4.

BABY WAS A BLACK SHEEP, BABY WAS A WHORE.
BABY GOT BIG AND BABY GETS BIGGER.
BABY GOT SOMETHING, BABY WANTS MORE.

huulet.tif

Millas Firma

Der Mann kommt rein raus

ich sag mmm du hast ein großes Ruder

und aaah ich zerspringe

und der Mann kommt rein raus rein raus rein und dann kommt’s ihm

und ich sag ruf wieder an bussi bussi

und meine Kasse sagt ka-tsching

und ich lach auf dem Weg zur Bank.

ALS PRIVATUNTERNEHMERIN MUSS MILLA ihre Freier selbst auswählen. Das ist mitunter schwierig, täglich kommen ein Dutzend Anfragen. Ich sollte mir eine Bürokraft besorgen, denkt sie.

Im Hotel Cummulus wird Milla von einem blonden Mann mit schlechter Haltung erwartet, der sich Julian nennt. Milla sagt, sie heiße Karmilla.

»Geil«, erwidert der Mann ziemlich trocken. Er bittet Milla, sich aufs Bett zu legen. »Ich möchte, dass du schläfst«, sagt er.

»Ist dir klar, dass ich pro Stunde bezahlt werde?«

»Ja, ja, ich hab reichlich Geld. Leg dich schlafen.«

Milla schlüpft unter die Decke. Julian singt ihr ein Schlaflied. Milla war immer schon eine gute Schläferin, daher schläft sie bald ein. Ebenso rasch erwacht sie davon, dass Julian ihr die Decke weggerissen hat und an ihrem Slip herumfuhrwerkt.

»So ist das also«, meint Milla.

»Sei still«, keucht Julian.

»Du hast wohl vor, ein Kondom zu benutzen?«

Julian antwortet nicht, aber allem Anschein nach hat er es nicht vor. Manche Männer sind einfach so, sie wollen eine schlafende Frau zu nicht einvernehmlichem ungeschütztem Sex zwingen. Wir alle haben unsere kleine persönliche Perversion, und das ist ganz in Ordnung.

Nein, ist es nicht. Diejenigen, die es in Ordnung finden, sollen sich die Kugel geben.

Zum Glück haben die Huren ihre Schutzheilige! Aphrodite hat ihre Verwandte Artemis, die in einem Helsinkier Park wohnt, beauftragt, den Mädchen Selbstverteidigung beizubringen. Millas Technik ist noch nicht ausgereift, aber ein paar harte Stöße mit dem Ellbogen in Julians Gesicht zeigen Wirkung. Leider bricht Milla dabei allerdings im Eifer des Gefechts Julian das zarte Genick. Der Mann fällt leblos aufs Bett.

»Oho«, sagt Milla und zieht ihren Slip an.

Es widerstrebt ihr, Julians Leiche im Hotelzimmer zu lassen und womöglich wegen Totschlags angeklagt zu werden. Sie ruft Aphrodite an und erzählt ihr, was passiert ist.

»Aber er hat doch versucht, dich zu vergewaltigen, gibt dir das nicht das Recht, dich zu verteidigen?«

»Natürlich nicht! Hast du denn gar keine Ahnung von der finnischen Rechtspraxis?«

»Eigentlich nicht.«

Aphrodite verspricht, Milla sofort zu Hilfe zu eilen.

»Oje, er ist tot«, stellt sie nach ihrer Ankunft fest.

»Es war ein Versehen.«

»Na, ein großer Verlust ist es nicht.« Aphrodite verzieht den Mund: Julian war kein schöner Mann. »Mir fällt bloß eine Lösung ein«, sagt sie und holt eine Knochensäge aus der Tasche.

Sie sägen den armen Julian in der Badewanne in kleine Stücke, die sie in der Toilette herunterspülen.

»Der ganze Abend für die Katz«, stellt Milla fest.

»Hat er nicht mal bezahlt?«

Aphrodite wühlt in den Kleidern des dahingeschiedenen Julian und findet seine Brieftasche, die eine beachtliche Summe Bargeld enthält. »Ist das eine angemessene Entschädigung für unsere harte Arbeit?«

»Können wir das einfach nehmen?«

»Er braucht es ja nicht mehr.«

MILLA UND APHRODITE: Hahaa!

Milla und Aphrodite gehen in einen Nachtclub, wo sie reichlich Alkohol trinken. Milla sei doch hoffentlich nicht traumatisiert, erkundigt sich Aphrodite. Milla sagt, sie komme schon klar und es sei gut zu wissen, dass sie sich verteidigen könne, falls ihr noch einmal etwas Ähnliches zustoße. Aphrodite ist schon ziemlich beschwipst und setzt sich in den Kopf, Artemis einzuladen.

Artemis kommt ein wenig widerstrebend in den Nachtclub. Sie geht nicht gern in vornehme Lokale, weil die Menschen dort so oberflächlich sind.

Auf ihr Äußeres legt sie keinen Wert. Sie sieht immer ein bisschen schäbig aus, die dunklen Haare schon leicht angegraut, keine Schminke, Männerkleidung, zu mager, zu lange Ponyfransen. Trotzdem ist sie ausgesprochen unterhaltsam. Obwohl sie gelegentlich Drogen nimmt.

Artemis lobt Milla, weil sie mit der schwierigen Situation fertiggeworden ist, weist aber darauf hin, dass es ratsam ist, immer ein Klappmesser bei sich zu haben, weil das die beste Waffe sei. Milla lächelt und nickt, sie möchte ihrer Lehrerin gefallen, denn sie hat eigentlich schon lange keine Mutterfigur mehr.

»Wollt ihr Acid?«, fragt Artemis.

»Das ist dermaßen Siebzigerjahre«, meint Aphrodite und lacht.

»Na ja, aber ich mag nicht saufen. Das Bier schmeckt hier wie Pisse.«

»Na gut, dieses eine Mal.«

Sie nehmen alle ein bisschen LSD.

Und dann kommen die Pferde. Sie umringen die Frauen. Aus allen Richtungen kommen sie. Weiße, glänzende, silbrige Hengste mit flammender Mähne.

»Wow …«, seufzt Milla.

»Rimbaud!«, ruft Artemis von der Tanzfläche über den Lärm der Pferde und der Musik hinweg.

»Was?«, schreit Milla.

»Rimbaud!«

»Hä?«

»Rimbaud!«

»Was zum Teufel ist Räämboh?«

Artemis winkt ihr lächelnd zu und schwingt sich auf eines der Pferde. Sie reitet durch die Wand des Nachtclubs und grast die Meeresufer ab, auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, die es in dieser Nacht geben könnte.

Um vier Uhr früh bringen die Pferde Aphrodite und Milla zu Millas Wohnung. Die Presse ist nämlich nicht mehr bereit, Aphrodites Hotelrechnung zu übernehmen. Offizieller Grund sind die zu lauten allnächtlichen Partys, die in einigen Blättern auch als Orgien bezeichnet wurden.

