2. Julias Facebook Status: Ich bin dann mal weg!

 

Als mein Zug aufgerufen wird, habe ich noch zwei Wodkas in der Bahnhofskneipe getrunken und bin schon viel besser drauf. Ich fühle mich leicht und beschwingt. Auf dem Weg in mein Abteil klemme ich mir meine Handtasche fest unter den Arm. Ich recke heroisch das Kinn und versuche das letzte bisschen Würde zu wahren, das mir noch geblieben ist. Ein paar Leute lächeln mich an und gehen dann Kopf schüttelnd weiter. Ich lächle einfach zurück. Na also, geht doch. Ich bin ein wenig stolz auf mich. Was hat Katja vorhin am Telefon gesagt? Man müsse nur positiv denken, alles andere ergäbe sich von selbst. Deshalb fahre ich auch erster Klasse nach Hamburg. Ich habe zwar nicht genau verstanden warum, aber der Bahnangestellte am Schalter behauptete, dass der Spartarif der ersten Klasse billiger sei als der Normaltarif der zweiten Klasse. Meine Mutter hat meinte immer, man solle nehmen, was man kriegen kann. Also habe ich den Mann nicht länger mit Fragen belästigt und gezahlt. Wenigstens begehe ich meinen Abgang aus Freiburg mit Stil.

Ich gerate ein bisschen aus dem Gleichgewicht, als ich versuche, die Schiebetür zwischen den Wagons zu öffnen. Mein Abteil habe ich immer noch nicht gefunden. Ich versuche erneut die Nummer auf dem Ticket zu erkennen, das ich in meiner Hand krampfhaft festhalte. Warum werden die wichtigen Dinge immer so klein gedruckt? Ich kneife meine Augen zusammen, um die Zahl zu entziffern, die unter der Reservierung steht. Alles verschwimmt zu einem Buchstabenbrei.

Ein Mann drängelt sich an mir vorbei. Für einen Moment passe ich nicht auf und das Ticket gleitet mir aus der Hand. Ich will mich danach bücken, verliere bei der Aktion aber fast das Gleichgewicht. Leicht schwindlig und etwas unsicher auf den Beinen stütze ich mich an der gegenüberliegenden Wand ab. Vielleicht war der letzte Wodka doch schlecht? Der Mann bleibt stehen und bückt sich nach meinem Ticket. Als er es mir reicht, starrt er mich an.

Ein typischer Student. Outfit: Jeans, ausgewaschenes T-Shirt und Chucks. Er hat dunkle Augen, Bartstoppeln und auf seiner Stirn sind tiefe Sorgenfalten. Als er mich ansieht, lächeln seine Augen belustigt. Er sieht gut aus. Verdammt gut, um ehrlich zu sein.

„Danke“, murmele ich und streiche mir betont lässig eine Strähne aus dem Gesicht. Mein Hormonhaushalt ist in heller Aufregung.

Er starrt noch immer.

„Hi. Ähm ...“

„Ja?“ Er lächelt und ich könnte in seinen feuchtbraunen Augen versinken.

„Warum starren Sie mich so an?“

„Verzeihung ... aber ...“ Sein Grinsen wird noch breiter, soweit das überhaupt möglich ist. „Ihre Bluse ...“ Er deutet mit dem Finger auf meinen Ausschnitt. Ich schaue an mir herunter und erstarre augenblicklich. Irgendwie müssen mir unterwegs die Knöpfe aufgegangen sein. Drei Knöpfe weiter als sonst guckt mein BH raus. Mein uralter verwaschener Hello Kitty-BH, den ich unbedingt haben musste, auch wenn ich mit Ende zwanzig eigentlich schon viel zu alt dafür bin. Aber ich stehe nun mal auf Hello Kitty. Ich habe auch einen Hello Kitty-Anhänger für mein Handy. Einen mit Glitzersteinen. Ein Laster muss der Mensch doch haben dürfen. Jetzt, in diesem Moment, ist es mir allerdings peinlich.

„Danke“, murmele ich und knöpfe mir mit zittrigen Fingern und vor Scham brennendem Gesicht die Bluse zu.

„Ist wohl nicht Ihr Tag heute?“ Er hat eine leicht raue Stimme. Klingt irgendwie sexy.

Ich versuche, ein Lächeln zustande zu bringen. „Nein, ich hatte schon bessere. Viel bessere, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Er nickt verständnisvoll.

„Trotzdem noch mal: Danke!“ Ich habe ein wenig Probleme, meine Worte klar zu formulieren. Und obwohl ich sie in meinem Kopf ganz deutlich hören kann, kommt aus meinem Mund  ein undeutlicher Brei an Wörtern, der mit denen in meinem Kopf nicht mehr viel gemein hat.

Er sieht auf meine Reservierungskarte. „Darf ich mal?“

Ich reiche sie ihm wortlos, immer noch um Gleichgewicht bemüht. Der Typ ist total süß. Er schweigt, während er meine Sitzplatzreservierung überprüft.

„Das nenne ich einen Zufall.“ Er reicht mir meine Karte. Da ist es wieder dieses freche Grinsen auf seinem Gesicht.

„Was?“

„Wir sind im gleichen Schlafwagen ... äh genauer gesagt teilen wir uns das gleiche Abteil.“

„Echt?“ Ich kann mein Glück kaum fassen. Das letzte Mal, als ich mein Zimmer mit jemand anderem teilen musste, war ich im Krankenhaus und bekam meinen Blinddarm herausoperiert. Meine Zimmernachbarin war damals eine hysterische Mittdreißigerin, die am Knie operiert worden war. Davon abgesehen, dass sie die Schwestern wie Menschen zweiter Klasse behandelte, hing sie ständig an ihrem Telefon und führte lautstarke Gespräche mit ihren Geschäftspartnern, was mich wiederum von meinem Schlaf abhielt. Auf meine Bitte, ihre Geschäftsgespräche doch bitte nach draußen oder auf später zu verlegen, antwortete sie schnippisch: Es könne sich schließlich nicht jeder einfach so faul ins Bett legen wie ich. So war es eine Minute des Triumphes, als die Schwester am Morgen des zweiten Tages gut gelaunt neben ihrem Bett auftauchte, um ihr die Drainage aus dem Kniegelenk zu ziehen.

„Wenn ich jetzt sage, husten Sie“, forderte sie die Mittdreißigerin auf und zwinkerte mir dabei zu.

Von meiner Position aus würde ich behaupten, dass um den Mund der Schwester ein geradezu sadistisches Lächeln spielte, als sie den Schlauch mit einem Ruck aus dem Gelenk zog. Das verblüffte Gesicht der Managerin und den darauffolgenden Schrei werde ich nie vergessen. Gefolgt von Tränen und einer wohltuenden Schweigsamkeit, die bis zu ihrer Entlassung am nächsten Morgen anhielt. Der kleine Zwischenfall hat allerdings auch bei mir Spuren hinterlassen: Erstens werde ich mich niemals an meinem Knie operieren lassen und zweitens vermeide ich es mir ein Zimmer mit Fremden zu teilen.

Er lächelt mich verschwörerisch an. „Kommen Sie, ich führe Sie dorthin.“ Er wirft einen Blick hinter meinen Rücken. Ich sehe ihn irritiert an. „Haben sie denn kein Gepäck?“

„Meine Abreise war sehr plötzlich“, nuschele ich und ringe mir ein Lächeln ab. Mein Gott, der Typ hat genau die Augen, weshalb ich mich während meines Studiums für einen Italienischkurs angemeldet habe.

Er nickt: „Verstehe.“

Er führt mich in den hinteren Teil des Waggons und zeigt auf eine Schiebetür: „Hier ist es.“ Er öffnet die Tür.

