28

 

Nom Anor bewegte sich leise tiefer in den Wald oberhalb der Höhle. Die Frauen bemerkten ihn nicht. Aus diesem Winkel konnte er sie nicht sehen, aber er hatte das meiste von ihrem Gespräch gehört. Wenn er nur mehr davon verstanden hätte!

Was hatte Nen Yim gemeint, als sie sagte, sie habe die Lösung gefunden?

Dann kam die Gestalterin plötzlich in Sicht, ihren Qahsa in der Hand, und verschwand wieder zwischen den Stämmen des Tals.

Tahiri erschien nicht. Offenbar respektierte sie Nen Yims Bedürfnis nach Einsamkeit.

Einen Augenblick später schlich sich Non Anor zur Hügelkuppe hinauf und bewegte sich etwa fünfzig Meter in die Richtung, in der er Nen Yim vermutete, dann folgte er ihr den Hügel hinab.

 

Nen Yim sah die Bäume an, die sie umgaben, und versenkte sich in das Rascheln des Winds im Laub und das anhaltende Schnurren und Schwatzen der Tiere. Sie spürte, dass sich etwas in ihr entspannte, dass sie ihre Hemmungen und Vorurteile fallen ließ, und sah den lebenden Planeten endlich wirklich als lebend. Endlich fühlte sie sich selbst lebendig. So viele Jahre war sie die klassische Beobachterin gewesen. Selbst ihre Taten selbst die extremen Taten, die sie an diesen Ort gebracht hatten hatten im Dienst der Beobachtung gestanden. Und dennoch hatte sie sich selbst nie als Teil dessen betrachtet, was sie beobachtete, als Teil des großen Rätsels, das die Welt darstellte. Sie hatte immer draußen gestanden außerhalb ihres Volks, ihrer Kaste.

Aber nun fühlte sie sich, als stünde sie im Zentrum, und sie war … glücklich.

»So hätten wir immer sein sollen«, murmelte sie. »Zonama Sekot ist …«

»Störe ich Sie?«

Sie schrak aus ihren Gedanken auf, und dann lächelte sie. Es war der Prophet.

»Sie wussten es die ganze Zeit«, sagte sie. »Irgendwie haben Sie es immer gewusst.«

»Sie haben etwas entdeckt«, stellte der Prophet fest.

»Etwas Wunderbares«, erwiderte Nen Yim. »Ich kann kaum erwarten, es mit Ihnen allen zu teilen.«

»Geht es um unsere Erlösung?«, fragte er. Zu ihrer Überraschung glaubte sie, so etwas wie milden Sarkasmus in seiner Stimme zu hören.

»Ja«, versicherte sie ihm. »Und nicht nur für die Beschämten, sondern für uns alle. Aber es wird nicht einfach sein. Shimrra wird sich der Wahrheit widersetzen.«

»Sie fangen an, sich anzuhören wie ich«, sagte der Prophet.

»Das kann schon sein«, sagte sie. »Aber wenn Sie die Wahrheit erfahren …«

»Wahrheit ist vollkommen relativ«, verkündete der Prophet und kam ein wenig näher. »Und manchmal nicht einmal das.« Er griff nach seinem Gesicht.

»Warum nehmen Sie Ihre Maske ab?«

»Wenn das hier der Tag der Enthüllungen ist, dann sollten wir alle vor Zonama Sekot als das stehen, was wir wirklich sind. Aber Sie haben mich unterbrochen. Ich sprach von der Wahrheit. Meine Wahrheiten waren zum Beispiel alle sorgfältig erarbeitete Lügen.«

Seine Stimme war harscher geworden, als sich die Maske von seinem Gesicht löste. »Was soll das?«, fragte sie. Aber dann fiel die Maske und zeigte nicht das Gesicht eines Beschämten, sondern das vollkommen normale Gesicht eines Exekutors, nur dass eins seiner Augen …

Mit einem Keuchen riss sie ihre Gestalterhand hoch. Sofort flog der Peitschenstachel von ihrem Finger auf sein Gesicht zu, aber der angebliche Prophet war schneller, viel schneller, und riss den Arm hoch, sodass der Stachel ihn durchbohrte. Er keuchte, fletschte die Zähne und drehte rasch den Arm, wodurch sich der Peitschenstachel darumwickelte und sie ihn nicht wieder zurückziehen konnte.

