Brauchen wir einen Moralkodex?

Zu Beginn dieses Kapitels über das Verhalten mag eine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik hilfreich sein. Auch wenn in der Alltagssprache beide Begriffe deckungsgleich erscheinen, gibt es wichtige Unterschiede. Grob gesprochen, betrifft die Moral eher das individuelle Verhalten und seine Übereinstimmung mit anerkannten Regeln, während die Ethik sich eher auf das gesellschaftliche Verhalten bezieht, das nach den Grundsätzen eines ethischen Systems bewertet wird. Manches Verhalten ist im privaten Kreis oder in der Familie erlaubt, erscheint in einem größeren Umfeld aber als inakzeptabel. Sowohl Moral wie auch Ethik beziehen sich auf ein gewohnheitsmäßiges Verhalten – wie Menschen etwas tun –, und beide beinhalten Normen. Moral versucht festzulegen, welches Tun »gut« oder »schlecht« ist, während sich die Ethik als eine Lehre mit diesem Gegenstand befasst und damit ein Teilgebiet der Philosophie ist. Ein Zweig der Ethik ist die »normative Ethik«, die zu bestimmen versucht, was wir in einem gesellschaftlichen Umfeld tun und was wir lassen sollten. Vor dem Hintergrund entsprechender Regeln wird unser Verhalten als »richtig« oder »falsch« bewertet. Solche Normen schlagen sich in kodifizierten Gesetzen nieder. Die Frage ist, ob wir einen Moralkodex brauchen, ob kodifiziert als Strafrecht oder Bürgerliches Recht oder auch nur in der ungeschriebenen Form mündlicher Überlieferungen.

Wir wissen nicht, wann sich die Idee der Moral entwickelt hat. Im frühesten menschlichen Zusammenleben hing das Empfinden dessen, was richtig und was falsch ist, wohl von den Erfordernissen des gemeinsamen Überlebens ab. Ein Verhalten des Einzelnen, welches das Überleben eines anderen oder der ganzen Gruppe bedrohte, galt als nicht hinnehmbar und wurde mit entsprechenden Sanktionen geahndet. Am Ende bildeten sich wohl Verhaltensmuster heraus, die zur allgemein akzeptierten Norm wurden, ob in einem Stamm oder einem Zusammenschluss von Stämmen. Diese »Urethik« bildete sich in Form gemeinsamer Normen einer Gruppe heraus. Nach solch primitiven Anfängen wird der Begriff der »Ethik« heutzutage sehr viel differenzierter gefasst und etwa auf so spezialisierte Bereiche wie die »Medizin-« oder der »Wirtschaftsethik« angewandt. Über die fachlichen Gruppen hinaus betrifft uns die Ethik alle als Menschen, die unter anderen Menschen leben. In der Ethik der westlichen Kultur kommt der vorherrschende allgemeine Einfluss aus dem ethischen System der jüdisch-christlichen Tradition, dessen Kern die zehn Gebote in der Deutung Jesu in der Bergpredigt bilden. Deren Inhalt floss in das große und komplexe System der kirchlichen, strafrechtlichen und zivilen Gesetzgebung ein, das für die Entwicklung der westlichen Zivilisation unabdingbar war.

Jede Gesellschaft, insbesondere eine so hoch entwickelte wie die unsere, wäre ohne einen Moralkodex nicht überlebensfähig. Ohne etablierte Leitlinien für das Verhalten und die Mittel, um die sie verkörpernden Gesetze durchzusetzen, herrschte die Anarchie. Unser Leben wäre, wie Thomas Hobbes (1588–1679) sagte, »einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz«. Andersherum ausgedrückt, ein Leben ohne Moralkodex oder ethisches System würde einer Gesellschaft ein Höchstmaß an Reife abverlangen, dank derer jedermann in den besten Interessen aller anderen lebte. Auch wenn dies unmöglich ist und wohl auch immer bleiben wird, lassen sich in einem gewissen Sinn alle ethischen Systeme auf dieses Prinzip zurückführen. Einfach gesprochen, ist ein ethisches System der Ausdruck unseres Respekts nicht nur für jeden anderen, sondern für alles Leben. Wie Albert Schweitzer anmerkte, ist Ethik »die Ehrfurcht vor dem Leben«. Sie gibt ihm »das Grundprinzip des Sittlichen ein, dass das Gute in dem Erhalten, Fördern und Steigern von Leben besteht und dass Vernichten, Schädigen und Hemmen von Leben böse« ist.

Gibt es absolute moralische Gesetze?

Der Gedanke an eine moralische Absolutheit setzt voraus, dass es bestimmte Taten gibt, die in jedweder Situation vollständig richtig oder völlig falsch sind. Solche Gesetze werden gewöhnlich mit Rechten und Pflichten in Verbindung gebracht und verweisen auf ein Prinzip, gegen das unter keinen Umständen verstoßen werden darf. Ein absolutes moralisches Gesetz findet man eher in einem religiösen Umfeld, insbesondere in dem der biblischen Religionen, aber es kann auch im weltlichen Bereich gelten. Ein Gesetz kann über Jahrhunderte hinweg absolute Geltung haben, diesen Status aber am Ende doch verlieren. So landeten im Mittelalter vom Glauben Abgefallene oder Ketzer, die einen Widerruf verweigerten, ohne Pardon auf dem Scheiterhaufen. In der modernen westlichen Gesellschaft gibt es solche Verbrechen dagegen nicht mehr.


»Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Hier stehe ich und kann nicht anders! Gott helfe mir, Amen!«

Martin Luther (1483–1546)


Vorbild für eine absolute Gesetzgebung waren die Zehn Gebote aus dem Alten Testament (Ex 20, 12–15), als Imperative formuliert wie: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« – »Du sollst nicht morden.« – »Du sollst nicht die Ehe brechen.« – »Du sollst nicht stehlen.« usw. Doch haben alle diese Gebote alllmählich ihren Absolutheitsanspruch eingebüßt. Die Absolutheit eines Gesetzes wird tendenziell anhand der Strafe bestimmt, mit der die Zuwiderhandlung geahndet wird. In vielen Teilen der Welt steht auf Mord noch immer die Todesstrafe nach dem Prinzip »Auge um Auge«, weil dem Gesetz wie auch der Strafe uneingeschränkte Geltung zugebilligt werden. Tatsächlich kommt dem Gesetz bei genauerer Betrachtung längst kein absoluter Stellenwert mehr zu, da inzwischen je nach Motiv, Auslöser und Planung der Tat verschiedene Arten von Tötungsdelikten unterschieden werden. Dasselbe gilt für andere Verbrechen, die einst als Verstoß gegen ein absolutes Gebot galten, so zum Beispiel für Diebstahl oder Ehebruch.

