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DAS WISSEN

»Das einzige Gut ist Wissen, und das einzige Übel ist Unwissenheit.«

Sokrates (um 470–399 v. Chr.)

»Das Gegenteil einer wahren Aussage ist eine falsche Aussage. Das Gegenteil einer tiefsinnigen Aussage ist jedoch eine andere tiefsinnige Aussage.«

Niels Bohr (1885–1962)

Was ist Wissen?

Was wir wissen, ist die Gesamtsumme alles dessen, was unser Kopf seit unserer Geburt aufgenommen und abgespeichert hat. Wissen ermöglicht es uns, uns auf die Welt zu beziehen und intelligent in Kontakt zu allem zu treten, was unsere Sinne empfangen. Unser angehäuftes Wissen ermöglicht es uns, den geballten Wust an Informationen, die als äußere Reize auf uns einstürmen, zu erkennen, zu kategorisieren, zu ordnen und darauf zu reagieren. Wissen ist ein Lagerbestand an Daten, die unser Gedächtnis abruft, wenn es durch das Bedürfnis oder den Wunsch, auf die sich ständig verändernde Landschaft aus Stimuli zu reagieren, aktiviert wird. Kurz gesagt, ist Wissen die Summe der Informationen, die wir per Erfahrung erwerben. Empirismus ist die Lehre, wonach alles Wissen auf Beobachtung, Experimenten und Schlussfolgerungen beruht. Eine alternative Denkungsart ist der Idealismus, eine Gruppe philosophischer Lehren, wonach erst der Geist die sogenannte äußere Welt erschaffe. Auch wenn Idealisten anerkennen, dass es materielle Dinge gibt, hängt deren Wesen ihrem Standpunkt zufolge von unseren Anschauungen ab.

Auch ein »Können« ist ein »Wissen«, weshalb im Englischen beide Begriffe mit knowledge bezeichnet werden. Wir wissen von Dingen oder können Dinge, weil wir uns anhand von Beobachtung und konkretem Tun ein Wissen angeeignet haben. Das erste kann als ein »vermitteltes«, das zweite als ein »praktisches« Wissen gelten. Wir wissen, dass es den Mount Everest gibt, auch wenn wir ihn nie mit eigenen Augen gesehen haben. Zu wissen, wie man ein Herz verpflanzt oder eine Geige richtig zum Klingen bringt, heißt, dass wir durch Übung ein Können erworben haben. Aber hier überschneiden sich Wissen und Knowhow, weil wir auch einfach nur wissen können, dass es Herztransplantationen und virtuoses Geigenspiel gibt.

Die einfachsten Formen von Wissen knüpfen sich an Fakten, an Namen von Dingen, an die eindeutige Welt der Nomen und Adjektive, mit denen wir die dahinterstehenden Dinge unterscheiden. Das Wissen um solche Fakten, seien es historische Daten oder Familienmitglieder und Freunde, die unterscheidenden Merkmale von Vögeln oder die Einzelteile eines Automotors, erwerben wir förmlich durch gezieltes Lernen oder informell durch alltägliche Erfahrung. Beispiele von komplexeren Formen des Wissens sind Konzepte und Ideen. Wir haben alle ein Empfinden für Schönheit, von dem, was ästhetisch oder moralisch »gut« ist, und hängen alle, wie vage auch immer, einem politischen Ideal und manche zudem einem religiösen Glauben an. Weil wir schrittweise das Wissen abspeichern, das wir für unsere Überzeugungen oder Reaktionen auf die Welt benötigen, können wir die fundierten Urteile fällen, die unseren Entscheidungen vorausgehen. Uns selbst zu erkennen, ist dabei wohl unsere bedeutendste Lernleistung. Schrittweise lernen wir, was wir mögen oder hassen, was wir schätzen oder verachten, was wir erlernen und was wir tun müssen, um unsere individuellen Begabungen zu entfalten. Das Wissen um uns selbst erwerben wir in der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt, mit Dingen und Menschen. Diese Selbsterkenntnis kann aber immer nur subjektiv sein. Zuverlässiger ist unser Wissen über andere, weil es sich anhand leichter verfügbarer Belege überprüfen lässt: Solches Wissen ist wechselseitig und einvernehmlich erhellend. Dazu schrieb der römische Dichter und Satiriker Gaius Lucilius (nach 180–103 v. Chr.): »Wissen ist erst ein Wissen, wenn ein anderer weiß, dass man weiß.«