Dann riss er sie auf sich zu. Sie sah, wie die Pupille seines Auges seltsam groß wurde, und dann spuckte es nach ihr.

Ein Plaeryin Bol, konnte sie gerade noch denken, bevor das Gift sie traf.

Ihre Muskeln verkrampften sich sofort, und sie spürte, wie ihr Herzschlag in ihren Ohren toste, als sie auf eine Weise zu Boden fiel, die ihr wie Zeitlupe vorkam. Die Geräusche des Waldes schienen lauter zu werden, und sie sah alles wie durch eine verzerrte Mica-Scheibe. Ihr Körper zuckte, bis sie auf dem Rücken lag, und sie sah, wie der Exekutor sich über sie beugte. Sie konnte seine Gesichtszüge allerdings nicht mehr erkennen.

»Kenne Sie …«, brachte sie heraus.

»Das ist sehr schmeichelhaft«, antwortete er. »Wir sind uns, wenn ich mich recht erinnere, nur ein einziges Mal begegnet.«

»Warum?« Ihre Lippen fühlten sich taub an, es war eine Qual zu sprechen, aber sie wusste, wenn er weiterreden würde, würden die Implantate in ihrem Körper Zeit haben, ein Gegengift zu dem Toxin zu bilden. Sie bemerkte, dass er den Stachel von seinem Arm gelöst hatte.

»Warum?«, wiederholte er, ging ein Stück weg und suchte offenbar nach etwas am Boden. »Ihnen bleibt nicht genug Zeit, als dass ich es erklären könnte, meine Liebe.«

»Aber Zonama Sekot. Ich … die Antwort.«

»Das ist mir vollkommen egal«, sagte der falsche Prophet. »Sie haben den Verstand verloren, Sie und Harrar. Welche Zukunft Sie sich hier auch immer vorstellen können, ich glaube nicht, dass sie mich interessieren würde. Ein Volk kann nur einen gewissen Teil seiner Kultur verändern, ehe es sich verliert.«

»Bereits … verloren.« Sie musste ihn dazu bringen, es zu verstehen. Die Yuuzhan Vong waren vom Weg abgekommen, lange bevor sie diese Galaxis betraten.

»Ich glaube wirklich nicht, dass das Ihre Entscheidung ist«, sagte der Prophet. Sie erinnerte sich plötzlich an seinen wahren Namen. Nom Anor. »Wenn ich mit Ihnen fertig bin«, fuhr er fort, »wird Zonama Sekot auch nicht mehr lange leben. Sie selbst haben mir Zugang zu Ihrem Qahsa gegeben, und ob Sie es glauben oder nicht, ich kann seinen Inhalt durchaus verstehen.«

»Nein. Sie sind wahnsinnig!« Sie spürte, dass sie stärker wurde. Das Gefühl kehrte in ihre Arme und Beine zurück. Sie spürte ihren Peitschenstachel, der auf dem Boden lag.

Er bückte sich nach etwas und hob es hoch. Ein Stein.

»Ich bin allerdings demütig genug, um zu bezweifeln, dass ein Gift, das ich herstellen konnte, Sie umbringen wird, Nen Yim. Sie sind wirklich ein Genie. Und ein schrecklicher Verlust für Ihr Volk.«

Er kam auf sie zu, den Stein in der Hand. Ihr Herzschlag wurde zu einer stetigen Vibration, als sie mit aller Kraft, die sie hatte, den Stachel nach ihm schleuderte.

Er schwang den Stein, und etwas dröhnte donnernd, und dann fühlte sich eine Seite ihres Kopfs riesig an.

