5.
COME ON BABY.
BABY TAKE MY HAND.
WE’LL BE ABLE TO FLY.
BABY I’M YOUR MAN.
VIELLEICHT HAT APHRODITE schlechtes Acid erwischt oder einfach den falschen Stoff. Damals, als sie in London gewesen war, hatte man alles nehmen können, aber jetzt befinden wir uns in Helsinki. Der Name der Stadt geht ihr durch den Sinn. Ein schrecklicher Name für einen Ort. Schrecklich, die Hölle. Das hier ist die Hölle. Pfui Teufel.
In ihren meerblauen Augen sind die Pupillen nur als winzige Pünktchen zu sehen. Wenn jemand da wäre, sie zu sehen. Ist aber keiner da.
Sie liegt ganz allein auf dem schmutzigen Boden in der Toilette des Nachtclubs. Wo ihr Strumpf endet, berührt die helle Haut ihres Oberschenkels die schmierig kalten Kacheln. »This is too fucking depressive«, murmelt sie, aber es klingt wie »Zzz faaakhhhh sshhhhh«.
Alles ist verloren. Alles ist schwarz.
Es ist schwarz.
Und das Herz steht still.
Aphrodites schönes Bein streckt sich und lugt unter der Toilettentür hervor. Eine Frau informiert einen Nachtclub-Mitarbeiter. Nicht aus Sorge, sondern weil sie aufs Klo will. Nirgendwo gibt es genug Klos. Andernfalls wären die Frauen vielleicht empathisch und nett zueinander.
Aber das alles hat keine Bedeutung mehr.
Wir sind im Tod.
Und der Tod ist ewig.
(Nicht für alle.)
Aphrodite merkt, dass ihre blonden Haare leuchten wie phosphoreszierend. Ein Boot erwartet sie. Jedenfalls sieht es so aus, als ob das Boot gerade auf sie wartet. Es ist sonst niemand da.
Im Boot sitzt ein muskulöser Mann mit einem kleinen Lendenschurz. Die Lage ist also nicht völlig hoffnungslos. Lächelnd steigt Aphrodite ein.
Der Ruderer streckt die Hand aus. Aphrodite reicht ihm die ihre zum Kuss. Der Bootsmann wirkt beleidigt. »Dachtest du etwa, die Überfahrt wäre kostenlos?«, fragt er.
»Ja«, antwortet Aphrodite.
»Ist sie aber nicht.«
»Scheiße, ich hab kein Bargeld.«
»Dann musst du hundert Jahre am Ufer herumirren.« Der Ruderer kehrt ihr den Rücken zu.
»Scheint hier jemals die Sonne?«, fragt Aphrodite.
»Nein.«
»Kann ich mit Visa bezahlen?«
Der Mann zuckt die Achseln, nimmt die Karte und behält sie. Aphrodite protestiert nicht. Sie hat eine ungefähre Vorstellung von ihrer Kreditsituation. Die ist nicht gerade berühmt. Sie steigt in das kleine Holzboot und setzt sich dem Ruderer gegenüber.
Im Tod herrscht ewige Abenddämmerung, wie jeder weiß. Und der Fluss hat keine Strömung, das Wasser steht. Folglich könnte das Rudern flott vorangehen, doch der Ruderer hat keine Eile. Daher hat Aphrodite genug Zeit, sich umzuschauen. Einmal ist sie im Nachtbus eingeschlafen und in Espoo gelandet. Dort sah es ähnlich aus.
Sie möchte weinen, aber irgendwie sind alle Gefühle verschwunden. Und an einem Ort, wo alle Gefühle fehlen, einschließlich der Liebe, ist sie überhaupt nichts Besonderes mehr. Allerdings könnte es sein, dass die Gefühllosigkeit eine Nachwirkung der Narkose ist.
Sie betrachtet das Ufer gegenüber. Dort drängen sich Leute. Plötzlich wird Aphrodite nervös. Das ist doch ein Gefühl? Sind also doch nicht alle Gefühle verschwunden?
Sie nimmt Lipgloss aus dem Spalt zwischen ihren Brüsten und verteilt ihn auf ihren prallen Lippen. Manche behaupten, sie seien das Werk eines Schönheitschirurgen, doch das ist gelogen. Aphrodite wurde so geboren.
Die Menschen weichen zurück, als das Boot sich dem kleinen Anleger nähert.
»Gibt es Fahrgäste in die Gegenrichtung?«, fragt der Ruderer und lacht boshaft.