Der Raum ist zwar nicht besonders groß, aber besser als ich die Schlafkabinen der Bahn in Erinnerung habe. Das Stockbett bietet genügend Platz und ich entdecke sogar eine kleine Waschgelegenheit mit Spiegel. Die gesamte Einrichtung ist in hellen Farben gehalten.

Alles dreht sich in meinem Kopf und der Boden unter meinen Füßen schwankt. Das muss die Bahn wirklich noch in den Griff kriegen, denke ich. Man fühlt sich ja wie auf einem Schiff.

„Der Lokführer fährt ja wie ein Henker“, gebe ich von mir und lasse mich in den einzigen vorhandenen Stuhl fallen. 

Der Typ zieht überrascht die Augenbrauen nach oben. „Fahren?“ Er sieht aus dem Fenster. „Wir stehen noch immer.“

Ups! „Da hab ich mich wohl geirrt“, kichere ich verlegen. Er nickt. Hat er mir schon seinen Namen gesagt? „Wenn wir schon miteinander schlafen, können wir uns doch wenigstens unsere Namen verraten. Finden Sie nicht?“, sage ich kokett und im selben Moment wird mir bewusst wie es in seinen Ohren geklungen haben muss. Meine Wangen fühlen sich an, als wäre ein Bunsenbrenner direkt darauf gerichtet. Er hat es auch gemerkt, jedenfalls sieht er mich ein wenig belustigt, aber auch irritiert an.

„Ähm, ich meine natürlich ...“, stottere ich etwas unbeholfen, „... wenn wir schon gemeinsam die Nacht in diesem Schlafwagen verbringen.“ Ich wende meinen Blick ab und tue so, als würde ich etwas Wichtiges in meiner Handtasche suchen.

Er räuspert sich. „Ich heiße Benjamin ...“

„... Blümchen“, pruste ich los und schütte mich aus vor Lachen. „Törröööö!“, setze ich noch einen drauf.

Er verzieht keine Miene während er zu mir herüber sieht. Dem Mann fehlt definitiv eine Portion Humor. Er nimmt seinen Koffer und stellt ihn in der anderen Ecke der Schlafkabine ab.

„Ach komm schon, Benni“, flöte ich, „das war doch nur ein Scherz. Ich heiße Julia.“ Ich reiche ihm betont lasziv die Hand und winke mit meinen Fingern.

„Freut mich.“ Er erwidert meinen Händedruck und wieder spielt ein Lächeln um seinen Mund. Sicherheitshalber sehe ich nach unten, aber meine Bluse ist noch immer brav zugeknöpft.

„So, jetzt, da wir das hinter uns gebracht haben“, fange ich an, „was hältst du davon, wenn ich uns noch etwas zu trinken organisiere. Hier drinnen ist es furchtbar stickig und ich habe das Gefühl zu verdursten.“ Ich fächle mir zur Bekräftigung meiner Worte mit der Handtasche Luft zu. Klong! Mein Handy fällt zu Boden. Ich bücke mich und will es aufheben. Benni scheint das Gleiche vorgehabt zu haben, jedenfalls stoßen wir mit den Köpfen aneinander. Autsch! Ich reibe mir die Stelle am Schädel. Benni hat es ebenfalls am Kopf erwischt. Auch er hat einen feuerroten Fleck auf der Stirn.

„`Tschuldigung“, murmele ich leise und fange gleich wieder an zu kichern. Ich kann nichts dafür. Es ist so ein innerer Drang, als ob ich Brausepulver auf den Handflächen habe.

„Na, das muss ja komisch sein“, murrt er etwas ungehalten. „Ich schlage vor, ich hole uns etwas zu trinken. In Ihrem ...“ Er sieht, wie ich ermahnend den Zeigefinger hebe. „Ähm ... in Ihrem Zustand ist es vielleicht besser, wenn du hier wartest.“

Ich nicke huldvoll. Der Mann weiß, was sich gehört. Wobei, was meint er eigentlich mit »meinem Zustand«? Zugegeben, ich habe vielleicht ein bisschen viel getrunken, aber deswegen bin ich immer noch voll und ganz Herr meiner Sinne.

„Prima“, sage ich.

„Gut, dann bis gleich.“ Er dreht sich um und ich erhasche einen kurzen Blick auf seinen Hintern. Es gibt ja leider viele Männer, die von hinten so aussehen, als wäre ihnen der Po irgendwo auf dem Weg nach draußen abhanden gekommen. Die Jeans wirken dann, als ginge der Rücken in gerader Linie in die Oberschenkel und dann in die Kniekehlen über. Und das, obwohl die meisten Frauen zuerst auf den Po eines Mannes sehen – zumindest laut einer Umfrage, die ich kürzlich gelesen habe. Also Benni braucht sich jedenfalls darüber keine Sorgen zu machen. Sein Po ist ein absolutes Prachtexemplar und knackig rund. Schon ist er aus der Tür. Da fällt mir auf, dass er mich gar nicht gefragt hat, was ich eigentlich trinken möchte.

 

 

Es dauert ewig, bis Benni wiederkommt. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, zumindest glaube ich das. Zur Sicherheit sehe ich aus dem Fenster. Tatsächlich zieht der Bahnhof am Fenster vorbei und der Zug rattert über die Gleise hinaus in die Dunkelheit.

Ich fahre ich fahre tatsächlich nach Hamburg! summt es leise in meinem Kopf. Herr Johann Hartmann, ade! Instinktiv hangele ich nach meinem Handy, um Katja anzurufen. Kein Netz, nur Notruf möglich. Unglaublich! Die ganze Welt ist miteinander vernetzt, nur hier in Freiburg gibt es Funklöcher. Frustriert lasse ich es zurück in die Tasche gleiten.

Mein Gott, wie lange braucht der denn? Gelangweilt stehe ich auf und gehe zu dem kleinen Spiegel. Erschreckt weiche ich zurück, als ich mein bleiches, mit schwarzer Mascara verschmiertes Gesicht darin erblicke. Ich schnappe mir meine Schminktasche, ohne die ich nie aus dem Haus gehe. Als ich sie öffne, quellen mir bereits die verschiedenen Tübchen und Stifte entgegen. Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht sämtliche Proben zu sammeln, die man so in Zeitschriften und Drogerien findet. Die Dinger sind nämlich ungemein praktisch, wenn man unterwegs ist. Ich wühle nach dem Einmalabschminktuch.

Enthaarungscreme! Ich stecke das kleine Tütchen zurück in die Tasche und wühle weiter. Ah, da ist es. Hastig beginne ich mit den Restaurationsarbeiten, was sich bei dem Geschaukel als gar nicht so einfach gestaltet. Ein paar Minuten später sehe ich wieder aus wie ein Mensch.

„Sehr geehrte Fahrgäste“, dringt eine Stimme zu mir. Ich hebe den Kopf. „Hier spricht ihr Zugführer. Wir haben soeben Freiburg verlassen und befinden uns nun auf direktem Weg nach Hamburg über ...“

Wo sind denn die Lautsprecher versteckt?

Ich taste mit den Augen meine Umgebung ab. Schon nach kurzer Zeit habe ich die typischen Membranen in der Zugdecke entdeckt. Die Bahn ist deutlich moderner geworden, das muss ich schon sagen. Wer weiß, was die noch alles versteckt haben, ohne dass es der Kunde weiß?! Vielleicht sind hier sogar Kameras eingebaut, die jeden unserer Schritte überwachen? „Reine Sicherheitsmaßnahmen!“ Natürlich! Keine schöne Vorstellung. Ich drehe mich auf der Stelle, was sich als gar nicht so leicht herausstellt und suche meine Umgebung nach verdächtig aussehenden Kleinteilen ab.

Wo haben die das blöde Ding versteckt?