In der westlichen Gesellschaft wird moralische Absolutheit nicht mehr durch das Recht, sondern durch ein Ideal bestimmt. Irgendwo zwischen den Zehn Geboten und dem uferlosen Gesetzesdschungel, der aus ihnen hervorgegangen ist, gibt es einen harten moralischen Kern, der nicht weiter reduzibel ist. Als sogenannte Goldene Regel hat er sich seit dem antiken Babylon bis zum modernen weltlichen Humanismus in unveränderter Form erhalten. Diese Regel der Gegenseitigkeit verlangt positiv, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden will, und negativ, anderen nichts anzutun, von dem man nicht möchte, dass es einem selbst angetan wird. Auf die Bitte, das jüdische Gesetz zusammenzufassen, antwortete Rabbi Hillel: »Was du verabscheust, dass tue dem Gefährten nicht an. Das ist die ganze Thora. Das Übrige ist Erläuterung. Gehe hin und lerne.« In die christliche Terminologie übertragen, bedeutet dies: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« In seiner Abschiedspredigt sagte Mohammed: »Schadet niemandem, auf dass niemand euch schade.« Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der abendländischen Moralphilosophie, die bekanntermaßen in Kants kategorischem Imperativ gipfelt. Dessen erste Formulierung lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Darauf folgt dicht: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.«


»Sei nicht zu moralisch. Du könntest dich dadurch um ein gutes Stück Leben betrügen. Ziele über die Moral hinaus. Sei nicht einfach gut, sei gut für etwas!«

Henry David Thoreau (1817–1862)


Die Formulierung von Grundprinzipien der Sittlichkeit, wie Kant sie umriss, gibt keine objektive moralische Absolutheit wieder, aber sie steht für ein Ideal, für den kleinsten gemeinsamen Nenner des zivilisierten Umgangs miteinander. Ein moralisch Absolutes kann nur vertreten werden, wenn es aus freien Stücken angenommen wird. Wenn es anderen aufgezwungen wird, ist es eben nicht »moralisch«. Wie Blaise Pascal mahnte: »Die Welt wird durch Gewalt, nicht durch Meinung beherrscht, aber die Meinung setzt Gewalt ein.«

Sollten Gesetze je auf religiösen Prinzipien beruhen?

Zahlreiche unserer Gesetze gehen auf religiöse Grundsätze zurück. Aber während diese Gesetze noch immer gelten, werden die zugrunde liegenden Prinzipien von vielen nicht mehr als religiös wahrgenommen. Dass solche Gesetze noch immer in Kraft sind, setzt voraus, dass ihre »Richtigkeit« auf Werten beruht, die universeller sind als die Prinzipien der Religion – zum Beispiel der Abrahamitischen –, aus der sie stammen.

Es scheint, als herrsche in der säkularen Gesellschaft die Einstellung vor, dass bestimmte Werte gälten, unverzichtbar seien und gebraucht würden, man aber nicht mehr an die religiösen Quellen glaube, aus denen sie hervorgegangen sind. Der säkulare Humanismus hat auf Gott verzichtet, aber am Großteil des ethischen Systems festgehalten, dessen Werte einstmals als gottgegeben gegolten hatten. Er teilt die von Blaise Pascal geäußerte Skepsis: »Nie tun Menschen Böses so gründlich und glücklich wie aus religiöser Überzeugung.« Aber aus welcher Überzeugung heraus tun sie Gutes?

Worauf sollen sich die Gesetze stützen, wenn nicht auf die Religion? Frédéric Bastiat (1801–1850), ein französischer liberaler Theoretiker, mahnte: »Wenn Recht und Moral einander widersprechen, dann steht der Bürger vor der grausamen Alternative, entweder das moralische Empfinden oder den Respekt vor dem Gesetz zu verlieren.« Wenn wir uns von der Religion verabschieden, müssen wir sicherstellen, dass unsere Gesetze moralisch einwandfrei sind. Und wenn wir zu religiösen Prinzipien keine Alternativen finden, die dafür garantieren, sollten wir sie als Grundlage des Rechts vielleicht besser beibehalten.

Eine Alternative ist der Naturalismus, aus dem, so die Argumentation, das Naturrecht hervorgehe. Cicero definierte das Naturrecht so: »Das wahre Gesetz ist freilich die rechte Vernunft im Einklang mit der Natur, ist in alle zerstreut, beständig, ewig, um durch Befehlen zur Pflicht zu rufen und durch Verbieten vom Betrug abzuschrecken.« Da wir als Menschen geboren seien, so die These, habe die Natur dem Geist die Regeln des sittlichen Verhaltens eingeprägt. Dazu gehören die moralische Notwendigkeit, Mitgefühl und die Beachtung der grundlegenden Rechte anderer, Regeln, die das Gewissen umsetzt. Auch wenn derlei Gedanken, beginnend mit den griechischen und römischen Philosophen, bis weit in die Vergangenheit zurückreichen, befreit uns das Naturrecht nicht notwendigerweise vom religiösen Präzedenzfall, da es nicht ausschließt, dass der Mensch, »betrachtet als Kreatur, notwendigerweise den Gesetzen des Schöpfers gehorchen muss«, so der britische Rechtswissenschaftler William Blackstone (1723–1780). Allerdings hat die »Kreatur« nur für diejenigen einen Schöpfer, die einen religiösen Glauben haben, weshalb denn auch die Humanisten glaubwürdig argumentierten, dass ein inneres Empfinden für sittliche Gesetze so natürlich und selbstverständlich sei wie das Gravitationsgesetz. Jeremy Bentham (1748–1832), der als Begründer des klassischen Utilitarismus gilt, hielt das Naturrecht für ein Täuschungsmanöver und Menschenrechte für »Unfug auf Stelzen«. Wie er behauptete, habe »die Natur die Menschheit der Herrschaft zweier souveräner Herren unterstellt, dem Schmerz und der Lust«. Unter dieser Prämisse verordnete er, dass wir die sittliche Richtigkeit oder Falschheit eines Tuns daran bemessen sollten, inwieweit sie Schmerz verringerten und Lust mehrten. Auch wenn das Naturrecht und der Utilitarismus Probleme bergen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, bieten sie als Grundlage für ein sittliches Gesetz eine Alternative zur Religion. Aber wie schon gesagt, hielten weltliche Gesetzgeber und Regierungen in dieser Entscheidung immer dann an religiösen Prinzipien fest, wenn sie sich als nützlich erwiesen. Etwas zu einfach machte es sich vielleicht Thomas Jefferson (1743–1826), als er in seiner Rede zum Amtsantritt als 3. Präsident der Vereinigten Staaten als Goldene Regel für die Gesetzgeber vorschlug, »die Menschen davon abzuhalten, anderen Schaden zuzufügen, und sie [ansonsten] frei ihren Geschäften nachgehen zu lassen«.

