervater findet, dass es unprofessionell ist, wenn man seine Angestellten duzt. »Geschäft ist eben Geschäft« ist sein Leitspruch. Selbst bei den wenigen gemeinsamen Abenden, die wir bisher miteinander verbracht haben, herrschte deshalb eine eher angespannte Stimmung.

„So gut wie“, lüge ich. Da er mich mit seinen braunen Augen beobachtet, die mich sehr an die von Johann erinnern, fühle ich mich genötigt, guten Willen zu zeigen und die entsprechende Datei auf meinem Computer zu öffnen. Aber er beobachtet mich immer noch. Von Johann keine Spur. Ich habe ihn seit meinem Verlassen der Wohnung heute Morgen nicht mehr gesehen und jetzt ist es immerhin schon Mittag.

„Dieser, wegen seiner zum Verzehr geeigneten Blüten sehr beliebte Busch ist dazu noch äußerst robust und selbst für unerfahrene Hobbygärtner geeignet“, tippe ich und schreibe damit nur aus dem Gartenbuch meiner Mutter ab, das sie mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat.  „Außerdem ist der Holunderbusch winterhart.“

Nach dem letzten Satz trinke ich einen Schluck Kaffee und befasse mich mit dem nächsten Kapitel von Der Gartenfreund.

 

 

Natürlich ist der Job als Journalistin bei einer Gartenzeitschrift nicht die Stelle, von der ich immer geträumt habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand freiwillig über Blumen, Saatgut und Baumschulen schreibt. Die Leute sagen dann immer, sie sind da so reingerutscht. In meinen Augen alles Lüge. In Wahrheit ist es doch so, dass sie niemand anderes haben wollte. Ich habe es gar nicht erst versucht und die Stelle bei Johanns Vater gleich nach dem Abschluss meines Studiums angenommen.

Johann und ich leben jetzt seit zwei Jahren zusammen. Wir haben eine Wohnung ganz in der Nähe von Johanns Elternhaus. Das ist praktisch für Johann, so kann er, wann immer ihm danach ist oder er mit seinen Eltern etwas Geschäftliches besprechen muss, einfach rüber gehen. Und er tut das häufig. Davon abgesehen ist es eine richtig grüne und bezaubernde Gegend. Die Häuser haben hier alle so hübsche Vorgärten, zu jeder Haustür führt ein kleiner Steinweg, und alle paar Meter steht ein Baum im Bürgersteig. Jeder hier achtet peinlich darauf,  seine Kehrwoche nicht zu vergessen. Manchmal frage ich mich, warum es die Stadtreinigung in Freiburg überhaupt noch gibt, wo doch die Bürger dieser bezaubernden Kleinstadt alles selbst erledigen und dies noch gründlicher und besser. Wahrscheinlich ist das auch der Grund warum die Firma Hartmann diesen Standort zu ihrem Hauptsitz erklärt hat. Wo sonst findet man so viele gepflegte private Grünanlagen, deren Besitzer ihr ganzes Geld für den Garten statt für schöne Klamotten oder teure Schuhe auszugeben. Aber das muss jeder selbst wissen. Ich persönlich investiere lieber in schöne Kleider und ein gepflegtes Äußeres. Das ist mindestens genauso wichtig und macht zudem auch noch Spaß.

 

 

Die angesetzte Redaktionskonferenz für heute Abend fällt überraschend aus und so mache ich früher Schluss. Der Artikel über die Hortensie kann schließlich warten, es gibt wichtigere Dinge zu tun. Zum Beispiel meine Hochzeit organisieren.

Bevor ich gehe, schaue ich noch mal bei Johann im Büro vorbei. Seine Sekretärin lässt mich wissen, dass er zu einem wichtigen Kunden gefahren sei. Na, dann eben nicht.

Als ich zur Haustür hereinkomme liegt im Hausflur ein ganzer Stapel Post für uns. Schnell sortiere ich ihn durch.