Mein Blick fällt zufällig auf den schwarzen Rimowakoffer meines Begleiters. Johann hatte die gleichen Koffer. Mmh, für einen Studenten ganz schön teuer. Den hat bestimmt sein Vater spendiert. Ob ich mal einen Blick hinein riskieren soll? Ich persönlich finde Schnüffelei erst dann verwerflich, wenn man dabei Spuren hinterlässt. In diesem Fall ist es mehr eine Informationsbeschaffungsmaßnahme.

Ich würde niemals die Post fremder Menschen öffnen oder anderer Leute E-Mails lesen, aber hier geht es um so eine Art Selbstschutz. Schließlich verbringen wir die Nacht miteinander, da möchte ich schon wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ehe ich mich versehe, knie ich vor dem geöffneten Koffer.

Benni gehört zu der ordentlichen Sorte Mann, so viel ist sicher. Seine T-Shirts und Hosen liegen sorgfältig gefaltet übereinander. Oho, er hat sogar einen Anzug im Gepäck. Was er wohl damit will? Ich krame weiter zwischen seinen Sachen und entdecke eine Unmenge an Fachzeitschriften über Wirtschaft und Fotografie. Für mich böhmische Dörfer. Wobei die Fotozeitschriften wenigstens schön anzusehen sind. Ich tippe auf ein Studium der Betriebswirtschaft und Fotografie als Hobby. Gelangweilt lege ich die Zeitschriften wieder in den Koffer zurück, als ich auf ein Foto stoße. Es zeigt Benni zusammen mit einer hübschen Blonden, Marke langbeiniges Model. Die Beiden lächeln glücklich in die Kamera. Ob Benni auch zu diesen Typen gehört, die sich die Cremes ihrer Freundin ausleihen? Nein, so wirkt er ganz und gar nicht. Er ist eher der männlich kernige Naturbursche, auch wenn die Zeitschriften und der Koffer so gar nicht dazu passen. Eigentlich hätte ich in seinem Gepäck eher ein faltbares Surfbrett erwartet. Und dann entdecke ich eine winzige Kamera. Ein unscheinbares graues Ding mit einer winzigen Linse. Sieht aus wie eine Spezialanfertigung. So wie James Bond sie in seinem Koffer mit sich führen würde. Ich lege das Ding vorsichtig wieder an seinen Platz zurück und will den Koffer gerade schließen, als mich ein Geräusch zusammenzucken lässt. Ich drehe mich um so schnell ich kann, mein Magen macht die Drehung mit und ich muss schlucken.

„Was machst du denn da?“, fragt Benni mich.

„Äh, ich suche nach Wanzen“, erkläre ich ihm. Wanzen?! Ich gehöre leider nicht zu der Sorte Mensch, die in misslichen Lagen spontan geniale Einfälle haben. Ich setze mein Unschuldslächeln auf. Das funktioniert immer bei Männern. Na ja, fast immer.

Verständnisloser Blick. „Wanzen?"

„Hast du nie James Bond gesehen?“ Das ist gut! Weiter so Julia!

Kopfschütteln.

Das muss gelogen sein. Ich kenne keinen Mann der nicht die James Bond Filme, inklusive aller alten, gesehen hat. Das gehört bei Männern zur Allgemeinbildung. Oder der Typ ist schwul, was ich schade finden würde.

„Na diese kleinen Abhörgeräte", erkläre ich geduldig.

„In meinem Koffer?“ Er sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

„Nein, ... äh ja. Ich wollte mich nur überzeugen, dass mit deinem Gepäck alles in Ordnung ist. Man weiß ja nie, was die Leute einem so alles heimlich unterschmuggeln.“ Der Zweifel steht ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Er antwortet nicht, sondern zaubert stattdessen eine Flasche Bier und einen Piccolo aus seiner Jackentasche hervor.

„Und, alles in Ordnung?“, fragt er, während er das Fläschchen Sekt öffnet.

„Hä?“ Ich sehe ihn groß an.

„Na, mit meinem Gepäck?“

Ich nicke eifrig. „Ja, alles soweit in Ordnung. Sag mal Benni, meinst du, die haben hier Wanzen in unserem Abteil versteckt?“

Für einen Moment sieht er mich fassungslos an, dann fängt er an zu lachen. Erst ganz leise und dann immer lauter. Ich bin irritiert. Lacht er etwa über mich? Sein Lachen wirkt ansteckend und ich falle schließlich mit ein. Wir prosten uns zu.

„Du hast aber eine rege Fantasie!“ Seine Augen mustern mich. „Was machst du beruflich?“

„Ich bin Reporterin für eine große deutsche Zeitschrift“, erkläre ich wichtig und versuche dabei, so seriös wie möglich zu wirken.

„Toll. So wie du aussiehst, bist du bestimmt ein hohes Tier.“ Er zwinkert mir wissend zu. Ich schlucke und versuche gegen die Tränen anzukämpfen, die sich ihren Weg durch meine Kehle nach oben bahnen.

Ich zeige auf mein verknittertes Kostüm. „Ich bin gar keine tolle Reporterin. Meine ganze Karriere ist ein Witz. Ich bin bloß eine blöde Redakteurin für eine blöde Gartenzeitschrift und das ...“, ich schniefe laut, „... obwohl ich die meiste Zeit keine Ahnung davon habe, was ich da eigentlich schreibe. Und jetzt hat mich auch noch mein Freund mit seiner dickbusigen Sekretärin betrogen und ich habe meine Stelle bei Hartmann & Sohn verloren.“ Ich schluchze erneut. „Mein ganzes Leben liegt gerade in Scherben vor mir  und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“ Ich atme scharf aus und reiße mich schlagartig wieder zusammen. „Tut mir leid“, sage ich, „dass ich Sie ... äh ... dich mit meinen privaten Problemen belästige.“

„Das ist schon in Ordnung“, sagt Benni.

Meine Güte! Ich habe mich überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Und was ich gerade gesagt habe, stimmt ja gar nicht. Schließlich bin ich immer noch eine wertvolle Mitarbeiterin von Hartmann & Sohn. Noch liegt mir keine offizielle Kündigung vor. Völlig durcheinander streiche ich mir durch das Haar und versuche Herr meiner Gedanken zu werden. Wie spät ist es eigentlich? Schon kurz vor Mitternacht und ich bin überhaupt nicht müde. Das ganze Abteil wackelt für einen kurzen Moment und der Sekt schwappt aus dem Glas auf meine Bluse.

„Ich war noch nie in irgendwas besonders gut  außer im Bett.“ Die Worte purzeln einfach aus meinem Mund, ich kann sie nicht aufhalten. „Johann sagt, da bin ich eine echte Granate.“

„Das ist doch schon mal was“, sagt Benni freundlich.

„Aber das ist natürlich nichts womit man angeben kann. Wenn du verstehst, was ich meine. Das ist eine Sache über die man nur mit seinen besten Freundinnen reden kann. “ Ich werfe Benni einen bedeutungsvollen Blick zu, den er mit einem gütigen Lächeln erwidert. „Oder mit einem Fremden“, verbessere ich mich. „Und ich kann mit den Ohren wackeln. Das kann auch nicht jeder.“ Ich schiebe meine Haare hinter die Ohren und demonstriere mein Können. Meine Ohren beginnen fröhlich wie die eines Hundes hin und her zu wackeln. „Siehst du?“ Ich sehe erwartungsvoll zu Benni, der völlig entgeistert auf meine Ohren starrt. „Wahnsinn, oder?“

Benni nickt.

„Alle haben mich gewarnt, ich soll mich nicht mit dem Sohn des Chefs einlassen. Aber ich habe ihnen einfach nicht geglaubt...“

„... Nie wieder falle ich auf diese Chefmasche rein. Mein nächster Mann wird ganz normal,ein Angestellter oder so ...“

„... Ich war so naiv ...“

„... Außerdem habe ich keine Ahnung, wie Holunder überhaupt aussieht ...“

„... Ich finde Blumen nur gut, wenn ich sie von einem Mann geschenkt bekomme. Darüber zu schreiben ist langweilig ...“

„... Meiner Meinung nach sind Notlügen erlaubt, wenn es dazu dient, niemanden zu verletzen...

