10
Am nächsten Tag wollte Farrell den Vormittag mit seinem Zeichenblock auf der Burg verbringen, während Josef Mrs. Pollifax zum Toten Meer fahren sollte und sie beide danach Farrell abholen würden. »Doch zuerst«, bestimmte Mrs. Pollifax mit einem vielsagenden Blick zu Farrell, »werden Josef und ich einen Spaziergang die Straße entlang machen.«
»Spaziergang?« fragte Josef erstaunt. »Nicht
mit dem Taxi?« »Nicht mit dem Taxi.«
»Falls sich etwas ergeben sollte, das ich wissen müßte, geben
Sie mir bitte gleich Bescheid«, bat Farrell. »Ansonsten sehen wir uns mittags.«
Bei ihren Spaziergang entlang der ungepflasterten Straße fragte Josef: »Mr. Farrell hat immer noch Hoffnung?«
»Er hat große Ausdauer, aber ich fürchte, daß er allmählich verzweifelt wird, wo er doch den weiten Weg hierher nur gekommen ist, um diesen Mann zu treffen.«
»Ja«, Josef nickte ernst, »er hat einen sehr weiten Weg gemacht! Wenn ich bedenke, daß er ein Freund von Dib Assen war! Und was für ein Freund. In meinem Land gibt es ein Sprichwort: ›Ein Freund ist ein zweites Selbst und ein drittes Auge.‹ Ich habe große Hochachtung vor Mr. Farrell... Darf ich fragen, wonach wir bei diesem Spaziergang suchen, Mrs. Pollifax?«
»Einem Haus - einer Hütte - einem Ort, wo ein Mann sich verstecken könnte - ich meine den Mann, der an uns vorbeigerannt ist und der dann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war, nachdem er die Burg verlassen hatte.«
»Aber es hat niemand die Burg verlassen!«
wandte Josef ein. »Es war überhaupt niemand zu sehen.«
»Das stimmt nicht«, widersprach sie. »Eine Frau ganz in Schwarz und
ein kleiner Junge gingen diese Straße entlang. Farrell hat sie
ebenfa lls gesehen.« Josef schenkte ihr einen bewundernden Blick.
»Und Sie glauben - Sie glauben, daß dieser Mann, den wir suchten,
irgendwo ein schwarzes Gewand und einen Burqa bereit hatte?«
»Nur eine Vermutung. Jedenfalls waren sie die einzigen auf der Straße. Und wir hatten sie bei der Hinfahrt nicht gesehen.«
Josef grinste. »Sie denken wie ein Detektiv, Mrs. Pollifax. Hanan hat zwei sehr sehr alte, sehr sehr abgegriffene Bücher über ein Mädchen namens Nancy Drew. Vielleicht sind Sie auch eine Nancy Drew?«
»Eine etwas ältere«, entgegnete sie trocken.
Sie hatten sich ein gutes Stück von der Festung entfernt, als
Josef stehenblieb und zu einer niedrigen Erhebung rechts der Straße spähte. »Jemand war dort!« Mrs. Pollifax sah nichts, folgte ihm jedoch über den kahlen, kiesigen Grund und fragte sich, was seine Aufmerksamkeit wohl erregt haben mochte. »Sehen Sie!« Er blieb stehen und deutete auf den Boden.
»Ein Aschehaufen... Ein Feuer?« fragte sie stirnrunzelnd.
Er steckte die Hand in die Asche. »Sogar noch ein bißchen warm. Und sehen Sie, da wallah! ein Loch von einer Zeltstange! Da müßte es eigentlich noch mehrere geben.« Leicht gebeugt ging er herum, betrachtete den Boden und zeigte ihr weitere drei Löcher im Kies. Der Aschehaufen befand sich in der Mitte. »Jemand hat hier ein Zelt aufgeschlagen«, erklärte er, »und ist weitergezogen, irgendwann in der Nacht. Zigeuner oder Beduinen, wer weiß.«
Mrs. Pollifax blieb stehen und beobachtete ihn, während er um die niedrige Erhebung herumging und schließlich nickte. »Zwei Esel, die Richtung Süden gezogen sind.«
»Ich sehe nichts!« protestierte Mrs. Pollifax. Josef lächelte nachsichtig. »Vielleicht denken Sie ja wie die Amerikanerin Nancy Drew, aber Sie sind kein Beduine. Hanan könnte es noch besser - aber gewiß sehen Sie diesen schwachen Abdruck, wo der Kies zu Sand wird? Es ist der Hufabdruck eines Esels. Und sehen Sie, hier ist Eselsdung -, doch jetzt wird der Boden wieder hart, und es gibt keine Möglichkeit zu erkennen, wohin sie zogen; nur Awad Ibn Jazi könnte eine solche Spur verfolgen.«
»Hanans Freund?«
Er nickte. »Sie lernt von ihm, er war - ist - ein berühmter Fährtensucher.«
»Aber es waren Menschen hier?« vergewisserte sie sich. »Zigeuner oder Beduinen?«
»Ja. Ein kleines Lager, aber es gab ein Feuer zum Wärmen und zum Kochen. Keine Frauen, sonst wäre das Zelt größer gewesen, mit einem Muharram.«
»Aber könnte es Ibrahim gewesen sein.«
Taktvoll erwiderte er: »Wie wäre das möglich?