Langweilig ...

Langweilig ...

Lilly Brautmoden. Ha!

Langweilig ...

Ich schnappe mir den Brautmoden-Katalog und stecke ihn in meine Tasche. Nicht, dass ich vor Johann etwas zu verbergen hätte, aber ich habe gerade erst einen interessanten Artikel in einer Frauenzeitschrift gelesen mit der Überschrift: »Weniger ist manchmal mehr«. Darin ging es darum, dass wir Frauen gerne dazu neigen, unserem Partner alles zu erzählen, um ihn an unserem Leben teilhaben zu lassen. Der Autor ein echter Psychologe warnt in seinem Artikel ausdrücklich davor, den Partner bloß nicht mit jedem klitzekleinen Vorkommnis zu belasten. nner würden sich dadurch häufig überfordert fühlen.

Na, wenn der es nicht weiß, wer dann? Der Typ ist schließlich einer von ihnen und noch dazu Psychologe.

 

Deshalb habe ich in der letzten Zeit, ehrlich gesagt seit der Bekanntgabe unserer Verlobung, eine ganze Menge an Post rund um das Thema Hochzeit herausgefiltert. Wenn man es genau nimmt, schütze ich Johann damit sogar. Er hat schließlich genug mit der Firma seines Vaters zu tun, da muss ich ihn nicht noch mit Dingen belasten, die ich genauso gut selbst entscheiden kann. Den Rest der Post klemme ich mir unter den Arm und gehe dann die Treppe hoch zu unserem Appartement.

Als ich im dritten Stock ankomme, höre ich durch die Wohnungstür leise Musik und auf einmal habe ich ein freudiges Kribbeln im Bauch. Johann hat bestimmt früher Schluss gemacht, um mich mit einem romantischen Abendessen zu überraschen! Sofort habe ich das Bild von Johann in seinem schicken neuen Anzug von Armani vor mir, den wir zusammen bei unserem letzten Besuch in Hamburg gekauft haben. Wie er liebevoll die letzten Rosenblütenblätter auf dem perfekt gedeckten Tisch verteilt und die Flasche Rotwein öffnet, die uns sein Vater anlässlich unserer Verlobung aus seinem privaten Weinkeller geschenkt hat. Ich seufze leise. Ach, mein Johann ist einfach der perfekte Mann zum Heiraten, so viel ist sicher!

Ich schließe die Tür auf und rufe fröhlich „Hallo!“

Keine Antwort.

Ich öffne die Tür zu unserem modernen Wohnzimmer. Simply Red plärrt aus dem Radio und das Erste was ich sehe ist Johanns weißer Hintern, der in rhythmischen Bewegungen hinter unserem Sofa auftaucht. Wie in Zeitlupe erfasst mein Hirn die Einzelheiten um mich herum. Überall auf dem Boden liegen Kleidungsstücke verteilt, über meiner geliebten Tolomeolampe, die ich kostengünstig durch ein Zeitschriften-Abonnement erworben habe, hängt ein schwarzer Spitzenstring (keiner von meinen!), eine Flasche Champagner (doch nicht etwa die, die für unsere Hochzeit gedacht war?!) steht auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa, dazu zwei halb volle Gläser, in denen der Champagner nicht mehr perlt.

Jemand stößt einen spitzen Schrei aus ich glaube es ist meiner. Jedenfalls taucht Johanns Kopf hinter unserem Sofa auf. Seine Haare sind völlig zerzaust. Wo er doch sonst so viel Wert auf ordentlich zurückgekämmte Haare legt! Seine hellblauen Augen sind völlig gerötet. Er sieht aus wie ein zehnjähriger Junge mit Bartstoppeln. Er ist, soweit ich es von meinem Standpunkt aus erkennen kann, nackt. Na ja, wenn man von der Krawatte absieht, die verloren um seinen Hals hängt. Fassungslos starre ich ihn an und überlege, welchen Teil des Films ich wohl verpasst habe.