„... Bei meiner Bewerbung habe ich behauptet, dass ich neben meinem Studium eine Ausbildung zum Gartenbau gemacht hätte. Dabei habe ich nur meiner Mutter ab und zu im Garten geholfen. Ich weiß, das ist nicht okay, aber ich wollte vor meinem zukünftigen Schwiegervater einen guten Eindruck machen ...“

„... Ich habe meinen Hamster meiner Freundin geschenkt, weil ich dachte, er hat eine ansteckende Krankheit ...“

„... Ich gehe nur ins Fitnessstudio, um mein Gewicht zu halten ...“

„... Ich bin nicht computersüchtig, nur weil ich einmal pro halbe Stunde die Statusmeldungen bei Facebook kontrolliere ...“

„... Als mich so ein fetter Kerl mit seinem Auto zugeparkt hat, habe ich seinen Autoschlüssel aus dem Wagen geholt und ihn versteckt. Anschließend bin ich weggelaufen. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist ...“

Mein Gott, mir ist ganz schwindlig und alles scheint um mich herum zu verschwimmen. Eigentlich bin ich nicht jemand, der einem wildfremden Menschen sofort seine ganze Lebensgeschichte erzählt, aber irgendwie sprudeln die Worte nur so aus mir heraus und ich kann nichts dagegen tun. Ich sage Dinge, die ich noch nicht einmal Katja erzählt habe.

„... Ich hasse es, wenn Männer beim Küssen die Augen offen haben ...“

„... Überhaupt finde ich bunte Boxershorts an Männern total doof ...“

„... Ich glaube an die Liebe auf den ersten Blick, auch wenn die meisten Leute, die ich kenne, aus steuerlichen Gründen heiraten ...“

„...Ich hatte noch nie einen Orgasmus, wenn ich mit Johann geschlafen habe. Einmal war ich kurz davor, aber dann hat das Telefon geklingelt und Johanns Vater hat angerufen ...“

„... Überhaupt, eine intelligente Frau ist manchmal gezwungen sich zu betrinken, um den Kerl neben sich in der Bar zu ertragen ...“

Mein Kopf fühlt sich an wie mit Watte gefüllt und mir ist übel. Mein Magen fährt in meinem Bauch Achterbahn. Bennis Gesicht ist ganz nah. Alles verschwimmt vor meinen Augen.

„Alles okay mit dir?“ Bennis Stimme dringt dumpf zu mir durch. Ich hebe den Kopf und habe plötzlich das dringende Bedürfnis Benni zu küssen. Warum eigentlich nicht, schließlich bin ich ja ab heute Single!? Männer schlafen schließlich auch immer mit irgendwelchen Frauen, wenn sie sich mies fühlen. Männer machen immer das, was sie wollen. Männer fliegen zum Mond. Männer werden Papst und Präsident.

Das kann ich auch! Ich ziehe Bennis Kopf zu mir. Seine Lippen berühren meinen Mund. Sie sind herrlich weich und hart zugleich. In diesem Moment vollführt mein Magen ein Looping und ich muss mich übergeben.

Als ich die Augen wieder aufmache, starre ich auf schwarze Chucks, die in meiner Kotze stehen.

„Irgendwie hast du einen Hang zu Dramatik“, höre ich ihn. Mir ist schwindlig. Das Nächste was ich spüre, sind starke Arme, die mich hochheben und zum Bett tragen. „Versuch ein bisschen zu schlafen.“ Benni fährt mir mit einem feuchten Lappen über das Gesicht. Ich nicke.

„Danke!“, krächze ich mit heiserer Stimme, dann fallen mir die Augen zu und wohlige Dunkelheit umgibt mich.

 

 

Ich bin verschwitzt, mein Haar ist wirr und mir dröhnt der Kopf. Vorsichtig öffne ich die Augen. Ein guter Plan.

Einfach ... die Augen ... öffnen.

Oder ...? Oh Gott!

Gleißend helles Licht blendet mich, gefolgt von einem Schmerz, der sich anfühlt, als ob jemand mit einem Messer von hinten in meinen Augapfel sticht. Stöhnend schließe ich meine Augen wieder und lasse mich zurück auf das Kopfkissen fallen. Mein ganzer Körper fühlt sich an wie Sirup, dickflüssig und zäh. Mein Kopf tut weh, höllisch weh. Warum tut mein Kopf weh? Überhaupt, warum tut alles an mir weh? Mein Magen fährt schon wieder Achterbahn, während ich versuche meine Gedanken zu sortieren. Meine Erinnerungen an gestern Nacht sind nebulös verschwommen. Nur einzelne Sequenzen tauchen hinter meinen geschlossenen Lidern auf. Johann, umschlungen von Titten-Annette auf dem Sofa liegend ... meine Flucht aus unserer Wohnung ... das Dusk till Dawn ... der Barkeeper ... und dann Benni!

Ich öffne die Augen, auch auf die Gefahr hin blind zu werden. Wo ist Benni? Ich taste mich entlang des Bettes zu der kleinen Sitzecke. Da steht immer noch der leere Piccolo und ein halbvolles Bier. Daneben entdecke ich meine Bluse und meinen Rock, beides sorgfältig über den Stuhl gehängt.

Oh mein Gott! Ein Blick unter die Bettdecke genügt, um meine schlimmsten Befürchtungen wahr werden zu lassen. Außer meinem Hello Kitty-BH und dem Höschen bin ich praktisch nackt. Ich sehe mich hektisch um, in der Hoffnung irgendwelche Hinweise darauf zu finden, was letzte Nacht passiert ist leider ohne Erfolg! Mein Kopf ist leer. Vielleicht leide ich durch den Schock an Amnesie. Wobei, mein Erinnerungsvermögen ist eigentlich ganz gut. Bis auf die letzten paar Stunden im Zug. Das kann doch unmöglich von den paar Drinks kommen, die ich zu mir genommen habe. Oder hat mir Benni ... K.O.-Tropfen ... in mein Glas...?

Ein unglaublicher Verdacht beschleicht mich. Mir wird heiß und kalt bei dem Gedanken. In meinem Kopf läuft ein Film ab, in dem ich mich als willenloses Lustopfer liegen sehe, Benni über mich gebeugt ... Nein! Dabei hat er am Anfang so einen süßen Eindruck gemacht. Und dann noch diese braunen Augen! Obwohl, ich hatte gar kein Glas. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich die Flasche aufgemacht habe, aber außer Schmerzen spielt sich hinter meiner Stirn gerade gar nichts ab. Funkstille.

 

 

Meine schlechteste Eigenschaft ist meine Naivität. Ich meine, ich arbeite daran, aber solche Charaktereigenschaften kann man eben nicht einfach abstellen. Es ist ja nicht so, dass ich doof bin, schließlich habe ich mein Abitur mit Erfolg bestanden. Ich gehe mir mit meiner Leichtgläubigkeit ja selbst auf die Nerven, aber ich bin wirklich leicht zu beeindrucken. Ich glaube immer noch an die wahre Liebe. Ich zähle nie mein Wechselgeld nach und glaube jedem Mann, der mir erzählt, dass es keine faszinierendere Frau als mich gibt. Genauso hat es bei Johann funktioniert. Diese ungünstige Kombination meiner Charakterzüge hat sich schon mehrfach in meinem Leben als ein fataler Fehler herausgestellt. Acht Monate meines Lebens habe ich mit einem Brillenträger verschwendet, der mich im zarten Alter von siebzehn auf einer Party angesprochen hat und mich fragte, ob ich ein bekanntes Model wäre. Dabei hätte ich sofort wissen müssen, dass der Kerl wie lügt wie gedruckt. Schließlich hat kein Model Kleidergröße 40 und Haare wie ein Wischmopp. Aber damals war ich noch mehr als heute mit einfachen Mitteln zu beeindrucken.