Am nächsten Tag prangt auf den Titelseiten ein absolut schreckliches Foto von Aphrodite. Aus irgendeinem Grund wollen die Zeitungen keine attraktiven Aufnahmen mehr veröffentlichen, sondern fotografieren sie nur, wenn sie ungeschminkt einkaufen geht oder total blau ist oder ein schlecht sitzendes Kleid trägt oder zufällig eine blöde Miene aufsetzt.

»Scheiße, wie schaffen die das?«, schnaubt Aphrodite.

»Bestimmt bearbeiten sie die Fotos«, meint Milla.

»Ach, ist ja ganz egal!«

»Genau! Dich beten sowieso alle an!«

huulet.tif

Eines Tages hat Milla eine Idee. Sie klingelt bei Kalla.

MILLA: Hast du dir schon mal überlegt, dass wir eigentlich nicht mehr in dieser Bruchbude wohnen müssen?

KALLA: Was?

MILLA: Wir haben irre viel Geld und wohnen trotzdem in diesem Misthaus. Jeden Tag steht der Hausmeister mit seiner beschissenen Fratze bei den Mülltonnen und sagt jedes Mal irgendetwas Schmieriges, und im Lift stinkt er nach Schnaps, ständig zwängt er sich mit hinein, obwohl er im ersten Stock wohnt. Und irgendwann kommt er garantiert mit dem Generalschlüssel in die Wohnung, da kannst du Gift darauf nehmen.

KALLA: So einfach ist das nicht.

MILLA: Doch. Janssoni ist ein aufdringliches Arschloch.

KALLA: Janssoni?

MILLA: Der Hausmeister.

KALLA: Woher weißt du, wie er heißt?

MILLA: Das hab ich ausspioniert.

KALLA: Warum?

MILLA (kichernd): Na, weil … Na, weil ich ihm sozusagen mal etwas durch den Briefschlitz geworfen hab. Oder eigentlich nicht ich, sondern Aphrodite.

KALLA: Und?

MILLA (lachend): Na, die hat es auch geärgert, dass er immer so glubscht, und da haben wir …

KALLA: Was?

MILLA (gackernd): Da haben wir ihm gebrauchte Tampons durch den Briefschlitz geworfen.

KALLA: An denen lutscht er bestimmt gerade.

MILLA: Iih! Lass uns umziehen, okay?

KALLA: Aber ich will bald wieder in meinen alten Job zurück.

MILLA: Spinnst du?

KALLA: Das hier ist nicht richtig. Manchmal schäme ich mich so, dass ich mich nicht einmal in den Laden traue.

Die Scham ist nicht unbegründet. Über die Prostituierten – denn man nennt sie inzwischen wieder Prostituierte und nicht Sexarbeiterinnen – wird neuerdings allerhand Propaganda verbreitet. Man sagt, dass man sich bei ihnen eine Krankheit hole. Man sagt, sie seien dumm, ordinär und ausländisch. Man sagt, ihre Vagina stinke. Und obendrein halten die Leute es für angebracht, die Wohnhäuser von Frauen, die sie als Prostituierte verdächtigen, mit gewissen Symbolen zu markieren.

KALLA: Es ist total peinlich!

MILLA: Dabei ist es eine Arbeit wie jede andere auch.

KALLA: Über Putzfrauen und Krankenschwestern zieht in den Zeitungen und im Fernsehen aber keiner her.

MILLA: Nee, für die interessiert sich kein Schwein, weil die nicht das große Geld verdienen.

Kalla beginnt zu weinen. Milla legt ihr die Hände um das schöne Gesicht und blickt ihr in die Augen.

Jetzt folgt heißer lesbischer Sex!

Nein, wohl eher nicht.

Milla erklärt Kalla, dass ihre Arbeit völlig in Ordnung sei. Die Leute sind nur neidisch, weil es ihnen nicht so gut geht. Aber sie beide sollten aus diesem miserablen Haus ausziehen. Sie könnten ja eine gemeinsame Wohnung nehmen! Und Aphrodite könnte mitkommen! Das wäre Spitze! Wie in einer Fernsehserie!

Kalla sieht Milla traurig an. Sie muss jetzt zu ihrer eigentlichen Arbeit.

Wenigstens braucht Kalla den Mann nicht mehr von seiner Wohnung zum Arbeitsplatz und von dort wieder nach Hause zu bringen. Das erledigt das kleine Tier. Es hat ja die Augen, die früher dem Mann gehört haben, daher kennt es den Weg. Manchmal merkt es, dass es ihm ein bisschen peinlich ist, die schöne Kalla anzusehen. Dann stupst es sie meistens ans Bein.

Kalla vermutet, dass der Mann das kleine Tier schlecht behandelt. Sie hat bemerkt, dass die Beine des Tieres oft krumm sind. Als wäre es getreten worden. Deshalb hat sie ihren Nebenjob noch emsiger verrichtet, und schon nach dem sechsundsiebzigsten Freier hat sie das Geld für die Augenoperation beisammen.

Es kommt der Tag, an dem Kalla den Mann in eine Privatklinik bringt und dem Arzt viel Geld bezahlt.

Dem Mann werden neue Augen eingesetzt. Wo mögen die wohl herkommen? Sicher aus Russland oder aus der Dritten Welt.

Der Mann ist total zufrieden, weil er wieder sehen kann. Als Erstes mustert er Kalla von Kopf bis Fuß und lässt den Blick ungefähr auf Busenhöhe verweilen.

»So, das war’s dann wohl«, sagt Kalla.

Der Mann starrt sie an. Seine neuen Augen sind viel sanfter als die vorigen, aber gegen seinen infamen Gesichtsausdruck können sie nicht viel ausrichten.

Kalla kehrt ins BBQ Inferno zurück, fest entschlossen, ihre Karriere als Ganztagskellnerin fortzusetzen.

»Du bist gefeuert«, erklärt die Chefin bei ihrem Eintritt.

»Warum?«, ruft Kalla erschrocken.

»Der Koch ist abgehauen, nachdem du ihm neue Augen spendiert hast. Mitleid ist eine Krankheit, merk dir das.«

»Aber er konnte doch nicht mal richtig kochen.«

»Er war die einzige anständige Arbeitskraft. Neben mir.«

Die Chefin beschimpft Kalla eine halbe Stunde lang. Dann bricht sie in Tränen aus und rückt mit dem eigentlichen Grund für die Kündigung heraus: Wegen dem widerwärtigen Geruch kommen keine Gäste mehr. Das bedeutet, dass das Steakhaus langsam, aber sicher in den Konkurs getrudelt ist. Also gibt es keine Arbeit mehr für Kalla und auch sonst für niemanden, ob anständig oder nicht.

»Wenn du Geld übrig hast, könntest du mir natürlich unter die Arme greifen.«

»Leck mich«, sagt Kalla und beißt sich aus Versehen auf die Lippe.

Nun muss sie wohl doch Hure bleiben.

Kalla holt ihre hautlosen Tiere aus dem Hinterzimmer und geht nach Hause. Nein, eigentlich könnte sie Milla besuchen, die hat heute frei. Sie klingelt bei ihr. Milla lässt sie und die Tiere ein.