Jemand heißt Aphrodite willkommen im Tod. Aphrodite lächelt dankbar. Überall Menschen, Hunderte, vielleicht Tausende, vielleicht vierzigtausend Männer und Frauen.
»Wohin kommen die toten Tiere?«, fragt sie.
»Ach, es wäre doch zu viel verlangt, dass sie selbst im Tod noch die Unterdrückung durch die Menschen ertragen müssten«, wird ihr geantwortet.
Aphrodite sieht die Sprecherin genauer an. Es ist eine Frau, tatsächlich. Glatzköpfig, mit tiefen Schatten unter den dunklen Augen. Am Hals hat sie einen schrecklichen Abdruck, als hätte sich eine dünne Schnur in ihre Haut gegraben. Und an den Handgelenken tiefe Einschnitte. Im Lächeln der Frau liegt eine so bodenlose Traurigkeit, dass Aphrodite Tränen in die Augen steigen.
Die Frau erklärt Aphrodite, Ironie sei die Kunst des Todes. Deshalb hat gerade sie die Aufgabe erhalten, Aphrodites Führerin zu sein. Im Leben hat sie sich um nichts anderes bemüht als um Liebe und Schönheit, doch beides blieb ihr versagt. Das Leben hätte angenehm sein und sie hätte glänzen und aufblühen können, doch sie sah nur Schrecken und Tod. »Natürlich sollst du dich schuldig fühlen, meine Göttin, die mich verlassen hat.«
Die Frau blickt sie ernst an. Aphrodite weiß nicht, wohin sie sich wenden soll, sie hat bisher noch nie ein Gewissen gehabt, geschweige denn ein schlechtes Gewissen. Sie tritt von einem Bein aufs andere und dreht eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Doch da lacht die Frau plötzlich. Es klingt nicht annähernd so grausig, wie man meinen könnte. Sie berührt Aphrodite an der Schulter, und in ihrer Berührung ist nichts als Wärme.
Oder es wäre reine Wärme, wenn sie lebendig wären und warmes Blut durch ihre Adern fließen würde. Doch so ist es nicht.
Aphrodite weiß ihre Führerin nicht recht einzuordnen. Ihr merkwürdiger Sinn für Humor ist irgendwie beklemmend. Auch das ist ein neuartiges Gefühl. Andererseits ist schräger Humor immer noch besser als vollständige Humorlosigkeit.
Die Frau wendet sich ihr zu. »Du weißt wohl, dass ich alle deine Gedanken höre.«
Aphrodite erschrickt. Doch dann lacht die Frau wieder. Aphrodite kichert ebenfalls, aber unsicher, fragend.
»Im Tod gibt es keine Privatsphäre, aber daran gewöhnt man sich. Irgendwann. Es ist so ähnlich wie im Krankenhaus.«
»Wie heißt du?«
»Weißt du nicht, wer ich bin?«, fragt die Frau ernst. Und dann lacht sie wieder herzhaft.
Sarah
Ah-ah Sarah Kane
pray Her name
and read Her plays.
Aphrodite weiß nicht, wer die Frau ist, geniert sich aber zu fragen. Sie fummelt an ihren leuchtenden Haaren und lacht mit der Unbekannten.
Gemeinsam gehen sie eine verlassene Straße entlang, bis sie eine Bushaltestelle erreichen. Die Frau sagt, wahrscheinlich müssten sie eine Weile warten. Sie warten zwölf Jahre.
So fühlt es sich jedenfalls an.
Als der Bus kommt, ist er voll besetzt. Niemand spricht. Auch das hat Aphrodite schon erlebt, irgendwo, irgendwann … Die Frau erklärt, es sei nicht ratsam, zu Fuß zu gehen, die Entfernungen seien heutzutage so riesig. Der Tod vergrößert sich wie das Weltall, dessen Grenzen niemand kennt.
Die Frau erklärt, sie seien auf dem Weg in das Wohngebiet der Götter und Dichter. Um dorthin zu gelangen, müsse man zweimal umsteigen. Aphrodite seufzt. Die Frau sagt, Zeit hätten sie ja genug, die ganze Ewigkeit. Oder zumindest so lange, bis die Sonne erlischt. Dann endet auch die Existenz des Todes, weil niemand mehr stirbt. Alles hört auf, auch hier. Es gibt nichts mehr. Oder doch, es gibt etwas, doch das ist unerheblich. Es liegt außerhalb der Vorstellungskraft, und das ist gerade so, als würde es gar nicht existieren.