Kann ein Rechtsbruch manchmal richtig sein?

Recht zu brechen, ist wohl nur dann richtig, wenn dieses Recht vom Einzelnen oder einer Gruppe verlangt, gegen die Moral oder sein Gewissen zu verstoßen. Häufig zitierte Beispiele solcher Situationen sind die Befehle der Nationalsozialisten, Juden keinen Unterschlupf zu gewähren und sie den Behörden auszuliefern, oder die Gesetze der Apartheit in Südafrika. Auch wenn jemand das Recht aus moralischen Bedenken bricht, bleibt er vor Strafverfolgung nicht verschont. So wird beispielsweise eine Verweigerung des Militärdienstes aus »Gewissensgründen« in vielen Ländern sanktioniert und ist auch in einigen demokratisch verfassten Staaten nicht oder nur eingeschränkt möglich.

In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, heißt es: »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.« Man kann den Standpunkt vertreten, dass man jedes Gesetz, das von einem verlangt, gegen diese Rechte zu verstoßen, mit Recht brechen und sich gegen jedes Regime auflehnen darf, dass solche Gesetze durchsetzt. Das Gewissen ist ein sehr feinfühliger Führer. Der Aufruf Albert Einsteins: »Handle niemals gegen das Gewissen, selbst wenn der Staat es fordert«, ist ein Nachhall zu Gandhis Grundsatz: »In Gewissensfragen hat das Mehrheitsprinzip keinen Platz.«

Man kann Gesetze auch deshalb brechen, weil sie aus anderen als aus Gewissensgründen für schlecht gehalten werden, zum Beispiel wegen mangelnder Durchsetzbarkeit. Im Vereinigten Königreich wurden 2005 Fuchsjagden mit Hundemeuten verboten. Das Gesetz wurde seither allerdings ständig gebrochen, und zwar nicht, weil es nicht durchsetzbar gewesen oder die Polizei die Jagden toleriert hätte, sondern weil die Jäger überzeugt sind, dass ihr Handeln richtig sei und das Gesetz gegen ihre Rechte und Freiheiten verstoße.

Viele meinen, ein ungerechtes Gesetz zu brechen sei moralische Pflicht: Mit dem Aufruf, »das Gesetz in die eigene Hand zu nehmen«, schafft diese Einstellung stets einen gefährlichen Präzedenzfall, der aber auch eine Grundlage für zivilen Ungehorsam und damit ein Kampfmittel für alle Bürgerrechtsbewegungen ist.

Im Jahr 2010 verkündete der britische stellvertretende Premierminister Nick Clegg (* 1967): »Heute tun wir einen nie da gewesenen Schritt. Aus der Überzeugung, dass die Menschen und nicht die politischen Entscheidungsträger es am besten wissen, rufen wir das britische Volk auf, uns mitzuteilen, wie es seine Freiheit wiederhergestellt sehen will.« Das Volk sollte sich dabei auf drei Bereiche konzentrieren: auf 1) Gesetze, die die bürgerlichen Freiheiten untergraben haben, 2) auf Vorschriften, die die Funktion von gemeinnützigen Organisationen und der Wirtschaft behindern, und 3) auf Gesetze, die überflüssig sind und gesetzestreue Bürger kriminalisieren. Bis zu welchem Grad Nick Clegg damit die Tür zur Rechtsunsicherheit und zum Rechtsbruch aufstieß, bleibt abzuwarten.

Bestimmt das Karma unser Verhalten?

Der Begriff »Karma« ist in der westlichen Welt zwar bekannt, wird aber nicht ganz richtig verstanden. Er beinhaltet keinerlei Fatalismus, Vorherbestimmung oder Unvermeidlichkeit. In den fernöstlichen Religionen betrifft das Karma den gesamten Zyklus von Ursache und Wirkung, den sogenannten Kreislauf des Samsara, der sich im menschlichen Leben als Geburt, Tod und Wiedergeburt manifestiert. Wenn wir den Standpunkt einnehmen, dass unser Tun oder das, was uns oder anderen widerfährt, aus dem Karma hervorgeht, verleugnen wir unseren freien Willen und damit auch unsere Verantwortung. Das Karma betrifft allerdings insofern Ursache und Wirkung, als das Sein des Einzelnen in der Gegenwart das Ergebnis dessen ist, was er – im Sinn einer Anhäufung – in zahlreichen früheren Leben war.

Das Karma bewegt sich auf subtilen Ebenen, die vom Samskara (in Pali Sankhara), den »Prägungen«, »Neigungen« oder »Möglichkeiten« bestimmt werden. Im Buddhismus heißen sie »geistige Gestaltungskräfte« oder »Impulse«, die aktiv sein können, weil sie von uns ausgehen, oder passiv, weil sie uns beeinflussen. Wenn wir uns von ihnen befreit haben, wird kein Karma mehr entwickelt: Wir treten ins Nirwana ein. Der französische Buddhismusforscher André Bareau (1921–1993) fasste das Karma als das universelle Gesetz zusammen, nach dem »die Tat [Karma] unter sicheren Umständen eine Frucht hervorbringt. Wenn sie reif ist, fällt sie auf den Verantwortlichen herab … Da die Reifezeit allgemein eine Lebensspanne übersteigt, wirken sich die Taten gewöhnlich in einer oder mehreren Wiedergeburten aus.« Das Karma setzt Reinkarnationen voraus.