Und jetzt kommt es zu heißem Lesbensex!

Nein, wieder nicht, du widerlicher Chauvinist. Und wenn doch, erzählt dir jedenfalls keiner davon.

huulet.tif

Milla und Kalla liegen auf Millas Bett und sehen fern. Sie überlegen, ob sie Cider kaufen sollen, aber draußen ist es so kalt, dass sie darauf verzichten.

Das große Tier hat sich auf dem Fußboden ausgestreckt, das kleinere dagegen will unbedingt zwischen ihnen liegen. Kalla krault ihm den Kopf.

»Ich weiß nicht … vielleicht hast du dich schon an den Geruch gewöhnt, aber ich finde, wir müssten etwas dagegen tun«, sagt Milla.

»Was kann man denn dagegen tun? Ich meine, in gewisser Weise sind die ja tot.«

Milla überlegt. Vom Nachdenken wird ihre Stirn ganz heiß. Parfüms und Deodorants würden den Eigengeruch der Tiere vielleicht für eine Weile überdecken, doch eine dauerhafte Lösung brächten sie nicht. Sie wühlt auf dem Schminktisch, der eigentlich der Esstisch ist, aber irgendwie von Kosmetika begraben wurde. Das liegt hauptsächlich an Aphrodite. Wenn Milla allein leben würde, bräuchte sie für ihr Make-up nur den Badezimmerschrank und den Schminktisch und das Bücherregal. Milla hebt Tiegel und Tuben an und liest sorgfältig, was darauf steht. Anti-Zellulitis-Creme, nein. Anti-Falten-Creme, nein. Express-Lifting, nein.

»Heißt miracle nicht Wunder?«, fragt sie schließlich.

»Ja.«

»Das hier soll angeblich Wunder wirken.«

»Das schreiben sie doch überall drauf.«

»Ja, aber hier steht, dass es wirklich Wunder wirkt.«

»Born Again Ultra Exclusive Re-Incarnating Anti-Millenia Life Eternal Serum«, liest Kalla von der Tube ab. »Klingt beeindruckend, oder?«

Milla reibt das größere Tier mit der Creme ein. Die ist sehr ergiebig, was nur angemessen ist, wenn man bedenkt, dass der Literpreis bei dreitausend Euro liegt. Auch für das kleinere Tier reicht die Creme. »Und jetzt warten wir auf das Wunder«, sagt Milla zufrieden.

Und siehe da! Das Fleisch der Tiere belebt sich zusehends, und ihnen wächst sogar eine dünne, durchsichtige Haut. Die Tiere betrachten sich bewundernd und verblüfft, so toll haben sie noch nie ausgesehen!

»Und da behaupte noch jemand, diese Emulsionen wären Betrug«, meint Milla zufrieden.

Aphrodite poltert im Flur. Sie schleudert die eine Stiefelette bis ins Zimmer. Bei der zweiten geht der Reißverschluss kaputt, Aphrodite kriegt sie nicht vom Fuß. Dann bricht auch noch der Absatz ab. Sie sackt vor der Tür auf dem Boden zusammen und heult haltlos.

Milla geht nachsehen, was passiert ist. Aphrodite hat eine Hand auf die Stirn gelegt, mit der anderen hält sie Milla eine Zeitung hin.

»O nein«, seufzt Milla.

Die Zeitung berichtet über das FURCHTBARE FIASKO der skandalumwitterten Schönheitskönigin. Aphrodites Schallplatte wird als entsetzlicher Mist bezeichnet und sie selbst als unmusikalische Möchtegern-Sängerin.

»Von der Schallplatte wusste ich gar nichts«, sagt Milla.

»Iih, ich würde nie öffentlich singen«, kreischt Kalla.

»Nee, das ist es ja gar nicht«, schluchzt Aphrodite. Sie schlägt die Zeitung zu und zeigt auf das Titelblatt. Dort findet sich ein Foto, eine Rückansicht von Aphrodite am Meer. Sie trägt den roten Badeanzug, den sie so gernhat. Aber irgendwer hat ihn wohl zu heiß gewaschen, und er ist eingelaufen, denn auf dem Foto hat er sich zwischen Aphrodites Pobacken geschoben, was wirklich unvorteilhaft aussieht. Und obendrein: Sie hat Zellulitis. Zellulitis ist nun wirklich zu menschlich.

Aphrodite zieht die Strumpfhose aus und lüftet ihr kurzes Kleid. Mag sein, dass es eher ein langes Hemd ist.

»Guckt mal, hab ich Zellulitis?«

»Oje«, sagt Milla.

»Was!?«

»Na, ein bisschen schon. Nicht so schlimm wie auf dem Foto, aber immerhin.«

Aphrodite fällt in Ohnmacht.

»Huch, die Lage ist ernst«, stellt Milla fest und zieht sich an.

Sie legen Aphrodite aufs Bett und reiben ihre Oberschenkel mit verschiedenen Gels ein. Als Aphrodite wieder zu sich kommt, versichert Milla ihr, sie bekämen die Sache bald in den Griff.

»Es muss am hiesigen Klima liegen«, meint Aphrodite.

»Hast du mal überlegt, ob es vielleicht auch vom Alkohol kommen könnte?«, fragt Milla vorsichtig.

»Wieso?«

»Alkohol verursacht Zellulitis.«

»Aber ich muss doch trinken, sonst halte ich es hier nicht aus.«

»Oje.«

Aphrodite ist traurig und enttäuscht. Sie hätte nie in dieses blöde, hässliche und kalte Land kommen sollen, dessen Einwohner dumm und unlogisch und wahrscheinlich auch sadistisch sind. Verdammt noch mal, hier bekommen die Landwirte jährlich 2,1 Milliarden Unterstützung. Das ist viel Geld, aber in den Läden gibt es trotzdem kein herrliches Obst. »Wofür wird denn das ganze Geld gebraucht?«, hat Aphrodite gefragt, als sie davon hörte. Zum Beispiel für die Schweinewirtschaft, bekam sie zur Antwort. »Schweinewirtschaft? Was ist das denn? So ähnlich wie Hauswirtschaft?« Nein, sagte man ihr, auf den Farmen würden Schweine aufgezogen und dann getötet. »Was soll das denn? Großziehen, um zu töten?« Na, die werden gegessen. »Gegessen?!« Ja, wir essen immer Schweinefleisch, auch zu Weihnachten. »Aber Schweine sind intelligente, lustige Tiere, wieso esst ihr die?« Sie schmecken gut. Außerdem ist der Mensch Teil des Naturkreislaufs. Aphrodite wurde auf eine Schweinefarm eingeladen, um das finnische Landwirtschafts-Know-how kennenzulernen. Dort quälten die Schweinefarmer Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Tieren und schaufelten nebenbei erschütternde Mengen an Scheiße in die zahllosen mickrigen Seen, von denen ständig gelabert wurde. »Das ist also euer Anteil am Naturkreislauf. Ich werde euch irgendwo anzeigen.« Wir handeln völlig legal, und wer etwas anderes behauptet, den misshandeln wir. Aber nur in angemessenem Rahmen.

