20

Mrs. Pollifax saß mit dem Rücken zur Wand in der großen Banketthalle des Schlosses und beobachtete, wie sich die Sonne, nach einem prachtvollen Farbenspiel in Gold und Rot, dem Horizont näherte. Abrupt erschien sie als riesiger leuchtendroter Ball, und für einen flüchtigen Moment glitzerten die Feuersteine in der Wüste silbern. Zwischen den alten Mauern konnte sie die umherschwirrenden Fledermäuse hören, die vermutlich nicht erfreut über die zwei Eindringlinge waren. Sie hatte ihre Decke für Farrell ausgebreitet, und er lag auf dem Bauch darauf, aber sie wußte, daß er nicht schlafen konnte. Sie bedauerte, daß sie nicht unnachgiebiger darauf bestanden hatte, daß er mit dem Inspektor im Flugzeug geflogen war. Er war mit verschiedenen Ölen gesalbt worden - eine sehr biblische Prozedur, so sein lakonischer Kommentar -, aber sie wußte, daß er noch starke Schmerzen hatte. Es würde mehr als Josefs Taxi brauchen, ihn nach Amman zurückzubringen. Sie seufzte, schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Aber sie wachte schon nach wenigen Augenblicken wieder auf, gequält von schrecklichen Visionen und Taimurs grausam lächelndem Gesicht. So öffnete sie die Augen und blickte auf ihre Uhr. »Farrell, sie müßten bald hier sein.«

»Ja. Bitte helfen Sie mir auf. Stehen ist besser.«

»Hat man Sie noch mit etwas anderem als den Salben behandelt?«
»Sie haben mir zwei Spritzen gegeben, eine gegen Tetanus, die andere gegen die Schmerzen.« Er schauderte.
»Versuchen Sie nicht daran zu denken, was passiert ist«, riet sie. »Versuchen Sie es!«
Er nickte. »Ich versuche es.«
Als sie müde aus dem schattigen Schloß in die heiße Sonne humpelten, konnten sie ringsum meilenweit sehen. Das Wadi Ghaduf schlängelte sich nordwärts, und dann, als sie sich nach Süden wandten, sahen sie drei hohe kegelförmige Felssäulen aus der leeren Wüste wachsen, deren Trostlosigkeit nur von vereinzelten Grasflecken gemildert wurde. Die Luft war so klar, daß Mrs. Pollifax im Westen dunkle Schatten winziger Formen sehen konnte, die das Lager des Scheichs anzeigen mo chten durch die Entfernung zu schwarzen Punkten in einer gelblichen Landschaft geschrumpft. Ein schwacher, warmer Luftzug war zu spüren, doch ansonsten rührte sich nichts.

»Ein einsamer Ort«, murmelte Farrell.

»Aber eine angenehme Einsamkeit«, entgegnete Mrs. Pollifax.

»Danke. Ich ziehe Städte, Smog und Menschen vor. Wie geht es Ihrem Arm?«

»Nicht schlecht. Wie geht es Ihrem Rücken?«

»Nicht schlecht«, entgegnete er mit dem Versuch eines

Lächelns.
»Sie können gut lügen.«
»Genau wie Sie, Herzogin.«

Sie blickten schweigend hinaus in die große Stille, die Leere, die für Mrs. Pollifax gar nicht so sehr Leere war, sondern etwas so Zeitloses und in gewisser Weise Unendliches, daß es ihren Augen, ihrem Herzen guttat, ja möglicherweise, dachte sie, ihrer Seele. An das würde sie sich erinnern, das wußte sie, nicht an Mr. Nayef oder Taimur oder die Gewalttätigkeit, sondern an diese Weite und Stille und die Gastlichkeit der Beduinen und an Hanan, fügte sie lächelnd hinzu.

Sie hörte Farrell neben sich seufzen. »Mit Ihrem Mr. Nayef und meinem irakischen Freund sind wir durch die Hölle gegangen. Doch das haben wir nun hinter uns. Nur bedauerlicherweise kommt mit dem Morgen auch die Wirklichkeit. Und was mich betrifft, verdammt - ich habe versagt. Kein Ibrahim.«

»Das erinnert mich an etwas, das ich noch nicht erwähnt habe. Aber es war ja auch eine sehr ereignisreiche Nacht. Sie haben nicht wirklich versagt, lieber Farrell.«

»Was haben Sie denn nicht erwähnt?« fragte er gereizt. »Und versuchen Sie nicht, mich zu trösten.«