Weisheit kann als tiefergehendes Verständnis von all dem gelten, was man in Bezug auf Menschen, Situationen, Entscheidungen und Urteilen weiß. Nach dem chinesischen Philosophen Konfuzius (551– 479 v. Chr.) erwerben wir Weisheit in drei Stufen: »Erstens durch Nachdenken – dies ist am edelsten – ; zweitens durch Nachahmung – dies ist am leichtesten – ; und drittens durch Erfahrung – dies ist am bittersten.«

Sind unserem Wissen und unserem Verständnis Grenzen gesetzt?

In einer Zeit, in der die Wissenschaftler nach einer einzigen Theorie suchen, die uns den Ursprung des Universums erklärt und zugleich eine vereinheitlichende Formel für alles Leben liefert, herrscht der Glaube, dass wir potenziell alles, was gewusst werden kann, auch wissen können. In ›Eine kurze Geschichte der Zeit‹ macht Stephen Hawking deutlich, dass »unser Ziel … kein geringeres [sei] als eine vollständige Beschreibung des Universums, in dem wir leben«. Doch müsse das Problem im Augenblick noch in Teiltheorien wie der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik getrennt betrachtet werden. Erst dann könne man sehen, ob sie sich zu einer einheitlichen Theorie zusammenfügen lassen.

Wohl die meisten begnügen sich damit, solche letzten Fragen den Kosmologen und Astrophysikern zu überlassen. Heute hat die Menschheit mehr als jemals zuvor ein gigantisches Wissen angehäuft, dessen Erwerb aber als kollektiver Prozess erfolgt ist: Unzählige aus allen Zeitaltern und Kulturen trugen zur Gesamtsumme unserer Erkenntnisse bei. Wir haben, um Carl Gustav Jung (1875–1961) zu parodieren, ein kollektives Bewusstsein erworben, das trotz der gewaltigen Spannweite und Tiefe des erworbenen Wissens weit hinter der Allwissenheit zurückbleibt. Wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass dem, was wir wissen können, potenziell keine Grenzen gesetzt sind, belehrt uns unsere persönliche Erfahrung wahrscheinlich eines Besseren. Oder anders gesagt, stehen der Möglichkeit, alles zu wissen und zu verstehen, andere Faktoren entgegen: so die Begrenztheit der Zeit und der Funktionstüchtigkeit sowie des Fassungsvermögens unserer Gehirne und zudem die Tatsache, das unser bereits erworbenes Wissen ständig aktualisiert und an neue Kenntnisstände angepasst werden muss.

Unser einziges funktionierendes Werkzeug zum Wissenserwerb ist unser Denkapparat. Selbst wenn Millionen Gehirne zusammenarbeiten, bestimmt deren Leistungsvermögen stets die Erkenntnisse, die wir auf den verschiedenen Gebieten gewinnen können. Wie alle lebenden Organe ist auch das Gehirn störungsanfällig. Es benötigt für ein reibungsloses Funktionieren Energie und hängt vom Wohlergehen des übrigen Körpers ab, insbesondere von den Sinnesorganen, die ihm Informationen zur Verarbeitung liefern. So beinträchtigen schon Funktionsstörungen der Augen oder Ohren die Qualität der Signale, die unser Gehirn empfängt.


»Wenn wenig Wissen gefährlich ist, welcher Mensch hat dann so viel Wissen, dass er außer Gefahr ist?«

Thomas Henry Huxley (1825–1895)


So ist dem, was wir wissen und begreifen können, gewiss zu jeder Zeit eine Grenze gesetzt. Sollten wir je auf einem Gebiet, zum Beispiel dem der Ursprünge des Universums, am Ende zu einem umfassenden Wissen gelangen, so dürften bis dahin beträchtliche Zeiträume vergehen. Auch ist kaum vorstellbar, was denn geschähe, wenn tatsächlich endgültiges Wissen erlangt worden wäre, da doch das Erkenntnisstreben von jeher die Entwicklung der Zivilisationen vorantreibt. Und dieses Streben ist so grundlegend, dass man behaupten kann, es sei der eigentliche Motor der menschlichen Evolution. Die Erörterung wäre unvollständig ohne den Hinweis auf jenes Wissen, dass mit dem Aufstieg und Fall alter Kulturen unterging. Wenn wir alles wissen wollten, müssten wir auch diesen Teil des Wissens bergen. Allwissenheit ist für den Augenblick jedenfalls eine Eigenschaft, die man am besten Gott überlässt.