Wie kann irgendwer oder irgendwas in diesem Scheißland leben, und warum sollte das überhaupt jemand versuchen? Aphrodite würde am liebsten sofort abreisen, aber sie hängt fest, denn die Polizei stellt ihr keinen neuen Pass aus, solange sie keinen Familiennamen hat. Alles ist so im Arsch, wie es nur sein kann. Oder nein, alles ist längst jenseits von im Arsch, denn sie wird immer menschenartiger. Und noch schlimmer: immer finnischer. Sie verwandelt sich in eine apathische, fettärschige Alkoholikerin.

»Haben wir Cider?«, fragt sie.

»Vielleicht solltest du lieber keinen …«

»Scheiß drauf!«

Da hat Kalla eine glänzende Idee: Sollten sie nicht lieber Drogen nehmen als dieses betäubende und mit Zusatzstoffen gesättigte alkoholische Getränk?

»Stimmt!«, ruft Aphrodite. Sie ruft Artemis an, die in Windeseile mit fair gehandeltem Kokain eintrifft. Das ziehen sie in die Nase, doch es passiert nichts.

Artemis kostet von dem Kokain und merkt, dass man sie gründlich übers Ohr gehauen hat: »Das ist Kartoffelmehl!«

»Scheiße!!«, kreischt Aphrodite.

Aber Kartoffelmehl ist ein ziemlich guter Ersatz für Eier. Also für Hühnereier. Daher braten sie Pfannkuchen.

6 dl Sojamilch

4 dl Weizenmehl

2 EL Kartoffelmehl

1 TL Salz

Zutaten mischen und in Rapsöl braten.

Pfannkuchen sind Pfannkuchen, und Drogen sind Drogen, aber immerhin.

huulet.tif

Kalla sitzt auf einer Bank in einem winzigen Park, konzentriert sich aber nicht auf den Unterricht. Sie starrt auf einen Regenwurm, der von einem Fahrrad überfahren wurde. Trotzdem versucht er voranzukommen. Aber das klappt natürlich nicht, denn ein Teil seines Körpers wurde auf dem Pflasterstein zerquetscht. Er sammelt seine Kräfte, zieht sich lang, rollt zurück. Dann unternimmt er den nächsten Versuch. Tut das nicht weh?, überlegt Kalla. Sind Würmer nicht wahnsinnig empfindlich?

Artemis versetzt ihr einen Klaps, aber nur einen leichten, sie ist nicht so unmütterlich, wie man aufgrund ihres Äußeren schließen könnte. »Was ist los mit dir?«, fragt sie.

Kalla schüttelt den Kopf. Artemis wirft ihre schwarze Mütze auf die Erde, ein paar Zentimeter neben den Wurm, und lässt ihre grau gesprenkelten Haare im Herbstwind flattern. Kalla blickt nicht auf, sie starrt weiterhin auf den Regenwurm.

»Meine Arbeit ist irgendwie erniedrigend.«

»Mit dieser Einstellung ist jede Arbeit erniedrigend.«

Artemis zieht Kalla hoch und zeigt ihr, wie man einen Stift als Schwert verwenden kann. »Lass uns mal üben.«

Sie hat im Park einen Mann gebastelt, der wie eine Vogelscheuche aussieht.

»Bring ihn um!«, kommandiert sie.

Kalla schlägt nach dem Mann.

»So kriegt er nicht mal eine Fleischwunde.«

Artemis führt ihr vor, wie sie mit dem Stift zuschlagen muss. Der Kopf der Vogelscheuche fliegt auf die Straßenbahnschienen, und die Brust zerspringt.

»Wenn jemand versucht, etwas mit dir zu tun, das dir nicht gefällt, dann musst du so reagieren.«

»Ja.«

»Zeig’s mir!«

Kalla tritt der kopflosen Vogelscheuche zwischen die Beine.

»Ich sehe keinen echten Hass bei dir. Woher kommt das?«

»Weiß ich nicht.«

»Könnte es sein, dass du dich nicht für verteidigenswert hältst? Dann hast du ein Problem.«

»Was bildest du dir ein?«

Artemis hebt grazil ihre Mütze auf und zeigt mit dem Finger auf Kalla. Sie befiehlt ihr darüber nachzudenken, denn sie weiß, dass sie recht hat. Dann springt sie auf ihre gelbmähnige Stute und reitet davon. Hufe schlagen auf das Straßenpflaster.

Kalla bleibt noch eine Weile sitzen. Sie würde den Wurm gern in Sicherheit bringen, ekelt sich aber davor, ihn anzufassen. Schließlich nimmt sie ihren Bibliotheksausweis, hebt das Tier damit auf und setzt es unter einen Busch. »Vielleicht wird noch mal ein Wurm aus dir«, sagt sie.

Kalla geht ans Ufer. Sie hat schon seit einiger Zeit das Gefühl, beobachtet zu werden. Allerdings bildet sie sich neuerdings andauernd ein, die Leute würden sie anstarren, obwohl das gar nicht stimmt. Und selbst wenn jemand sie anstarrt, ist es nicht unbedingt böse gemeint. Manche bewundern Huren sogar: Schließlich haben sie Kontakt mit entscheidenden Organen. Pfui …

Milla trifft viele einflussreiche Geschäftsleute und Politiker und weist sie unmissverständlich auf diverse gesellschaftliche Reformen hin, die ihr gefallen würden. Das ist Millas Auffassung von politischem Aktivismus. Aber Kalla glaubt nicht an Einflussnahme. Ihr sind gewöhnliche Männer als Freier recht. Oder, na ja, nicht die ganz Gewöhnlichen: Ganz gewöhnliche Männer können sich ihre Gesellschaft nicht leisten. Und das ist auch in Ordnung. Schließlich kann sich auch nicht jeder eine Gucci-Handtasche oder einen Porsche leisten. Diese Ungleichheit bewahrt die Welt vor der endgültigen Vernichtung.

Das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, ist irritierend. Als ob etwas zwischen Zahn und Zahnfleisch steckt, das man nicht herausbekommt. Unvermittelt bleibt Kalla stehen und dreht sich um. In einigen Metern Entfernung sieht sie den Mann, den sie so gut kennt. Daher kommt also dieses ständige unangenehme Gefühl: Der Mann verfolgt sie. Wut und Verwirrung schlagen über ihr zusammen.

Kalla sieht den Mann kühl an, doch er deutet ihren Blick als Einladung. Er kommt auf sie zu, mit der ewig gleichen Miene, bei der man nicht weiß, ob er lächelt oder ob er sein Gesicht irgendwann so verzogen hat, dass er nicht mehr normal dreinschauen kann. Der verdammte Scheißkerl.