Mrs. Pollifax lächelte. »Nichts läge mir ferner, Farrell. Doch ich glaube, Sie werden Ibrahim im Lager vorfinden.«
»Ich werde was?« Er drehte ihr den Kopf zu und starrte sie an.
»Ich sagte, ich glaube, daß Sie Ibrahim noch finden werden im Zelt von Hanans Großvater.«
Jetzt blickte er sie besorgt an. »Es geht Ihnen doch gut, Herzogin, oder? Sie haben heute nacht verdammt viel mitgemacht, haben Sie wegen Ihrer Schmerzen vielleicht so etwas geträumt?«
»Wegen meiner Schmerzen hatte ich Alpträume, sonst nichts!« erwiderte sie scharf. »Ich wiederhole: Ich glaube, daß Sie Ibrahim im Lager des Scheichs finden werden.«

»Großer Gott, Herzogin. Wie können Sie so etwas sagen? Wie wollen Sie das wissen?«

»Er saß mir im Zelt am Lagerfeuer gegenüber«, entgegnete sie nachd enklich, »und starrte mich stirnrunzelnd und verwirrt an, und ich sah ihn an, und dann - ganz plötzlich, wußten wir es beide.«

»Wußten Sie was?«

»Ich, daß er der Mann war, der in der Festung an mir vorbeigerannt ist; und er, daß ich die Frau war, die an der Wand gestanden hatte.«

»Habe ich diesen Mann gesehen?« fragte er heftig.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie waren hinausgegangen, um den

Sternenhimmel zu bewundern.«
»Aber Sie konnten ihn nicht einmal der Polizei beschreiben!«
sagte er vorwurfsvoll.
»Das konnte ich auch nicht«, gab sie zu. »Wie hätte ich ihnen
denn etwas beschreiben können, das nur ein Eindruck war? Und
doch, auf seltsame Weise - wäre unterbewußt hier das richtige
Wort? - war mir, was ich sah, mehr bewußt, als ich ahnte... Ich
wußte es.«
»
Ausgerechnet im Zelt des Scheichs?«
»Ich nehme an, er war einer der Männer, die seine Leute vor
einem Monat fast verdurstet in der Wüste gefunden haben.« »Aber warum...?«
»Haben Sie schon vergessen, wie nahe wir der
saudiarabischen Grenze sind? Wir erfuhren es heute nacht - oder
war es gestern? Sie selbst sagten an unserem ersten Abend im
Hotel in Amman, vor einem Jahrhundert, wie mir jetzt scheint,
daß Ibrahim möglicherweise diesen Weg nehmen müsse, weil
die irakischjordanische Grenze zu gefährlich sei.«
Farrell starrte sie benommen an. »Mein Gott, Herzogin, wenn
Sie recht haben...« Seine Stimme zitterte. »Ich werde den
ganzen Rückweg zum Lager beten.«
»Ich glaube, damit können Sie gleich anfangen. Von Westen
nähert sich uns eine Staubwolke. Das kann eigentlich nur Awads
Kleinlaster sein.«
Doch sie mußten noch vierzig Minuten warten, bis der Wagen
deutlich zu sehen war, und weitere zehn, bevor er am Fuß der
Erhebung anhielt, auf der das Schloß stand. »Hoffentlich wird
die Fahrt nicht zu holprig«, murmelte Farrell nervös.
»Hanan hat Matratzen versprochen, erinnern Sie sich?«
beruhigte ihn Mrs. Pollifax.
Woran sie allerdings nicht gedacht hatte, war Josefs Jugend
und Stolz. Als er den Hang heraufgestürmt kam, befürchtete sie einen Augenblick, er würde sich, während ein Schwall von Entschuldigungen über seine Lippen sprudelte, vor ihre Füße werfen. Sie befänden sich auf seiner Tour, er wäre für sie verantwortlich, sie seien seine Freunde, und daß ihnen so Schreckliches widerfahren war, sei unerträglich für ihn. Er würde ihnen ihr Geld zurückgeben, er würde... Da unterbrach ihn Hanan tadelnd und erinnerte ihn daran, daß seine beiden
Kunden verletzt waren und Hilfe brauchten.
Als er schließlich verstummte, ermahnte ihn Mrs. Pollifax
lächelnd: »Verderben Sie uns doch eine so willkommene
Rettungsaktion nicht!«
Da wandte sich Josef an Farrell und erklärte ihm mit ebenso
beredter Zunge eifrig, mit welcher Sorgfalt er ihn in das Lager
seines Großvaters zurückbringen würde. Dann half er Farrell
behutsam den Hang hinunter zum Kleinlaster. »Als wäre ich ein
hundertjähriger Tattergreis«, stellte Farrell trocken fest. Es sah aus, als wäre jedes einzelne Kissen aus dem Zelt des
Scheichs, nebst fünf Matratzen, auf die offene Ladefläche des
Wagens gelegt worden. Hanan kümmerte sich darum, daß
Farrell eine einigermaßen bequeme Fahrt haben würde. Mrs.
Pollifax, deren Arm noch in Taimurs gestreifte Seide gewickelt
war, saß vorne neben Josef. So kehrten sie zum Lager zurück,
das sie - Mrs. Pollifax konnte es kaum fassen - erst vor zwölf
Stunden verlassen hatten.