Aphrodite blickt durch das Busfenster. Sie sieht einen Slum, aus großen Blechtonnen schlagen Flammen. Die Frau erzählt, dies sei das Wohngebiet der Politiker und Manager. Aphrodite erkennt einige Gesichter. Jemand wirft einen Molotow-Cocktail an das Busfenster. Aphrodite schreit auf.
»Das machen sie immer«, erklärt ihre Führerin beruhigend.
Schließlich, nach Stunden oder Jahrhunderten, erreichen sie eine Reihenhaussiedlung. Alle Häuser sind identisch. Jedes hat ein kleines Gärtchen, alle sind im selben gelblich-grauen Farbton gestrichen, und an jedem Fenster hängen die gleichen Vorhänge.
Aphrodite schreit entsetzt auf. Die Frau tätschelt ihre Schulter.
Sie betreten eines der Häuser, das sich nur durch die Hausnummer von den anderen unterscheidet. Die Frau knipst im Flur das Licht an. Das Haus ist im Stil der 1950er Jahre eingerichtet, aber die Qualität der Möbel verrät, dass sie in Wahrheit bei Ikea gekauft wurden. In der Küche stehen ein Kühlschrank mit Gefrierfach, eine Mikrowelle sowie ein Tisch und Stühle. Auf dem Tisch liegen geflochtene Sets aus Plastik. Im Wohnzimmer gibt es einen Fernseher; er läuft, aber es ist kein Programm zu sehen. Davor ein helles Sofa und ein niedriger Tisch. An der Wand ein Bücherregal, in dem alle Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aufgereiht sind, sonst nichts. Im Schlafzimmer steht ein Doppelbett, auf dem Nachttisch Fotos von Kindern. Von wessen Kindern?
In wachsender Panik sucht Aphrodite das Bad. Stattdessen findet sie einen Raum mit Waschmaschine, Trockner, Bügelbrett, Staubsauger …
»Das nennt man Hauswirtschaftsraum«, sagt die Führerin, die ihr gefolgt ist. »Aber das Schlimmste kommt noch«, sie seufzt und führt Aphrodite ins Kinderzimmer. Dort steht ein Etagenbett, und auf dem Fußboden liegt jede Menge Kram. »Sie sind gerade in der Schule«, erklärt die Führerin.
Aphrodite setzt sich auf das untere Bett und lässt den Kopf auf die Knie sinken. Sie fragt die Frau, ob es einen Ausweg aus alldem gibt. Die Frau antwortet, man habe gelegentlich etwas in der Art gehört, doch es sei das Beste, alle Hoffnung fahren zu lassen.
»Aber du hast Nachbarn«, fügt sie nach einer langen Pause hinzu.
»Ja, so sieht es aus. Ist das gut?«
Die Frau fasst sie an der Hand und führt sie in den Garten hinter dem Haus. Er ist an zwei Seiten mit einem zwei Meter hohen Holzzaun abgegrenzt. An der dritten Seite steht eine niedrigere grüne Hecke. Sie stellen sich auf die Plastikstühle neben dem Bretterzaun. Die Frau zeigt in den Nachbargarten hinüber, in dem auf Sonnenstühlen ein schöner junger Mann und eine – zumindest aus der Nähe betrachtet – erheblich ältere Frau liegen.
»Adonis! Und Persephone! Die wohnt also auch hier. Ich dachte, sie besitzt das ganze Reich.«
Die Führerin lacht auf und erklärt, dass Persephone nicht den ganzen Tod, aber immerhin das Gebiet der Götter und Dichter besitzt. Sie ist die Vermieterin. »Also steh dich gut mit ihr.«
Aphrodite setzt sich auf den Stuhl, stützt die Arme auf die Knie und schaut in die Ferne, wo nur eine flache Ebene zu sehen ist, auf der ebenfalls lauter gleichartige Reihenhäuser stehen. Umgeben von einem schwarzen, steinigen Acker. Hier soll man also alle Hoffnung fahren lassen.
Aber ich gebe nicht auf, sagt sie sich.
Es klopft dreimal laut. Der Ehemann? Die Kinder? Etwas Schlimmeres?
Zögernd öffnet Aphrodite die Tür.