Kalla möchte den Mann vieles fragen, vor allem, weshalb er ihr quer durch die Stadt folgt und ob das schon lange so geht. Doch sie bringt die Worte nicht heraus. Nur einen kurzen Gruß, der ihre Selbstverachtung noch steigert. Der Mann deutet den Gruß als äußerst positive Geste. Er umarmt Kalla mit großer Gebärde. Ihr wird schwindlig und übel. Obwohl sie spürt, dass sie in großer Gefahr ist, flieht sie nicht. Sie wendet sich ab und steckt den Kopf in ein verwelktes Blumenbeet. Der Mann mustert ihr Hinterteil kritisch und stellt fest, dass es gut aussieht. Da Kalla den Kopf nicht hebt, hält der Mann es für angeraten, ihr aus dem Beet zu helfen, obwohl es ihm durchaus gefällt, ihren Hintern zu betrachten.

»Lass uns ein Stück spazieren gehen«, schlägt er vor.

Kalla stimmt zu, sie weiß nicht, was sie sonst tun könnte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dem Mann noch einmal zu begegnen, sondern geglaubt, er wäre so vernünftig gewesen, die Stadt zu verlassen. Kalla hasst sich selbst. Miese beschissene dumme Kuh, beschissen dumm, dumm, dumm.

»Ich dachte, wir könnten unsere Beziehung fortsetzen«, sagt der Mann.

»Was?«

»Na ja, du hast doch zu meinem Kumpel gesagt, dass du meine Freundin bist.«

»Das finde ich ziemlich krank.«

Der Mann bietet ihr an, sie nach Hause zu bringen, falls sie sich so schlecht fühlen sollte, wie sie aussehe. Es sei ganz verständlich, dass sie ein wenig wacklig auf den Beinen sei. Er habe sehr selten längerfristiges Interesse an einer Frau gezeigt, obwohl es interessierte Kandidatinnen gegeben habe. Er ist also ein schwer zu gewinnender, aber heftig begehrter Junggeselle. Vielleicht kann Kalla ihr Glück nur nicht fassen!

Der Mann begleitet Kalla bis zur Haustür und sagt, jetzt müsse sie ihn eigentlich hereinbitten. Kalla murmelt, na schön, komm mit.

Sie stehen sich im Lift gegenüber. In ihren Pumps überragt Kalla den Mann. Er lächelt selbstgefällig. Oder vielleicht ist es nur wieder sein üblicher Gesichtsausdruck.

An der Tür zu Kallas Einzimmerwohnung schnuppert der Mann. Es riecht nur nach Frau, nach sonst nichts. Zum Beispiel nicht nach Tod, was ein schlechtes Zeichen und überhaupt unangenehm wäre. Ohne die Schuhe auszuziehen, geht er ins Wohnzimmer, das gleichzeitig auch Schlafzimmer und Küche ist.

»Möchtest du Kaffee oder irgendwas?«, fragt Kalla.

»Ja, mit Milch und Zucker. Oder noch lieber mit Sahne.«

»Ich habe weder Milch noch Sahne.«

»Na, diesmal will ich nicht so sein, aber sorg bitte künftig dafür, dass du alles im Haus hast.«

Der Mann hat es sich halb liegend auf Kallas Bett bequem gemacht. Kalla bringt ihm den Kaffee.

Der Mann klopft aufs Bett, und Kalla setzt sich.

Nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hat, stellt der Mann die Tasse auf Kallas Nachttisch.

»Wie heißt du noch gleich?«, fragt er höflich.

»Mirkalla«, antwortet Kalla, ohne nachzudenken. Das ist ihr Pornoname.

»Geil.«

Der Mann zieht Kalla aufs Bett und beginnt sie auszuziehen.

»Tu das nicht«, sagt Kalla leise.

»Was?«

»Tu das nicht«, wiederholt sie ein wenig lauter.

Der Mann lacht auf und dringt in sie ein. Kalla denkt, es ist gleich vorbei, es lohnt sich nicht, deswegen Theater zu machen, es ist nicht so schlimm: Was soll daran so schlimm sein? Mies, beschissen, dumm. Doch sie kommt nicht gegen das Weinen an: Es bricht laut und stoßweise aus ihr heraus. Dumme Kuh, beschissen dumm, dumm, dumm. Das kleinere Tier kriecht unter ihrem Bett hervor, das größere kommt aus dem Kleiderschrank. Das kleinere springt aufs Bett, doch der Mann stößt es weg. Kalla sieht, dass sich die Beine des Tiers durch den Sturz krümmen.

Da siegt ihre Wut über die Verwirrung, und sie merkt, dass ihr Mund so voller Zähne ist, dass er sich nicht mehr schließt.

Sie bohrt dem Mann ihre Acrylfingernägel in den Hals und schlägt die Zähne in seinen Nacken. Dann reißt sie ein großes Stück Männerfleisch heraus. Blut spritzt auf Kallas Bett, und sie spürt, wie der Mann in ihr schrumpft.

»Jetzt bring ich dich um, du verdammter kleinwüchsiger Arsch«, brüllt Kalla mit Löwenstimme, und der Mann glaubt ihr.

Kalla sind lange, scharfe Reißzähne gewachsen, die sie in das Fleisch des Mannes schlägt. Die Tiere sehen ihr zu. Sie scheinen zu lächeln. Tatsächlich! Es ist absolut unverkennbar, denn jetzt haben sie ja auch Lippen.

Bald ist von dem Mann nichts mehr übrig als sein mickriger Penis. Kalla wischt sich über den Mund, öffnet das Fenster und wirft das Glied hinaus. Einige Möwen fliegen herbei und balgen sich um den Leckerbissen.

Kalla lässt sich ein Bad ein. Das Wasser färbt sich rot, es sieht aus, als würde sie in Blut baden. Vielleicht wäre eine ausgiebige Dusche doch besser gewesen.

Merkt euch: Ein Wannenbad ist oft unpraktisch und Wasserverschwendung.

Vor allem aber merkt euch dies: Man soll keinem jemals eine zweite Chance geben.

huulet.tif

Die Laken sind über und über mit der DNA des männlichen Besuchers besudelt.

Sie müssen gewaschen werden.

Kalla stopft die Bettwäsche in den Waschkorb und geht in die Waschküche im Keller. Sie stellt das Programm auf neunzig Grad ein und schüttet Haushaltsnatron zur Wäsche: ein gutes Mittel gegen Blutflecken. Während die Trommel sich dreht, bleibt Kalla in der Waschküche sitzen und liest Margaret Atwood, das heißt, eigentlich ist es keine Waschküche, sondern ein Kellerraum, in dem eine alte Industriewaschmaschine steht.

Ihre Wäsche ist fertig, als Marian, die Hauptperson des Buches, gerade erst ihre Wäsche in die Maschine stopft.

Kalla öffnet die Klappe. Aber heraus kommt nicht leuchtend weiße Bettwäsche, sondern eine nackte blonde Frau, die ein rosa Handtuch von der Leine reißt, um ihre Brüste zu bedecken. Vielleicht weniger, um sie zu bedecken, als um sie zu trocknen. Die Frau zündet sich eine Zigarette an, die in einer Spitze steckt. Sie raucht die Zigarette mit einem einzigen Zug auf. »Eine lange Reise«, sagt sie heiser.