Hallo? Hört mich jemand?

„Johann?“, schreie ich entsetzt. „Was ist hier los?“ Zugegeben, eine äußerst dämliche Frage angesichts der Situation, aber ich finde sie dennoch berechtigt.

„Julia!“, sagt er mit getrübtem Blick. „Hi! Was machst du denn hier?“

„Ich wohne hier. Schon vergessen?“

„Ach ja.“ Er sieht mich benommen an. „Stimmt.“

In diesem Moment taucht ein zweiter Kopf inklusive einem Paar üppiger Brüste unter ihm auf.

„Annette?“ Ich glotze wie gebannt auf den gewaltigen Busen. Titten-Annette, wie Katja sie immer nennt, ist die Chefredakteurin von Der Gartenfreund und schon seit längerem bei Hartmann und Sohn angestellt. Dadurch, dass wir Arbeitskolleginnen sind und uns täglich sehen, wusste ich zwar, dass Annette etwas üppiger gebaut ist als ich, aber das es so viel ist, hätte ich nicht gedacht.

„Hallo Julia.“, begrüßt sie mich und bedeckt mit den Händen schamhaft ihre Oberweite, als sie meine Blicke bemerkt. Als ob das jetzt noch etwas nützen würde! Außerdem sehe ich durch den Tränenschleier, der meine Augen bedeckt, sowieso alles nur noch unscharf.

„Wie kannst du nur ...?“, schluchze ich. „Wir sind doch verlobt ...!“ Mir ist schwindlig und ich muss mich an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mein Puls rast unregelmäßig. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Hallo? Hallo? Ich funke Hilferufe in den Weltraum. Aber niemand antwortet.

Johann sieht mich betroffen an. „Hasilein, das ist ganz anders als es aussieht. Das ist rein körperlich, das hat nichts mit uns zu tun.“ Er befreit sich aus den Krakenarmen von Annette, die erst mich und dann Johann mit finsterer Miene ansieht.

Ich stehe ganz klar unter Schock. Vermutlich läuft mir die Spucke übers Kinn oder so. Ich versuche alles zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen. Vergeblich. In meiner Verzweiflung suche ich nach einer logischen Erklärung für die ganze Situation: Ist Annette vielleicht das Ergebnis ... äh so einer Art Torschlusspanik?

„Sag mal, spinnst du!“, faucht Annette ihn an. Für einen winzigen Augenblick finde ich sie sympathisch. „Heute Morgen hast du mir noch gesagt, du willst Schluss machen und jetzt?!“ Okay, das mit der Sympathie ist vorbei. „Die ganze Zeit jammerst du, wie Julia dich mit ihrem ewigen Getue nervt. Sag es ihr!“ Sie stemmt die Hände in die Hüfte und baut sich vor Johann auf, der auf einmal winzig wirkt.

„Ich möchte Schluss machen“, sagt er schließlich und sieht dabei auf seine nackten Zehenspitzen. Also wegen seiner Füße habe ich mich nicht in Johann verliebt, die sehen nämlich aus wie Goofy-Füße, breit und unförmig, mit kleinen, saugnapfähnlichen Zehen. Aber, diese Kleinigkeiten bekommt man ja meist erst zu sehen, wenn es schon zu spät ist und man die erste Nacht miteinander verbracht hat.

„Mit wem?“, rufen Annette und ich wie aus einem Munde.

Johann sieht erst Annette und dann mich an. „Ich wollte es dir schon seit Längerem sagen. Das mit unserer Verlobung ...“, er hebt die Hände, „... das war ein Fehler. Ich bin einfach noch nicht reif genug dafür. Ich möchte, dass du glücklich bist und mir ist klar geworden, dass ich nicht der Richtige bin, um dich glücklich zu machen.“ Er hat den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sich der Knoten des Handtuchs löst und selbiges von seiner Hüfte und zu Boden rutscht. Eine Frau hätte sich sofort bedeckt und zur Not die Hände schützend davor gehalten. Nicht mein Johann! Breitbeinig steht er nackt vor mir, als wäre es die natürlichste Sache auf der Welt.

