11.
ALL I WANNA DO
IS: (BANG BANG BANG BANG)
AND: (KKKAAAA CHING)
AND TAKE YOUR MONEY.
ISRA UND IHRE MUTTER WOHNTEN in der Nähe des Waldes Himmapan in einem hübschen modernen Haus. Beim Spielen im Wald hörte Isra eines Tages ein leises Klagen. Sie hatte keine Angst, weil ihr nie etwas Beängstigendes passiert war. Also ging Isra auf das Geräusch zu und fand ein Tier, das mit dem Hinterlauf in eine Eisenfalle geraten war. Es war gehörnt, und auf seiner Haut wuchsen Schuppen. Es erinnerte an einen Stier. Aber auch ein wenig an einen Löwen. Und groß war es, vielleicht so groß wie Isras Haus.
Isra berührte die trockene Schnauze des Tiers. Sie war ein starkes Mädchen, und es kostete sie wenig Mühe, das Fußeisen aufzubiegen. Das Tier kam frei, doch sein Bein war schwer verletzt.
Da ihre Mutter Ärztin war, wusste Isra einiges über die Heilkunst. Sie riss ein Blatt von einem Busch ab und strich seinen Saft auf die Wunde. Im Wald von Himmapan ist vieles größer und stärker als andernorts; das gilt auch für die Heilstoffe der Pflanzen.
Das Tier sah dem Mädchen in die Augen und hinkte dann fort, hinein in den tiefen Wald.
Auf dem Heimweg hörte Isra das Motorengeräusch eines großen Wagens. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich vor dem Fahrzeug zu verstecken. Der Lieferwagen hielt an, ein Mann stieg aus, den Isra nicht kannte. Sie grüßte ihn und wollte weitergehen. Doch der Mann schlug sie zu Boden. Er fesselte ihre Arme und schob sie in den rückwärtigen Teil des Lieferwagens, wo bereits einige andere Mädchen kauerten.
Sie wurden viele Nächte und viele Tage transportiert. Ihr Geschäft mussten sie in einen Eimer verrichten, der einmal täglich geleert wurde.
In einer fremden Stadt wurden die Mädchen in ein Haus gebracht, wo man sie schlug und beschimpfte. Wenn sie weinten oder baten, nach Hause zu dürfen, oder überhaupt um irgendetwas baten, wurden sie noch heftiger geschlagen und beschimpft. Sie bekamen schlechtes Essen, und als Toilette diente ihnen immer noch der Eimer.
Phueng, eins der größeren Mädchen, schlug einmal zurück und versuchte zu fliehen. Daraufhin kippten die Wärter den Fäkalieneimer aus und zwangen sie, alles aufzuessen, was darin gewesen war. Phueng sagte, das sei die beste Mahlzeit, die sie in diesem Haus bekommen hatte.
Sie verbrachten vielleicht eine Woche, vielleicht einen Monat in dem Haus. Dann durften sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit waschen. Man klebte ihnen neue Fingernägel an und schnitt ihnen modische Frisuren. Ihre alten Kleider wurden weggeworfen, und stattdessen bekamen sie neue, sehr kurze, glänzende Kleider, die nur wenig verhüllten. Man lehrte sie, sich zu schminken. Unter Phuengs Anleitung spielten sie MTV, wenn die Erwachsenen nicht dabei waren.
Dann begann die Arbeit.
Isras erstes Mal war nicht so schrecklich wie bei vielen anderen. Wie bei Phueng beispielsweise. Aber Phuengs rotgesichtiger Liebhaber kam auch nicht ganz unversehrt davon.
In aller Welt dachten die Menschen, das sei nun mal ein Phänomen, das zur thailändischen Kultur gehört. Daran kann man nichts ändern. Und in Thailand lächeln die Einheimischen doch ständig und wollen zu Diensten sein. Auch die kleinen Mädchen! Außerdem, wenn sie nicht im Bordell arbeiten würden, müssten sie bestimmt im Elend leben. Viele schlechte Alternativen. Und mancher Tourist, der sich in einem ganz normalen Freudenhaus wähnte, besann sich doch ganz gewiss beim Anblick eines Kindes und gab der Kleinen fünf oder zehn oder hundert Dollar ohne jeden Gegendienst und schwor sich, nie wiederzukommen. Bestimmt taten das viele. Und natürlich war niemand nur in dieses exotische Land gekommen, weil er sich hier mehr erlauben konnte als zu Hause. Also seid still und lasst uns die Affen bestaunen.