Der Wissenserwerb verlangt uns Demut ab. Und wenn wir die Größe und die Ursprünge des Universums zu erkennen und zu verstehen versuchen, müssen wir uns wohl Sokrates anschließen: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«

Wie können wir wissen, dass unser Wissen richtig ist?

Die Philosophen haben lange darüber debattiert, wie wir darauf vertrauen können, dass unser erworbenes Wissen auf Tatsachen beruht. Gewöhnlich müssen wir nicht alles auf den Prüfstand stellen: Wir wissen auch so, dass 2 + 2 = 4 ist, dass die meisten reifen Tomaten rot sind und dass Großbritannien als größte der britischen Inseln vor der Nordwestküste Europas liegt. Derlei Fakten lassen sich leicht überprüfen. Aber wenn wir neues Wissen erwerben, müssen wir darauf vertrauen, dass das, was wir gelesen oder gehört haben, tatsächlich richtig ist. Es zu hinterfragen, anstatt es zu akzeptieren, ist manchmal durchaus nützlich. Auch wenn etwas als offenkundig richtig erscheint, müssen wir uns von seiner Richtigkeit höchstpersönlich überzeugen.

Die Überprüfung, ob eine Aussage den Tatsachen entspricht, kann kompliziert und knifflig werden, wobei der Erfolg vielfach von den angewandten Methoden abhängt. Gewöhnlich überprüfen wir die Stimmigkeit einer Ansicht anhand eigner Beobachtung und Erfahrung. Wenn das, was wir hören, mit dem im Einklang steht, was wir bereits wissen, nehmen wir es wahrscheinlich als richtig hin. Ob unser vermeintliches Wissen wirklich Wissen ist, hängt nicht unbedingt von der Anzahl der Menschen ab, die es als solches ansehen: Auch die Mehrheit kann zutiefst irren. Die Richtigkeit einer Meinung daran zu bemessen, wie viele ihr anhängen, scheidet als Vorgehensweise aus. Eine andere Methode besteht darin, die geäußerte Aussage auf ihren Sinngehalt hin zu betrachten. So wurde der englische Philosoph und Radiomoderator C. E. M. Joad (1891–1935), der im Zweiten Weltkrieg in der populären Radiosendung ›The Brain Trust‹ der BBC auftrat, berühmt mit dem Satz: »Hängt alles davon ab, was Sie mit [diesem oder jenem] meinen.« So leitete er seine Antworten auf die in den Raum gestellten Fragen ein. Obwohl zugespitzt, ist Joads Vorgehensweise bedeutend. Ob wir wissen, inwieweit unser vermeintliches Wissen richtig ist, hängt ganz von unserem Sprachgebrauch und unserer Deutung der Worte ab. Das Wissen auf den Prüfstand zu stellen, war ein Kernthema des logischen Positivismus, jener philosophischen Richtung, die der sogenannte Wiener Kreis in den 1920er- und 1930er- Jahren entwickelt hat – mit den beiden wichtigsten Vertretern Bertrand Russell (1872–1970) und Ludwig Wittgenstein (1889–1951). Beide befassten sich mit der Bedeutung der Wörter und der Struktur der Sprache als Methode, um festzustellen, ob eine Aussage »richtig« ist. Wittgenstein vertrat den Standpunkt, dass all unsere Gedanken auf sprachlichen Fundamenten ruhten und Abbilder der Realität seien. Die Wirklichkeit bezeichnet er als die Totalität der Fakten zur Welt, weshalb Aussagen über alles, was außerhalb der nachprüfbaren Realität liege – so etwa die Existenz Gottes – letztlich sinnlos seien. Da die Idee Gottes nicht zur faktischen Realität gehöre, gebe es für sie keine angemessene Sprache und damit auch nichts, was der Geist abbilden könne.

Nach den Skeptikern der griechischen Antike kann Wissen niemals sicher sein: Es läuft nie auf eine Gewissheit, sondern immer nur auf eine Wahrscheinlichkeit hinaus. Dafür prägten sie den Begriff der »Akatalepsie«, der fast wie eine Krankheit klingt.