„Hast du einen Hirntumor?“, platze ich heraus.

„Wie bitte?“ Johann sieht mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ja, weil ...“, rufe ich. „... warum sonst solltest du so etwas Gemeines tun? Bei uns ist doch alles in Ordnung? Wir haben täglich Sex und ...“

„Waaas?“ schreit Annette und richtet sich auf, so dass ich ihre runden Hüften sehen kann.

Johann seufzt. „Ich wusste, dass es schwer werden würde, mit dir darüber vernünftig zu reden. Du bist immer so emotional.“

Einer von uns hier ist offensichtlich verrückt geworden. Ich bin es jedenfalls nicht. Vielleicht Annette? Sie sieht jedenfalls so aus, wie sie sich wie eine Furie auf Johann stürzt und ihm eine saftige Ohrfeige verpasst. Hey, das wäre eigentlich mein Part gewesen.

Johann jedenfalls guckt völlig verdutzt und reibt sich die Wange. „Wofür war das jetzt?“

„Für den täglichen Sex!“, faucht Annette und ich verspüre so etwas wie Triumph.

„Aber Mäuschen, das war doch nur aus reiner Gewohnheit und um ...“, weiter kommt er nicht. Denn ich mache einen Schritt auf Johann zu, hole weit aus und versetze ihm die nächste schallende Ohrfeige.

„Bevor du fragst:  Das war für die Gewohnheit“, schleudere ich ihm entgegen.

Dann, ohne auf seine Reaktion zu warten, mache ich auf dem Absatz kehrt und verlasse die Wohnung erhobenen Hauptes und mit dem letzten Rest an Würde, der mir noch geblieben ist, um erst vor der Haustür in Tränen auszubrechen.

 

 

Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit lang heulend durch die Innenstadt von Freiburg geirrt bin, bleibe ich vor dem Zufluchtsort meiner Jugend stehen, das Dusk till Dawn! Die Kneipe ist nach dem gleichnamigen Film benannt und in seiner Einrichtung ähnlich gehalten. Allerdings ist die Einrichtung das Einzige, was diese üble Spelunke mit dem Film gemeinsam hat. Anstatt megacooler Vampire hängen hier nur Typen herum, die kein Zuhause haben und ihre Körper mit unzähligen Tattoos zupflastern. Für meine Eltern war das Dusk till Dawn eine Art Sündenpfuhl den es unter allen Umständen zu meiden galt, was einen Besuch dort für Katja und mich umso reizvoller machte. Also stahlen wir uns jeden Freitagabend aus dem Gemeindejugendzentrum, wo wir uns zuvor hatten absetzen lassen, um uns wenig später mit einigen Jungs aus der Oberstufe im Dusk till Dawn zu treffen.

Ich setze mich mit einem lauten Seufzer auf den Barhocker und starre mein trauriges Spiegelbild oberhalb des Tresens an. Zu allem Überfluss ist mein Haar, das ich heute Morgen so sorgsam glatt geföhnt habe, ganz kraus. Typisch! Das ist wie bei Hundebesitzern, die nähern sich mit der Zeit auch optisch ihren Hunden an. Neulich erst habe ich eine Frau mit einem Mops gesehen, die hatte genauso viele Falten wie ihr Hund. Ungefähr so verhält es sich auch mit meinen Haaren, die passen sich immer meiner aktuellen Stimmung an. Bin ich gut drauf, liegen sie seidig glatt um meinen Kopf bin ich unglücklich, gewinnt eine eigenartige Krause die Oberhand und lässt mich wie einen Pudel aussehen.

Der Barkeeper stellt mir den gewünschten Gin Tonic hin und sieht mich mitleidig an.