Isra und ihre jungen Kolleginnen mussten bald feststellen, dass ein Mensch von außen noch so weiß sein konnte und innerlich dennoch aus nichts als Scheiße bestand.
Sie hätten für den Rest ihres Lebens im Bordell bleiben müssen, also so lange, bis sie ein nutzloses Alter erreicht haben würden und jemand sie erwürgte oder erschlug. Doch sie entschieden sich anders.
Vielleicht lag es an der in ein goldenes Kleid gehüllten, schönen, katzenäugigen blonden Frau, die vom Balkon des gegenüberliegenden Hotels direkt in ihr vergittertes Fensterchen blickte. Sie sagte in der Sprache der Mädchen »Kämpft« und dann »Rrrevolüsioon«, enthüllte ihre Brust und schwenkte eine schwarze Fahne.
Oder vielleicht lag es an etwas anderem. Doch plötzlich spürten sie, dass ihr Leben und ihr Leid tatsächlich existierten und dass die Minderwertigkeit ihres Geschlechts vielleicht doch keine objektive Tatsache war.
Und als würde ein in Zeitlupe laufender Film plötzlich zur normalen Geschwindigkeit zurückkehren, wussten sie nun, dass sie fliehen mussten. Wenn sie sich nicht selbst retteten, würde es niemand tun.
Die dreizehn kleinen Mädchen, die in dem kleinen Bordell lebten, schmiedeten einen Plan. Sie warteten auf den passenden Freier. Als er kam, nahm Phueng ihn in ihre Obhut. Unterdessen vergifteten die anderen die Bordellmutter und machten den Laden dicht. Dann versteckten sie sich im Koffer des Sextouristen und verließen das Land, Phueng in der Tüte mit dem zollfreien Schnaps.
Danach veränderten sie sich, wie sich Larven verändern, wenn sie ihren Kokon durchbrechen.
Aphrodite steht während des Fluges unter Narkose, Milla dagegen darf kein Schlafmittel nehmen. Ihr ist vom Start an übel. Sie schreit, die Geburt setzt ein, jetzt setzt die Geburt ein. Die Stewardessen und die Mitreisenden sind entsetzt und zum Schluss auch ziemlich wütend, denn trotz ihres Geblökes kommt kein Kind.
Die kleine Isra benimmt sich im Flugzeug wie ein Engel. Wie ein schwarzer, fliegenflügeliger Engel, aber immerhin! Nur ein einziges Mal spuckt sie einen Schwall Tinte aus, und auch nur deshalb, weil man sie neben eine Gruppe männlicher Touristen setzen wollte. Isras Tat bringt den Männern Plätze in der ersten Klasse ein, als Entschädigung.
Die anderen Fliegenflügeligen sind in Finnland geblieben, nur Isra wollte Milla und Aphrodite begleiten. Niemand versteht, weshalb sie sich von dem Schwarm trennen und in das Land zurückkehren wollte, in dem man ihr so übel mitgespielt hat. Vielleicht ist sie nur ein ungewöhnlich gutmütiges und vergebendes Mädchen.
Bangkok, Stadt der Engel, sechs Millionen Einwohner.
Sie treffen in der Hauptstadt Thailands ein. Die Lufttemperatur beträgt dreißig Grad, in den Häusern ist es vielleicht noch wärmer. Von der feuchten Hitze, der Schwangerschaft, den Menschenmassen und dem hellen Licht überall wird Milla ganz schwindlig. »Ich halte das nicht aus.«
Aphrodite spritzt Milla Sonnencreme ins Gesicht. Manchmal tun ihr die Finnen, für die fast jedes Wetter schrecklich ist, ein wenig leid.
Sie verbringen die erste Nacht im Hotel. Aphrodite gönnt sich eine Maniküre. Isra beobachtet den Vorgang schreiend und fauchend, bis Milla mit ihr nach draußen geht, zum Swimmingpool. Dort starren alle auf Millas Bauch, aber sie ist daran gewöhnt, angestarrt zu werden. Sie ermuntert Isra, in das warme Wasser zu springen. Isra sinkt wie ein Stein auf den Grund. Als sie wieder hochkommt, spuckt sie schwarzen Schlamm ins Becken, und sie werden gebeten, den Poolbereich zu verlassen. Die restliche Zeit verbringen Isra und Milla im Hotelzimmer, wo sie die Klimaanlage und die exotischen Früchte genießen, die Milla noch nie gesehen hat, nicht einmal im Katalog von Stockmann.