Davor steht Persephone in ihrer ganzen, hundertsechzig Zentimeter großen Gestalt, der die Stilettos und der Hut allerdings mindestens sechzehn Zentimeter hinzufügen. Sie trägt eine kleine, enge Jacke und ein wadenlanges, getüpfeltes rotes Kleid. Die schwarzen Haare sind so präzise gekämmt, dass sie eher einer Kopfbedeckung gleichen als einer Frisur, und als Krönung thront darauf ein kleiner Topfhut, aus dem ein steifer schwarzer Schleier ragt. Ihre Lippen formen ein tiefrotes Lächeln, das man irrtümlich für herzlich halten könnte. Doch Aphrodite weiß, dass sich hinter dem Lächeln Eis verbirgt. Tiefes, schwarzes Herzeis.
»Hallo«, sagt Aphrodite lächelnd.
Persephone erwidert den Gruß. Sie tauschen Wangenküsse aus, bei denen ihre Lippen das Gesicht der anderen nicht berühren.
»Wie schön, dich zu sehen!«, ruft Persephone.
Sie sagt, sie sei gekommen, um ihre Freundin und Kollegin willkommen zu heißen. »In meinem Reich!« Dann mustert sie Aphrodite von Kopf bis Fuß und legt besorgt einen Finger an die Wange. »Oje, wie schrecklich.«
»Was?«
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du noch nicht fertig angezogen bist.«
»Bin ich doch.«
Persephone legt die schmalen behandschuhten Finger an die Lippen und zieht die Augenbrauen hoch. »Wie peinlich!«, kreischt sie. »Ich dachte, das wäre Unterwäsche!«
Persephones Stirn bleibt glatt, obwohl bei dieser Miene Falten erscheinen müssten. Botox.
»Wirklich?« Aphrodite kichert schrill.
Hahaha, beide lachen, bis Persephone eine herablassende Miene aufsetzt. Sie erklärt Aphrodite, in diesem Gebiet seien alle Frauen verpflichtet, sich züchtig und feminin zu kleiden. »So wie ich.« Dann legt sie den Kopf schräg und streichelt ihre Pelzstola.
Aphrodite starrt auf das tote Tier, dessen ganzer Körper samt Kopf und Pfoten zum Accessoire degradiert worden ist. »Man hat mir gesagt, hier gäbe es keine Tiere.«
»Aahahahaa«, lacht Persephone sinnlich, wobei all ihre Zähne zu sehen sind. Sie erinnert Aphrodite daran, dass sie alles bekommt, was sie will. Sie hat immer alles bekommen, was sie wollte.
»Ja, natürlich.«
Hahaha, wieder lachen beide.
»Zum Beispiel alle Männer«, fügt Persephone an.
»Hm.«
»Zum Beispiel deinen Freund.«
»Er ist nicht mehr mein Freund.«
»Dabei wollte ich ihn gar nicht, er ist einfach aufgetaucht.«
Aphrodite antwortet nicht, sie verzieht den Mund nur zu einem immer süßlicheren Lächeln. Allmählich tun ihr die Wangen weh: Sie spürt ihre Gesichtsmuskeln, das ist widerlich.
»Ja, aber ich war ja noch so schrecklich jung, ein kleines Mädchen. Mutter sagte, geh nicht mit ihm. Und das hätte ich auch nicht getan, er war ja so erbärmlich. Aber er wollte nicht aufgeben! Du warst doch damals schwanger von ihm?«
»Das war dann wohl kurz vor dieser SCHRECKLICH UNANGENEHMEN GESCHICHTE«, erwidert Aphrodite.
Persephones Miene spannt sich an. Sie spricht nie darüber, wie sie zur Königin der Unterwelt gemacht wurde. Nie. Aphrodite lächelt und streicht ihre Stirnfransen zurecht.
»Eigentlich bin ich gekommen, um die erste Miete zu kassieren«, erklärt Persephone kühl.
»Was?«
Aphrodite weiß nicht, was eine Miete ist, wie sie auch nicht weiß, was eine Steuererklärung, eine Telefonrechnung oder ein Stromvertrag sind. Persephone lacht wieder ihr Zahnpastalächeln und sagt, Aphrodite werde im Tod vielen wunderlichen Dingen begegnen: »Wir sind hier, um zu lernen.«
Dann mustert sie Aphrodite abschätzig.
»Deine Sachen taugen hier nicht.«
Sie reicht Aphrodite ein pfefferminzgrünes Kleid mit einer großen Schleife über dem Hintern. Aphrodite hält sich das Kleid vor und zieht eine Grimasse, als sähe sie eine verwesende Leiche. »Iiih«, macht sie.
Persephone spitzt den Mund und zieht die dunklen Augenbrauen hoch. Dabei entsteht nicht die kleinste Falte auf ihrer Stirn. Die blöde Kuh ist vollgespritzt mit Gift!