„Kopf hoch“, sagt er, „so schlimm kann es doch gar nicht sein.“

„Doch!“, widerspreche ich und nehme einen tiefen Schluck aus dem Glas. Fühlt sich schon besser an. Auf einem Bein kann man nicht stehen, also nehme ich gleich noch einen. Das Glas ist halb leer. Mein Magen macht nervöse Hüpfer. Zur Beruhigung trinke ich einfach weiter. Als ich mein Glas ausgetrunken habe, klingelt mein Handy. Ich starre auf das Display und nehme ab.

„Katja“, schluchze ich laut. Manchmal erschreckt mich Katjas Gespür genau im richtigen Moment anzurufen!

„Julia? Was ist passiert?“ Ihre Stimme klingt als ob sie durch einen dicken Wattebausch sprechen würde. Ich schüttle mein Handy, aber das Wattegefühl bleibt. Komisch!

„Hartmännchen ...“ Ich heule laut auf: „Johann hat mich mit Annette betrogen.“

„Bitte? Mit der Dicken mit den Monsterbrüsten? Dieses Schwein! Soll ich kommen und ihm den Schwanz abschneiden?“ Meine beste Freundin findet eben immer die richtigen Worte zur richtigen Zeit. Für den Bruchteil einer Sekunde bin ich versucht ihr Angebot anzunehmen.

„Oh! Ähm ... nein.“

„Du hast doch nicht etwa Mitleid mit dem Arsch?“ Warum ist Katja nur immer so misstrauisch.

„Nein, natürlich nicht“, schniefe ich und wische mir anschließend mit dem Hemdsärmel über die Nase. Ich sehe ganz grauenvoll aus. Eine rote Nase so groß wie eine Kartoffel, verschmiertes Make-up und Augen, die so klein und zugeschwollen sind, dass man sie nur erkennt, wenn man genau hinsieht. Ich gebe dem Barkeeper ein Zeichen.

„Julia? Wo steckst du eigentlich?“ Sie ist zu diesem mütterlichen Ton übergewechselt, den sie immer dann bekommt, wenn sie sich Sorgen um mich macht.

„Im Dusk till Dawn“, schluchze ich und nehme den zweiten Drink entgegen, den mir der Barkeeper reicht.

„Ach du meine Güte! Dir muss es ja echt dreckig gehen, wenn du in dem Schuppen gelandet bist.“ Ich kann förmlich hören, wie sich Katja am anderen Ende der Leitung schubbert.

„Und, was hast du jetzt vor?“, bohrt Katja weiter. „Du kannst ja schließlich nicht die ganze Nacht da sitzen bleiben und hoffen, dass alles wieder gut wird.“

„Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe, würdest du an meiner Stelle auch hier sitzen und dich betrinken“, sage ich bestimmt und genehmige mir noch einen Kurzen, den mir der Barkeeper in weiser Voraussicht reicht.

„Julia, jetzt sei doch mal vernünftig. Du musst doch irgendwo unterkommen, du kannst ja schließlich nicht die ganze Nacht im Dusk till Dawn verbringen.“

Warum eigentlich nicht? Ich blinzele, als mir der Typ neben mir seinen Rauch ins Gesicht bläst und mir dabei verheißungsvoll zuzwinkert. Vielleicht lieber doch nicht!?

„Ich gehe auf keinen Fall zurück in Johanns Wohnung“, beharre ich und versuche dem Zigarettenrauch zu entkommen, indem ich meinen Kopf zur Seite drehe.