Er ist doch kein Bedu,
oder?«
»Nein.« Sie seufzte. »Auch kein Zigeuner. Aber falls die Frau in
Schwarz wirklich eine Frau war, wohin ist sie gegangen?«
Er zuckte die Schultern. »Sie hat keine Spuren hinterlassen. Wer
weiß das schon.« Er bemerkte Mrs. Pollifax' Enttäuschung und sagte
sanft: »Zigeuner kommen und gehen, wissen Sie. Vielleicht hatte sie
hier etwas zu erledigen.«
»Ja.« Wieder seufzte sie. Mehr war nicht zu sehen, also kehrten sie
zum Taxi zurück und fuhren zum Toten Meer, unauffällig gefolgt von
einer rostroten Limousine.
Um 12.15 Uhr waren sie zurück in der Festung. Farrell saß am
Parkplatz in der Sonne und wartete mit düsterer Miene auf
sie.
»Es ist also niemand gekommen?« fragte Mrs. Pollifax.
»Scharen von Polizisten trieben sich mehr als eine Stunde lang hier
herum. Inspektor Jafer kletterte sogar zur Galerie hinauf, um mir
beim Zeichnen zuzusehen. Wahrscheinlich wollte er sich
vergewissern, daß ich nicht gelogen habe«, brummte Farrell grimmig.
»Sinnlos, daß ich heute vormittag überhaupt herkam. Und Sie haben
das Tote Meer gesehen?«
Mrs. Pollifax nickte. »Es schimmerte beinahe schneeweiß, aber als
ich aus dem Wagen stieg, war es so heiß, daß ich glaubte, ich würde
umkippen. So saßen wir dann eben in dem Rasthaus mit Klimaanlage
und beobachteten, wie mutigere Leute hinunter zu den Duschen und
zum Meer gingen.«
»Herzogin, wir haben nicht viel Glück«, stellte Farrell bedrückt
fest.
»Wir brauchen ein bißchen Abwechslung«, sagte sie entschlossen.
»Josef wollte uns eigentlich Jarash zeigen, fünfzig Kilometer
nördlich von Amman, aber ich habe momentan genug von Ruinen und
möchte lieber unter Menschen. Das habe ich ihm gesagt, daraufhin
hat er uns zu sich nach Hause eingeladen, und - Sie werden es kaum
glauben, Farrell, seine Mutter hat einen Garten!«
Josef nickte. »Seit Hanan Sie kennengelernt hat, schwärmt sie von
Ihnen. Ich weiß, daß meine Mutter Sie auch gern sehen würde. Sie
sagt es nicht, aber sie macht sich Sorgen, weil Hanan morgen in die
Wüste fährt- mit mir, natürlich, aber auch mit zwei Fremden. Ich
bin sicher, sie möchte Sie gern kennenlernen.«
»Also ich habe wahrhaftig genug von Karak gesehen«, erklärte
Farrell verbittert. »Und von Ruinen habe ich ebenfalls genug.
Übrigens, war der rostrote Wagen wieder da?«
»Natürlich«, antwortete Mrs. Pollifax. »Sie hängen sehr an uns. Sie
folgten uns den ganzen Weg hin und zurück, erst kurz vor Karak
haben sie sich abgesetzt; aber weit weg sind sie sicher nicht.«
Nicht einmal das interessierte Farrell. »Für mich war das
Überraschendste am Toten Meer, daß das gegenüberliegende Ufer zu
Israel gehört«, erklärte Mrs. Pollifax munter. »Ich kann wirklich
nur staunen, wie nah alle diese Länder beisammen sind.« Auch
hierauf bekam sie keinen Kommentar von Farrell. »Sie sind
deprimiert«, sagte sie zu ihm. »Fahren wir, Josef. Mr. Farrell
braucht ein wenig Aufheiterung, und ich brauche einen
Garten...«
Das Haus, in dem die Jidoors wohnten, gefiel Mrs. Pollifax sofort.
Es lag an einer belebten Straße, hatte zwei Stockwerke und einen
Balkon im ersten Stock, von dem Körbe voll Blumen hingen, und Mrs.