Die Frau erklärt, es bestehe Anlass zu einem Gerichtsprozess, denn Kalla habe bekanntlich das Gleichgewicht zwischen Mann und Frau mehrfach gewaltsam zerstört. Besonders monströs habe sie sich gerade eben verhalten. »Das können wir nicht länger durchgehen lassen«, sagt die Frau und steckt sich die nächste Zigarette an.

Dann stellt sie sich vor. Sie heißt Isis und kann aufgrund der Vollmacht, die sie von Gewisser Seite erhalten hat, Tote erwecken und Lebende verurteilen. Kalla fragt, um wen es sich bei dieser Gewissen Seite handele. Daraufhin erklärt Isis, sie könne nicht ins Detail gehen, aber dahinter stehe das Patriarchat selbst.

»Aber du bist doch eine Frau, wie kannst du so eine Institution vertreten?«

»Wir Frauen sind seit jeher die treuesten Dienerinnen des Patriarchats. Das muss dir doch klar sein?! Das Patriarchat könnte ja gar nicht herrschen, wenn nur die Hälfte der Menschheit und der Götterwelt hinter ihm stünde. Die Hälfte des Himmels würde über ihm einstürzen!«

»Das finde ich aber nicht ganz fair.«

Isis holt einen kleinen Koffer aus der Waschmaschine, dem sie sehr knappe Shorts und sehr lange Stiefel entnimmt. Sie legt hellen Lippenstift auf und fragt Kalla, ob sie bereit sei.

»Wozu?«, will Kalla wissen.

»Wir machen einen Besuch in der Unterwelt.«

»So, wie du angezogen bist, wirst du bestimmt nicht eingelassen.«

»Ich kann tun, was ich will.«

Kalla geniert sich ein wenig, denn sie hat eine alte Jeans, ein dreckiges T-Shirt und die Kapuzenjacke von irgendeinem Exfreund an. Andererseits ist Isis oben ohne.

Sie fahren mit dem Taxi zur Unterwelt. Der Portier mustert sie kritisch, gibt aber nach, als Isis ihm eine Weile den Schenkel reibt.

»Du musst uns einlassen, wenn du nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen willst«, flüstert sie drohend und sexy zugleich.

»In Ordnung«, erwidert der Portier und würde ihnen aus den Mänteln helfen, aber sie tragen ja keine.

Isis steckt sich eine Zigarette an. Der Portier erklärt, für Raucher sei ein separater Raum reserviert.

Isis faucht wie eine Raubkatze, und der Portier verschwindet.

»Oje, was ist denn mit dem passiert?«, fragt Kalla.

»Er ist in die Verdammnis geraten. Genau wie ich es ihm vorhergesagt habe.«

Sie holen sich etwas zu trinken.

Kalla schaut sich um. »Das ist ein schrecklicher Ort.«

»Jetzt begreifst du wenigstens, wohin du einen gewissen armen Kerl befördert hast.«

»Ihn?«

»Den mit dem niedlichen kleinen Schnurrbart.«

»Der war überhaupt nicht niedlich. Eher voller Rotz.«

Isis trinkt ihre Cola Rum in einem Zug aus. »Zu viel Cola«, sagt sie und schmeißt das Glas an die Wand. Dann führt sie Kalla in den Gerichtssaal. Seelen, die ihre Strafe verbüßen, fliegen auf und umschwirren Kalla. Sie haben keine Arme. Und eigentlich auch keinen Körper. Nur einen Frauenkopf, unter dem allerlei Ekliges, Blutiges und Eitriges hängt. Mit den Zähnen reißen sie Kalla die Kleider vom Leib und ziehen ihr einen orangefarbenen Overall an.

An den Rändern des Saals winden sich andere arme Seelen. Sie haben Frauenkörper, aber weder Arme noch Beine. Nur einen Torso ohne Kopf. Die Stümpfe sehen entzündet aus.

»Der Richter kann nicht persönlich anwesend sein, aber wir haben eine Videoschaltung«, erklärt Iris trocken, in sarkastisch sachlichem Ton.

Sie schaltet einen großen Bildschirm ein. Darauf erscheint ein etwa sechzigjähriger molliger, bebrillter Mann in grauer Hose, Hemd und Pullunder. Er sitzt auf einem Bett und hebt die Hand. Seine Haltung ist nicht göttlich-erhaben, sondern eher ein wenig zusammengesunken. Kalla sieht Isis ungläubig an. Isis’ schwarze Augen funkeln. »Wen hast du denn erwartet, etwa Marlon Brando?«

»Na ja …«

Isis erklärt, der Leiter sei früher charismatischer gewesen, aber man habe einige Veränderungen vornehmen müssen, weil seine Willkür die Menschen allzu sehr bedrückt hatte. Deshalb habe man Christus lanciert und durch ihn ein jovialeres Oberhaupt.

»Das ist natürlich relativ, denk nur an den Nahen Osten. Aber die Menschen sind so leicht hinters Licht zu führen. Wenn man nicht allzu vernunftwidrige Forderungen stellt, tun sie fast alles. Die kleinen Dummerchen!«

Als Vertreterin der Menschheit würde Kalla gern protestieren, doch bei genauerem Nachdenken erkennt sie, dass es sich tatsächlich so verhält.

Isis nimmt einen Notizblock zur Hand. Kalla betrachtet den Opa auf dem Bildschirm und merkt, dass er Isis auf den Busen stiert. Isis befeuchtet ihren Zeigefinger und reibt sich den Nippel. Dann verliest sie Kallas Straftaten.

PUNKT 1: HOMOSEXUALITÄT. Frauen dürfen untereinander nur dann heißen Lesbensex treiben, wenn ein Heteromann zuschaut. Frauen sollten einander keinen echten Orgasmus verschaffen, dürfen ihn aber vortäuschen; in diesem Fall müssen sie jedoch den anwesenden Heteromann ansehen, als sei in Wirklichkeit er derjenige, der den Orgasmus auslöst. Heißer Lesbensex darf auch vor der Kamera getrieben werden, doch dann ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung, dass die Videos/Fotos für Heteromänner bestimmt sind. Am besten wäre es jedoch, dass heißer Lesbensex, sofern er denn getrieben wird, immer damit endet, dass ein Heteromann in das Gesicht einer der beiden Frauen oder besser beider ejakuliert, nachdem er zuvor Analverkehr mit ihnen hatte.

PUNKT 2: WÄHLERISCHE PROSTITUTION. Die Prostitution ist für Frauen der beste und passendste Beruf, und ihre Ausübung ist zu unterstützen. Es wäre jedoch ratsam, dass ein anderer, vorzugsweise ein Mann, den Profit einstreicht, denn zu viel Geld macht eine Frau rasch allzu unabhängig. Zudem – und das ist der schwerwiegendste Vorwurf unter Punkt 2 – hat die Angeklagte bei ihrer Geschäftstätigkeit Wucherpreise verlangt, die es vielen Männern unmöglich gemacht haben, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Ein angemessener Preis wären zwanzig Euro für eine halbe Stunde wie in diesem einen Thai-Massagesalon. Das könnten sich die meisten leisten, und diejenigen, die nicht genug Geld haben, sollten vielleicht umsonst bedient werden. Zudem hat die Beklagte Sex mit anderen als normalgesunden Männern abgelehnt, was eine schwere Verfehlung ist, denn gerade eine Prostituierte sollte jeden Freier akzeptieren, weil sie ohnehin von Natur aus obszön und lüstern ist.