„Du könntest ins Hotel gehen. Und wenn du morgen wieder nüchtern bist, sieht die Welt schon ganz anders aus. Und außerdem kannst du dich in Ruhe nach einem neuen Job umsehen und die ganze Sache mit Johann klären.“

„Hilfeeee“, schrillt es in meinem Kopf. „Glaubst du, dass die mich bei Hartmann & Sohn rausschmeißen?“

„Was hast du denn gedacht? Johann wird auf keinen Fall wollen, dass du noch weiter in der Firma seines Vaters arbeitest.“

Was ich jetzt brauche, ist mehr Alkohol und den am besten intravenös. Ich gebe dem Barkeeper ein Zeichen. Der Mann ist wirklich aufmerksam, denn keine Minute später steht ein volles Glas vor mir. Das Leben ist wirklich ungerecht. Titten-Annette hat den besseren Job und bekommt jetzt als Dreingabe noch meinen Johann dazu.

„Julia?“

„Ja, ähm.“ Ich nehme einen kräftigen Schluck.

„Sag mal, trinkst du schon wieder? Wie viel hast du eigentlich schon intus?“

„Wieso?“

„Weil du irgendwie komisch klingst. Du, ich mache mir jetzt wirklich Sorgen.“ Katja wird bestimmt mal eine tolle Mutter. Ich sehe sie förmlich vor mir stehen, umringt von einer Schar Kinder, die artig miteinander spielen und immer „Bitte!“ und „Danke!“ sagen, wenn Katja ihnen etwas sagt.

„Ach was!“, winke ich ab. „Hier ist alles unter Kontrolle.“ Ich stelle mein Glas auf den Tresen, dabei ups rutsche ich von meinem Stuhl und das Glas geht klirrend zu Boden. Hastig rappele ich mich wieder auf.

„Julia? Juliaaaaa?“ Katjas Stimme schrillt durchs Telefon.

„Ja, ja, alles okay“, versuche ich meine Freundin zu beruhigen. „Ich bin aus Versehen vom Stuhl abgerutscht.“ Ich streiche meinen Rock glatt.

„Soso, aus Versehen. Komisch, dass dir das sonst nicht passiert. Ich finde, du solltest langsam Schluss machen und nach Hause gehen.“ Sie macht eine Pause, die ich nutze, um mich wieder auf den Hocker zu setzen und dem Barkeeper ein Zeichen zum Nachschenken zu geben. „Ich habe eine Idee. Du gehst jetzt zu deinen Eltern, pennst dich mal richtig aus und dann setzt du dich morgen in den Zug und kommst mich in Hamburg besuchen. Ich könnte mir die Woche frei nehmen und mich um dich kümmern.“

Von so viel Freundschaft bin ich derart gerührt, dass mir die Tränen erneut in die Augen steigen. „Dubisteinfachzugutzumir“, nuschle ich in den Hörer. „EinewahreFreundin und isch hab disch gaaanz doll lieb.“

„Prima. Dann hör wenigstens einmal auf mich und geh nach Hause“, sagt Katja bestimmt.

Ich seufze leise und lächle meinen Sitznachbarn tapfer an. Was sich als Fehler herausstellt, denn der Typ »Marke Loser« fühlt sich dadurch sofort ermutigt und rutscht dicht zu mir auf. Sein Atem bläst mir ins Gesicht und es riecht, als ob jemand den Deckel einer Mülltonne abgenommen hat. Seine Gesichtstönung ist die von dünner Milch und seine Haare haben die Farbe von Hundekacke.

„Na Süße, was macht denn eine heiße Braut wie du so alleine hier?“ Er lächelt mir siegessicher zu. Hilfe! Seine Zähne sehen aus, als ob Moos auf ihnen wächst. Mir wird leicht schlecht und für einen Moment bin ich mir nicht sicher ob vom Alkohol oder von dem Gestank, der mir jedes Mal um meine Nase weht, wenn der Typ ausatmet. Ich winke den Barkeeper herbei, der mir wortlos nachschenkt. Der Mann ist wirklich zu Höherem berufen! Dankbar stürze ich den Gin Tonic hinunter. Schon besser. So lässt sich auch der Anblick meines Gegenübers besser ertragen.