„Das wirst du sicher ständig gefragt“, sagte der Brillentyp und strich mir selbstsicher eine Strähne aus dem Gesicht. Und ich glotzte ihn blauäugig an und sagte „Echt?“, mit einer Piepsstimme, die mich immer dann beschleicht, wenn ich völlig verunsichert bin. Noch am selben Abend landete ich mit dem Typen im Bett und am nächsten Tag hat mich mein damaliger super-mega-netter fester Freund verlassen.

Schon kurze Zeit später musste ich herausfinden, dass der Typ nicht der tolle Hecht war, für den ich ihn hielt, sondern ein Blödmann, wie er im Buche steht. Einer, der sich nur für Computerspiele und Bier interessierte und beim Sex vergeblich nach einer Bedienungsanleitung suchte. Als er mich schließlich wegen einer anderen Blondine verließ, verlor ich meinen Glauben an die wahre Liebe.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder in einen Mann verliebte. Das war die Zeit mit Sunji oder wie er im richtigen Leben heißt Rainer Strecke. Sunjii war Yogalehrer und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mich auf den Weg der Erleuchtung zu bringen. Sunjii war derart tiefenentspannt und fürsorglich, dass es schon nervte. Er bereitete unser Essen auf makrobiotische Weise zu und es war ihm egal, dass er dafür stundenlang in der Küche stand, während ich im Wohnzimmer mit meinen Freundinnen »Wetten dass!« glotzte.

Es war auch überhaupt kein Problem für ihn, dass ich nach der zweiten Stunde Yoga nach einer zusätzlichen Matte verlangte, da mir jeder Knochen wehtat und hauptsächlich in der »Position des Kindes« verharrte, während alle um mich herum zum »Baum« aufstiegen. Beim Sex war Sunjii so zärtlich und rücksichtsvoll, dass ich oft währenddessen eingeschlafen bin. Zu meiner Verteidigung kann ich nur anbringen, dass es nach zwei Stunden Dauerstreicheln und Tantra-Sex wohl jeder Frau so ergangen wäre. Schließlich will man doch irgendwann auch mal zum Ende kommen. Selbst als ich seine geliebten Cannabis-Pflanzen auf dem Balkon vertrocknen ließ, weil ich vergessen hatte, sie während seines einwöchigen Seminars zu gießen, blieb Sunjii ruhig. Was mich aber nur noch unruhiger machte. Das wir uns getrennt haben lag allerdings nicht an Sunjis übertriebener Ruhe und Ausgeglichenheit, sondern eher an einer netten Dunkelhaarigen, die Sunji während eines Seminar kennen gelernt und mit der er innige Stunden des »Gleichklangs der Seelen« verbracht hat. Dass die Beiden dabei auch miteinander Sex hatten, spielte laut Sunji eine untergeordnete Rolle. Sein Angebot eine Dreier-WG zusammen mit der Dunkelhaarigen zu gründen habe ich dankend abgelehnt.

Von Benni noch immer keine Spur! Was ist hier gestern Nacht passiert? So sehr ich mich auch anstrenge, in meinem Kopf herrscht Leere. Wo steckt der Kerl? Typisch Mann, eine betrunkene, völlig wehrlose Frau schamlos auszunutzen und sich dann ohne ein Wort aus dem Staub zu machen. Wobei? Ich lasse meinen Blick durch das kleine Abteil gleiten.

Bennis Koffer steht noch immer am Bettende, dort wo er ihn abgestellt hat. Beim Anblick seines Koffers fällt mir die kleine Kamera wieder ein. Ein schrecklicher Verdacht befällt mich und für einen Moment stockt mir bei der Ungeheuerlichkeit meiner Gedanken der Atem. Könnte er ... wäre es möglich, dass er ... Bilder von mir gemacht hat? Eines ist sonnenklar, ich muss hier weg! Ich kann diesem Mann unmöglich in die Augen sehen. Das wäre so wie bei einem Vampir, der beim Anblick der Sonne verbrennt. Nur dass ich nicht verbrennen, sondern vor lauter Scham feuerrot anlaufen würde.

Mühsam richte ich mich auf. Mein Schädel droht wie eine reife Frucht zu zerplatzen, als ich zum Stuhl gehe, um mein Handy zu suchen. Immer noch kein Empfang! Das ist eine Katastrophe. Katja hat keine Ahnung, dass ich in weniger als einer halben Stunde vor ihrer Haustür stehen werde. Hoffentlich ist sie überhaupt da. Langsam befällt mich Panik. Ist es hier drinnen so stickig oder warum bekomme ich kaum noch Luft? Ich haste zum Fenster und reiße es auf. Die kalte Zugluft schlägt mir eisig ins Gesicht. Unwillkürlich ziehe ich den Kopf zurück. Mit einem Schlag bin ich wach und das ganze Ausmaß der vergangenen Nacht wird mir mit einem Male bewusst. Der Zug verlangsamt sein Tempo.

„Meine Damen und Herren, wir werden in Kürze Hamburg Hauptbahnhof erreichen. Bitte beachten Sie ...“

Ahhh. Ich schlüpfe, so schnell es mein desolater Zustand zulässt, in meine Klamotten. Ich blinzele mit verquollenen Augen in den Spiegel, gefolgt von einem spitzem Schrei. War ich das, die da geschrien hat? Mein Gesicht sieht aus, als wäre über Nacht die Decke darauf gefallen. Dazu noch diese fleckig verheulte Haut. Es ist sieben Uhr morgens und wenn ich könnte, würde ich mich auch mit Titten-Annette betrügen.

Panisch drehe ich den Wasserhahn auf und spritze mir das eiskalte Wasser ins Gesicht. Als ich wieder hoch schaue, sind die Reste meiner verschmierten Mascara weg und meine Augen haben fast wieder ihre normale Größe. Lediglich die hartnäckige Knitterfalte auf meiner rechten Wange will nicht verschwinden, aber für mehr Restauration ist jetzt keine Zeit. Benni kann jeden Moment zurück sein. Meine anfängliche Schüchternheit hat sich verflüchtigt. Der Typ kann mir mal im Mondschein begegnen. Eine Frau in meinem Zustand einfach auszunutzen. Keine Moral der Mann.

Ich stopfe fluchend die restlichen Sachen in meine Tasche und stürme aus dem Abteil. Der Zug hält. Ein Schwall von müden Mitreisenden drängt Richtung Ausgang und reißt mich mit. Ich drehe mich noch einmal um.

Oh mein Gott, da hinten steht Benni ... der Mistkerl. Selbst so früh am Morgen sieht der Typ verdammt gut aus. Er hält zwei Pappbecher in den Händen. Scheiße! Jetzt hat er mich auch entdeckt. Er hebt die Arme und in seinem Gesicht steht grenzenlose Verwunderung geschrieben. Er öffnet seinen Mund und ruft meinen Namen. Na, der hat Nerven! Erst nutzt er meine Hilflosigkeit schamlos aus und dann macht er einen auf Unschuldsengel. Und was sollen die zwei Pappbecher in seiner Hand? Die Türen der Bahn gehen laut zischend auf. Ich werfe einen letzten Blick in Bennis Richtung. Er ist verschwunden. Die Menge drängt nach draußen und ich lasse mich von ihr auf den Bahnsteig spülen. Ich haste im Tippelschritt in Richtung Ausgang und verfluche dabei den Designer meines Rockes. Vor dem Bahnhof warten bereits mehrere Taxis.