Am nächsten Morgen fahren sie mit dem Bus nach Pattaya. Isra ist total aufgeregt. Im Bus läuft sie nach vorn und presst Gesicht und Handflächen an die Windschutzscheibe. Der Fremdenführer bittet die Sorgeberechtigten, das Kind sofort auf seinen Platz zu holen.
Pattaya ist wie ein Gemälde von Bosch.
Isra gleicht einem Hündchen, das ständig vorwärtszerrt. Sie fliegt auf, wagt aber nicht, die Frauen allzu weit hinter sich zu lassen. Sie faucht. Zischt. Knurrt. Quakt. Knackt.
Dann hält sie an. Bevor Milla oder Aphrodite eingreifen können, geht sie mit den Fäusten auf einen Touristen los, der sich gerade eine Zigarette anzündet, und entreißt ihm das Feuerzeug.
Hierher musste sie zurück. Dies ist das Ziel. Das Bild am Fenster des kleinen Freudenhauses zeigt zwei kniende Nymphen, die die Köpfe senken und deren Körper ein Herz formen. Isra schwingt sich in die Lüfte. Sie stürzt sich gegen das Fenster, bis die Scheibe zersplittert. Dann spuckt sie einen schwarzen Schwall durch das zerbrochene Fenster, schleudert Feuer hinterher und das Haus flammt auf, wuhhhh.
Isra fliegt über den Flammen und versprüht auch auf die umliegenden Häuser dieses schwarze Zeug, was ist das, ist es Öl? Ja, es ist Öl, stellt Milla fest. Die Menschen drängeln, Panik kommt auf. Scooter stoßen zusammen, aus den Gassen traben Hunde herbei, in den Straßenküchen kippen die Töpfe um. Pattaya ist plötzlich ein wogendes Flammenmeer.
»Komm raus da, verdammtes Schätzchen«, ruft Milla, doch Isra fliegt nur immer tiefer hinein. »Tu doch was!«, schreit Milla nun, und Aphrodite verwandelt sich in eine riesige Flugeidechse. »Scheiße!« Milla springt auf den Rücken der Aphrodite-Eidechse, und sie tauchen in die Flammen.
Die Hitze ist entsetzlich. Milla denkt an ihr Baby. Kann der Fötus traumatisiert werden? Kann der Fötus Brandwunden davontragen? Ist er noch ein Fötus, wenn er voll entwickelt ist? Oder ist er schon ein Baby?
Sie sehen, wie Isra sich immer näher an die Flammen heranwagt. Jetzt fliegt das Mädchen auf eine brennende Mauer zu. Milla schreit, sie befiehlt Isra, anzuhalten, doch ihre Stimme geht im Lärm unter.
Die Aphrodite-Eidechse forciert das Tempo, bleibt für den Bruchteil einer Sekunde in unnatürlich senkrechter Position in der Luft stehen und packt das kleine Mädchen mit ihren Klauen. Isra zappelt und schlägt um sich, aber Aphrodite hat sie fest im Griff und ist außerdem viel größer: Flügelspannweite zwölf Meter, während sie bei Isra vielleicht einen Meter oder anderthalb misst.
Sie lassen die zerstörte Stadt hinter sich und fliegen davon.
»Such mal die Adresse heraus«, fordert Aphrodite mit Eidechsenstimme. Milla zieht den kleinen rosafarbenen, nach Jasmin duftenden Zettel aus ihrem BH, dessen Körbchengröße mittlerweile ihren persönlichen Rekord bricht. Dabei hat sie sich in jüngeren Jahren gegrämt, weil sie sich kein Implantat leisten konnte! Sie liest laut ab, was auf dem Zettel steht.
Unter ihnen erstrecken sich hohe Berge und ein großer Wald, der aussieht, als habe ihn nie ein Mensch mit seinen schweren Maschinen gerodet. Am Rand des Waldes liegt ein kleines Dorf. Dort landen sie.
Auf der Erde nimmt Aphrodite wieder menschliche Gestalt an. Das geht nicht so schnell, die Flügel wollen sich nach dem langen Flug nicht in Arme verwandeln, und die Knie sind nach hinten verdreht wie bei Natalie Portman.
