11
Inspektor Jafer war alles andere als entspannt. Nach seinem Besuch in der Festung Karak am Vormittag saß er nun in seinem Büro und dachte über die Komplikatio nen nach, die der Tod eines Ausländers in Karak - eines Irakers noch dazu - nach sich ziehen mochte. Seine Männer waren dorthin zurückgekehrt, um noch einmal zu fotografieren und die Größe der Kammer genau auszumessen; dabei hatten sie noch ein paar Tropfe n Blut entdeckt, die in den erdigen Fußboden gesickert waren. Die höchst aufgebrachte irakische Botschaft bezeichnete den Tod eines ihrer Angehörigen als Mord, doch der Inspektor war da nicht so sicher. Blutproben von dem Toten hatten nicht mit dem Blut an dem Dolch übereingestimmt, den er in seiner von der Leichenstarre verkrampften Hand hielt, sondern waren von einer völlig anderen Blutgruppe. Jafer vermutete, daß der tote Iraker der Angreifer gewesen war und das Blut am Dolch von seinem unbekannten Opfer stammte, das sich in Luft aufgelöst zu haben schien. Es erwies sich als außerordentlich schwierig, die Leute von der Botschaft zu überzeugen, daß die einzige Verletzung des Toten, der FarTq Chalki hieß, die vom Aufprall gegen die Wand herrührende Quetschung am Hinterkopf war. Jemand hatte hart mit ihm gekämpft und ihn dabei zu Fall gebracht. Der Inspektor folgerte mit wachsender Überzeugung, daß das die Ursache seines Todes gewesen war. Er war völlig sicher, daß die Untersuchung des Blutes am Boden und am Dolch bestätigen würde, daß es nicht von FarTq Chalki stammte; und ebenso sicher war er, daß diese Tatsache den Irakern gar nicht gefallen würde. Er seufzte. Jordanien bewahrte ein äußerst empfindliches Gleichgewicht im Nahen Osten. Nach Jahrzehnten der Konfrontation mit Israel hatte der König einen Friedensvertrag mit den Israelis geschlossen, womit die islamischen Konservativen, die in Jordanien die Opposition bildeten, überhaupt nicht einverstanden waren. Während des Golfkriegs hatte Jordanien den Irak unterstützt, doch die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern waren in letzter Zeit abgekühlt, vor allem, seit zwei von Saddams Töchtern sich samt Ehemännern nach Jordanien abgesetzt hatten und der König ihnen Asyl gewährt hatte. Ihre Anwesenheit in Jordanien war bei anderen irakischen Flüchtlingen, die so engen Familienangehörigen des Diktators mißtrauten, auf Mißtrauen gestoßen. Und sechs Monate später hatten sie die Welt damit überrascht, daß sie Saddam ersuchten, zurückkehren zu dürfen, und er hatte ihnen Vergebung versprochen. Drei Tage nach ihrer Heimkehr wurden sie ermordet. Saddam hatte ihnen doch nicht vergeben. Die Frage war, würde er Jordanien verzeihen, daß es ihnen Zuflucht gewährt hatte? Eine mehr als beunruhigende Situation. Der Golfkrieg hatte ihnen neue Feinde beschert und sie viel gekostet: Die Arbeitslosigkeit war hoch; sie befanden sich immer noch in der unangenehmen Lage, für Ölimporte auf den Irak angewiesen zu sein, ebenso aber für Wirtschaftshilfe auf die nun verbündeten Länder - und vor allem auf die Vereinigten Staaten. Ihr weiser und einfallsreicher König hatte über vierzig Jahre einen Drahtseilakt vollbracht. Und nun mußte das passieren. Sie konnten sich im Augenblick keinen verärgerten und bis an die Zähne bewaffneten Nachbarn leisten. Der Irak war wie ein Phönix aus der Asche des Krieges neu erstiegen und manövrierte seine Truppen provozierend herum, was die Vereinigten Staaten ebenso verwirrte und beunruhigte wie Jordanien.
