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In Arb'Tn, in Awad Ihn Jazis Haus, zog sich Mrs. Pollifax noch vor dem Ende des ägyptischen Fernsehfilms zurück. Sie verstand kein Wort, und englische Untertitel hatte er nicht. Offenbar wurden schwülstige und leidenschaftliche Liebeserklärungen abgegeben, und zwei verführerisch gekleidete junge Frauen schienen entschlossen zu sein, einen attraktiven und reichen Mann zu erobern, der Rudolfo Valentine ähnlich sah. Außerdem gab es eine mutige, unschuldsvolle junge Heldin mit großen Augen, die der playboyhafte Held ignorierte. Aber Mrs. Pollifax war sicher, daß er zum Ende des Filmes ihren wahren Wert erkennen und sie wie Aschenputtel mit ihm in den Sonnenuntergang wandeln würde. Deshalb begab sich Mrs. Pollifax zu dem kleinen Zimmer im Obergeschoß und legte sich auf die ihr zugedachte Matratze. Sie schlief sofort ein. Auch eine Matratze auf dem Boden war ein Bett, und Mrs. Pollifax hatte schon unbequemer gelegen. Aber obwohl sie gut schlief, war sie sich der nächtlichen Betriebsamkeit im Haus bewußt. Als sie einmal die Augen öffnete, bemerkte sie, daß Hanans Matratze neben ihr leer war, und etwas später hörte sie Stimmen von unten, eine davon Farrells. Doch sie war zu müde, um neugierig zu sein. Als sie beim ersten Morgengrauen erwachte, schlief Hanan auf ihrer Matratze, und im Haus war es still. Sie fragte sich, ob sie die Abwesenheit des Mädchens und die Stimmen etwa nur geträumt hatte. Sie stand leise auf und stieg auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Awads Enkelin Rehab hatte in der Küche auf einem Spirituskocher Wasser erhitzt und war gerade dabei, Joghurt in Schlüsselchen zu verteilen. Sie blickte auf und lächelte. Im Wohnzimmer stapelte Saadija Matratzen in einer Ecke auf, und durchs Fenster sah sie Farrell aus dem Schuppen kommen.

Er machte ein finsteres Gesicht »Eine aufregende Nacht«, sagte er grimmig.
»Wie meinen Sie das?«
»Unwillkommener Besuch. Awad hörte jemanden draußen

herumschleichen, Hanan hörte, wie Awad aufstand und dann wurde auch ich wach. Awad versuchte, mir ihre Spuren mit einer Stablampe zu zeigen, aber ich sah absolut nichts - er ist wirklich erstaunlich! Ein Mann hatte Wache gestanden, sagt Awad, der blieb an einer Stelle. Der andere schlich ums Haus, blieb vor Türen und Fenstern stehen, bis er Awad hörte, dann verschwanden die zwei Hals über Kopf. Wahrscheinlich«, fügte er verärgert hinzu, »in dieser verdammten rostroten Limousine.«

»Sie glauben wirklich...? Wissen Sie, ich habe nachts Stimmen gehört.«

Er nickte. »Ich mußte Awad so einiges über Sie erklären. Er hat vorgeschlagen, daß wir in einer Stunde zur Wüste aufbrechen. Sehen Sie, sie hatten bereits die Batterie aus Josefs Taxi entfernt.«

»Waas?«

»Es ist keine Batterie mehr im Taxi. Wir können Gott danken, daß Awad sie hörte, ehe sie sich auch noch an seinem Lieferwagen vergreifen konnten.«

»Aber dann wären wir hier gestrandet gewesen.« Ihre Stimme zitterte. »Wir hätten wie auf dem Präsentierteller gesessen!« »Genau. Wir wären jedenfalls nicht weit gekommen.«

»Und sie wären zurückgekehrt und... Oh, wenn sie nur wüßten«, rief sie. »Wenn sie wüßten, daß wir den Schlüssel fanden und ihn jetzt die Polizei hat! Ist Ihnen klar, daß die keine Ahnung davon haben, daß wir das Souvenir auseinandergenommen haben?«

