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Mrs. Pollifax bedauerte bereits, Josef und seine Schwester Hanan so spontan zum Abendessen eingeladen zu haben. Die letzte Stunde war ziemlich beunruhigend gewesen. Eigentlich wollte sie sich beim Hoteldirektor empört über den Einbruch in ihr Zimmer beschweren, aber da nichts gestohlen worden war, hätte das nur ein merkwürdiges Licht auf sie geworfen. Sie war auch entsetzlich wütend über Mr. Nayef, der sie so unverschämt benutzt hatte, so daß sie nun vielleicht zur Last für Farrell würde. Dabei hatte Farrell sie nur zur ›Tarnung‹ mitgenommen und sicher nicht mit derartigen Störungen gerechnet.

Ihre Laune besserte sich jedoch, als sie Josef und seine Schwester im Foyer auf sie warten sah. Auch wenn ihre Laune sehr verbesserungs fähig blieb, sah sie erleichtert eine neue Ablenkung, die sie den Einbruch in ihr Zimmer für eine Weile vergessen ließ, nämlich Hanan. Die elfjährige Hanan stand kerzengerade neben ihrem viel größeren Bruder, keineswegs verlegen zwischen den gutgekleideten Touristen. Sie trug ein traditionelles, langes, unförmiges braunes Gewand, das von einem weißen Chiffonschal um die Schulter ein wenig belebt wurde. Doch statt der üblichen Sandalen - Mrs. Pollifax traute ihren Augen nicht - trug sie ein prächtiges Paar weißer, mit roten Sternen verzierter Cowboystiefel. Ihre schwarzen Locken waren kurz geschnitten, so daß sie ihr rundes Kindergesicht wie eine Kappe einrahmten. Glänzende dunkle Augen musterten das Gesicht eines jeden, der aus dem Fahrstuhl stieg, und als ihr Bruder sie auf Mrs. Pollifax und Mr. Farrell aufmerksam machte, lächelte sie erwartungsvoll, und ihre weißen Zähne blitzten vor der sonnenbraunen Haut. Mrs. Pollifax spürte, daß sie mit einer Schärfe gemustert wurde, die sie von einer Elfjährigen nicht erwartet hätte. Später erfuhr sie, daß Hanan Kamele mit genau der gleichen Schärfe und Sorgfalt begutachtete.
»Das ist Hanan«, erklärte Josef unnötigerweise.
»Wie geht es Ihnen, bitte?« grüßte Hanan ernst. Sie gab jedem

die Hand. Dann fragte sie plötzlich aufgeregt: »Haben Sie gewußt, daß in dem Laden hier auch Karten verkauft werden?« Sie hielt zwei hoch. »Ein Stadtplan von Amman und eine Karte von Jordanien - und der Wüste!«

»Gibt es in der Schule denn keine Karten?« fragte Farrell.

»Oh, doch, aber die darf man nicht mit nach Hause nehmen, diese gehören mir«, betonte sie und drückte sie begeistert an sich.

»Wo hast du bloß so ausgezeichnet Englisch gelernt?« staunte Farrell.

Hanan strahlte ihn an. »Mein Großvater hat es gelernt, als die Engländer hier waren - mit Pascha Glubb. Und meine Eltern sprechen es, Juseff aber am besten. Und letztes Jahr in der fünften Klasse haben wir es auch in der Schule angefangen.«

»Erstaunlich!« sagte Mrs. Pollifax. »Aber wir sollten jetzt in den Speisesaal gehen. Ich hoffe, du bist so hungrig wie ich.«
Im Speisesaal weiteten sich Hanans Augen, als sie an den langen Reihen von Büfetts mit silbernen Terrinen und exquisit angerichteten Platten vorbeigingen. »Hilweh!« murmelte sie. »So schön!«
Es wurde ein sehr interessantes Abendessen - und abwechslungsreich. Noch ehe der Kellner kam, um sich zu erkundigen, ob sie Mineralwasser wollten, hatte Hanan ihre Karten über die Tischdecke und das Besteck ausgebreitet und fast eine Vase mit Blumen umgestoßen. Farrell mußte ihr alles über Längen- und Breitengrade erklären, und Hanan war entzückt zu erfahren, daß Jordanien zwischen 29°11'-33°22' nördlicher Breite und 34°59'-39°18' östlicher Länge lag. Sie liebte Zahlen. Sie bestand darauf, genau festzustellen, wo ihr Großvater jetzt, im Monat tishretn alalwal Oktober-, seine Zelt aufgeschlagen hatte. Sie erzählte ihnen voll Stolz, daß sie ein eigenes Kamel besaß, das schneeweiß war.
»In Amman?« neckte Farrell sie.
»In Amman?« Sie musterte ihn abschätzend. »Mein Kamel ist bei meinem Großvater in der Wüste.« Sie wandte sich eifrig an Mrs. Pollifax: »Bitte, ich möchte, daß Sie mein Kamel sehen. Natürlich hätte ich gern ein Pferd, aber mein Großvater sagt, jetzt noch nicht.«
»Du trägst Cowboystiefel.«
Hanan nickte. »Mein Großvater hat sie für mich im Suk im Basar - machen lassen. Extra für mich«, betonte sie.