Er seufzte. Er hatte seinem Vorgesetzten einen umfangreichen Bericht über alles vorgelegt, was seine Männer in der Festung Karak entdeckt hatten. Die Einzelheiten waren vermutlich ein wenig umfangreicher als im Bericht der Polizei von Karak. Seiner Darstellung hatte er das Interview in Amman mit der Frau hinzugefügt, die die Leiche gefunden hatte. Besonders sorgfältig war er auch bei seiner Beschreibung des Reiseandenkens vorgegangen, das man ihr auf dem Flug nach Jordanien ohne ihr Wissen zugesteckt hatte. Gewöhnlich handelte es sich bei solchen Schmuggeleien um Haschisch, nicht um Souvenirs, die ahnungslosen Reisenden untergeschoben wurden. Der Zoll war mit solchen Machenschaften vertraut, aber ein Reiseandenken als Schmuggelware war ungewöhnlich. Inspektor Jafer war jedoch immer noch verwirrt darüber, wie sie und ihr Cousin den Schlüssel im Sperrholzsockel entdeckt hatten. »Ist auf den Boden gefallen und auseinandergebrochen«, hatte Mr. Farrell behauptet, was kaum glaubwürdig erschien, aber er hatte es einstweilen dabei belassen. Noch schwerer war ihm gefallen, die Geschichte der Frau zu glauben, daß ihnen ständig eine rostrote Limousine folgte. Nur der Verfolgungswahn einer spleenigen Touristin, das war seine Meinung darüber gewesen, bis dann sowohl Farrell als auch ihr Fremdenführer, Juseff Jidoor, diese Aussage bestätigt hatten.
Ohne Kommentar hatte er das alles in seinem Bericht dargelegt, in allen Einzelheiten; auch die Erklärung der Frau, sie sei sicher, daß das Reiseandenken von dem neben ihr im Flugzeug sitzenden Mann namens Nayef heimlich in ihre Reisetasche gesteckt worden war. Jafer hatte den Schlüssel und das Seidenpapier in einen gekennzeichneten Umschlag gelegt und diesen einstweilen in seinen Schreibtisch verstaut. Irgendwann würde sein Vorgesetzter dazu kommen, seinen Bericht zu lesen. Den ganzen Vormittag war er zu beschäftigt gewesen, die erregten Anrufe von der irakischen Botschaft so diplomatisch wie nur möglich zu beantworten. Für siebzehn Uhr hatte er jedoch eine Besprechung der Abteilung anberaumt.
Es war allerdings erst sechzehn Uhr, als sein Chef, Jafers Bericht schwenkend, in dessen Büro gestürmt kam. Sein Gesicht war knallrot. Jafer erhob sich. »Sir?«
»Nayef!« platzte sein Vorgesetzter heraus. »Nayef?«
Er fuchtelte ihm mit dem Bericht unter der Nase herum. »Diese Frau behauptet, der Mann, der im Flugzeug von New York neben ihr saß, nannte sich Nayef?« Inspektor Jafer nickte.
»Wir haben soeben vom Geheimdienst erfahren, daß Suhair Slaman am Sonntag auf einem Flug von New York den Namen Nayef benutzte!«
Jafer riß den Mund auf. »Suhair Slaman!« keuchte er. »Bismallah, die Frau hat die Wahrheit gesagt!«
»Offenbar ja«, brummte sein Vorgesetzter grimmig. »Ich habe Ihren Bericht höchstpersönlich zum Polizeidirektor gebracht. Lassen Sie mal sehen, was Sie hier haben... Übrigens stieg Slaman in Amsterdam aus, aber es besteht der Verdacht, daß sein Besuch in den Vereinigten Staaten etwas mit Jordanien zu tun hatte. Und da uns seine Beteiligung bei mindestens zwei versuchten Anschlägen auf unseren König bekannt ist, ist das alles andere als eine gute Nachricht. Wenn er in Amsterdam aus dem Flugzeug gestiegen ist, brauchte er nur den nächsten Flug nach Istanbul zu nehmen und von dort einen Direktflug nach Damaskus. Und in Syrien hat er viele Freunde. Also, wo sind jetzt dieses Souvenir und der Schlüssel?«
Jafer griff in seine oberste Schublade und zog die zwei Teile des Sockels heraus sowie den Umschlag mit der Aufschrift »Beweisstück 5032«. »Hier ist der Schlüssel. Mrs. Pollifax und Mr. Farrell erklärten, daß er in dieses Seidenpapier gewickelt war, auf das ein Datum und rätselhafte Linien gekritzelt sind, die aussehen wie - nun, vielleicht können Sie mir das sagen.«
Sein Chef studierte es eingehend, bevor er sagte: »Das Datum hier gefällt mir ganz und gar nicht... IshrTn al awal, talatTn... 30. Oktober... Haben Sie es vergessen? Der ägyptische Staatspräsident trifft am neunundzwanzigsten in Amman ein, und er und König Hussein nehmen am dreißigsten in Begleitung von Quidatal-Am, dem ranghöchsten Offizier der Streitkräfte, an einer Inspektion der Luftwaffe teil.« Stirnrunzelnd studierte er das Diagramm. »Vielleicht könnte das uns etwas über Suhair Slamans Pläne sagen. Jafer...«