Der zweite Schlag wirkte sanfter. Wieder sah sie die Bilder, die Zonama Sekot ihr gezeigt hatte, die Schönheit einer Welt in Harmonie, einer so erhabenen Harmonie, dass die Yuuzhan Vong kein Wort dafür kannten − obwohl es einmal zu ihrer Sprache gehört haben musste.

Sie sah ihren eigenen Handrücken, ihre normale Hand, die, mit der sie geboren war. Plötzlich war sie sehr jung und wieder in ihrer Krippe, wo sie das erste Mal fasziniert bemerkt hatte, dass sie die kleinen Fortsätze an der Hand bewegen konnte.

Erinnert sich Tahiri auch daran?, fragte sie sich.

Sie bewegte die Finger, versuchte herauszufinden, wie sie funktionierten. Sie schien sie nicht sonderlich gut bewegen zu können.

 

Nom Anor keuchte, als der Stachel ihn durchbohrte, aber er nutzte den Schmerz, um ein zweites Mal auf Nen Yims Kopf einzuschlagen. Der Waldboden war bereits schwarz von Blut, und er selbst war überall damit bespritzt. Er konnte es irgendwie sogar schmecken, obwohl er sich nicht erinnern konnte, den Mund geöffnet zu haben.

Er schlug sie ein drittes Mal und sackte dann zurück, riss an dem Ding in ihm und fragte sich, ob es ihr gelungen war, ihn ebenfalls zu töten. Er war dumm gewesen − er hätte sie schneller töten sollen. Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er gewaltiges Glück gehabt, dass das Plaeryin Bol überhaupt noch funktionierte. Er war nie dankbarer gewesen als in diesem Augenblick, dass er sich entschlossen hatte, das Implantat zu ersetzen.

Erleichtert stellte er fest, dass der Stachel nur durch das Fleisch an seiner Seite gegangen war. Er hatte kein Organ getroffen, und er glaubte nicht, dass der Stachel vergiftet gewesen war. Dennoch, es tat weh, ebenso wie das Loch, das er in seinem Arm verursacht hatte. Er hatte Glück gehabt − wenn er sie nicht überrascht hätte, hätten die Dinge ganz anders ausgehen können.

Er ignorierte seine nässenden Wunden, dann griff er nach unten, nach dem Qahsa, und untersuchte ihn mit kritischem Blick. War das hier ihr ursprünglicher Qahsa oder das Ding, das sie benutzt hatte, um sich mit den Erinnerungen von Zonama Sekot in Verbindung zu setzen? Er hoffte leidenschaftlich, dass es der Erstere wäre und sie ihn mitgebracht hatte, um ihre neue Entdeckung aufzuzeichnen. Wenn es der andere war, würde er es wagen müssen, zur Höhle zurückzukehren und sich Tahiri zu stellen. Das war ausgesprochen gefährlich − er würde sie von hinten angreifen müssen. Er hatte nur ein zum Teil entleertes Plaeryin Bol und einen Stein, nichts, was ihren Jedi-Kräften und dem Lichtschwert entsprach. Sie konnte ihm den Stein einfach abnehmen und ihn schon auf zehn Meter Abstand damit totschlagen.

Zu seiner Erleichterung handelte es sich jedoch tatsächlich um den Qahsa, den er haben wollte − der, zu dem Nen Yim ihm Zugang verschafft hatte. Er nahm ihn mit, als er die Lichtung verließ und rasch wieder den Hügel hinaufstieg. In den vergangenen paar Tagen hatte er die Dinge gestohlen, die er brauchte, um seinen Plan auszuführen − ihm fehlte nur noch das Protokoll selbst, das zu kompliziert war, als dass er es auswendig lernen konnte. Nun verfügte er auch über das.

Er schaute zu den riesigen Hyperantriebsleitern. Ihm standen immer noch Herausforderungen bevor. Er würde sich um Corran und Harrar kümmern müssen, und Tahiri würde zweifellos nach ihm suchen.

Und er hatte nur wenig Zeit. In weniger als einem Tageszyklus würde das Schiff, das Shimrra geschickt hatte, hier sein. Bis dahin musste er Zonama Sekot getötet oder zumindest verkrüppelt haben.