Wie wirken sich diese karmischen Prinzipien auf unser Alltagsleben aus? Vor allem bedeutet das Karma, dass wir durch die Entscheidungen, die wir ständig treffen, unser gegenwärtiges Leben meistern und die Qualität unseres künftigen Lebens bestimmen können. Über das, was wir in unserem früheren Leben getan haben, haben wir dagegen keine Kontrolle. Uns bleibt nur das Verständnis, dass das, was uns widerfährt, was wir denken und tun, die Verarbeitung dessen ist, was wir einst waren. Unser gegenwärtiges Leben ist gewissermaßen eine neue Chance, um Negatives zu beseitigen und auf den positiven Aspekten unseres Lebens aufzubauen. Die Vorgehensweise dazu gibt beispielsweise im Buddhismus der Edle Achtfache Pfad vor: die rechte Erkenntnis, die rechte Sicht, das rechte Reden usw. Das Karmagesetz garantiert uns, dass wir uns eine gute Geburt im nächsten Leben sichern können, wenn wir unser Leben gekonnt an dem Maßstab ausrichten, der uns selbst als sinnvoll erscheint. Dabei muss uns klar sein, dass wir in unserer Lebensführung über Wahlfreiheit verfügen und sich unsere Entscheidungen nachhaltig auswirken. Wir alle sind unsere eigenen moralischen Impulsgeber.


»So wie das lodernde Feuer Holz in Asche verwandelt, so verwandelt das Feuer der Selbsterkenntnis alles Karma zu Asche. «

Bhagavad Gita


Hier scheinen zwei wichtige Gedanken auf: Nicht der Akt oder die Tat selbst, sondern die dahinterstehende Absicht bestimmt den karmischen Effekt der Handlung. Wenn jemand beabsichtigt, Gutes oder Schlechtes zu tun, es aber nicht vermag, hat allein die Absicht Folgen. Zweitens ist zu betonen, dass das Karma keine Form des Determinismus bedeutet. Das Karma wirkt sich auf die Natur der Wiedergeburt aus, nicht aber auf die Taten im neuen Leben. Anders ausgedrückt, das Karma schafft eine Lage, beeinflusst aber nicht die frei gewählte Reaktion einer Person auf diese Situation. Der Ausdruck »Situation« steht hier für die allgemeinen Lebensumstände eines Menschen wie auch für die besondere Art, wie er jeden einzelnen Augenblick des Tages durchlebt. Daher betont der Buddhismus die Notwendigkeit, jeden Augenblick wachsam und »präsent« zu sein.

Welches sind die wesentlichen Werte?

In der Moralphilosophie wird ein »wesentlicher Wert« gewöhnlich als »intrinsischer Wert« bezeichnet. Jede Theorie der Werte bemüht sich um eine Festlegung dessen, was in der Welt an sich gut, wünschenswert und wichtig ist, zum Beispiel Wahrheit oder Gerechtigkeit. Man unterscheidet den intrinsischen opportunerweise vom »extrinsischen« Wert, der keinen Wert an sich darstellt, sondern bei Beachtung zum Wert von etwas anderem beiträgt. Ein wesentlicher Wert kann als absolute Norm gelten, so etwa eine Tugend wie Güte oder eine Eigenschaft wie Schönheit. Tugend, Wahrheit und Gerechtigkeit haben alle einen moralischen Wert an sich, aber auch einen praktischen, wenn man »tugendhaft ist« und »die Wahrheit sagt«. Glück kann als wesentlich gelten, ist aber kein moralischer Wert, während alles, was das Glück anderer befördert, so zum Beispiel Barmherzigkeit oder Rücksicht, einen intrinsischen Wert darstellt, der wegen seines moralischen Gehalts wesentlich ist. Es ist leichter zu zeigen, dass etwas extrinsischen Wert hat, weil es als Mittel zum Zweck an seiner Wirksamkeit gemessen werden kann. Fitnesstraining ist beispielsweise insofern von extrinsischem Wert, als es dem Erhalt der Gesundheit dient. Dagegen kann kein Wert an sich als wesentlich gelten, wenn er einem Zweck dient, der absolut gesehen unmoralisch ist.

Wesentliche Werte sind diejenigen, ohne die wir nicht auskommen. Sokrates setzte die Erkenntnis und insbesondere die Selbsterkenntnis auf seiner Liste ganz nach oben. Dagegen war für Aristoteles die Glückseligkeit ein höherer Wert, weil alles andere, einschließlich der Selbsterkenntnis, als ein Mittel diesem Zweck diente. Für Platon knüpfen sich alle wesentlichen Werte an das »Gute Leben«. Dabei gibt es grundsätzlich nur ein gutes Leben, das die Menschen führen sollen. Das Gute ist für Platon ein Absolutes, so feststehend und sicher wie der morgige Sonnenaufgang. Es ist der höchste herrschende Wert, der nicht von menschlichen Neigungen, von schwankenden Stimmungen, von der Zweckmäßigkeit oder von Begierden abhängt. Aus dem Guten gehen weitere Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit hervor, woraus folgt, dass für Platon das, »was gut ist«, eins mit dem »Rechten« ist. »Gut zu sein«, ein gutes Leben zu führen, heißt im Einklang mit dem Rechten zu leben. Mit Sokrates stimmt Platon darin überein, dass die Menschen, um zu erkennen, was das gute Leben ist, ein bestimmtes Wissen erwerben müssen. Aber für Platon hängt das gute Leben nicht unbedingt nur vom Wissen, zum Beispiel von dem, was richtig ist, ab, denn er betont auch, dass das gute Leben auch aus Instinkt, aus einem intuitiven Erahnen des Rechten gelebt werden könne. Das Problem bestehe darin, dass ein gutes Leben zwar auch ohne bestimmtes Wissen möglich, aber eher planlos, unsicher und zufällig sei. Platons Lehrplan für diejenigen, die gezielt das notwendige Wissen erwerben wollen, ist in zwei Bereiche unterteilt: 1) die Erkenntnis tugendhafter Gewohnheiten und 2) den Ausbau der Geisteskraft durch ein Studium der Mathematik und Philosophie. Platons ethisches System lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Was recht ist, bestimmt und sichert das »Geschäft der guten Regierung«, denn es liegt in der Verantwortung der Herrschaft, die wesentlichen Werte aufrechtzuerhalten und zu vermitteln. Für Platon ist der Philosoph König!