Der Inspektor sprang auf. »Sir?«
»Rufen Sie den Chef der Abwehr an und sagen Sie ihm, daß wir den in
Ihrem Bericht erwähnten Schlüssel und die
Schnitzerei hier haben, dann kommen Sie zu mir, damit wir uns gemeinsam einige Landkarten ansehen. Rufen Sie auch Sadrati von der Dechiffrierabteilung an und bringen Sie ihn mit. Und diese Mrs....« Er blickte auf den Bericht. »... diese Mrs. Pollifax. Wir werden sie brauchen... Aber nein, dafür haben wir jetzt keine Zeit. Lassen Sie sie einstweilen von zwei guten Männern observieren und sagen Sie ihnen, sie sollen auch herausfinden, wer in dieser roten Limousine sitzt. Wir wollen diesen Wagen, Jafer!«
»Jawohl, Sir.«
Nachdem sein Chef aus dem Zimmer gerannt war, rief Jafer den Geheimdienst an. Sein Assistent beorderte Tuhami und Nasiri herbei, und Jafer gab ihnen seine Anweisungen. »Mrs. Pollifax«, er buchstabierte es: »Pollifax, Zimmer 310, Hotel Continental.« Er fügte eine Beschreibung von ihr und Mr. Farrell hinzu und das, was er von der rostroten Limousine wußte, die Jidoors Taxi folgte. Danach rief er noch Sadrati in der Dechiffrierabteilung an und eilte zu seinem Chef in den Kartenraum. »Sie haben die Grenzpatrouille verstärkt«, waren die ersten Worte, nachdem sie sich dort eingefunden hatten. »Bevor wir das zur Abwehr schicken, Sadrati, sollten Sie sehen, ob Sie sich hierauf einen Reim machen können...« Er betrachtete das Seidenpapier noch einmal stirnrunzelnd. »Für mich ist es nur ein Gekritzel mit Linien.«
Sadrati setzte sich an einen freien Tisch. Er holte ein Vergrößerungsglas aus seiner Jackentasche und begann das Gewirr von O's zu studieren, die in einem interessanten Muster angeordnet waren, mit drei auf die Mitte gerichteten Pfeilen und darunter einer waagrechten Linie. Nach angestrengter Überlegung bemerkte Sadrati: »Ich glaube nicht, daß das ein Code ist. Ich halte diese Gruppen von Kreisen für Bäume oder Büsche, die drei zur Mitte gerichteten Pfeile für Zugänge und diesen langen Strich darunter für eine Straße. Was haben Sie für einen Verdacht?«
»Daß für den 30. Oktober etwas geplant ist,
möglicherweise ein Anschlag«, antwortete der Inspektor.
Sadrati pfiff leise durch die geschlossenen Zähne. »Dann schlage
ich vor, daß wir uns Luftaufnahmen ansehen. Vielleicht können wir
ja eine ähnliche Anordnung von Bäumen finden, möglicherweise sogar
von kleinen Häusern an einem wichtigen Punkt und eine Straße
unterhalb...«
»Einen Versuch ist es wert.« Der Inspektor nickte. »Aber wir müssen
uns beeilen!«
Sie breiteten die Luftbildkarten auf dem Tisch aus, und die drei
Männer beugten sich darüber. Sadrati kopierte die Gruppe von O's
auf eine Klarsichtfolie, die sie, identische Punkte suchend, über
die Karten schoben. »Wer auch immer Skizze und Schlüssel bekommen
sollte - wer hoffte, sie von dieser Mrs. Pollifax stehlen zu
können«, sagte Inspektor Jafer, »weiß natürlich genau, was diese
Markierungen bedeuten. Deshalb müssen wir unbedingt ihre Verfolger
in der roten Limousine verhören.«
»Ja«, pflichtete ihm sein Chef grimmig bei, »aber sie sind vielleicht nur kleine Fische oder bezahlte Gehilfen.«
»Wenigstens haben wir die Zeit auf unserer Seite«, wurde er erinnert. »Heute ist - was? Der 13. Und das Datum, hier, für was auch immer, ist der 30. Oktober.«
»Man kann keiner Sache sicher sein, hinter der Suhair Slaman steckt!«
»Suhair Slaman!« entfuhr es Sadrati. »Gütiger Allah, das haben Sir mir nicht gesagt. Erwähnten Sie nicht, daß eine Frau in diese Sache verwickelt ist?«
Jafer nickte. »Eine amerikanische Touristin, die man den Schlüssel nach Amman schmuggeln ließ - ohne ihr Wissen, zumindest bis ihr Zimmer durchsucht wurde und sie merkte, daß man sie beschattete.« Sadrati blickte den Chef vorwurfsvoll an. »Sie sagen, zwischen heute und dem 30. Oktober ist viel Zeit, aber zweifellos werden sie dieser Frau schon lange zuvor auf den Leib rücken und den Schlüssel von ihr verlangen!«
»Es ist unser Glück, daß sie immer noch glauben, sie hätte ihn«, sagte der Chef.