»Zieh es an«, sagt Persephone, ohne zu lächeln.
»Ja«, antwortet Aphrodite. Ohne zu lächeln.
Dann lächeln beide wieder so strahlend, dass sie ihr Gesicht schmerzt. Aphrodite faltet das Kleid über dem Arm.
»Und noch etwas. Entschuldige, aber ich muss es dir sagen: Deine Frisur sieht echt billig aus.« Persephone reicht Aphrodite die Visitenkarte ihres Friseurs: »Den möchte ich dir dringend empfehlen.«
Eine Weile stehen sie stumm voreinander. Dann winkt Persephone mit ihrer kleinen Hand und trippelt davon.
Aphrodite bleibt an der Tür stehen, sieht ihr nach und erkennt etwas, das alle früher oder später begreifen sollten: »Vintage« und »gut aussehend« sind keine Synonyme.
Aphrodite steht mit hochgerecktem Hintern am Bretterzaun und späht durch eine Ritze in den Nachbargarten.
Persephone hat sich auf einem Liegestuhl ausgestreckt, eine große Sonnenbrille im Gesicht. Sie nimmt ein Sonnenbad. Nur die Sonne fehlt. Kein Wunder, dass ihre Haut so blass ist. Sie lächelt süßlich wie immer. Adonis ruht phlegmatisch neben ihr, sieht allerdings nicht restlos unzufrieden aus. Er ist bestimmt unter Drogen gesetzt worden. Oder verhext!
Da fällt Aphrodite etwas ein. Sie fixiert die Lenden des jungen Mannes. Ein geräuschvoller Seufzer entschlüpft ihren Lippen. Persephone dreht den Kopf so schnell zum Zaun, dass ihr das Genick brechen würde, wenn sie sterblich wäre. Sie nimmt die Sonnenbrille ab, damit die theatralische Strenge ihres Blicks zu sehen ist. Aphrodite merkt, dass die strenge Miene nur durch das Gesicht erzeugt wird, nicht durch die Augen: Persephones Augen sind völlig leblos. Adonis blickt träge in die Richtung, aus der das Geräusch kam, sieht aber nichts.
Tatsache ist, dass Adonis einen Plastikpenis umgeschnallt hat. Und der ist, nebenbei bemerkt, größer als der, den Aphrodite während ihrer glücklichen gemeinsamen Woche spüren durfte. Andererseits: Die Liebeskünste dieses Mannes wären stärker beeinträchtigt worden, wenn man ihm die Hände abgehackt hätte. Herrliche Hände, mmm … Aphrodite wickelt eine Haarsträhne um den Finger und lächelt. Ares hat wirklich nichts begriffen.
»Was macht mein Frauchen denn da?«
Erneut muss Aphrodite feststellen, dass die Toten sich wirklich geräuschlos bewegen. Ihr Ehemann hat sich ganz und gar unbemerkt hinter sie geschlichen. Er sieht nach nichts aus. Ein Niemand. Selbst wenn man ihn noch so lange anschauen würde, würde man sich nach ein paar Minuten nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Es lohnt sich also nicht, auch nur ein Wort über sein Aussehen zu verlieren, mir ist es bereits entfallen.
»Nichts«, antwortet Aphrodite leichthin.
»Irgendetwas Außergewöhnliches hast du doch getrieben.«
»Sprich nicht so laut, Sklave.«
»Ich bin das Familienoberhaupt und dein geistiger Führer, denn ich habe einen Penis.«
Der Mann hat absolut keinen Sinn für Humor.
»Du hast einen Penis, also bist du mein Sklave.« Aphrodite lächelt gewinnend.
»Ich bin dir nicht böse. Ich möchte lediglich, dass du deine Persönlichkeit verlierst«, antwortet der Ehemann.
Ätzend, diese Humorlosigkeit!
»Ich habe mir den Nachbarn angesehen.«
»Wenn du so etwas sagst, muss ich anfangen, dich regelmäßig zu verprügeln.«
Aphrodite verzichtet auf einen Kommentar. Sie setzt sich auf die Terrasse und zieht ihre hellgrüne Strickjacke enger um sich. Über den Brüsten lässt sich die Jacke nicht schließen, was nur gut ist, denn ihr Busen soll zu sehen sein.
Der Ehemann tritt zu ihr und klopft ihr auf den Scheitel. »Sei nicht traurig, du hast eine ganze Ewigkeit, um zu lernen, wie ein Weibchen sich zu benehmen hat. Aber denk daran, dass ich dich gewarnt habe.«
Im Tod steht die Respektierung der Traditionen im Mittelpunkt, denn dort ist es nicht mehr möglich, sich etwas Neues auszudenken. Also lädt man Bekannte zum Essen ein und zeigt ihnen Urlaubsfotos oder so etwas.