Isra erhebt sich benommen, ihre Flügel sind nur noch versengte Stummel. Sie versucht aufzufliegen, fällt aber mit dem Gesicht auf die Erde. Milla hebt sie auf und umarmt sie.
Eine Frau kommt aus einem kleinen Haus. Sie nähert sich, langsam zuerst, dann beginnt sie zu rennen. Als Isra die Frau erblickt, reißt sie sich von Milla los und flieht wimmernd in den Wald.
Isra läuft, gerät beinahe ins Stolpern und springt über ein kleines Hindernis. Die Baumwurzeln werden immer dicker und knorriger, je weiter das kleine Wesen vordringt. Es ist, als ob es den Wald kennt, obwohl es in seinem Menschenleben nie so tief hineingelaufen ist.
Die Frau verfolgt es. Sie ist nicht so gewandt, hat aber längere Beine. Die Frau ist gut und wichtig, das kleine Wesen muss sie loswerden. Entsetzliche Scham treibt es an. Man hat es beschmiert, beschmutzt, besudelt. Es ist schlecht und dreckig.
Es läuft, springt, weicht aus. Sieht sich um. Die Frau fällt auf den Rücken. Sie ist gegen den unsichtbaren Zaun geprallt, der sie nicht auf diese Seite hinüberlässt.
Das Wesen schaut der Frau in die Augen, aus denen reines Wasser strömt. Dann dreht es sich um und läuft tiefer und immer weiter und für alle Zeiten in den Wald hinein.
Seine zerrissenen Insektenflügel und sein geschwärzter Körper. Seine versengten Haare. Seine Metamorphose. Es wird nie mehr zur Larve werden, die von den anderen geschützt oder verletzt wird.
Hier ist es allein. Dies ist der einzige Ort auf der Welt, wo es existieren kann.
Es kauert sich zwischen die Wurzeln eines tausendjährigen Baums und schläft sich die Qual, den Schmerz und die Trauer aus dem Leib.
Die Erde bebt wie der Fußboden in einem Nachtclub. Es erwacht, kauert sich ängstlich zusammen, verbirgt den Kopf unter den Armen. Dann herrscht plötzlich vollkommene Stille.
Nur ein Atem, schwer und warm, pustet ihm die Augen auf.
Das kleine Wesen ist anders als die großen, vielleicht hausgroßen Tiere, die ihren feuchten Atem auf seine Haut blasen. Es hat Arme und Beine, sie haben vier Beine. Es hat oder hatte Flügel, sie haben Hörner. Es hat keinen Schwanz, sie haben Löwenschwänze.
Sie nehmen es in ihr Rudel auf. Irgendwie wirken sie bekannt, doch diese Bekanntschaft liegt sehr weit zurück. Trotzdem hat es das Gefühl, dass sie es beschützen. Nicht, weil es klein und schwach ist, sondern weil es Schutz verdient.
Womöglich gebäre ich jetzt, denkt Milla. Da geht ihr plötzlich auf, wie unangenehm das sein wird. »Wie gebärt man?«, fragt sie Aphrodite.
Soweit Aphrodite sich erinnert, ist daran nichts Besonderes. Sie tröstet Milla, es gehe schnell und tue überhaupt nicht weh.
Die Frau kehrt aus dem Wald zurück, sie hat Schürfwunden im Gesicht und an den Händen. Sie weint und klagt, gestikuliert verzweifelt. Dann sieht sie Milla. »Ich bin Ärztin«, ruft sie und läuft zu den Frauen hin.
Sie sagt, sie heiße Devi, und dankt den Frauen dafür, dass sie ihre Tochter in die Heimat zurückgebracht haben. Denn wohin Isra auch gelaufen sein mag, dort muss es besser sein als da, woher sie gekommen ist.
»Sorgst du für eine sterile Umgebung?«, bittet sie Aphrodite und führt die beiden in ihr kleines Haus.
Die Geburt ist alles andere als leicht. Sie dauert zwölf Stunden und ist einfach grauenhaft. Devi muss Milla Morphium geben.
Endlich wird ein Junge geboren, viertausenddreihundertfünfundzwanzig Gramm.
»Ein Junge!?« Aphrodite hatte etwas anderes erwartet. »Aber es ist wohl auch ganz in Ordnung.«
Milla antwortet nicht, sie ist vom Morphium immer noch benommen. Die Ärztin näht ihren Dammriss.