Pollifax liebte Blumen. Das Haus selbst stand wie eingezwängt
zwischen zwei anderen Gebäuden. Durch ein Wohnzimmer mit bequemen
Diwanen, Sesseln, einem Fernsehgerät und kahlen Wänden, von denen
einzig König Hussein aus einem Bild auf sie herabschaute, gelangten
sie in den Garten, der hinter dem Haus lag, von Maue rn umgeben,
und erstaunlich groß und sehr fruchtbar war. Eine ganze Mauerseite
war mit Wein berankt, davor reihten sich ordentliche Beete mit
Buschbohnen, Kohl und Auberginen. Eine Wäscheleine war durch den
Garten gespannt. In einem Plastiktreibhaus gab es Tomaten und noch
mehr Töpfe mit Blumen. Der Platz vor der hinteren Haustür war
gepflastert. Auf dieser kleinen Terrasse standen Gartenstühle, ein
Tisch und etwas, das aussah wie ein Ofen zum Kochen und Grillen im
Freien.
Das ist offenbar das Herz des Hauses, entschied Mrs. Pollifax. Die
Frau, die gerade Gurken erntete, blickte auf. Sie sah Josef und
rief: »Mash, Allah, Juseff! Taib!« Er
antwortete ihr auf arabisch, und sie ging ihnen lächelnd entgegen.
Ihr fröhliches rundes Gesicht war von der Sonne gerötet.
»Ahlan wa sahlan«, grüßte
sie.
»Umm«, sagte er, »sie sind Amerikaner,
du mußt Englisch mit ihnen reden. Ich habe dir Mrs. Pollifax und
Mr. Farrell mitgebracht.«
Aber dank dem schändlichen Mr. Nayef konnte Mrs. Pollifax mit
»As salam alaikum«
antworten.
»Sehr schön!« lobte Frau Jidoor.
»Mrs. Pollifax möchte sich gern deinen Garten anschauen.«
Seine Mutter strahlte vor Freude. »Ja, ja, aber zuerst Tee mit
sukar Zucker -, und mögen Sie Minze
dazu? Setzen Sie sich, bitte.«
Stühle wurden an den Tisch gerückt, und Josefs Mutter verschwand im
Haus, kehrte jedoch alsbald mit einem Tablett zurück, auf dem
winzige Tassen Tee standen und eine Platte mit honiggetränktem
Feingebäck. Sofort hellte sich Farrells Miene auf. Und Mrs.
Pollifax war glücklich, in der Sonne sitzen und sich entspannen zu
können; es war friedlich, wie sie es in Gärten immer empfand. Und
jetzt erst wurde ihr bewußt, wie Unruhe und Aufregung, ohne daß sie
es merkte, immer mehr von ihr Besitz ergriffen hatten. Der gestrige
Tag hatte ihre Nerven angespannt, und sie spürte, wie diese
Anspannung nachließ. Josefs Mutter schien das zu sehen, sie
lächelte ihr freundlich zu. »Es ist taib gut?«
»Sehr taib«, dankte Mrs. Pollifax.
»Haben wir Ihre Erlaubnis, Hanan morgen mitzunehmen, damit sie uns
ihr Kamel zeigen kann?«
»Ah, diese Hanan!« Mrs. Jidoor lachte. »Sie wird Ihnen viele Kamele
zeigen.«
Jetzt grinste Farrell. »In ihren Cowboystiefeln.«
Mrs. Jidoor nickte heftig. »Sie wird jeden Moment aus der Schule
heimkommen, dann werden Sie sie sehen.«
Josef lächelte. »Sie hat viele Pläne für Sie. Als erstes möchte
sie, daß Sie Awad Ibn Jazi kennenlernen, der in einer kleinen
Ortschaft namens Arb'Tn in der Nähe der Königsstraße wohnt. Sie
hofft, daß er uns in seinem Kleinlaster durch die Wüste zu unserem
Großvater fährt. Aber sie möchte auch«, fuhr er fort und verzog das
Gesicht, »daß uns Awad das halbversunkene Fort zeigt, von dem er
aus seiner Zeit in der Badiya
weiß.«
»Sie hat es noch nicht gesehen?«
»Doch, einmal vor drei oder vier Jahren nahm Awad sie dorthin mit«,
erwiderte Josef. »Sie war noch sehr klein. Jetzt würde man ihr nie
erlauben, hinauszureiten und selbst danach zu suchen. Zu viel kann
in der Wüste passieren, das Kamel kann lahmen, man kann sich
verirren, zu wenig Wasser mitnehmen und wer von uns hat schon Zeit,
sie zu begleiten? Unser Großvater hat viele Schafe, er ist
reich an Schafen und hat als Oberhaupt
unseres Stammes große Verantwortung.«
Verblüfft fragte Mrs. Pollifax: »Bedeutet das - wollen Sie damit
sagen, daß Ihr Großvater ein Scheich is t?«
Josef nickte stolz. »Ja, aber wir nennen es Shaykh.«
»Wenn das nichts ist, Herzogin«, warf Farrell ein. »Ihr
erster Shaykh.«
Mrs. Pollifax erinnerte sich an die Schweiz und einen
Playboy-Scheich, der sich sehr viel Mühe gegeben hatte, sie aus dem
Weg zu räumen, aber sie lächelte und bat Mrs. Jidoor: »Dürfte ich
mir jetzt Ihren Garten ansehen?« Die beiden Frauen verließen
Farrell - der prompt in der Sonne einnickte -, um jedes einzelne
Beet zu begutachten und sich in eine angeregte Unterhaltung über
Gärten und Gartenarbeit zu vertiefen.
