14
In Arb'Tn, in Awad Ihn Jazis Haus, zog sich Mrs. Pollifax noch vor dem Ende des ägyptischen Fernsehfilms zurück. Sie verstand kein Wort, und englische Untertitel hatte er nicht. Offenbar wurden schwülstige und leidenschaftliche Liebeserklärungen abgegeben, und zwei verführerisch gekleidete junge Frauen schienen entschlossen zu sein, einen attraktiven und reichen Mann zu erobern, der Rudolfo Valentine ähnlich sah. Außerdem gab es eine mutige, unschuldsvolle junge Heldin mit großen Augen, die der playboyhafte Held ignorierte. Aber Mrs. Pollifax war sicher, daß er zum Ende des Filmes ihren wahren Wert erkennen und sie wie Aschenputtel mit ihm in den Sonnenuntergang wandeln würde. Deshalb begab sich Mrs. Pollifax zu dem kleinen Zimmer im Obergeschoß und legte sich auf die ihr zugedachte Matratze. Sie schlief sofort ein. Auch eine Matratze auf dem Boden war ein Bett, und Mrs. Pollifax hatte schon unbequemer gelegen. Aber obwohl sie gut schlief, war sie sich der nächtlichen Betriebsamkeit im Haus bewußt. Als sie einmal die Augen öffnete, bemerkte sie, daß Hanans Matratze neben ihr leer war, und etwas später hörte sie Stimmen von unten, eine davon Farrells. Doch sie war zu müde, um neugierig zu sein. Als sie beim ersten Morgengrauen erwachte, schlief Hanan auf ihrer Matratze, und im Haus war es still. Sie fragte sich, ob sie die Abwesenheit des Mädchens und die Stimmen etwa nur geträumt hatte. Sie stand leise auf und stieg auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Awads Enkelin Rehab hatte in der Küche auf einem Spirituskocher Wasser erhitzt und war gerade dabei, Joghurt in Schlüsselchen zu verteilen. Sie blickte auf und lächelte. Im Wohnzimmer stapelte Saadija Matratzen in einer Ecke auf, und durchs Fenster sah sie Farrell aus dem Schuppen kommen.
Er machte ein finsteres Gesicht »Eine
aufregende Nacht«, sagte er grimmig.
»Wie meinen Sie das?«
»Unwillkommener Besuch. Awad hörte jemanden draußen
herumschleichen, Hanan hörte, wie Awad aufstand und dann wurde auch ich wach. Awad versuchte, mir ihre Spuren mit einer Stablampe zu zeigen, aber ich sah absolut nichts - er ist wirklich erstaunlich! Ein Mann hatte Wache gestanden, sagt Awad, der blieb an einer Stelle. Der andere schlich ums Haus, blieb vor Türen und Fenstern stehen, bis er Awad hörte, dann verschwanden die zwei Hals über Kopf. Wahrscheinlich«, fügte er verärgert hinzu, »in dieser verdammten rostroten Limousine.«
»Sie glauben wirklich...? Wissen Sie, ich habe nachts Stimmen gehört.«
Er nickte. »Ich mußte Awad so einiges über Sie erklären. Er hat vorgeschlagen, daß wir in einer Stunde zur Wüste aufbrechen. Sehen Sie, sie hatten bereits die Batterie aus Josefs Taxi entfernt.«
»Waas?«
»Es ist keine Batterie mehr im Taxi. Wir können Gott danken, daß Awad sie hörte, ehe sie sich auch noch an seinem Lieferwagen vergreifen konnten.«
»Aber dann wären wir hier gestrandet gewesen.« Ihre Stimme zitterte. »Wir hätten wie auf dem Präsentierteller gesessen!« »Genau. Wir wären jedenfalls nicht weit gekommen.«
»Und sie wären zurückgekehrt und... Oh, wenn sie nur wüßten«, rief sie. »Wenn sie wüßten, daß wir den Schlüssel fanden und ihn jetzt die Polizei hat! Ist Ihnen klar, daß die keine Ahnung davon haben, daß wir das Souvenir auseinandergenommen haben?«
»Wieder die naive Touristin.« Farrell
seufzte.
»Wie können wir es sie wissen lassen?« fragte Mrs. Pollifax heftig.