Devi reicht Aphrodite die Plazenta und trägt ihr auf, sie möglichst weit wegzutragen und zu vergraben, tief in der Erde. Warum, fragt Aphrodite. Eigentlich möchte sie nicht nach draußen, denn dort ist es stockdunkel. Devi sagt, es muss aber sein.
Aphrodite geht nur ein kleines Stück vom Haus weg. Sie fürchtet, nicht mehr zurückzufinden, wenn sie sich zu weit entfernt. Sich immer wieder umschauend, gräbt sie mit den Zehen ein kleines Loch in den Sand, legt die Plazenta hinein und schiebt Kiessand darüber.
Nachdem sie sich umgedreht und etwa zehn Meter zurückgelegt hat, hört sie ein widerliches Geräusch in der Luft. Als ob wabbelnde nackte Schenkel gegeneinanderklatschen. Sie richtet ihre kleine Taschenlampe auf das Geräusch. Am Grab der Plazenta lässt sich gerade eine Frau nieder. Allerdings ist es gar keine Frau, sondern nur ein Kopf, an dem eine Reihe innerer Organe hängt: Luftröhre, Lunge, Magen, Därme, Gebärmutter, allerlei Gedöns.
Der Kopf hat lange Raffzähne. Er verschlingt die Plazenta, sein Mund ist mit Blut und Schleim beschmiert.
Aphrodite übergibt sich und läuft gleichzeitig zum Haus, sodass die Kotze auf ihre Hüfte, den einen Arm und die Beine fliegt. Zum Glück trägt sie nicht so schrecklich viel oder eigentlich überhaupt keine Kleidung.
Der Kopf verschlingt den Rest der Plazenta und fliegt Aphrodite nach.
»Was für ein widerliches Ding!!«, kreischt Aphrodite, als sie ins Haus rennt.
Devi erwartet sie an der Tür. »Kra-Sue«, sagt sie.
Das Wesen schreit gellend, seine Lunge füllt sich mit Luft und leert sich wieder. Es will ins Haus, dort ist ein Leckerbissen, nammm, mehr von der Sorte, ein ganzes Neugeborenes. Wenn Kra-Sue es verschlingen könnte, würde es in die Gebärmutter rutschen, und dann wäre es da, wo es hingehört.
Devi sieht Aphrodite tadelnd an. Aber Aphrodite konnte doch nicht wissen, was passiert, wenn man die Plazenta nicht weit genug wegbringt, verdammt!
Devi nimmt ein Skalpell und reckt es drohend. Sie spricht in ihrer eigenen Sprache mit dem Wesen. Aphrodite steht hinter Devi in der Türöffnung und hält einen Besen hoch. Devi erklärt, wenn Kra-Sue nicht sofort verschwinde, müsse sie ihr die Lunge aufschneiden. Das sei gar nicht angenehm. Das Wesen krächzt. Es versteht durchaus. Aber der Neugeborenengeruch ist so stark, dass es sich nicht zügeln kann. Es ist auf den Geschmack gekommen, es will einen frischen kleinen Menschen.
Wie eine blutige Rakete saust Kra-Sue an Devi vorbei ins Haus. Sie hält kurz an, wittert und eilt dann in das Zimmer, in dem Milla und das Baby liegen. Kra-Sue ist so gierig, dass sie dem kleinen Jungen als Erstes einige Zehen abbeißt, statt sich sofort auf die delikateren Teile, auf Arme, Bauch und Beine zu stürzen. Aphrodite stürmt in das Zimmer. Sie packt das Wesen am Gedärm und reißt den schreienden Kopf von dem Baby weg. Nachdem sie Kra-Sue auf den Boden gerollt hat, stellt sie sich auf ihren Magen und bohrt ihr den Besenstiel durchs Herz.
»Das hättest du nicht tun dürfen«, ruft Devi, die in dem Moment hereinkommt, als das Monster aufgespießt wird.
»Warum nicht?«
»Es war nur ein bemitleidenswertes Mädchen. So etwas hat es nicht verdient.«
»Es hat versucht, das Baby zu fressen, und zum Teil hat es das auch geschafft.«
Devi erwidert nichts, doch ihre Miene verrät, dass Aphrodite einen schweren Fehler gemacht hat. Sie verbindet den Fuß des kleinen Jungen, an dem die beiden äußersten Zehen fehlen, deckt das Baby und Milla zu, geht zu Bett und schläft mehr als vierundzwanzig Stunden lang.