PUNKT 3: MORD UND SCHWERE KÖRPERVERLETZUNG. Dies ist der gewichtigste Anklagepunkt. Die Beklagte hat die psychische und physische Unversehrtheit eines Menschen, den wir hier als Opfer bezeichnen, denn das ist er ja, verletzt, und zwar wiederholt und an mehreren Körperpartien, und schließlich seinen Tod herbeigeführt.

»Aber er hat mich doch vergewaltigt!«

Isis seufzt schwer und fragt, ob das denn wirklich so schlimm sei: Die Tat habe ja nicht einmal Kallas Geschäftstätigkeit beeinträchtigt.

»Aber ich wollte nicht!«

»Was eine Frau will, spielt keine Rolle. Die Hauptsache ist, gefällig zu sein«, erklärt Isis ihr wie einem kleinen Kind.

Der Opa sagt: »Gut, gut«.

Isis lächelt ihn herzig an, aber nur mit den Lippen, nicht mit den Augen. »Wozu verurteilen wir diese Frau?«, fragt sie mit Kleinmädchenstimme. Na ja, mit der Stimme eines rauchenden kleinen Mädchens.

»Ich finde Steinigungen immer hübsch«, antwortet der Opa.

»Aber das ist so einfallslos, Herr.«

Der Opa blickt sie streng an, doch da schiebt Isis das Becken vor, steckt den Daumen in den Hosenbund und zieht die Shorts so weit herunter, dass er ihre schwarzen Schamhaare sieht.

»Na schön, entscheide du«, meint er.

Isis klatscht in die Hände und lächelt. Auch der Onkel lacht auf. Isis wühlt wieder in ihrem Koffer. Sie holt ein Brechmittel heraus und reicht es Kalla. Kalla runzelt die Stirn. »Trink das«, sagt Isis.

In der gegebenen Situation beschließt Kalla, die Medizin zu schlucken. Sie wird von schrecklichen Krämpfen geschüttelt. Zuerst würgt sie Knochen und Fleischbrocken sowie einige innere Organe heraus. Das Herz spuckt sie im Ganzen aus. Zum Schluss schießt literweise Blut aus ihrem Mund. Kalla muss sich hinsetzen.

»Ist das alles?«, fragt Isis.

»Mehr oder weniger.«

Isis geht daran, die Körperteile zusammenzusetzen. »Es mag hoffnungslos erscheinen, aber ich habe Erfahrung«, sagt sie.

Schließlich entsteht eine Art menschliches Gebilde. Was bringt eine Frau mit Nadel, Garn und Klebstoff nicht alles zustande! Wieder sucht Isis in ihrem Koffer und holt eine Tube heraus. »Born Again Ultra Exclusive Re-Incarnating Anti-Millenia Life Eternal«-Serum! »Dieses Wiedergeburtszeug wirkt Wunder«, lobt Isis.

Und es stimmt: Der Mann steht auf, zwar schwankend, und er ist ein wenig kleiner als zuvor, aber dennoch, tja, er lebt. Er sieht Kalla mit seinen freundlichen Augen an, die vielleicht irgendeinem Kind gestohlen wurden. Sie passen überhaupt nicht zu ihm. Isis betrachtet das Werk ihrer Hände mit unverkennbarer Zufriedenheit.

»Rate mal, was ich in solchen Situationen meistens tun muss!«, kreischt sie eine Spur manisch.

Der Opa sieht sie tadelnd an, woraufhin Isis sich rasch korrigiert: »Ich meine, tun darf. Na ja, also ich darf jedes Jahr einen Untoten heiraten. Diesmal werde ich dieses Vergnügen aber dir überlassen.«

»Nein! Das ist nicht dein Ernst!«, schreit Kalla auf.

»Doch.« Nun allerdings bemerkt Isis einen kleinen Mangel. »Wo ist sein Pimmel?«

»Den haben die Möwen gefressen.«

»Na so was, dann muss ich ihm wohl eine meiner Rippen geben.« Isis schiebt sich die Hand in den Bauch und bricht eine der untersten Rippen ab. »Dann hast du auch mehr von der Hochzeitsnacht.«

Die Trauung muss vollzogen werden! Doch dafür kommen weder Isis noch die Seelen infrage, denn Frauen als Pfarrerinnen sind wirklich ganz schlimm, auch wenn manche Dummköpfe das nicht einsehen wollen. Deshalb wird der verstorbene Papst geholt, um Kalla und den von den Toten auferstandenen Mann zu trauen.

Der Papst bebt und murmelt, und die Bibel zittert in seinen kleinen Händchen. Er knurrt etwas Unverständliches. Isis schlägt ihm fester als nötig auf den Rücken. Dem Papst fliegt der untere Teil des Gebisses aus dem Mund. Der obere Teil verrutscht. Er befühlt ihn schmatzend mit der Zunge. Isis nimmt ihm die restlichen Zähne aus dem Mund. Der Papst fragt, warum sie das getan habe und ob es bald Kaffee gäbe. Erst, wenn die Arbeit erledigt ist, sagt Isis.

»Iiif traue diff …«

»Kalla«, sagt Isis.

»Kalla. If if if dif if if …«

»Wie heißt er?«

Kalla zuckt die Achseln. Niemand kennt den Namen des Mannes! Nicht einmal der Mann selbst, denn er ist noch nicht ganz bei sich, die Auferstehung von den Toten ist ein langwieriger Prozess.

»Na, dann nennen wir ihn eben Wunder-Mann«, erklärt Isis.

Kalla schnaubt.

Die Zeremonie wird vollzogen, und Isis bewirft das Paar mit Reis. Dann schaltet sie den Bildschirm aus und lässt eine lange Litanei Flüche vom Stapel, die hier nicht wiederholt werden soll.

Das Urteil mag grausam oder zumindest ungewöhnlich erscheinen, doch für Isis ist es ein stinknormales, alljährliches Ritual. Es ist ihre Strafe dafür, dass sie dereinst allzu harsche Kritik an einigen religiösen Gemeinschaften geübt hat, deren Brauch verlangt, Schlachttieren einen möglichst qualvollen und langsamen Tod zu bereiten.

Die Imame und Rabbis ließen sich diese Reden nicht gefallen, schon gar nicht von einer unbedeutenden weiblichen Gottheit wie Isis, denn Unterdrückung der Schwachen, Folter und grenzenlose Grausamkeit gehören seit jeher zu den wichtigsten Grundsätzen der wichtigen Religionen.

