12
Während sie den Desert Highway entlangfuhren - wie üblich in einigem Abstand gefolgt von der rostroten Limousine -, bekamen Mrs. Pollifax und Farrell ihre erste Kostprobe von der Wüste. Karak lag bereits hinter ihnen, als Josef plötzlich am Straßenrand anhielt und rief: »Sehen Sie den Himmel - ein Sandsturm! Ich schlage vor, wir gehen dorthin!« Er deutete zu dem einzigen Haus in der Nähe, ein schäbiges Rasthaus an der Straße. Als sie ausstiegen, drängte er: »Schnell!« Andere hatten dort bereits Zuflucht gesucht. In der Gaststube standen vereinzelt billige Kunststofftische und -stühle. An einer Theke konnte man Limonade, Kartoffelchips, Süßigkeiten und Zigaretten erstehen. Von der roten Limousine war nichts zu sehen. Farrell kaufte Hanan eine Limonade; sie stellten sich ans Fenster und sahen zu, wie der Himmel sich immer noch gelber färbte. Der Wind war stärker geworden, er erfaßte Staub, Steinchen und Abfälle am Straßenrand, verstreute sie wieder und rollte verspielt kleinere Dinge über den Boden, bis sie vom Fenster aus nicht mehr zu sehen waren. Ein Lieferwagen fuhr auf den Parkplatz, gefolgt von einer schwarzen Limousine.
Farrell kniff die Augen zusammen und betrachtete sie eingehend. »Dieser Volvo - Herzogin, können Sie den Mann auf dem Rücksitz erkennen? Er sieht aus wie der, der sich mit mir im Speisesaal über arabische Literatur unterhielt.«
»Der Mann im schwarzen Seidenanzug?« Mrs. Pollifax folgte seinem Blick, sah jedoch nur schattenhaft ein Gesicht, ehe der Sturm über sie kam und Josefs Taxi sowie der Volvo hinter einer gelben Staubwand verschwanden. Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich konnte ihn nicht erkennen.«
»Kommt er herein? Verdammt, nein«, knirschte Farrell. »Er und der Fahrer suchen im Wagen Schutz gegen den Sturm. Aber Herzogin, ich bin sicher...«
»Ist schon gut, ich glaube es Ihnen ja«, beruhigte sie ihn. Der Sandsturm tobte eine gute halbe Stunde und ließ dann so abrupt nach, wie er gekommen war. Josefs Taxi wurde wieder sichtbar; der schwarze Volvo fuhr weiter, der Himmel klärte sich allmählich auf und gewann sein strahlendes Blau zurück, und sie setzten ihre Fahrt nach Arb'Tn fort. Merkwürdigerweise war Farrells Besorgnis wegen des Mannes im Volvo jetzt auf Mrs. Pollifax übergesprungen. Sie erinnerte sich an etwas, das Farrell bisher nicht aufgefallen war: an den verwaisten schwarzen Wagen, der am Vormittag des Mordes auf dem Parkplatz in der Festung gestanden hatte und entweder dem toten Iraker gehört haben mußte oder dem Mann, der davongerannt war... Nur, wenn es der Wagen des Fliehenden gewesen wäre, hätte er ja bloß hineinzuspringen brauchen und wäre rasch entkommen. Aber als sie mit der Polizei die Burg verließen, hatte der schwarze Wagen noch dort gestanden. Am nächsten Tag war er allerdings weggebracht worden, und sie fragte sich, von wem: von der Polizei oder von jemandem aus der irakischen Botschaft?
Natürlich mußte es allein in Amman Dutzende von schwarzen Volvos geben, versuchte sie sich zu beruhigen. Und der Mann im schwarzen Seidenanzug hatte das Recht zu reisen, wohin er wollte. Aber er war auch der Mann, der im Hotelspeisesaal das Gespräch über arabische Literatur so geschickt gesteuert hatte, daß auch von Dib Assen die Rede war. Zufall oder nicht?
Sie schüttelte den Kopf. Die Verbindung war zu vage, um mit Farrell darüber zu sprechen, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Hanan, die vorn neben ihrem Bruder saß, redete unentwegt über Pferde. Ihr Freund Qasim, den sie so bewunderte, hatte einen neuen reinrassigen Braunen - mit weißen Fesseln und einer Blesse. Er hatte ihn ihr gezeigt, als sie vor ein paar Wochen das letzte Mal zu Besuch bei ihrem Großvater gewesen war. Sie drehte sich zu Mrs. Pollifax und Farrell um und erzählte, daß da viele Gäste ihre Zelte aufgeschlagen hatten, die für den nahenden Winter in den Süden gekommen waren.
Josef lache. »Vielleicht wissen Sie nicht, daß
wir Bedu sehr gastfreundlich sind; es
ist ein Gesetz der Wüste.«
»Ich habe davon gehört«, antwortete Farrell. »Ob Freund oder Feind,
jeder erhält zu essen und eine Schlafstätte zumindest drei Tage
lang, stimmt das?«
Josef zuckte mit den Schultern. »Für einen Freund von Juseff und
Hanan gilt dieses Gesetz nicht. Für Sie wird unser Großvater ein
Schaf schlachten und ein Mansef geben
- ein Fest.«
Oje, dachte Mrs. Pollifax,
ich kann nur hoffen, daß Schafaugen nicht
mehr als Delikatesse gelten.