Mit etwas Zeit ließe sich die Ethik durch die Geschichte der Philosophie verfolgen und untersuchen, wie andere Denker den Begriff des wesentlichen oder intrinsischen Wertes definierten, aber irgendwie läuft alles auf dasselbe hinaus: Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Glück, Güte und alle Voraussetzungen, welche die menschlichen Grundrechte sichern. Aber man beachte Aristoteles: »Wir handeln nicht deshalb richtig, weil wir die Tugend oder Vortrefflichkeit besitzen, sondern wir besitzen diese vielmehr deshalb, weil wir richtig handelten.«

Kann eine Tat wirklich selbstlos sein?

Altruismus, Selbstlosigkeit, ist ein Ideal. Dabei ist aber schwierig festzustellen, ob jemand tatsächlich altruistisch handelt: Denn auch bei den lautersten Absichten kann ein Dienst am Nächsten dem Handelnden selbst Vorteile bringen. Das Opfer Jesu Christi für die Menschheit gilt als Musterbeispiel für den wahrhaft selbstlosen Akt, aber dabei wird häufig übersehen, dass er tatsächlich nur Gottes Willen erfüllte. Jeder, der sich im Leben für andere aufzuopfern scheint, tut dies wahrscheinlich nur deshalb, weil er darin seine eigene Erfüllung sucht. So gesehen, ist ein selbstloser Akt niemals vollständig selbstlos. Nur wenige stellen ihr gesamtes Leben in den Dienst an anderen, während die meisten dies eine Zeit lang im Kleinen, aber auf bedeutsame Weise tun. Der englische Dichter, Naturmystiker und Maler William Blake (1757–1827) sagte: »Wer einem anderen Gutes tun wollte, muss es in winzigen Einzelteilen tun: Das generell Gute ist die Ausrede des Halunken, Heuchlers und Schmeichlers, denn Kunst und Wissenschaft können nur in minutiös organisierten Einzelteilen bestehen.«

In der Zoologie ist Altruismus das Verhalten eines Tieres, das anderen auf eigene Kosten einen Nutzen verschafft. Bei Tieren ist dies kein »selbstloser« Akt, sondern instinkthaftes Verhalten. Dagegen gehorcht der Altruismus beim Menschen keinem natürlichen Trieb, sondern wird vielmehr vom Gewissen und einem Empfinden für »moralische Richtigkeit« angestoßen. Richard Dawkins vertrat mit Bezug auf sein Buch ›Das egoistische Gen‹ den Standpunkt, dass wir »versuchen müssen, Großzügigkeit und Altruismus zu lehren, weil wir egoistisch geboren sind«. Nach Dawkins neigen wir vornehmlich zu Verhaltensweisen, die unser eigenes, individuelles Überleben und das unserer Spezies sichern. Wir würden unabhängig davon, welches Motiv wir für unsere Handlungen angeben, letztlich vom Naturgesetz angetrieben.

Ob religiös oder humanistisch motiviert, in jedem Fall birgt die Neigung zum Altruismus einen klaren Nutzen. Aber Altruismus hat eine weitere Dimension. Wenn er, wie Dawkins meint, gegen unseren angeborenen Egoismus gelehrt werden muss, so bedeutet dies, dass wir darauf »programmiert« sind, uns gegen die Interessen anderer durchzusetzen. Das vermeintlich Beste für uns selbst steht so im Konflikt zu den besten Interessen der anderen. Damit setzt Altruismus voraus, dass wir über unsere eigenen Interessen hinweggehen. Vielleicht gibt es wahre Selbstlosigkeit tatsächlich nur nach diesem Vorbild, wenn wir eigene Prioritäten zugunsten des Nutzens anderer hintanstellen. Diese Unterscheidung mag allerdings spitzfindig sein: Wie hätte zum Beispiel Jesus die Gehorsamspflicht gegenüber seinem Vater übergehen sollen, nur um sein selbstloses Opfer von diesem zweiten, verborgenen Motiv zu befreien?


»Wir werden von unseren Gedanken geformt und geprägt. Diejenigen, deren Geist von selbstlosen Gedanken geprägt wird, spenden Glück, wenn sie reden und handeln. Das Glück folgt ihnen wie ein Schatten, der sie niemals verlässt.«

Gautama Buddha (563–483 v. Chr)


Das buddhistische Vorbild für Altruismus ist der Bodhisattwa, ein Wesen, das vollständig erleuchtet ist, aber auf den Eintritt ins Nirwana verzichtet, um andere in ihrem Streben nach Erleuchtung so lange zu unterstützen, bis alle erleuchtet sind. Dennoch hat der Dalai Lama die Ansicht vertreten, dass »die Buddhas und Bodhisattwas die egoistischsten von allen sind. Warum? Weil sie durch Kultivierung der Selbstlosigkeit höchste Glückseligkeit erlangen.« Tatsächlich aber besteht hier kein Konflikt, weil der Bodhisattwa von Mitgefühl angetrieben wird und dessen Kultivierung ihm ein Höchstmaß an Glück und zugleich anderen größten Nutzen beschert. Auch verkündete der Dalai Lama, dass »andere zu lieben nicht bedeutet, dass wir uns selbst vergessen sollten. Wenn ich sage, dass wir mitfühlend sein sollen, heißt das nicht, dass wir anderen auf Kosten von uns selbst helfen sollten. Überhaupt nicht.«

Müssen wir immer ehrlich sein?

Davon ausgehend, dass wir die Wahrheit kennen, können wir theoretisch immer ehrlich sein. Die alte Maxime »ehrlich währt am längsten« gilt vielleicht auch heute noch. Aber so formuliert, rückt das Prinzip der Ehrlichkeit aus dem Bereich des Sittlichen in den reiner Berechnung: Die Wahrheit zu sagen, macht das Leben nachhaltig leichter und unkomplizierter. Auch wenn sie schonungslos sein mag, beugen wir mit Ehrlichkeit den negativen Konsequenzen vor, die Lügen haben können. Der Schwur im Gerichtssaal, »die Wahrheit zu sagen und nichts als die reine Wahrheit«, ist in der Rechtsprechung wahrscheinlich ein unverzichtbarer Grundsatz, aber im täglichen Leben ist die Forderung, die volle Wahrheit zu sagen, mitunter nicht erfüllbar. Wenn man die Wahrheit oder Teile von ihr verschweigt, heißt das allerdings nicht unbedingt, dass man lügt. James Burgh (1714–1775), ein britischer Politiker der Whig-Partei, stimmte dem zu: »Man muss nicht die volle Wahrheit sagen, außer denen, die ein Recht darauf haben, sie vollständig zu erfahren. Aber alles, was man sagt, muss die Wahrheit sein.«