Erleichtert lasse ich mich auf den Rücksitz fallen und nenne dem Taxifahrer Katjas Adresse. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in einen Schraubstock gespannt. Ich brauche unbedingt eine Kopfschmerztablette. Katja hat bestimmt eine Tablette zu Hause. Katja hat immer alles. Sie ist so eine Art Organisationstalent, deshalb hat sie auch die Projektleitung von dem Russen übertragen bekommen. Na ja und ein bisschen, weil sie mit ihm geschlafen hat, aber darüber redet Katja nicht so gerne.

Ich fahre durch das morgendliche Hamburg. Katja wohnt in einem der angesagten Viertel, ganz in der Nähe der Alster. Obwohl ich geschlafen habe, fühle ich mich zerschlagen. Vielleicht hat der Typ mir doch K.O.-Tropfen in meinen Drink getan? Schließlich liest man ja immer wieder solche Geschichten, in denen arme fehlgeleitete Mädchen von fiesen Typen mit K.O.-Tropfen gefügig gemacht werden. Auch wenn es in meinem Fall des Piccolos eher unwahrscheinlich ist. Wie konnte mir nur so etwas passieren?

Plötzlich beginnt mein Handy zu vibrieren. Und ich zucke erschreckt zusammen. Ich ziehe es aus der Tasche und schaue auf das Display. Es ist Johann. Ich kann jetzt nicht mit ihm reden. Jetzt nicht. Nein, nie mehr! Kurz darauf teilt mir das Handy mit, dass eine Nachricht hinterlassen wurde. Ich hebe das Telefon ans Ohr und drücke den Knopf zum Abhören meiner Mailbox.

„Julia, Schnuppelchen“, tönt mir Johanns näselnde Stimme entgegen. „Wo steckst du? Ich mache mir Sorgen. Bitte ruf mich kurz an, ich muss dir etwas Wichtiges ... äh ... mitteilen.“

Was kann das sein? Vielleicht hat er mit Annette Schluss gemacht? Oder die Kündigung! Er will mir tatsächlich am Telefon kündigen. Ich fange an zu heulen. Der Taxifahrer wirft mir einen besorgten Blick durch den Rückspiegel zu. Ich stecke mein Handy in die Tasche und öffne das Fenster. Rechts die Alster, links wunderschöne Villen. Es ist ein herrlicher Sonnentag. Der laue Wind weht mir ins Gesicht und zerwühlt meine Haare, genauso wie es Johann immer getan hat, wenn er besonders zärtlich zu mir war. Plötzlich überkommen mich Zweifel.

Soll ich umkehren? Ihn zur Rede stellen? Kann das alles nur ein Missverständnis, ein blöder Umstand sein, der ihn dazu gezwungen hat? In mir keimt die Hoffnung, dass Titten-Annette meinen armen Johann vielleicht gegen seinen Willen verführt hat. Habe ich mal wieder überreagiert, wie es so oft meine Art ist?

Bei meiner Freundin Katja wäre Johann nicht so glimpflich davon gekommen. Als Katja bei ihrem letzten Freund, einem Banker, herausfand, dass er sie während ihres Urlaubs mit einer dieser billigen Blondinen betrogen hat, die bei ihm als Sekretärin arbeitet und von der er ihr versichert hatte, dass er sie hässlich und blöd finden würde, hat sie ihm nur noch eine Abschieds-E-Mail geschickt. Allerdings hat sie in Zusammenarbeit mit Joe, einem befreundeten Computerhacker, an diese E-Mail einen Virus angehängt, der alle Kundendaten gelöscht und mit Nummern vom Escort-Service ersetzt hat.

„Klick“ sagt Katja bis heute strahlend, wenn sie diese Geschichte erzählt.

Ich seufze leise. Hoffentlich sind wir gleich da. Mir haftet ein leicht säuerlicher Geruch an, der definitiv nichts mit meinem sonst gut riechenden Parfum zu tun hat. Endlich hält das Taxi in Katjas Straße. Sie wohnt in einer dieser alten Stadtvillen, wovon Normalsterbliche eigentlich nur träumen. Die Räume sind mindestens 3 Meter hoch und die Decken mit alten Stuckornamenten verziert. Wenn das Licht durch die Fenster fällt, schimmert das Holzparkett honigfarben. Und da Katja nicht nur mit Organisationstalent, sondern auch noch mit einem ausgezeichneten Geschmack gesegnet ist, sieht es bei ihr zu Hause aus, als würde man eine Musterwohnung der Zeitschrift Schöner Wohnen betreten. Alles ist in elegantem Weiß gehalten, nur die nötigsten Möbel finden hier ihren Platz. Sie mag es eben minimalistisch. Für meinen Geschmack ist alles fast schon zu stylisch und elegant.

Ich mochte Johanns und meine Wohnung, abgesehen von den Möbeln, die uns Johanns Eltern zu unserem Einzug geschenkt haben. Das waren so dunkle Dinger aus der Gründerzeit, Erbstücke der Familie. Als ich dagegen protestiert habe, meinte Johann nur, dass diese Möbel eine Geschichte erzählen würden. Ich habe stundenlang im Wohnzimmer gesessen und gelauscht ohne Erfolg. Mir haben die alten Kästen jedenfalls nichts erzählt, also habe ich sie kurzerhand bei eBay versteigert.

Ich liebe eBay!

Da wird man selbst Sachen los, die eigentlich auf den Müll gehören. Und das Faszinierende daran ist man bekommt häufig mehr für die Dinge, als man neu für sie bezahlt hat! Johann war tagelang sauer, als er nach Hause gekommen ist und statt der ollen alten Kommode von seiner Großtante Wilma ein nagelneues Billy Regal im Wohnzimmer stand. Also, mal ehrlich! Ich habe das ganze Theater, das er gemacht hat, nicht verstanden. Wir leben schließlich im 21 Jahrhundert. Da ist es ja wohl mehr als normal, dass ich mich mit Möbeln aus dieser Zeit umgeben möchte und nicht mit diesen alten Holzwurmbehausungen. Außerdem habe ich bei der Aktion auch noch Gewinn gemacht! Das hätte sein Unternehmerherz doch eigentlich erfreuen müssen.

Ich bezahle den Taxifahrer und steige aus, ohne mir eine Quittung geben zu lassen. Das ist so eine Art nachträgliche Trotzhandlung, denn Johann lässt sich für alles eine Quittung geben.

„Die Dinger lassen sich prima von der Steuer absetzen“, pflegt er dann immer mit einem leichten Vorwurf in der Stimme zu sagen. Fast habe ich ein schlechtes Gewissen aber eben nur fast. Meine Hand zittert, als ich den Klingelknopf zu Katjas Appartement drücke. Bitte, lass sie da sein! Bitte, lass sie da sein! Ein lautes Knacken und dann ertönt Katjas Stimme.

„Völkers.“

Mich überkommt eine Mischung aus Freude und Traurigkeit. Statt zu antworten schluchze ich.

„Julia ... Pumbi bist du das?“ Ihre Stimme klingt ungläubig, ja, fast entsetzt. Pumbi ist mein Spitzname, der mir seit der dritten Klasse anhaftet. Zu dieser Zeit war ich pummelig und mein damaliges Lieblingskuscheltier war Pumba, das witzige Warzenschwein aus „König der Löwen“. Er und ich das war Liebe auf den ersten Blick. Pumba hat all die Jahre mit mir das Bett geteilt, bis Johann mich vor die Alternative gestellt hat er oder Pumba. Also musste Pumba gehen und fristet seitdem sein Dasein im Schrank. Nur gelegentlich, wenn Johann nicht da ist, darf Pumba neben mir auf dem Kopfkissen liegen. Wie es Pumba jetzt wohl ohne mich geht?

„Ja“, nickte ich der Fernsprechanlage zu.