Etwas später kam Hanan in ihrer Schuluniform nach Hause und staunte
beim Anblick ihrer amerikanischen Freunde. »Sie sind hier!« rief sie aufgeregt und riß Farrell damit
unsanft aus seinem Schlummer. »Möchten Sie
jetzt fahren?«
Ihre Mutter ging auf sie zu und tadelte sie streng auf arabisch.
Hanan stammelte: »Assif- afwan! Ich
meine, tut mir leid entschuldigen Sie. Bitte!«
Farrell blickte Mrs. Pollifax an. »Wir könnten eigentlich, wissen
Sie.«
»Könnten, was?«
»Gleich fahren.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Was kann ich
denn schließlich hier noch tun? Es hat sich als ziemlich
hoffnungslos erwiesen. Ich habe vier Vormittage auf der Burg
verbracht, und falls das gestern tatsächlich Ibrahim war, wird er
es wohl kaum wagen, noch einmal dorthin zu kommen. Würden Sie es an
seiner Stelle? Außerdem erwähnte Inspektor Jafer heute - sichtlich
verärgert, wie ich betonen möchte -, daß Vertreter der irakischen
Botschaft verlangen, den Raum in der Festung in Augenschein zu
nehmen, in dem ihr Mann getötet wurde. Von jetzt an wird es dort
eine geraume Weile von Polizisten wimmeln.«
»Oje«, bedauerte Mrs. Pollifax. »Dann war Ihre ganze Reise hierher
vergebens?«
Er seufzte. »Was sonst sollte ich davon halten? Trotzdem will ich
noch nicht zurückfliegen, nicht mit diesem drückenden Gefühl,
versagt zu haben. Das bin ich nicht gewöhnt, es macht mir zu
schaffen. Und da wir eigentlich noch drei Tage bis zu unserem
Heimflug haben, können wir genausogut so lange bleiben. Vielleicht
vergeht dann dieses ungute Gefühl, Herzogin. Betrachten wir es
einfach als Urlaub. Außerdem«, fügte er mit wiedergewonnenem Humor
hinzu, »nachdem ich Sie auf einem Pferd gesehen habe, interessiert
es mich wirklich, wie Sie mit einem Kamel zurechtkommen werden.«
Sie lachte, aber seine gespielte gute Laune konnte sie nicht
täuschen.
»Also, was meinen Sie?« Er wandte sich Josef zu. »Können wir jetzt
gleich mit Hanan fahren? Es wird noch ein paar Stunden hell
sein.«
Auch Josef durchschaute ihn. »Sie sind unruhig.« Er nickte. »Ich
fühle Ihre Enttäuschung und teile sie, denn auch ich hatte so sehr
gehofft... Aber ja, wir können jetzt gleich fahren. Wir würden
zumindest bis Arb'Tn kommen, ehe es dunkel wird, und dort lebt Awad
Ibn Jazi.«
»Was sollen wir mitnehmen?« erkundigte sic h Mrs. Pollifax, die den
Ausflug für ein ideales Mittel gegen Farrells Trübsinn und ihre
Besorgnis um ihn hielt. Es würde wie ein Ausflug zu einem Picknick
oder zum Camping sein, ein wunderbares Abenteuer in der Wüste und
eine Entspannung nach den Ereignissen der vergangenen
Tage.
»Pullover für die Nacht«, antwortete Josef. »Kleidung zum Reiten.
Sandalen, vielleicht, und Sonnenbrillen. Hanan, pack du deine
Sachen und kümmere dich um den Wasserkrug... Dann werden wir zum
Hotel fahren, damit Mr. Farrell und Mrs. Pollifax holen können, was
sie brauchen - und los geht's! Also,
beeil dich, Hanan.«
Mrs. Pollifax bedachte Farrell mit einem teilnahmsvollen Blick. »Es
wird ein entspannendes Abenteuer für uns werden«, versprach sie
ihm.
Hanan war im Haus verschwunden. Farrell, der kein Spielverderber
war, hob eine leere Teetasse. »Also dann, auf Hanans Wüste!«