Aphrodite und ihr Mann haben Aphrodites Führerin und deren Gatten eingeladen.
»Wer zum Teufel seid ihr?«, fragt Aphrodite, als die Gäste eintreffen.
»Ahahaha«, lacht die Führerin und küsst sie auf beide Wangen.
Sie hat eine Perücke aufgesetzt und trägt ein ähnliches Kleid wie Aphrodite.
»Dies ist mein lieber Ehemann«, sie weist neben sich.
Der Mann hat keinerlei besondere Merkmale. Wie in Schwarz-Weiß-Filmen, stellt Aphrodite fest. Alle Männer sehen gleich aus. Die Führerin flüstert Aphrodite ins Ohr, so sei der Tod, im Leben habe sie gar nichts für Männer übriggehabt, doch jetzt habe sie sich an die ehelichen Verrichtungen gewöhnen müssen. Und man gewöhne sich tatsächlich daran. Man gewöhnt sich an alles, wenn es sein muss. Aphrodite fragt, ob auch das Teil der Strafe sei. Die Führerin antwortet, nein, es sei nur ein Ausgleich: Wenn man auf die eine Weise lebt, stirbt man auf die andere.
»Jetzt spielen wir ein lustiges Gesellschaftsspiel«, erklärt Aphrodites Mann.
»Wollen wir uns nicht lieber tierisch besaufen?«, schlägt Aphrodite vor.
Alle sehen sie an, auch die beiden Kinder, die auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzen. Sie haben die angenehme Eigenschaft, sich kaum bemerkbar zu machen. Der Mann zieht Aphrodite ins Schlafzimmer und ohrfeigt sie so kräftig, dass sie hinfällt.
»Du bist schon einmal gewarnt worden«, schnauft er. »Wenn du mir noch ein einziges Mal Schande machst, muss ich dir sämtliche Knochen im Gesicht zerschlagen.«
Also spielen sie ein lustiges Gesellschaftsspiel. Die Regeln schreiben vor, dass nur Männer die richtigen Antworten geben dürfen. Aphrodite und die Führerin müssen schweigen oder absolut lächerliche, dumme und falsche Antworten bieten. Mitten im Spiel steht Aphrodite auf und sagt, es tue ihr sehr leid, aber sie müsse den Kuchen in den Ofen schieben. Sie bittet die Führerin mitzukommen, denn mit der Aufgabe, einen Kuchen in den Ofen zu schieben, sei eine einzelne Frau überfordert.
»Scheißverdammtekacke«, flucht Aphrodite in der Küche. Sie schaltet die Mikrowelle ein, damit ihre Worte im Wohnzimmer nicht zu hören sind. Die Führerin nimmt die Perücke ab, das Ding sei verflucht schweißtreibend, erklärt sie.
»Wie kommt man hier raus?!«
»Glaubst du, dass du im Leben vermisst wirst?«
»Natürlich.«
»So sehr, dass man dich zurückwünscht?«
»Natürlich …«
»Von wem?«
Aphrodite überlegt. Na, mindestens von dem und dem und dem. Also, eigentlich auch von vielen anderen, aber ihr fallen die Namen gerade nicht ein.
»Es reicht natürlich nicht, vermisst zu werden.«
»Das reicht nicht?«
»Wenn man deinen Tod als wichtig und bedeutsam empfindet, bleibst du leider hier. So ist es mir auch ergangen. Man muss eben versuchen, den Aufenthalt hier sinnvoll zu gestalten.«
Aphrodite schaltet die Mikrowelle aus. Pim! Es ist ein altmodisches Gerät. Sie legt eine Handvoll Gabeln hinein und schaltet es wieder an. Verschwörerisch lächelnd setzt die Führerin ihre Perücke auf und dreht den Gasherd an.
Sie verlassen das Haus in dem Moment, als die Küche und gleich darauf die ganze Wohnung in Flammen aufgehen.
»Glaubst du, dass sie da rauskommen?«, fragt Aphrodite im Garten. Oder nein, sie fragt nicht, es klingt eher wie ein Witz. Sie kichert und wirft ihr Haar zurück.