„Sag mal, hast du einen Hackenschuss?! Ich versuche dich seit Stunden über das Handy zu erreichen.“ Ich schluchze zur Antwort. Sofort ertönt der Summer und ich drücke beherzt die Tür auf. Auf dem Weg nach oben steigert sich mein anfängliches Schluchzen in Hysterie. Ich muss aufpassen nicht zu fallen vor lauter Tränen, die mir den Blick verschleiern.

Als ich oben ankomme, wartet Katja bereits auf mich. Sie hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Nein, nicht einen dieser schnöden Zöpfe wie man sie macht, wenn man die Wohnung putzen will. Bei ihr ist es ein Pferdeschwanz wie ihn Gwyneth Paltrow zur Oscar-Verleihung tragen würde. Dazu trägt sie einen eleganten Hosenanzug. Wüsste ich nicht wie Katja wirklich ist, ich würde vor Ehrfurcht erstarren. Stattdessen schmeiße ich mich ihr an den Hals und weine ihr die teure Bluse nass. Als der erste Anfall vorbei ist und meine Tränen langsam versiegen, tätschelt sie mir den Rücken und rümpft die Nase.

„Pumbi, egal was passiert ist, was du auf jeden Fall brauchst ist eine Dusche und ein kühles Glas Champagner.“

Leider muss ich gleichzeitig lachen und weinen und an meiner Bluse riechen, weil ich wirklich ein wenig stinke.

 

 

„Du hast was!?“

Ich fahre erschrocken zusammen. Bis eben hat Katja mir fast die ganze Zeit schweigend zugehört und nur ab und zu ein paar sachliche Zwischenfragen gestellt oder mitfühlende Bemerkungen gemacht. Der jetzt offensichtliche Vorwurf in ihrer Stimme bringt mich völlig aus dem Konzept.

„Wie? Wieso? Warum nicht? Schließlich kann ich ja nichts dafür, wenn mich die Bahn mit so einem Typen in einem Abteil unterbringt“, protestiere ich.

„Schlafwagen“, korrigiert mich Katja und wirft mir düstere Blicke zu. „Du warst mit dem Mann ganz alleine in einer Zweierkabine.“

Sie tut gerade so, als ob ich mit dem Typen in einem Separee verschwunden wäre.

„Es waren wirklich nur ein paar Gläser“, beteure ich ihr. „Ich bin mir sicher, dass der Kerl mir was in den Drink getan hat.“

„Wie kommst du zu dieser Vermutung?“, fragt Katja.

Mein Gott, warum ist meine beste Freundin nur mit so viel Misstrauen gesegnet?

„Na ja“, sage ich nach kurzer Überlegung, „das liegt doch auf der Hand.“

Katja zieht die Augenbrauen nach oben. „So?“

Ich nicke eifrig. „Warum sonst würde ich einem wildfremden Mann meine ganzen Geheimnisse erzählen, von denen noch nicht einmal du weißt, dass ich sie habe. Schließlich ...“

„Was für Geheimnisse?“ Katjas Stimme lässt nichts Gutes erahnen.

„Meine Geheimnisse. Du weißt schon.“

Katja sieht mich an, als ob mir gerade ein zweiter Kopf wächst. „Du hast Geheimnisse? Vor mir?“

„Natürlich habe ich Geheimnisse. Die hat doch jeder.“

„Ich nicht. Zumindest nicht vor dir.“

„Du auch.“ Ich sehe Katja eindringlich an.

„Was denn zum Beispiel?“

„Wenn ich das wüsste, wären es ja keine Geheimnisse mehr“, beharre ich.

Katja seufzt. „Okay, einverstanden. Aber ich verstehe noch immer nicht, was das Problem ist.“

„Na, dass ich ihm alles erzählt habe. Jetzt sei doch nicht so schwer von Begriff. Das ist doch nicht normal. Stell dir vor, ich habe diesem wildfremden Mann erzählt, dass ich gerne wüsste, ob meine Eltern noch Sex haben!

Katja verzieht das Gesicht.

„Ja, ich weiß. Geht mir genauso. Im Grunde genommen will ich es gar nicht wissen. Aber schließlich werde ich auch mal alt und dann wäre es schon interessant zu erfahren, ob man noch Sex hat.“

„Ich schätze mal, das wirst du noch früh genug herausfinden“, gibt Katja zu bedenken.

„Mmmh, vielleicht. Aber dann habe ich ihm noch erzählt, dass ich noch nie einen Orgasmus mit Johann hatte.“ Ich verstumme, weil ich sehe wie geschockt Katja ist.

„Das ist ja einfach unglaublich“, sagt sie schließlich.

Ich bin etwas irritiert.

„Meinst du jetzt das mit dem Orgasmus oder die Tatsache, dass ich es ihm erzählt habe?“

„Beides“, erklärt mir Katja fröhlich. „Wie kannst du so lange mit einem Mann zusammen sein und keinen Orgasmus haben?“

„Weil ich mich am Anfang nicht getraut habe ihm zu sagen was mir gefällt. Ich hatte Angst, er könnte gekränkt sein. Ich wusste ja nicht, ob wir zusammenbleiben. Na und dann war es irgendwie zu spät, um noch was zu sagen, und ich habe mich daran gewöhnt.“

„Warum hast du nicht mit mir darüber geredet?“

„Weil es mir peinlich war. Du redest schließlich auch nicht mit mir über deine Orgasmus-Probleme“, sagte ich kleinlaut.

„Weil ich keine habe!“

„Okay, aber das spielt jetzt ja auch keine Rolle. Hier geht es schließlich um Benni.“

„Und nachdem du damit fertig warst, diesem Benni deine ganzen Geheimnisse mitzuteilen, hast du ihn geküsst?“

„Na ja. Weißt du, als er so vor mir stand, da habe ich einen inneren Drang gespürt. Ich konnte nicht anders ich musste ihn einfach küssen ...“

„... und anschließend hast du ihm auf seine Schuhe gekotzt", vollendet Katja meinen Satz.

Ich nicke betroffen.

So wie sie es sagt, hört es sich noch schlimmer an, als es war. Um ehrlich zu sein, hat sich der Kuss eigentlich ganz gut angefühlt. Wenn mein Magen nicht diesen Hüpfer gemacht hätte, hätte ich direkt Gefallen daran finden können.

„Und danach hat er dich aufs Bett gelegt und ... äh?“

Ich spüre, wie mein Gesicht von einer flammenden Röte überzogen wird.

„Ausgezogen?“ Schon wieder dieser misstrauische Unterton!

„Was hat es sonst zu bedeuten, wenn du am Morgen nur noch mit deiner Unterwäsche bekleidet aufwachst und der Typ verschwunden ist?“ Dass ich Benni kurz vor meiner Flucht aus dem Zug noch einmal gesehen habe, verschweige ich, um dem Geschehen mehr Dramatik zu verleihen.

„Das ist ja wirklich eine ganz üble Geschichte. Wer weiß, was der Typ alles mit dir angestellt hat, während du bewusstlos warst!“

Mir wird heiß und kalt. Meine Phantasie galoppiert mit mir auf und davon. Vielleicht hat der Kerl doch Fotos von mir gemacht? Schließlich befand sich in seinem Koffer eine Kamera.

„Und du kennst nur seinen Vornamen?“, bohrt Katja weiter. So langsam komme ich mir vor wie bei einem Verhör. Fehlt nur noch die Neonlampe, deren Licht direkt auf mein Gesicht gerichtet ist.

Ich knabbere an meinem Daumen und ziehe mit den Zähnen einen kleinen Hautfetzen ab. „Ich habe mich ein wenig in seinem Koffer umgesehen.“

„Und?“, fragt Katja ungeduldig.

„Nichts.“ Ich überlege. „Doch!“

„Was denn nun: Ja oder Nein?“, drängelt Katja, die es wieder mal genau wissen will.