Beziehungen erfordern Ehrlichkeit, weil ohne sie die Vertrauensgrundlage fehlt. Aus demselben Grund müssen wir uns indes vielleicht hüten, jemandem die volle Wahrheit zu sagen: Um jemands Gefühle nicht zu verletzen oder ihn vor Ängsten zu schützen, greifen wir auf eine Notlüge zurück, halten wir mit der Wahrheit hinter dem Berg oder biegen sie ein wenig zurecht, damit sie weniger schwer wiegt. Gerechtfertigt mag dies gegenüber einer Person sein, die zu jung ist, um die Wahrheit zu verkraften, oder die ihre Bedeutung nicht richtig ermessen kann. Solche zweckmäßigen Überlegungen können den Weg durchs Alltagsleben erleichtern. Böswillig oder eigennützig Wahrheiten zu verschweigen oder verzerrt wiederzugeben, verstößt dagegen klar gegen die ethischen Maßstäbe der meisten Kulturen, und wer dies tut, verstrickt sich gewöhnlich in ein Lügengeflecht: Weil Lügen oder Halbwahrheiten vertuscht werden müssen, gebären Lügen weitere Lügen.

Während man es im Privatbereich rechtfertigen kann, die Wahrheit abzumildern, ist dies im Geschäftsleben unzulässig. Werbebotschaften setzen auf Glaubhaftigkeit, aber während offiziell beim Wahrheitsgehalt der Aussagen hohe Standards gelten, bringen die »geheimen Verführer« mit Bildern, Worten und Tönen doch auch immer unterschwellig die erwünschten Botschaften an den Mann. Nicht die Wahrheit, sondern der Absatz des Produktes zählt.


»Die wissenschaftliche Wahrheit ist wunderbar, aber die moralische ist göttlich.«

Horace Mann (1796–1859)


Wahrheit ist nichts Absolutes. Unabänderliche Wahrheiten gibt es wohl nur in den Naturgesetzen wie dem der Gravitation, wobei selbst dieses Gesetz, so wie Isaac Newton (1643–1727) es formulierte, inzwischen an neue Erkenntnisse angepasst wurde. Auch wenn die Verfechter von Religionen die »Wahrheit« in letztgültiger oder absoluter Form zu verkünden behaupten, so sind ihre Wahrheiten doch vollständig subjektiv und werden auch subjektiv aufgenommen. Wahrheit ist stets flexibel, relativ, veränderlich und deutungsabhängig. Wir haben es mit Wahrheiten zu tun, die unklar definiert sind, aber vertrauen meistens einfach darauf, dass das, was wir hören oder lesen, »die Wahrheit« sei.

Inwieweit wir die volle Wahrheit sagen, falls wir sie überhaupt kennen, hängt von der Sensibilität unseres Gewissens ab. Vielleicht bräuchten wir einen »Prüfstein« wie die Bocca della Verità, den »Mund der Wahrheit«, in der Vorhalle der Kirche Santa Maria in Cosmedin in Rom. In diesem antiken Reliefbild eines monströsen Gesichts klafft ein geöffneter Mund, welcher der Legende zufolge die Finger desjenigen, der lügt, verschlingt, wenn er seine Hand hineinsteckt. Oder vielleicht müsste auch jedem, der lügt, wie Pinocchio eine lange Nase wachsen. Doch auch wenn unsere Lügen nach außen nicht erkennbar sind, so haben sie sicher Konsequenzen.

Welche Verpflichtungen haben wir anderen gegenüber?

Bindungen beinhalten häufig Pflichten, an die wir moralisch gebunden sind. Verpflichtungen können auf Gegenseitigkeit beruhen, zum Beispiel, wenn wir jemandem für einen Gefallen Dankbarkeit schulden. Und es gibt selbstverständlich Kernpflichten: Eltern müssen für ihre Kinder sorgen. Kabinette müssen gerecht und fair regieren. Und wir alle müssen unserer Familie und unseren Freunden loyal begegnen und so handeln, dass wir unseren Grundsätzen und Überzeugungen treu bleiben. Und dabei haben wir auch eine Pflicht zur Ehrlichkeit. Das Gleichnis vom guten Samariter erlegt uns allen die ständige Pflicht auf, uns unseres leidenden Nächsten anzunehmen. Die französische Philosophin Simone Weil drückte das so aus: »Es ist eine ewige Verpflichtung gegenüber dem Menschen, ihn nicht Hunger leiden zu lassen, wenn sich die Chance bietet, ihm zur Hilfe zu kommen.«

Manche Berufslaufbahnen beinhalten eine »ausgewiesene Verpflichtung«, wie man es nennen könnte. Militärdienstleistende müssen ihr Leben aufs Spiel setzen und schulden Königin und Vaterland Treue. Die Mitgliedschaft in einem Club verpflichtet zur Einhaltung der dort geltenden Regeln. Ärzte sind an ihren Hippokratischen Eid gebunden. Alle Sportler, die an Olympischen Spielen teilnehmen, müssen den Olympischen Eid ablegen und ihn einhalten: »Im Namen aller Athleten verspreche ich, dass wir an den Olympischen Spielen teilnehmen und dabei die gültigen Regeln respektieren und befolgen und uns dabei einem Sport ohne Doping und ohne Drogen verpflichten …«