»An sich sind sie ja schon tot.«
»Also kann ihnen nichts wirklich Schreckliches mehr passieren.«
Persephone sieht die Flammen von ihrem Fenster aus und stürmt so schnell nach draußen, wie es sich für eine feine Dame so eben noch schickt. Adonis steht träge an der Haustür. Er hat einen seidenen Morgenmantel an.
Dann
Er sieht Aphrodite an! Aphrodite sieht ihn an! Ihre Augen füllen sich mit Liebe. In ihren Blicken wogen die türkisen Wellen des Mittelmeers und schimmern die Nächte und Tage, in denen sie zu einem Fleisch verschmolzen, zu einem verschwitzten, stöhnenden Tier.
Persephone schlägt mit der Hand auf die Wellen, und sie schwappen auf die Erde, sind nur noch eine alberne, schlammige Pfütze. Sie befiehlt Adonis, nach drinnen zu gehen, »damit du dich nicht verkühlst«.
»Aber das Feuer?«, fragt Adonis.
Persephone wirft mit dem Feuerlöscher nach ihrem Freund, der folgsam ins Haus schlüpft.
»Wo ist dein Mann?«, fragt sie Aphrodite.
»Leider da drinnen.« Das Haus brennt lichterloh, im Innern heulen die verlorenen Seelen. »Wie tragisch«, seufzt Aphrodite.
Die Führerin fragt Persephone, ob den Männern denn etwas passieren könne: Sie sind doch schon tot. Barsch stellt Persephone den Sachverhalt richtig. Die Männer sind nicht tot, denn sie haben nie gelebt. Sie sind eine Art programmierte Dämonen oder wie man sie nun nennen will. »Manche halten sie für Engel, andere für Humanoiden.«
»Ihr bekommt neue«, verspricht Persephone.
»Bis dahin sollte die Göttin wohl bei mir wohnen. Schließlich bin ich ihre Führerin.«
Persephone verzieht den Mund, erhebt jedoch keine Einwände. Sie hat die Angewohnheit, ihre Feindinnen in der Nähe zu halten, aber eigentlich erscheint es ihr nicht mehr wirklich wünschenswert, Aphrodite als Nachbarin zu haben.
Als die beiden Frauen gegangen sind, füllt Persephone ihre Lungen mit einer Unmenge Luft und bläst sie als arktischen Wind in das Flammenmeer. Das Feuer erlischt, nur eine schwarze, von Eiskristallen überzogene Ruine bleibt zurück. Persephone wirft einen Blick auf die erleuchteten Fenster ihres Hauses und wischt sich mit einem bestickten Taschentuch einen Eiszapfen aus dem Mundwinkel.
Aphrodite zieht bei der stoppelhaarigen Knabemannmädchenfrau ein. Und sie laufen tagelang nur im Slip im Haus herum, denn die Kleider zwicken einfach entsetzlich und sind unnatürlich schwer.
Es waren einmal, vor langer, langer Zeit, eine Zweierbeziehung und der Plan, zusammenzuziehen. Diesen Plan schmiedeten Aphrodite und der stattliche Kriegsgott. Und er schloss einen dritten Beteiligten mit ein, der jedoch an dem bewussten Tag noch gar nicht existierte, sondern erst am Ende des Tages.
»Wir bekommen ein Baby«, sagte Aphrodite. Und Ares stemmte sie auf seinen bemerkenswert muskulösen Armen hoch. Aphrodite kicherte und schlang ihre goldbraunen Beine um seinen Leib.
Doch dann geschah etwas Unerwartetes.
Ares joggte jeden Morgen zehn Kilometer, immer exakt dieselbe Runde. Und er ahnte nicht, dass vom Fenster eines hohen Hauses und später vom üppigen Garten des Hauses und schließlich vom Kirschgarten am Wegrand aus ihn schon seit Langem ein dunkles Augenpaar beobachtete, dessen Besitzerin Backfischträumen nachhing: Irgendwann würde der Läufer sie bemerken.
Und dann, eines Morgens, auf der Höhe des von Morgentau benetzten Kirschgartens, wandte der Mann den Blick.
Er wandte endlich den Blick!
Und sah ein wunderschönes junges Mädchen am Fuß der aufblühenden Bäume, scheu, aber verführerisch.
Ares blieb auf dem Weg stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war selten verblüfft, doch selbst in so einer Situation gelang es ihm noch, stattlich auszusehen. Zumindest seiner Meinung nach. Er näherte sich dem Mädchen. In welcher Absicht? Na, gewiss nicht in unsittlicher. Aber er hätte diese Jungfrau schon brennend gern gevögelt.