»Sie bleiben immer so weit hinter uns, sie verschwinden und tauchen
wieder auf. Wir hatten keine Möglichkeit, es ihnen irgendwie
mitzuteilen.«
Farrell nickte. »Auch ziemlich amateurhaft von ihnen, immer
denselben Wagen zu benutzen.«
»Wohl kaum Amateure!« entgegnete sie hitzig, »wenn sie hofften, in
Awads Haus einzudringen, um sich mit uns zu befassen!«
»Aber erst nachdem sie unsere Flügel gestutzt und sich vergewissert
hatten, daß wir in der Falle saßen. Verzeihen Sie«, fügte er nach
einem Blick auf ihr Gesicht hinzu. »Keine Angst, wir werden bald
losfahren. Awads Neffe wird während seiner Abwesenheit mit den
Frauen im Haus bleiben, und Awads Vetter wird sich bemühen, eine
Batterie für Josefs Wagen aufzutreiben.«
»Die sollten wir ihm bezahlen!«, sagte sie fest.
»Werden wir. Jetzt trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee, und dann
holen Sie Ihre Reisetasche herunter. Wir dürften in der Wüste
sicher sein; Hanan sagt, daß beim Zelt ihres Großvaters immer
Männer sind, und vergessen Sie nicht, Awad ist Polizist im
Ruhestand und müßte aus seiner Zeit in der Wüstenpatrouille
bestimmt noch eine Pistole oder zwei haben.«
Beunruhigt fragte sie: »Kann man sich in Jordanien ebenso einfach
Schußwaffen besorgen wie in den Vereinigten Staaten?«
Farrell war froh, das Thema wechseln zu können. »Nein«, antwortete
er. »Zweifellos ist das auch der Grund für die niedrige
Kriminalitätsrate hier. Nach dem, was Josef mir erzählt hat, muß
zunächst ein Antrag gestellt werden, der genauestens überprüft
wird. Danach dauert es eine Weile, bis eine Schußwaffe gekauft
werden darf. Dem Käufer werden mit der Waffe drei Patronen
ausgehändigt, nicht mehr. Seine Fingerabdrücke werden genommen und
sein Name in einem Computer gespeichert.« Farrell sah auf seine
Uhr. »Ich gehe jetzt besser und kümmere mich um mein
Gepäck.«
Mrs. Pollifax, die bereits ihre Reisetasche heruntergeholt hatte,
spazierte zu Awad hinüber, um ihm einen guten Morgen zu wünschen.
Er schlug die Motorhaube seines Kleintransporters zu und erwiderte
Mrs. Pollifax' Gruß mit einem Nicken. »Okay, kein
Schaden.«
»Verraten Sie mir eines«, sagte sie neugierig, »wie konnten Sie so
viel über die beiden Männer sagen, nur indem Sie sich den Boden
ansahen?«
Er lächelte ihr anerkennend zu. »Ich zeige es Ihnen. Wissen Sie,
sogar in der Wüste gibt es Tau, und vergangene Nacht gab es
besonders viel. Kommen Sie, so früh hat die Sonne den Tau noch
nicht getrocknet.« Sie folgte ihm zum Anfang der holprigen Einfahrt
neben dem Haus und kniete sich neben ihn, als er auf den Kies
deutete.
»Was sehen Sie?«
»Nichts«, gestand sie und lächelte ihn an.
»Schauen Sie noch einmal. Der Kies glitzert vom Tau, na'am?«
Sie nickte.
»Aber sehen Sie hierher...« Er deutete. »Der Kies wurde bewegt, da
ist kein Tau.«
»Sie haben recht! Die Steinchen sind trocken«, rief sie aufgeregt. »Heißt
das...?«
»Na'am ja. Die Spitze oder der Absatz
eines Stiefels bewegte den Stein und drehte ihn um. Und wegen dem
Tau kann man dort zwei leichte Eindrücke sehen, wo ein Mann lange
genug gestanden hat, um den Kies tiefer in den Boden zu
drücken.«
»Es ist schwer zu sehen«, gestand sie. »Aber ja, ich glaube, ich sehe es jetzt.«
Er richtete sich auf und ging ein paar Schritte die Einfahrt
hinauf, bis zu einer Stelle, wo drahtiges Gras zwischen den Steinen
gewachsen war. »Und hier?«
Triumphierend rief Mrs. Pollifax: »Hier wurden ein paar Grashalme
niedergetreten!«
Er strahlte sie an. »Ja, durch einen schweren Schuh. Wenn die Sonne
es erst wärmt, wird alles verschwinden.« Er führte sie zur
Hintertür. »Und hier?« Er blickte sie verschmitzt an.
»Ein kompletter Fußabdruck!«
»Na'am ja, weil die Wüste nicht nur
aus Steinen besteht, sondern hier auch Sand ist. Ich werde diesen
Schuhabdruck wiedererkennen, wenn ich noch einen sehe. Er ist nicht
von einer Sandale, sondern von einem Straßenschuh. Ein Mann von
mittlerer Größe und mittlerem Gewicht, nicht so groß wie Mr.
Farrell, aber schwerer.«
»Unglaublich!« staunte Mrs. Pollifax.