 

Als der Sonnenuntergang näher kam und Nen Yim immer noch nicht zurückgekehrt war, machte sich Tahiri auf die Suche nach ihr. Sie hatte auch den Propheten eine Weile nicht mehr gesehen, und fragte sich plötzlich, ob Nen Yim sich nur verstellt hatte eine Täuschung, um ihnen Gelegenheit zum Verschwinden zu geben.

Sie ging in die Richtung, die die Gestalterin eingeschlagen hatte. Über ihr sammelten sich die Wolken, die großen Boras knarrten im aufkommenden Wind, Blätter wirbelten und tanzten, und ein Geruch wie von Elektrizität und Harz knisterte in der feuchten Luft.

Sie fand Nen Yim auf einer kleinen Lichtung. Eine Blutspur zeigte, dass sie ein paar Meter gekrochen und dann zusammengebrochen war. Als Tahiri sich neben sie kniete, sah sie, dass der Kopf der Gestalterin schwer verwundet war. Nen Yims verbliebenes Auge war allerdings immer noch offen, wenn ihr Blick auch nicht mehr konzentriert wirkte. Sie atmete flach und ächzend.

»Nen Yim«, sagte Tahiri sanft. »Wer hat das getan?«

»Prophet. Er ist …« Sie bebte von der Anstrengung zu sprechen. »… Nom Anor.«

»Nom Anor?« Tahiri sah sich rasch um, und ihre Hand tastete nach dem Lichtschwert. Nom Anor, der Mann, der versucht hatte, sie bei Yag’Dhul umzubringen, war hier gewesen, direkt vor ihrer Nase? Übelkeit erregende Kälte durchflutete sie.

Nen Yim schauderte und atmete keuchend.

»Ich … ich habe im Lager einen Medpack«, sagte Tahiri. »Halten Sie durch, ich bin gleich wieder da.«

»Nein … ich bin ohnehin schon … Ich kann nicht … Er dachte, ich wäre tot. Er wird Sekot töten. Sie müssen ihn aufhalten.«

»Sekot töten?«

»Er hat meinen Qahsa. Ich habe Protokolle mitgebracht, für den Fall, dass Sekot eine Gefahr für uns darstellte.«

»Wohin ist er gegangen?«

»Sucht … Antriebsmechanismus. Kann das Zentrum sabotieren, um das Triebwerk versagen zu lassen. Wahrscheinlich maschineller Antrieb, wenn das Schiff Beispiel war. Müssen ihn aufhalten.«

»Selbstverständlich werde ich das tun. Aber Sie müssen mir helfen.«

»Nein.« Nen Yim hob die Hand. »Lassen Sie mich hier. Lassen Sie mich ein Teil des Planeten werden.«

Tränen ließen Tahiri nur noch verschwommen sehen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg.

»Sie sind bereits ein Teil davon«, sagte sie.

»Ebenso wie Sie. Und Sie sind Teil von mir. Nicht vergessen.« Nen Yim keuchte, und ihr Körper verkrampfte sich. »Wollte Ihnen von Sekot erzählen. Es ist, was …« Aber das waren ihre letzten Worte. Ihr Mund arbeitete noch einen Moment, aber sie konnte nicht mehr sprechen. Dann war auch ihr Pulsschlag vergangen.

Tahiri stand mit finsterer Miene auf. Zorn und Trauer erfüllten sie. Jacen hatte gesagt, man könne Macht aus dem Zorn gewinnen, ohne sich der Dunklen Seite zuzuwenden. Das Böse lag in der Praxis, nicht in den Emotionen, die sie trieben.

Aber dabei musste es einen Trick geben. Denn im Augenblick wollte sie nur eins: dem Propheten das Herz herausschneiden − und zwar langsam.

Er würde Corran und Harrar folgen. Steckte Harrar mit ihm unter einer Decke?

Dann würde sie zwei Herzen herausschneiden müssen.