»Wieder die naive Touristin.« Farrell seufzte.
»Wie können wir es sie wissen lassen?« fragte Mrs. Pollifax heftig. »Sie bleiben immer so weit hinter uns, sie verschwinden und tauchen wieder auf. Wir hatten keine Möglichkeit, es ihnen irgendwie mitzuteilen.«
Farrell nickte. »Auch ziemlich amateurhaft von ihnen, immer denselben Wagen zu benutzen.«
»Wohl kaum Amateure!« entgegnete sie hitzig, »wenn sie hofften, in Awads Haus einzudringen, um sich mit uns zu befassen!«
»Aber erst nachdem sie unsere Flügel gestutzt und sich vergewissert hatten, daß wir in der Falle saßen. Verzeihen Sie«, fügte er nach einem Blick auf ihr Gesicht hinzu. »Keine Angst, wir werden bald losfahren. Awads Neffe wird während seiner Abwesenheit mit den Frauen im Haus bleiben, und Awads Vetter wird sich bemühen, eine Batterie für Josefs Wagen aufzutreiben.«
»Die sollten wir ihm bezahlen!«, sagte sie fest.
»Werden wir. Jetzt trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee, und dann holen Sie Ihre Reisetasche herunter. Wir dürften in der Wüste sicher sein; Hanan sagt, daß beim Zelt ihres Großvaters immer Männer sind, und vergessen Sie nicht, Awad ist Polizist im Ruhestand und müßte aus seiner Zeit in der Wüstenpatrouille bestimmt noch eine Pistole oder zwei haben.«
Beunruhigt fragte sie: »Kann man sich in Jordanien ebenso einfach Schußwaffen besorgen wie in den Vereinigten Staaten?«
Farrell war froh, das Thema wechseln zu können. »Nein«, antwortete er. »Zweifellos ist das auch der Grund für die niedrige Kriminalitätsrate hier. Nach dem, was Josef mir erzählt hat, muß zunächst ein Antrag gestellt werden, der genauestens überprüft wird. Danach dauert es eine Weile, bis eine Schußwaffe gekauft werden darf. Dem Käufer werden mit der Waffe drei Patronen ausgehändigt, nicht mehr. Seine Fingerabdrücke werden genommen und sein Name in einem Computer gespeichert.« Farrell sah auf seine Uhr. »Ich gehe jetzt besser und kümmere mich um mein Gepäck.«
Mrs. Pollifax, die bereits ihre Reisetasche heruntergeholt hatte, spazierte zu Awad hinüber, um ihm einen guten Morgen zu wünschen. Er schlug die Motorhaube seines Kleintransporters zu und erwiderte Mrs. Pollifax' Gruß mit einem Nicken. »Okay, kein Schaden.«
»Verraten Sie mir eines«, sagte sie neugierig, »wie konnten Sie so viel über die beiden Männer sagen, nur indem Sie sich den Boden ansahen?«
Er lächelte ihr anerkennend zu. »Ich zeige es Ihnen. Wissen Sie, sogar in der Wüste gibt es Tau, und vergangene Nacht gab es besonders viel. Kommen Sie, so früh hat die Sonne den Tau noch nicht getrocknet.« Sie folgte ihm zum Anfang der holprigen Einfahrt neben dem Haus und kniete sich neben ihn, als er auf den Kies deutete.
»Was sehen Sie?«
»Nichts«, gestand sie und lächelte ihn an.
»Schauen Sie noch einmal. Der Kies glitzert vom Tau, na'am?«
Sie nickte.
»Aber sehen Sie hierher...« Er deutete. »Der Kies wurde bewegt, da ist kein Tau.«
»Sie haben recht! Die Steinchen sind trocken«, rief sie aufgeregt. »Heißt das...?«
»Na'am ja. Die Spitze oder der Absatz eines Stiefels bewegte den Stein und drehte ihn um. Und wegen dem Tau kann man dort zwei leichte Eindrücke sehen, wo ein Mann lange genug gestanden hat, um den Kies tiefer in den Boden zu drücken.«
»Es ist schwer zu sehen«, gestand sie. »Aber ja, ich glaube, ich sehe es jetzt.«
Er richtete sich auf und ging ein paar Schritte die Einfahrt hinauf, bis zu einer Stelle, wo drahtiges Gras zwischen den Steinen gewachsen war. »Und hier?«
Triumphierend rief Mrs. Pollifax: »Hier wurden ein paar Grashalme niedergetreten!«
Er strahlte sie an. »Ja, durch einen schweren Schuh. Wenn die Sonne es erst wärmt, wird alles verschwinden.« Er führte sie zur Hintertür. »Und hier?« Er blickte sie verschmitzt an.
»Ein kompletter Fußabdruck!«