Sie drehte sich um, als Hanan mit einem kleinen Sack erschien. Sie
hatte ihre Schuluniform ausgezogen und war in eine abgetragene
schwarze Pumphose und einen grauen Kittel geschlüpft, der ihr bis
zu den Knien reichte, und trug selbstverständlich ihre
Cowboystiefel. Ihre dichten dunklen Locken waren unter einem
neonpinken Kopftuch verborgen. Sie sah Mrs. Pollifax ernst an.
»Juseff sagt, daß uns gestern ein Wagen folgte. Awads Cousine
nebenan könnte Ihnen ein Gewand und einen Schleier leihen, wenn Sie
möchten. Als Tarnung, wissen Sie. Sie ist sehr religiös.«
»Würde Nancy Drew sich so verkleiden?« fragte Mrs.
Pollifax.
Hanan dachte darüber nach. »Ich glaube schon, Sie nicht? Das
Thobe und der Schleier würden in der
Wüste zwar sehr heiß für Sie sein, aber es wäre klug.«
»Noch klüger von dir, daran zu denken«, lobte Mrs. Pollifax. »Ich
sehe schon, daß du uns in Notlagen sehr nützlich sein
wirst.«
Hanan, die zum Lieferwagen blickte, sagte bedauernd: »Leider bleibt
uns keine Zeit mehr zum Umkleiden. Sehen Sie? Juseff winkt uns, wir
müssen gleich losfahren.«
»Wir unterhalten uns später weiter«, versicherte ihr Mrs. Pollifax.
Sie rechnete damit, daß die Sonne bald wirklich brennen würde; also
nahm sie ihre Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte einen
Strohhut mit sehr breiter Krempe auf.
Es war sieben Uhr, als sie ihre Reise in die Wüste antraten, und
kaum hatten sie Arb'Tn hinter sich, da wurde es eine äußerst rauhe
Fahrt, teilweise über alte Kamelpfade, aber öfter scheinbar
querfeldein in nördliche Richtung. Weil der Wagen so heftig
holperte, wechselten sie sich ab, vorne neben dem Fahrer zu sitzen,
wo ein Beifahrer Platz hatte, und hinten auf der offenen
Ladefläche, wo ein paar dünne Kissen die Stöße erträglicher machen
sollten, Mrs. Pollifax jedoch bei jeder Drehung des Lenkrads von
einer Seite zur anderen rutschte. Der Boden war so eintönig braun
und uneben, daß die vereinzelten Büschel Grün - Besengras nannte
Hanan es - ein erfrischender Anblick waren. In der Ferne konnte
Mrs. Pollifax verschwommene Streifen Grau sehen, vermutlich eine
Bergkette, die jedoch sehr weit weg sein mußte. Die Wüste selbst
blieb flach, aber leider nicht so flach, daß sie nicht von
Erdbuckeln und in der Sonne glitzernden Steinen beachtlich
geschüttelt worden wären. Und einmal mußten sie ein ausgetrocknetes
Flußbett durchqueren ein Wadi, erklärte Hanan, dessen Böschungen so
steil waren, daß Mrs. Pollifax befürchtete, der Wagen würde kippen,
ehe er den Rand auf der anderen Seite wieder hinaufgekrochen war.
Es war schon fast neun Uhr, als Hanan nach vorne zeigte und Mrs.
Pollifax eine Gruppe langer schwarzer Gebilde wahrnahm.
»Buyut sha'ar!« rief Hanan erfreut.
»Zelte!«
»Aber was sind diese Hunderte von Punkten?«
»Punkte?« fragte Hanan verwirrt, und dann: »Oh! Das sind Schafe und
Ziegen. Sie haben hier gutes Nassi zu
fressen. Das große Zelt gehört meinem Großvater!« fügte sie stolz
hinzu.
Als sich Awads Wagen stotternd und aufheulend ins Lager plagte,
kamen Kinder angerannt, Hunde bellten, Frauen spähten neugierig aus
den Zelten, und ihre Gesichter leuchteten beim Anblick von Awad und
Hanan auf. Der Kleinlaster hielt vor dem größten der vier Zelte an.
Es sackte zwischen den Stangen tief durch und schien sehr niedrig
zu sein, doch der Mann, der herauskam, stand aufrecht.
Durchdringende Augen unter buschigen weißen Brauen beherrschten
sein Gesicht: ein schmalgeschnittene s Gesicht mit langer Nase,
einem breiten, großzügigen Mund und einem kräftigen Kinn, das ein
weißer Bart zierte. Sein Kopf war mit einem Kaffiyeh bedeckt, der sein Gesicht einrahmte und
bis zu seiner Taille reichte. »Mein Großvater!« verkündete Hanan
voll Stolz.