Unsere Verpflichtungen gegenüber anderen sind ein Spiegel unserer Verpflichtungen gegenüber uns selbst. Und deren Grundlage ist Selbstachtung. Der amerikanische Romanschriftsteller Richard Bach (* 1936) ging so weit zu sagen: »Deine einzige Verpflichtung zu jeder Zeit im Leben ist Ehrlichkeit gegenüber dir selbst.« Wir haben nach Maßgabe des Möglichen die Verantwortung, unsere Gesundheit zu erhalten, unsere Ausbildung und unsere Berufslaufbahn voranzutreiben und am eigenen Glück und der eigenen Erfüllung zu arbeiten. Viele vernachlässigen diese Verpflichtungen durch Drogenmissbrauch, übermäßigen Alkoholkonsum, Fresssucht, Bewegungsmangel, einen generellen Mangel an Disziplin und Selbstsucht. In dem Maß, in dem wir unsere Verpflichtungen uns selbst gegenüber respektieren oder vernachlässigen, sind wir auch für die gegenüber anderen sensibel. Die Qualität oder Art einer Beziehung bestimmt dabei, mit welchem Anspruch wir diesen Verpflichtungen nachkommen. Uns selbst zu vernachlässigen, mag mit einem schwachen Selbstwertgefühl zusammenhängen, unsere Verpflichtungen anderen gegenüber nicht zu erfüllen, deutet auf ein gestörtes Verhältnis hin. Wenn wir aus reinem Pflichtgefühl anderen Gutes tun, scheint dies die Erhabenheit des Motivs zu schmälern, weil Pflicht auch mit Zwang zu tun hat: Wir tun etwas, weil es von uns erwartet wird. Weil es solchen Handlungen an Herz und sogar an Liebe mangelt, können sie sogar Unmut heraufbeschwören. Wie Wayne Dyer (* 1940) es fasste, »fehlt Beziehungen, die auf Verpflichtungen beruhen, die Würde. Wer aus Pflichtgefühl heraus lebt, ist ein Sklave.«


»Sporne dich stets zur Pflichterfüllung an, indem du dich an deine Stellung erinnerst, wer du bist und wozu du dich selbst verpflichtet hast.«

Thomas von Kempen (um 1380–1471)


Ist es ein Fehler, jemandem nicht vergeben zu können?

Die Vergebung spielt in den biblischen Religionen eine bedeutende Rolle und hat unsere Kultur nachhaltig geprägt. Was ist Vergebung und wie wird sie ausgedrückt? Christen beten: »Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir vergeben allen, die uns schuldig sind.« (Lk 11, 4) Paulus ermahnt die Kolosser: »Ertragt euch gegenseitig und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat.« (Kol 3, 13) Jesus antwortet Petrus auf die Frage, wie oft er jemandem vergeben müsse, der sich gegen ihn versündigt hat: »Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.« (Mt 18, 22) Die Heilige Schrift hält uns an, anderen zu vergeben, weil auch uns vergeben wurde. Und diese Vergebung kennt weder Grenzen, noch ist sie an Bedingungen geknüpft. Für Juden ist Vergebung eine der 13 göttlichen Eigenschaften. In der Amida, dem Achtzehnbittengebet oder Hauptgebet im jüdischen Gottesdienst, wird Gott als »Ewiger – Gnädiger« gepriesen, »der so oft vergibt«. Zelebriert wird dies am Vorabend zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag, an dem Juden gewöhnlich diejenigen, denen sie Unrecht getan haben, um Vergebung bitten. Nachdruck verleihen sie ihrer Bitte mit Angeboten zur Wiedergutmachung. Im Islam ist Allah der »Gnädige, der Erbarmer«, der »Vergeber der Sünden«. Vergebung von ihm und anderen erfordert Reue. Für Buddhisten ist Vergebung eine Sache des »Loslassens«, um bei dem, was vergeben werden muss, nicht zu verharren. »Er hat mich verletzt, hat mich geschlagen, hat mich zu Boden geworfen und hat mich ausgeraubt – in denen, die solche Gedanken aufgeben, versiegt der Hass«, heißt es im ›Dhammapada‹, einer Sammlung der Aussprüche Buddhas.

Vergebung ist ein seelischer Heilungsprozess. Ohne Vergebung schwärt eine innere Wunde weiter. Aber sie zu gewähren und eine Entschuldigung anzunehmen, fällt keineswegs leicht. Vergeben heißt, jemandem zusichern, dass man ihm die fragliche Angelegenheit nicht länger nachträgt und er sein Schuldgefühl ablegen kann. Wenn jemand, den wir kennen, uns angegriffen, bestohlen oder mutwillig unser Eigentum beschädigt hat, bedeutet ihm zu vergeben, dass wir ihm nichts mehr nachtragen. Aber Vergebung setzt eine Beziehung voraus, die auf Gegenseitigkeit beruht: Einem gänzlich Unbekannten, dem man nie näher kommt als in einem Gerichtssaal, kann man nicht vergeben. Kurz gesagt, ist Vergebung ein Prozess, der Verbitterung lindert, verletzte Gefühle heilt und – hoffentlich bei beiden Parteien – den inneren Frieden wiederherstellt. Ob derjenige, dem vergeben wird, diese Vergebung auch annehmen und seine Schuldgefühle ablegen kann, hängt davon ab, inwieweit die Bitte um Vergebung aufrichtig ist. Um Vergebung annehmen zu können, müssen wir mit unserer Schuld sicher auch selbst fertigwerden.


»Vergib stets deinen Feinden – nichts verdrießt sie so sehr.«

Oscar Wilde (1854–1900)


Möglicherweise verschärft derjenige, der nicht vergeben kann, der einen dauerhaften Groll hegt, das Empfinden für seine Verletzung: Nichts nagt an uns schlimmer als Hass und Zorn. Aber auch, wo Vergebung möglich ist, braucht sie ihre Zeit. In der Familie und unter Freunden schafft erst die Vergebung, auch wenn sie schwierig ist, die Voraussetzung für Versöhnung. Oft heißt es, wir müssten vergeben und vergessen. Der jiddischsprachige amerikanische Schriftsteller Schalom Asch (1880–1957) äußerte dazu: »Nicht die Kraft der Erinnerung, sondern ihr Gegenteil, die Kraft des Vergessens, ist eine notwendige Bedingung unserer Existenz.« Vergessen kann freilich noch schwieriger als vergeben und vielleicht sogar unmöglich sein. Vergeben ist nicht abhängig von einem Vergessen: Es kann Erinnerungen heilen, ohne sie auszulöschen. Ob wir wirklich vergeben haben, bemisst sich daran, wie sehr der Schmerz der Erinnerung nachlässt.

Müssen wir uns selbst vergeben?

Es kann schwieriger sein, sich selbst als anderen zu vergeben. Aber solange wir dies nicht schaffen, können wir vielleicht überhaupt nicht vergeben. Es heißt, wir könnten aufrichtig erst dann lieben, wenn wir uns selbst lieben gelernt hätten. Aber ob dies eine Frage der Eigenliebe oder der Selbstvergebung ist und wie genau man zu dieser Einstellung gelangt, ist eher rätselhaft. Manche meinen, uns selbst zu vergeben, sei Teil der neuen Selbsthilfe-Kultur, eine Art Do-it-yourself-Psychologie, die »cool« und politisch korrekt ist. Es könnte auch zu einem Mittel werden, um sich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen. Aber darum geht es nicht. Sich selbst zu vergeben, berührt die sensibelsten Aspekte unserer Selbstwahrnehmung und hängt von der Stärke unseres Mitgefühls und unseren Sehnsüchten ab. Und mitunter betrifft es auch unsere Religion oder Spiritualität. Vor allem erfordert Selbstvergebung wie jede Art Verzeihung moralischen Mut.