»Na'am ja, weil die Wüste nicht nur aus Steinen besteht, sondern hier auch Sand ist. Ich werde diesen Schuhabdruck wiedererkennen, wenn ich noch einen sehe. Er ist nicht von einer Sandale, sondern von einem Straßenschuh. Ein Mann von mittlerer Größe und mittlerem Gewicht, nicht so groß wie Mr. Farrell, aber schwerer.«
»Unglaublich!« staunte Mrs. Pollifax.
Sie drehte sich um, als Hanan mit einem kleinen Sack erschien. Sie hatte ihre Schuluniform ausgezogen und war in eine abgetragene schwarze Pumphose und einen grauen Kittel geschlüpft, der ihr bis zu den Knien reichte, und trug selbstverständlich ihre Cowboystiefel. Ihre dichten dunklen Locken waren unter einem neonpinken Kopftuch verborgen. Sie sah Mrs. Pollifax ernst an. »Juseff sagt, daß uns gestern ein Wagen folgte. Awads Cousine nebenan könnte Ihnen ein Gewand und einen Schleier leihen, wenn Sie möchten. Als Tarnung, wissen Sie. Sie ist sehr religiös.«
»Würde Nancy Drew sich so verkleiden?« fragte Mrs. Pollifax.
Hanan dachte darüber nach. »Ich glaube schon, Sie nicht? Das Thobe und der Schleier würden in der Wüste zwar sehr heiß für Sie sein, aber es wäre klug.«
»Noch klüger von dir, daran zu denken«, lobte Mrs. Pollifax. »Ich sehe schon, daß du uns in Notlagen sehr nützlich sein wirst.«
Hanan, die zum Lieferwagen blickte, sagte bedauernd: »Leider bleibt uns keine Zeit mehr zum Umkleiden. Sehen Sie? Juseff winkt uns, wir müssen gleich losfahren.«
»Wir unterhalten uns später weiter«, versicherte ihr Mrs. Pollifax. Sie rechnete damit, daß die Sonne bald wirklich brennen würde; also nahm sie ihre Sonnenbrille aus der Handtasche und setzte einen Strohhut mit sehr breiter Krempe auf.
Es war sieben Uhr, als sie ihre Reise in die Wüste antraten, und kaum hatten sie Arb'Tn hinter sich, da wurde es eine äußerst rauhe Fahrt, teilweise über alte Kamelpfade, aber öfter scheinbar querfeldein in nördliche Richtung. Weil der Wagen so heftig holperte, wechselten sie sich ab, vorne neben dem Fahrer zu sitzen, wo ein Beifahrer Platz hatte, und hinten auf der offenen Ladefläche, wo ein paar dünne Kissen die Stöße erträglicher machen sollten, Mrs. Pollifax jedoch bei jeder Drehung des Lenkrads von einer Seite zur anderen rutschte. Der Boden war so eintönig braun und uneben, daß die vereinzelten Büschel Grün - Besengras nannte Hanan es - ein erfrischender Anblick waren. In der Ferne konnte Mrs. Pollifax verschwommene Streifen Grau sehen, vermutlich eine Bergkette, die jedoch sehr weit weg sein mußte. Die Wüste selbst blieb flach, aber leider nicht so flach, daß sie nicht von Erdbuckeln und in der Sonne glitzernden Steinen beachtlich geschüttelt worden wären. Und einmal mußten sie ein ausgetrocknetes Flußbett durchqueren ein Wadi, erklärte Hanan, dessen Böschungen so steil waren, daß Mrs. Pollifax befürchtete, der Wagen würde kippen, ehe er den Rand auf der anderen Seite wieder hinaufgekrochen war. Es war schon fast neun Uhr, als Hanan nach vorne zeigte und Mrs. Pollifax eine Gruppe langer schwarzer Gebilde wahrnahm.
»Buyut sha'ar!« rief Hanan erfreut. »Zelte!«
»Aber was sind diese Hunderte von Punkten?«
»Punkte?« fragte Hanan verwirrt, und dann: »Oh! Das sind Schafe und Ziegen. Sie haben hier gutes Nassi zu fressen. Das große Zelt gehört meinem Großvater!« fügte sie stolz hinzu.
Als sich Awads Wagen stotternd und aufheulend ins Lager plagte, kamen Kinder angerannt, Hunde bellten, Frauen spähten neugierig aus den Zelten, und ihre Gesichter leuchteten beim Anblick von Awad und Hanan auf. Der Kleinlaster hielt vor dem größten der vier Zelte an. Es sackte zwischen den Stangen tief durch und schien sehr niedrig zu sein, doch der Mann, der herauskam, stand aufrecht. Durchdringende Augen unter buschigen weißen Brauen beherrschten sein Gesicht: ein schmalgeschnittene s Gesicht mit langer Nase, einem breiten, großzügigen Mund und einem kräftigen Kinn, das ein weißer Bart zierte. Sein Kopf war mit einem Kaffiyeh bedeckt, der sein Gesicht einrahmte und bis zu seiner Taille reichte. »Mein Großvater!« verkündete Hanan voll Stolz.