»Ja.« Mrs. Pollifax nickte. »Es ist sehr wichtig, nicht wahr, daß sie dir gehören.«

Farrell und Mrs. Pollifax mußten zu ihrer Schande gestehen, daß sie noch nie ein Rodeo besucht hatten, aber ihre neue kleine Freundin verzieh es ihnen großmütig. Sobald die Karten wieder zusammengelegt waren, gingen sie an die Büfettische, um sich aus dem üppigen Angebot etwas auszusuchen. Mrs. Pollifax, die als erste mit Josef an ihren Tisch zurückkehrte, fragte: »Was wird aus diesem intelligenten, freimütigen Kind werden, wenn es älter wird, Josef? Sie ist sehr ungewöhnlich. Ich hatte gedacht, daß in Ihrem Kulturkreis Mädchen beispielsweise nie allein mit einem Mann sein dürfen, doch...«

»Sie ist nicht allein, ich bin ihr Bruder«, entgegnete er. Er seufzte. »Sie ist als Nesthäkchen in unsere Familie gekommen ich, zum Beispiel, bin zwölf Jahre älter als sie -, und sie hatte dadurch viel mehr Beachtung und Freiheit. Aber ich glaube nicht, daß sie Lehrerin werden oder in einem Büro arbeiten wird. Ich denke, sie wird wahrscheinlich unseren Cousin Qasim heiraten. Er mag sie, und Hanan bewundert seine Pferde. Er ist sechzehn und wird vermutlich bald zur Badiya, der Wüstenpatrouille, gehen. Denn genau wie Hanan sagt er, daß er in der Stadt keine Luft bekommt und er die Weite der Wüste und des Himmels braucht.«

»Ich würde die Wüste gern sehen«, vertraute Mrs. Pollifax ihm an. »Ist sie nur Sand und Dünen?«

Josef lachte. »Stellenweise ja, aber tief in der Wüste, der Suwwan, ist sie ganz aus - wie heißt doch Ihr englisches Wort, Feuerstein? Nein, nicht viel Sand. Steine, Schotter...«

»Und Weite und Himmel.« Sie nickte. »Ja.«

Hanan kam mit Farrell zurück. Sie hatte ihren Teller mit Süßem hoch beladen: gefülltem Blätterteiggebäck, Tortenstücken mit dicker Zuckerglasur und zwei Stück Kirschkuchen mit Sahne. Sie aß genießerisch, während Farrell und Josef ihre Pläne für den nächsten Tag besprachen, natürlich angefangen mit der Festung Karak. »Aber wenn Sie zu lange auf der Burg bleiben«, gab Josef zu bedenken, »bleibt Ihnen nicht viel Zeit, sich Petra anzusehen. Petra ist etwas Besonderes, wissen Sie, das Sie sich unbedingt anschauen müssen! Außer, Sie würden bei Petra übernachten. Es gibt dort ein gutes Hotel, das Yaybat Zaman in Wadi Musa.«

»Aber das hängt doch alles davon ab, ob Ibrahim morgen kommt oder nicht«, unterbrach Mrs. Pollifax. Farrell nickte.
»Vielleicht würde er Petra ebenfalls gern sehen«, meinte Josef höflich. »Ich würde auch für drei Personen nicht mehr verlangen.«
Sie wechselten Blicke, sagten jedoch nichts, und es herrschte Schweigen, bis Hanan sagte: »Wenn du morgen nach Süden fährst, Juseff, könntest du mich in Al Qatrana absetzen.«

»Es ist erst Montag. Du hast morgen Schule«, erinnerte Josef sie streng. »Freitag ist keine Schule. Am Freitag, vielleicht.«

»Aber Juseff, du weißt doch, daß Awad Ibn Jazi versprochen hat...« Sie redete auf arabisch weiter.
Josef blieb eisern. »Schule«, wiederholte er.

»Und wer ist Awad?« erkundigte sich Farrell lächelnd. »Er war früher Offizier der Wüstenpatrouille, der Badiya«, erklärte Josef.

Hanan nickte. »Und er hat versprochen, mir ein altes, altes Fort in der Wüste zu zeigen, das jetzt halb vergraben ist und von dem nur die Badiya weiß. Awad weiß alles wie die Schmuggler über die Grenze kommen und wo die Falken nisten. Er ist noch älter als mein Großvater - aber er hat keine Kame le«, fügte sie bedauernd hinzu.

»Hanan, iß auf«, befahl Josef. »Wir müssen gehen. Du hast morgen Schule, und unsere neuen Freunde haben viel zu tun.«
Bedauerlicherweise, dachte Mrs. Pollifax, auch viel zuviel zu überlegen.
Hanan stand auf. »Ashkurak«, bedankte sie sich. Schüchtern fügte sie hinzu: »Ich mag Sie sehr sehr gern. Werden Sie kommen und mein Kamel ansehen?«
»Wenn wir können«, erwiderte Farrell.

»Wir werden es auf jeden Fall versuchen«, versprach Mrs. Pollifax.

»Es war uns eine große Ehre.« Josef strahlte sie an und verneigte sich höflich. »Wir danken Ihnen. Dann sehen wir uns morgen um acht Uhr wieder?«

Sie versicherten ihm, daß sie um acht Uhr bereit sein würden. Während sie noch über ihrem Kaffee sitzen blieben, sprachen sie kein Wort. Mrs. Pollifax nahm an, daß auch Farrell sich fragte, was wohl bis morgen abend um diese Stunde geschehen sein mochte.