Selbstvergebung heißt, von der Reue zu lassen. Wie oft wünschen wir uns, dass wir etwas nicht getan, nicht gesagt oder in einer wichtigen Sache anders entschieden hätten? Reue kann zu einer gewaltigen Last heranwachsen, die wir nur mit Selbstvergebung wieder loswerden können. Ohne sie können wir im Leben nicht nach vorn schauen: Wir bleiben in der Vergangenheit hängen. Wie schon gesagt, müssen wir, um vergeben zu können, nicht unbedingt vergessen. Beverly Flanigan (* 1954), die Autorin von ›Nicht vergessen und doch vertrauen‹, fasst es treffend so: »Zu vergeben, was wir nicht vergessen können, schafft eine neue Art des Erinnerns. Wir verwandeln die Erinnerung an unsere Vergangenheit in Hoffnung für die Zukunft.« Wie in vielen Lebensfragen heißt der Schlüssel zur Lösung Akzeptanz. Was wir auch getan haben, wir können es nicht ungeschehen machen. Deswegen beginnt Selbstvergebung mit dem Mut, uns den Konsequenzen unserer Worte und Handlungen zu stellen. »Die Regel lautet: Wirklich selbst vergeben können wir uns nur dann, wenn wir auf unseren Fehler blicken und ihn beim Namen nennen«, meinte der Ethiker und Theologe Lewis B. Smedes (1921–2002). Wir müssen uns nicht nur mit unseren Handlungen abfinden, sondern für sie auch ohne jede Ausrede die Verantwortung übernehmen. Und wichtiger noch: Selbstvergebung fällt uns leichter, wenn wir diejenigen, denen wir Unrecht getan haben, um Vergebung bitten. Noel McInnis versteht Selbstvergebung als wichtigen Bestandteil unserer psychischen Gesundheit: »Da uns nichts vergeben werden kann, das nicht von und durch uns selbst vergeben wurde, gibt es nur eine Art Vergebung: die Selbstvergebung.«


»Ich bin auf das Paradox gestoßen, dass es, wenn ich liebe, bis es schmerzt, keinen größeren Schmerz geben kann, nur größere Liebe.«

Mutter Teresa (1910–1997)


Warum gilt Liebe als ein höchster Wert?

Seitdem Gedanken schriftlich niedergelegt werden, gilt »Liebe« als höchste Tugend. Aber wie der Begriff »Gott« wurde auch dieser so oft missbraucht, dass er seine klare Bedeutung verloren hat. Liebe muss von romantischen Vorstellungen befreit werden: Die Romanze ist zwar ein Idealbild der Liebe, hat aber nicht die Kraft, um im prosaischen Alltagsleben zu bestehen. Für viele ist Liebe fast ausschließlich mit Sex verknüpft. Wir »machen Liebe«, wir verlieben uns. Für andere ist der erhabenste Ausdruck der Liebe das Religiöse: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken.« (Mk 10, 27) Jesus gibt eine weitere Leitlinie aus: »Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet einander.« (Joh 13, 34) Und er fügt hinzu: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15, 13) – eine klare Vorausdeutung auf seinen eigenen Tod.

Liebe im mystischen Sinn dreht sich um eine Einswerdung, wie Katharina von Siena (1347–1380) sie verstand: »Die Liebe verwandelt einen in das, was man liebt.« Der bengalische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore (1861–1941) sah dies auch so: »Nur in der Liebe stehen Einheit und Zweiheit nicht im Konflikt miteinander.« Jenseits der Mystik geht es in unseren Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden um Einheit und Vertrautheit, wobei die Liebe das Mittel ist, mit dem wir ein Gefühl echter Gegenseitigkeit, des wahren Miteinanders, erlangen können. Sie ist »die Voraussetzung, unter der das Glück eines anderen für unser eigenes wesentlich ist«, wie es der amerikanische Schriftsteller Robert A. Heinlein (1907–1988) ausdrückte. Durch Liebe überwinden wir inneren Mangel und Leere und erfüllen Sehnsucht. Wir sagen, wir schmachten oder hungern nach Liebe, als sei sie ein existenzielles Verlangen. Mutter Teresa formulierte es so: »Der Hunger nach Liebe ist sehr viel schwerer zu stillen als der nach Brot.«

Ob wir Liebe geben und erwidern können, knüpft sich an unsere Empfindungen. Daraus ergibt sich ein Problem, da wir Liebe mit einem Gefühl gleichsetzen. Wenn wir nicht fühlen, dass wir verliebt sind oder geliebt werden, gehen wir davon aus, dass keine Liebe da ist. Jedoch sind Herz und Gefühl bekanntlich launisch und bieten eine instabile Grundlage, um Liebe zu ermessen. Aber zu lieben ist auch eine Sache des Willens. Wohl deshalb leisten bei den Hochzeitszeremonien, seien sie religiös oder weltlich, die Brautleute einen Schwur und unterzeichnen einen Vertrag. Wie die Vielzahl gescheiterter Ehen zeigt, sind beide an sich nie bindend, aber sie geben eine praktische Richtschnur, nach der man objektiv eine Bindung eingehen kann. In einem Lobgesang auf die Liebe schrieb Paulus: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit.« (1 Kor 13, 4–6) Ob diese Beschreibung auf die Liebe passt, ist vornehmlich Einstellungssache: Wir entscheiden uns dafür, dass wir geduldig, gütig, bescheiden, besonnen, nachsichtig usw. reagieren. Wir legen selbst fest, dass wir jemanden lieben und wie wir ihn lieben. Liebe als höchster Wert drückt sich am besten durch ein Gleichgewicht zwischen Gefühl und Wille aus, auch wenn es keine Regeln gibt, wie wir lieben sollen. Wie schon der römische Philosoph und Theologe Boethius (um 480–524/5 n. Chr.) sagte: »Wer wollte Liebenden ein Gesetz geben? Liebe ist an sich ein höheres Gesetz.«