Bevor er in Reichweite kam, stürmte eine riesige goldene Stute auf ihn zu und schleuderte ihn meterweit fort.
Die Stute verwandelte sich in eine Frau, die heftig auf das Mädchen einredete, es am Arm packte und aus dem Kirschgarten zog.
Aber Ares folgte der Frau und dem Mädchen und fand nicht mehr dahin zurück, woher er gekommen war.
»Zieh Leine, Perversling!«, rief Demeter, die Mutter des Mädchens, dem im Garten patrouillierenden Ares jeden Morgen als Erstes und jeden Abend als Letztes zu. »Sie ist erst zwölf.«
»Aber sie ist schon fast erwachsen, das siehst du doch!«, jammerte Ares.
Und er antwortete nicht mehr auf Aphrodites SMS, in denen sie fragte, wie wollen wir unsere neue Wohnung einrichten und wie soll unser Baby heißen? Denn ein gemeinsames Zuhause würde es nie geben.
Ganz allein brachte Aphrodite ein Mädchen zur Welt, das sie zärtlich Nemesis nannte.
Als Alleinerziehende geriet Aphrodite ins Elend. Sie musste mit ihrem Baby in immer kleinere und billigere Wohnungen ziehen. Sie konnte es sich nicht leisten, Nemesis modische Kleidung und schönes Spielzeug zu kaufen. »Auch das verdanken wir deinem Vater und der Schlampe, die ihn uns weggenommen hat«, sagte Aphrodite oft, wenn das Dach leckte, die Schuhe zu klein geworden waren oder der Fernseher kaputtging.
Vielleicht war es die karge Kindheit, die Nemesis so frühreif machte. Schon als Zweijährige hielt sie sich für alt genug, zur Armee zu gehen, denn das war die beste Alternative für Kinder aus armen Familien. Noch beim Abschied erinnerte die Mutter ihre Tochter daran, dass alles ganz anders hätte kommen können: Nemesis hätte eine gute Schule besuchen sollen, doch das war nicht möglich, und zwar nur wegen der scheiß Persephone.
Nemesis sagte: »Mutter, du hast so viel durchmachen müssen.«
Doch das galt auch für sie.
Sie warf ihr langes dunkles Haar zurück, strich sich die dichten Fransen aus der Stirn und zog in den Kampf.
Rasch wuchs sie zu einer hervorragenden Kriegerin heran. Häufig schob sie das Tor zum Tod auf, und einmal geschah es, dass sie eine ganze Legion Männer in den Tod schickte, weil die nicht hatten glauben wollen, dass ein etwas molliges, komisch aussehendes Mädchen sie abschlachten könnte. Aber das Mädchen schlachtete sie ab.
Die Soldaten marschierten reihenweise in den Tod, und der König des Totenreichs überwachte den Einmarsch auf seiner Seite der Grenze. Dabei warf er zufällig einen Blick auf diejenige, die diese Männer von den Fesseln des Lebens befreit hatte.
Und er fand es unglaublich sexy, dass ein junges Mädchen eine große Waffe trug. Er trat auf die Seite des Lebens und sagte zu Nemesis: »Du bist das Schärfste, was mir seit Langem zu Gesicht gekommen ist.«
»Ich bin das Schärfste?«, gab Nemesis zurück, die einiges gewöhnt war, und wehrte die zudringlichen Hände des Königs mit dem Bajonett ab.
»Jaa«, keuchte König Hades mit rotem Gesicht.
»Na, dann kennst du Persephone wohl noch nicht?«
»Nein.«
»Sie ist nämlich das heißeste Mädchen aller Zeiten.«
»Tatsächlich?«
»Ja, und außerdem hat sie gesagt, dass sie für untersetzte, halb kahle Männer mittleren Alters schwärmt. Du bist genau ihr Typ.«
»Wirklich?«
»Absolut.«
Nemesis beschrieb Hades den Weg zu Persephones Haus. Und Hades zögerte keine Sekunde.
Als er sich Persephones Haus näherte, welkten und verdorrten alle Pflanzen, die kultivierten wie die wilden, und Persephones Mutter, die göttliche Hüterin all dieser Gewächse, war vollauf damit beschäftigt, sie zu retten. Deshalb war sie nicht da, als Hades ins Haus eindrang, seine Finger im zarten Fleisch der jungen Persephone vergrub und sie ins Reich des Todes verschleppte, bevor sich das Tor hinter dem letzten Toten der Legion schloss.
Aber was dann zwischen ihnen geschah, das wissen nur Persephone und Hades selbst.