„Kann ich dich auf ein Bierchen einladen?“ Sein Triefauge zwinkert mir aufmunternd zu. So wie er es sagt, klingt es irgendwie mehr wie eine Aufforderung zum Gruppensex. Ich starre verwegen in mein Longdrink-Glas, während in meinem Hirn ein Gedankenfeuerwerk im Gange ist. Eines ist sicher! Ich muss hier weg, bevor der Kerl über mich herfällt. Und das kann seinem Sabberblick nach zu urteilen nicht mehr lange dauern.

Aber wohin? Zu meinen Eltern?

Das letzte Mal, als ich dort länger zu Besuch war, hat meine Mutter mich morgens beim Frühstück gefragt, ob ich meine Zähne auch ordentlich geputzt habe und mir nach dem Essen den Mund mit einem Taschentuch, worauf sie vorher gespuckt hatte, abgewischt. Brrrr ... auf keinen Fall gehe ich nach Hause! Aber zu Johann und Titten-Annette will ich auch nicht. Ich überlege, was ich als Nächstes tun könnte. Meine Hirnzellen scheinen gerade ohne mich eine Party zu feiern, jedenfalls bekomme ich keinen vernünftigen Gedanken zustande. Der Todesatem-Mann prostet mir mit sabberndem Blick zu. Ich muss hier raus. Also bestelle ich die Rechnung. Hier zeigt der Barkeeper erste Schwächen. Denn bis die Rechnung endlich kommt vergeht eine gefühlte Ewigkeit, die der Todesatem-Mann nutzt, um mir ein Gespräch aufzuzwingen.

„Na Süße, du willst doch nicht schon gehen, jetzt wo wir uns gerade erst kennengelernt haben?“ Der Gestank ist wirklich unerträglich. Ich simuliere einen Niesanfall und krame in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Der Typ ist zwar nicht weg, aber der Gestank lässt sich so wenigstens einigermaßen ertragen.

„Ich habe noch eine Verabredung“, erkläre ich mich kurz.

Dass dies eine Lüge ist, merkt selbst Todesatem-Mann, denn er zieht die buschigen Augenbrauen nach oben und sieht mich zweifelnd an. Dabei fällt mir auf, dass der Mann zu allem Übel auch noch schielt.

Der Barkeeper kommt endlich mit der Rechnung. Als ich einen Blick darauf werfe, stockt mir der Atem. Meine Güte, für solch eine Summe gehe ich normalerweise essen! Eine Frau muss eben wissen, wann es an der Zeit ist, sich selbst etwas zu leisten.

Als ich gehe, wirft mir der Barkeeper ein bedauerndes Lächeln zu, da er mit mir wahrscheinlich den zahlungskräftigsten Kunden des Abends verloren hat.

Draußen schlägt mir die kühle Nachtluft entgegen und ich bin mit einem Schlag nüchtern. Das ganze Elend meiner Situation wird mir wieder bewusst. Ich muss hier weg! Sofort! Ein Blick auf die Uhr genügt, um mich noch mehr in Panik zu versetzen. Es ist erst acht Uhr! Was soll ich nur die ganze Nacht über tun?

Der alte Spruch von Oma Trude fällt mir wieder ein: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.“ Plötzlich habe ich eine Idee.

Genau! Hatte Katja nicht am Telefon gesagt, dass ich zu ihr nach Hamburg kommen soll. Ha, das ist es! Warum bis morgen warten!? Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht und verdrängt die Tränen.

„Ich fahre nach Hamburg! Ich fahre nach Hamburg!“, jubiliert es in meinem Kopf. Ich zücke mein iPhone, ein Geschenk von Johann, und rufe die Seiten der Deutschen Bahn auf. Der Nachtzug von Freiburg nach Hamburg geht in knapp einer Stunde. Ich werfe einen hastigen Blick auf meine Armbanduhr. Wenn ich mich beeile, kann ich es noch rechtzeitig schaffen. Ohne zu überlegen, haste ich zum nächsten Taxistand.