Sadrati sah ihn entsetzt an. »Ich bin froh, daß ich nur mit Codes und Dechiffrierungen zu tun habe. Sie denken doch nicht wirklich, daß Terroristen ihren Beteuerungen glauben würden, daß sie nicht hat, was sie wollen? Sie setzen sie wirklich einer großen Gefahr aus!«
»Wir sind keine Dummköpfe!« sagte der Inspektor barsch. »Wenn wir sie zu früh hierherbringen, berauben wir uns jeder Hoffnung, die zwei Männer festzunehmen und zu verhören, die ihr in dem roten Wagen folgen. Wir beschützen sie so gut wie nur möglich... Ich habe bereits zwei meiner besten Männer dafür abgestellt, die sie nicht aus den Augen lassen. So, nun zurück zu unserem eigentlichen Problem.«
Sie beugten sich wieder über die Luftbildkarten und konzentrierten sich auf mögliche Gefahrenzonen: den König Hussein- und den König Abdullah-Luftwaffenstützpunkt sowie den königlichen Palast. Doch eine Baum- oder Gebäudegruppe, die am 30. Oktober Schauplatz eines Attentats sein könnte, ließ sich auf einer so riesigen Luftaufnahme nicht finden.
»Es ist sinnlos«, meinte Jafer, und sein Chef nickte. »Doch wir kennen immerhin das Datum, und wir haben diesen Schlüssel.«
»Genügt nicht«, brummte der Chef. »Aber es ist besser als nichts. Und wir haben diese Mrs. Pollifax. Wir haben sie doch, nicht wahr, Jafer?«
»Ich werde vorsichtshalber mal nachfragen.« Er ging zum
Telefon und sprach mit seinem Assistenten. »Meine Männer sind bereits auf ihrem Posten am Hotel, Sir. Mrs. Pollifax und ihr Cousin sind schon den ganzen Tag unterwegs, und beide Zimmerschlüssel wurden am Empfang abgegeben. Der Speisesaal öffnet um neunzehn Uhr dreißig, und sie haben bisher immer im Hotel zu Abend gegessen.«
Der Chef nickte. »Gut. Und jetzt bringen Sie bitte den Inhalt dieses Sockels zur Abwehr.« Nachdem Inspektor Jafer gegangen war, sagte Sadrati nachdenklich: »Glauben Sie wirklich, Sir, daß Suhair Slaman persönlich nach Jordanien zurückkommen wird, was immer auch geplant ist? Das letzte Mal ist er der Verhaftung nur um Haaresbreite entgangen, und er ist der Wüstenpatrouille, der Armee und der Polizei wohlbekannt.«
Der Chef lachte bitter. »Schwer zu glauben, das stimmt. Aber nach allem, was der Geheimdienst erfahren hat, ist er letzte Woche in die Vereinigten Staaten eingereist, hat dort drei Tage verbracht und ist wieder abgereist, ohne daß er erkannt worden wäre.«
Das entlockte Sadrati einen leisen Pfiff.
»Hada'atel! Das ist
schlimm!«
»Sehr schlimm. Und dieser Schlüssel? Ich wünsche der Abwehr viel
Erfolg. Es ist - wie heißt es bei den Amerikanern so schön? -, als
suche man eine Nadel in einem Heuhaufen.«
»Was machen Sie jetzt?« fragte Sadrati interessiert. »Wir machen
weiter mit den Ermittlungen in dem Mordfall, und sobald diese Mrs.
Pollifax in ihr Hotel zurückkommt, werden wir mehr erfahren, viel
mehr. Das übrige...« Er zuckte mit den Schultern. »Das übrige liegt
jetzt in den Händen der Abwehr.«