Wenn sie in dieser Sache nachgegeben hätten, wären bald auch andere Regeln gelockert worden. Also brachten sie Isis unverzüglich zur Raison und zwangen sie, ihren toten Bruder aus dem Hades zu holen und zu heiraten. Teil der Strafe war natürlich, dass der Bruder immer wieder sterben sollte. So geht es nun schon seit Jahrtausenden, und der Bruder ist nach all den Auferstehungen ehrlich gesagt in ziemlich schlechter Verfassung.

Wenn im Kreis dieser bemerkenswerten Männer die Rede auf Isis kommt, erinnern sie sich immer noch an ihren schlauen Einfall und lachen: »Hahaha, häusliche Pflege! Mal sehen, ob ihr bei alldem Zeit bleibt, über die Rechte von Schafen und Ziegen nachzugrübeln, hahaha.«

huulet.tif

Kalla erwacht. Sie spürt ein schweres Gewicht auf sich. Wie das einer Leiche.

Wie das einer Leiche!!

Sie setzt sich auf und stößt dabei aus Versehen den Mann aus dem Bett. Er röchelt bedenklich. Die Tiere kommen aus dem Kleiderschrank und beschnuppern die Person, die sie schon kennen. Sie sehen ihr Frauchen fragend an. Kalla trägt einen orangen Overall, dessen Reißverschluss nur ein winziges Stück aufgezogen ist.

Wenn das alles ein Traum ist, dann ist es ein Albtraum.

Wenn das Leben nur ein Traum ist?

Scheiße, es ist keiner. Kalla springt auf, macht einen Bogen um den Mann und geht in die Küche. An dieser Stelle gibt es nur eine mögliche Frage: »Willst du Kaffee?«

»Raahhhh«, antwortet der Mann.

»Heißt das ja? Oder nein? Vielleicht ja? Sahne habe ich aber immer noch nicht.«

»Rrrrrrh«, antwortet der Mann.

Kalla kocht Kaffee, gießt ihn in einen Becher und geht zu dem Mann, der immer noch auf dem Fußboden sitzt. Er streckt die Hand aus. Kalla schüttet den Kaffee über ihn. Der Mann heult auf. Kallas Handy klingelt.

»Hallo?«

»He, ich weiß, dass du ihn quälst.« Es ist Isis.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich bin eine Göttin. Götter sehen sogar deine Gedanken.«

Kalla stellt sie auf die Probe.

»Sind sie nicht!«, ruft Isis.

Also muss Kalla ihr wohl glauben.

»Die Vernachlässigung des Ehegatten kann Konsequenzen haben. Sei so gut und vertrau mir.«

Damit beendet Isis das Gespräch. Kalla hat ein schlechtes Gewissen wegen ihres bösen Gedankens, der eigentlich gar nicht ernst gemeint war. Sie bekommt eine SMS. IRIS: »Okay, ich verzeih dir … Halt die Ohren steif …« Was zum Teufel, denkt Kalla.

»Kraaaaaul.«

»Entschuldige, dass ich dich mit Kaffee begossen hab. Aber weißt du, du hättest mich nicht vergewaltigen dürfen. Und dass du es zweimal getan hast, ist schon ziemlich heftig. Da verstehst du wohl, dass ich ein bisschen wütend und verbittert bin.«

»Raaaaaaa.«

»Und nachdem ich dich sozusagen umgebracht habe, fände ich es nur recht und billig, dass du tot wärst, aber nein! Jetzt muss ich deinen beschissenen Anblick für den Rest meines Lebens ertragen.«

Kalla will dem Mann ihr Handy an den Kopf werfen, beherrscht sich aber. Sie geht aufs Klo und weint heftig und lange.

Es ist völlig überflüssig, Kalla zu bemitleiden. Sie ist eine Mörderin. Jemandem das Leben zu nehmen ist sehr schlimm. Klar: Der Mann ist ein Idiot und ein Ekel. Aber das sind die meisten. Oder wenn nicht die meisten, dann doch sehr viele.

Warum hat sich Kalla beim ersten Mal nicht gewehrt? Wenn sie das getan hätte, wäre jetzt alles in Ordnung. Oder wenn sie mit dem Mann mitgegangen wäre, den sie in der Bar zuerst kennengelernt hatte.

Wenn sie nicht gerade zu dem Zeitpunkt zur Toilette gegangen wäre.

Wenn sie keinen Rock angehabt hätte, sondern eine Hose.

Wenn sie nicht in das Taxi gestiegen wäre. Wenn es nicht geregnet hätte, wäre sie sicher zu Fuß gegangen. Ach, hätte es bloß nicht geregnet!

Wenn sie vor dem Aufbruch in die Bar nicht eine halbe Flasche Sekt getrunken hätte, wenn sie sich dezenter geschminkt hätte, wenn sie keine künstlichen Wimpern getragen hätte.

Wenn sie als Mann zur Welt gekommen wäre.

»Aber ich habe doch Nein gesagt.«

Kalla weiß selbst, dass Nein nur ein Wort ist. Man muss wenigstens ein bisschen um sich schlagen, die Beine verschränken und sich in eine Decke wickeln. Das hatte sie beim vorigen Mal getan. Am nächsten Tag hatte sie ihrer Freundin erzählt, dass ein Mann versucht hatte, sie zum Sex zu zwingen. In irgendeinem Park oder wo, fragte die Freundin. Kalla antwortete, es sei bei ihr zu Hause passiert.

»Wie ist er denn in deine Wohnung gekommen?«, fragte die Freundin.

»Wir wollten noch etwas trinken«, erklärte Kalla.

»Na, dann ist es doch deine eigene Schuld!«

Mit dieser Freundin hat Kalla seitdem nicht mehr telefoniert.

Na ja, es ist zu spät, den Arsch zusammenzukneifen, wenn die Kacke schon in der Hose ist, wie ihre Mutter zu sagen pflegt. Kalla wischt sich die Tränen ab und putzt sich die Nase. Mit dem Schminkbeutel gerüstet, nähert sie sich dem Wunder-Mann, der den Tod besiegt hat.

Sie reinigt dem Mann mit ihrer Reisezahnbürste den Mund, also nicht bloß die Zähne, sondern auch die Zunge und die Innenfläche der Wangen, dann befiehlt sie ihm auszuspucken. Sie rasiert ihn mit dem Ladyshaver, etwas anderes hat sie nicht. Entfernt auch den Schnurrbart. Jetzt vielleicht noch eine Gesichtsmaske, die Haut des Mannes ist nach wie vor ein wenig schlaff.

Dann bugsiert sie den Mann in die Badewanne und duscht ihn ab. Reibt ihn mit einem flauschigen Flanellhandtuch trocken. Kämmt seine Haare nach hinten. Kämmt sie nach vorn, über die Augen. Kämmt sie dann doch wieder zurück.

Und die Kleidung? Sie hat keine Unisex-Klamotten, so etwas trägt sie nicht. Also steckt sie die Glieder des Mannes in den orangen Overall.

Und dann stehen sie vor dem Spiegel.

Wie eine Familie.