Aphrodite schläft nicht. Sie trägt Kra-Sue hinaus, schließt ihr die Augen und legt eine rosa Anemone neben das Gesicht des Wesens. Sie bleibt sitzen und wartet auf die Sonne, die die Überreste des jungen Monsters zu Asche verbrennt.
Als der Tag angebrochen ist, putzt Aphrodite den Fußboden. Sie betrachtet das Baby und denkt über seine Zukunft in dieser Scheißwelt nach. Berührt den Fuß des Kindes, die Stelle, an der ihm nun ihretwegen Zehen fehlen. Aphrodite küsst den Fuß, und statt der fehlenden kleinen Zehen wachsen Vogelkrallen nach. Sie besieht sich, was sie zustande gebracht hat, und seufzt so schwer wie seit Jahrtausenden nicht. Das Beste, was die Göttin der Liebe und der Fruchtbarkeit im Moment tun kann, ist wohl, über das Baby zu wachen.
Auch daran scheitert sie. Sie schläft auf dem Stuhl ein, und das Erste, was das Baby beim Aufwachen sieht, sind Aphrodites fettige blonde Haare, die ihr Gesicht verhüllen wie ein schmutziger Vorhang.
Milla schreckt aus dem Schlaf hoch und weiß im ersten Moment nicht, ob die Wirklichkeit noch da ist oder woanders. Das Vogelgezwitscher, das von draußen hereindringt, bringt sie in die richtige Zeit und an den richtigen Ort zurück. Sie betrachtet ihren Bauch. Er ist immer noch groß. Ist das Kind doch nicht herausgekommen? Es muss gekommen sein. Bleibt der Bauch so? Muss sie trainieren wie verrückt, um ihn loszuwerden? Steckt ein zweites Kind darin? Man sagt doch, dass der Körper bei jungen Menschen schnell seine Form zurückgewinnt. Ist sie in dieser Hinsicht noch jung? Oder in ganz normalem Alter? Ist sie jetzt eine junge Mutter?
Sie hat in der vorigen Nacht einen neuen Menschen geboren. Eine Person, die früher nicht existierte und jetzt da ist.
Sie überlegt, wie das Baby wohl aussieht. Ob es niedlich oder verschrumpelt ist. Ob es große Augen hat oder einem alten Mann gleicht. Blau im Gesicht oder normal. Ist es überhaupt richtig weiß oder andersrassig?
Glatze oder lange Haare? Groß oder klein?
Mädchen oder Junge?
Gesund oder behindert?
Milla steht zu schnell auf. Der Schmerz wirft sie aufs Bett zurück. Sie spannt alle Muskeln an, verzieht das Gesicht und erhebt sich erneut. Ihr tut der ganze Körper weh, als wäre sie beim Body Pump gewesen. Sie schleicht an die Wiege, vor der Aphrodite in unbequemer Haltung schläft.
Milla zieht das Moskitonetz beiseite. Da liegt ihr kleines Baby. Na ja, so richtig klein ist es nicht, vielleicht so groß wie eine Katze. Es hat runde Wangen, einen großen Kopf und riesige violette Augen. Es ist definitiv das schönste Baby, das Milla je gesehen hat.
Und es ist ihres! Hihi! Nichts hat ihr jemals so sehr gehört.
Ihre Brüste wiegen sicher zehn Kilo. Also, normalerweise wiegen sie nicht so viel, falls da jemand falsche Vorstellungen hat. Sie nimmt das Baby in die Arme und kehrt mit ihm ins Bett zurück. Sie stillt es.
Aus ihren Brüsten kommt Milch!
Pfui Deibel!
Wie krankhaft!
Wie wundersam!
Aphrodite erwacht. Sie erschrickt, als sie die leere Wiege sieht. Milla winkt ihr vom Bett aus zu. Aphrodite betrachtet die Symbiose von Mutter und Kind. Der Anblick ist rührend, auch wenn sie die fleischliche Liebe zwischen zwei Erwachsenen immer auf den ersten Rang gesetzt hat.
»Wie soll es heißen?«, fragt Aphrodite.
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Dann musst du jetzt nachdenken.«
»Warum?«
»Wenn es überraschend stirbt, muss es sonst namenlos in den Tod gehen. Das ist ein entsetzliches Schicksal.«
»Morpheus.«
»Morpheus?«
»Wegen dem Morphium.«
»Okay. Das ist ganz okay.«