»Es ist jetzt nicht mehr weit bis Arb'Tn«, sagte Josef nun. »Arb'Tn
heißt vierzig. So wurde es vor vielen, vielen Jahren genannt, aber
warum weiß niemand mehr. Möglicherweise vierzig Kilometer bis
irgendwo, vielleicht zu einem Brunnen, einer Quelle oder einer
Ortschaft, aber die nächste Stadt ist Sad as Sultani, und sie ist
nicht vierzig Kilometer
entfernt.«
»Awad sagt: ein Brunnen!« Hanan klang
sehr bestimmt. Ihre Loyalität gegenüber einem Freund war offenbar
unerschütterlich.
Josef lachte. »Also gut, dann ein Brunnen.« Es war schon fast
dunkel, als sie vor Awad Ibn Jazis Haus anhielten. Wenn Arb'Tn eine
Ortschaft war, dann eine winzige, nur ein paar beisammenstehend
Häuser, wie bei einer kleinen Bahnstation. Als sie ausgestiegen
waren und den Hof betraten, hörte Mrs. Pollifax das Gurren von
Tauben und sah hoch oben in der Hauswand einen Taubenschlag. Die
Vorderseite des quaderförmigen Betonhauses lag im Schatten von
Obstbäumen, und der Weg zur Haustür war mit flachen, in zartem
Blau, Türkis und Rosa bemalten Steinen gepflastert. Ihre Stimmen
brachten einen kleinen Mann an die Tür. Er ging etwas gebeugt, sein
mit Runzeln und Falten durchzogenes Gesicht erinnerte an poliertes
braunes Leder; seine Augen waren glänzend und schlau und strahlten
plötzlich vor Wärme, als sie auf Hanan fielen. Er trug ein graues
Gewand und einen karierten Kaffiyeh,
der von einer schwarzen Kordel oder Aigal gehalten wurde, seine Füße steckten in
Sandalen. Sowohl Hanan als auch Josef grüßten ihn förmlich mit
einem Ritual von Fragen und Antworten in Arabisch: Kif halak, wie geht es dir... alhamdu lillah, gut, Allah sei Dank, und dann
sagte Josef: »Wir haben zwei Amerikaner gebracht, Awad Ibn Jazi.
Hanan möchte, daß sie morgen unseren Großvater
kennenlernen.«
Die klugen Augen des Alten musterten Mrs. Pollifax und Farrell
eingehend. Dann sagte er: »Ahlan wa sahlan
faddal!«
»Sie sind Amerikaner«, erinnerte ihn Josef grinsend.
»Dann sage ich zu Ihnen: Ich heiße Sie willkommen, bitte treten Sie
ein.« Er lächelte breit, offenbarte dabei eine Lücke zwischen den
Schneidezähnen und fuhr auf englisch fort: »Zweifellos möchte meine
kleine Hanan Ihnen ihr weißes Kame l zeigen.«
Mrs. Pollifax lachte. »O ja, allerdings.«
»Kannst du uns morgen hinbringen?« fragte Josef Awad hoffnungsvoll.
Awad rümpfte die Nase über diese Frage. »Als wüßtest du nicht genau, daß ich nichts lieber tue. Ich habe schon wieder genug von festen Wänden um mich.«
Jetzt erst bemerkten sie die kleinen Kinder, die hinter Awad Schutz gesucht hatten und sie neugierig anstarrten; und beim Betreten des Hauses begegnete ihnen eine hübsche, stattliche junge Frau in schwarzem Gewand. »Awads Enkelin Rehab«, stellte Josef sie ihnen vor, und die Namen der Kinder prasselten herab. Die Mädchen waren Ghada, Saadija und Nawal, und der kleine Junge war Tahar. Es waren die Kinder von Rehab und ihrem abwesenden Mann Omar. Mrs. Pollifax staunte insgeheim, als ihr klarwurde, daß sie alle in diesem winzigen Drei- Zimmer-Haus lebten. Mit einem leichten Gefühl von Klaustrophobie blieben sie verlegen im Wohnzimmer stehen, einem kleinen Raum mit einem Fernsehapparat, einem Stoß ordentlich aufgestapelter Matratzen in einer Ecke und einem Wirrwarr von Bänken und Kissen. Rehab holte zwei Stühle aus dem Hof hinter dem Haus herein und begann Befehle, offenbar auf arabisch, zu erteilen.
Josef übersetzte. »Sie schickt Ghada zu ihrer Schwester im Nachbarhaus, um mehr Reis für unser Abendessen zu besorgen, und da es zu kalt ist, um auf dem Dach zu schlafen, soll Saadija Matratzen für Hanan und Sie, Mrs. Pollifax, in das Zimmer im ersten Stock tragen. Und sie erinnert Awad daran, daß im Fernsehen heute ein ägyptischer Film gesendet wird, den Sie sich vielleicht ansehen möchten.«
Mrs. Pollifax sagte rasch: »Bitte danken Sie ihr und entschuldigen Sie sich dafür, daß wir ihr solche Umstände machen.«
»Kein Problem«, versicherte ihr Josef. »Wir werden alle ein gutes Abendessen bekommen, es wird Kusa mahshi geben, und Rehab verspricht, es in eineinhalb Stunden fertig zu haben.«
Farrell nickte nach einem Blick auf seine Uhr. »Also um halb acht. Das ist eine vornehme Zeit für das Dinner in den Vereinigten Staaten, für Mexiko allerdings etwas früh. Bitte danken Sie ihr auch in meinem Namen.«