„Er hatte ein Foto von sich und seiner Freundin im Koffer“, erlöse ich sie.

„Das Schwein!“, sagt Katja entschlossen. „Die Arme ahnt wahrscheinlich nichts von dem Doppelleben ihres Freundes. Vermutlich hat sie die ganze Nacht sehnsüchtig auf ihn gewartet.“

„Gut möglich und dabei sah er so gut aus.“ Der letzte Teil des Satzes ist mir nur so rausgerutscht, aber Katja ist sofort in Alarmbereitschaft.

„Wie?“ Jetzt ist Katja verwirrt. „Was meinst du mit »sah so gut aus«?“

„Na ja, groß, sportlich, dunkle Locken, einen wunderbar geschwungenen Mund und braune Augen mit kleinen goldenen Punkten darin“, beschreibe ich ihn.

„Okay, hört sich gut an“, bestätigt Katja. „Trotzdem darfst du jetzt den Fokus nicht verlieren. Erstens, der Typ hat deine Situation schamlos ausgenutzt. Zweitens, wir wissen nicht, ob er vielleicht sogar Drogen benutzt hat, um dich gefügig zu machen und drittens, der Mann ist verheiratet oder lebt zumindest in einer festen Beziehung.“

„Stimmt.“

Wobei ich innerlich leise Zweifel hege. Eigentlich war der Typ ja ganz nett, und dann diese Lippen ...

„Pumbi. Bist du noch bei mir?“ Katja wedelt hektisch mit der Hand vor meinem Gesicht.

„Ja, ja“, nicke ich und das Antlitz von Benni verpufft.

„Mann, du bist echt ein Pechvogel“, bedauert mich Katja. „So etwas liest man sonst nur in der Zeitung. Du weißt schon, in diesen bunten Blättchen, die immer bei den Ärzten in den Wartezimmern ausliegen. Erst betrügt dich dein Verlobter mit Titten-Annette und dann fällst du einem perversen Lustmolch in die Arme. Das nenne ich ein Drama!“

Ich nicke, betäubt von Katjas Worten. Meine beste Freundin hat absolut recht, wie immer. Ich bin ein Pechvogel, ein Unglücksrabe, der seinesgleichen sucht. Ich lasse meinen Kopf hängen und verfalle in dumpfes Schweigen. Etwas, das mir äußerst selten passiert. Meine Tante Siggi meinte immer zu meiner Mutter und das mit einem tiefen Ton des Bedauerns in ihrer Stimme dass man mein Mundwerk extra totschlagen müsste, wenn ich mal sterbe. Meine Mutter hat dann immer gelacht. Bis heute weiß ich nicht, ob sie das als Witz oder ernst meinte. Heute wünschte ich, jemand hätte mein Mundwerk gestern Nacht totgeschlagen, bevor es vorwitzig alles aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Vielleicht habe ich eine von diesen seltenen Krankheiten, von denen man immer wieder liest. Es wäre doch möglich, dass mein Gehirn anders als bei anderen Menschen arbeitet, und mich Dinge sagen lässt, die ich gar nicht sagen will.

„Das kriegen wir schon wieder hin. Johann war schon der Falsche, bevor er dich mit der Annette betrogen hat“, sagt Katja. „Pumbi, du liebst unter deinem Niveau. Nimm die Sache als Tritt in den Hintern und nimm dein Leben endlich selbst in die Hand. Und der Typ aus der Bahn: vergiss ihn einfach!“ Sie nimmt meine Hand und strahlt mich mit ihren eisblauen Augen an. „Ich habe gerade dieses interessante Buch gelesen.“ Sie springt auf und holt ein braunes Buch, auf dessen Vorderseite ein rotes Siegel aufgedruckt ist, aus dem Regal. Katja sieht aus als wäre ihr gerade der leibhaftige Weihnachtsmann begegnet, als sie es mir reicht.

„Wünsche ans Universum“, lese ich leise und sehe erstaunt zu Katja. „Hä, seit wann liest du Esoterik-Bücher? Ich dachte immer, du glaubst nicht an den ganzen Quatsch.“

„Tu ich ja auch nicht“, bekräftigt Katja. „Aber dieses Buch ist ganz anders als die anderen. Ich habe es ausprobiert und es hat geklappt. Ich habe mir vom Universum Erfolg gewünscht und schon am nächsten Tag stand Sergej vor mir.“ Ich kann nicht fassen, dass meine Freundin Katja, die den Kopf immer gerade aufgesetzt hat und sich bei ihren Entscheidungen nie, na ja, fast nie, von ihren Gefühlen beeinflussen lässt, sondern streng nach rationellen Beweggründen entscheidet, an so einen Hokuspokus wie dieses Buch glaubt.

„So, so, und Sergej ist das, was du »Erfolg« nennst?“, frage ich ungläubig. Mann, der Typ muss ja `ne echte Granate sein, denn Katja wird tatsächlich rot. Dass Katja derart ihre Gesichtsfarbe wechselt, ist das letzte Mal in der Oberstufe vorgekommen, als sie vor der gesamten Klasse an die Tafel gerufen wurde, um einen Haufen undurchsichtiger Formeln zu erklären. Und alles was aus ihrem Mund herauskam war ein gewaltiger Rülpser.

„Ja, irgendwie schon“, zuckt sie mit den Achseln, „Schließlich habe ich kurz danach bei Blohm + Voss angefangen“

„Was rein gar nichts mit der Tatsache zu tun hat, dass dein Sergej ein kleines Ölimperium besitzt und ganz zufällig der Auftraggeber für diese schnuckelige kleine Yacht ist, die ihr gerade baut und wofür du die zuständige Projektleiterin bist?“ Ich klimpere unschuldig mit meinen Augen. Als Antwort fange ich mir einen Seitenhieb ein.

„Aua!“ Ich reibe mir die getroffene Stelle. Katjas Augen funkeln wütend.

„Sergej hat nichts damit zu tun. Mein Job an dem Projekt ist reiner Zufall!“ Katja sieht mich an und plötzlich fangen wir beide an zu lachen. Wir lachen so lange, bis uns die Tränen über die Wangen laufen und mir der Bauch vor Lachen weh tut.

„Na ja“, sagt Katja schließlich, während sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht wischt. „Auf jeden Fall glaube ich, dass das alles kein Zufall, sondern vom Universum so gewollt war.“ Sie kichert erneut.

„Bist du denn wirklich in Sergej verliebt?“, frage ich leise. Die Frage liegt mir auf der Zunge, seit sie mir von ihm erzählt hat.

Katja sieht mich überrascht an. „Natürlich bin ich in ihn verliebt.“

„Und das Geld spielt keine Rolle?“ Die Bilder aus der Klatschpresse von alten, fetten Männern mit viel Geld gehen mir nicht aus dem Kopf.

„Pumbi, wie soll ich den Mann und sein Geld trennen? Ich habe mich in einen intelligenten, überaus charmanten Mann verliebt. Ich habe selbst genügend Geld. Ich brauche keinen reichen Mann zum Leben. Und wenn Klugheit und Charme einhergehen mit Geld? Allerdings hätte ich es nicht ertragen, wenn er mein Chef gewesen wäre. Das wäre eine völlig andere Situation gewesen. Ich meine, wer will schon seinen Chef als Mann?! Oder?“

Ich seufze laut. „Wohl wahr.“ Obwohl es sich eigentlich ganz gut angefühlt hat, die Verlobte des Juniorchefs zu sein bis gestern jedenfalls. Jetzt fühlt es sich schrecklich an. „Also gut.“ Ich schnappe mir das Buch und wedele damit über meinem Kopf hin und her. „Nachtlektüre!“

„Gut“, sagt Katja zufrieden, „Du wirst sehen, ab morgen wird alles anders.“

Hoffentlich, denke ich.