Gibt es Wahrheit tatsächlich?

Die Frage, wie wir die Richtigkeit von etwas, das wir zu wissen meinen, untermauern können, führt unweigerlich zum Begriff der »Wahrheit«. Wörtlich genommen, muss etwas, das wahr ist, mit den Tatsachen oder der Realität übereinstimmen. »Richtig« und »wahr« sind Begriffe, die eng miteinander zusammenhängen, aber keine Synonyme sind. Eine Aussage kann richtig oder wahr oder beides sein. Wenn es wahr ist, ist es auch richtig, aber wenn eine Aussage richtig ist, ist sie nicht unbedingt wahr: Ich kann beweisen, dass ich nicht auf dem Mond, in der Antarktis oder in Taschkent bin. Wenn ich nicht an diesen Orten bin, dann bin ich anderswo, und wenn ich anderswo bin, bin ich nicht hier. Als Aussage ist dieses Wortspiel richtig, aber nicht wahr.

Wenn ich untersuche, ob etwas wahr ist, kann ich – auch entgegen dem stärksten Argument – darüber aussagen, dass es »für mich« wahr sei. Es heißt, eine persönliche Erfahrung könne nie durch das Argument eines anderen widerlegt werden: Wenn ich behaupte, ich habe Kopfschmerzen, kann mir mit Fug und Recht keiner widersprechen.


»Jesus antwortete: […] Ich bin […] in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit?«

Johannes 18, 37–38


Das wirft die Frage auf, ob Wahres auch ganz subjektiv sein kann, und ebenso eine weitere, ob nämlich etwas, das nicht überprüfbar ist, als wahr gelten kann. Hier ist anzumerken, dass wir auch dann mit Gewissheit wissen können, dass etwas wahr ist, wenn es sich nicht beweisen lässt. So weiß ich vielleicht, wer die Fensterscheibe meines Nachbarn eingeworfen hat, kann es aber nicht beweisen.

Das oben stehende Zitat umreißt das Programm Jesu: Er ist zu uns gekommen, um die Wahrheit zu bezeugen. Um als Zeuge auftreten zu können, muss man über das notwendige Wissen und die notwendige Glaubwürdigkeit verfügen. Vier Kapitel zuvor vermerkt Johannes das Wort Jesu: »Ich bin die Wahrheit« (Joh 14, 6). Aber welche Wahrheit bezeugt Jesus? Wie wir seine Lehre auch verstehen und deuten, die Wahrheit, die er vertrat, kann als eine absolute oder letztgültige gelten, eine, die uns zwingt, über den Sinn und Zweck des Lebens vor dem Hintergrund der Ewigkeit nachzudenken. Alle Religionen legen Zeugnis über eine absolute Wahrheit ab, über etwas, das uns über die von Wittgenstein definierte relative Wahrheit der Realität hinaus in ein Reich führt, das er als inhaltsleer erachten würde. Werner Heisenberg (1901–1976), der sich mit theoretischer Physik befasste, sagte dazu, es werde »niemals möglich sein, durch rationales Denken allein zu einer absoluten Wahrheit zu kommen«.

Brauchen wir dann etwas anderes als den reinen Verstand, etwas, das uns vielleicht Zugang zu Wahrheiten eröffnet, die nicht Teil dessen sind, was wir für die »reale« Welt halten? Auch wenn ihnen die Logiker unter den Philosophen keinen Glauben schenken, so behaupten doch viele, sie erfassten durch Mittel wie Kontemplation, Intuition, Glaube und Erleuchtung »höhere« Wahrheiten. Die meisten religiösen Traditionen raten ihren Anhängern zur inneren Einkehr mit dem Hinweis, dass wir das, worüber Jesus Zeugnis ablegte, in uns selbst erfahren könnten. Der buddhistische Zen-Meister Dogen Zenji (1200–1253) fragte: »Wenn du die Wahrheit da, wo du bist, nicht findest, wo willst du sie sonst finden?« Manchen ist wahrscheinlich wohler bei der These des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert (1821–1880): »Es gibt keine Wahrheit. Es gibt nur Wahrnehmung.« Andere wie der indische Guru Ramana Maharshi (1879–1950) mögen feststellen, dass »es keine Wahrheit gibt. Es gibt nur die Wahrheit innerhalb jedes Augenblicks.«

Was können wir über die Zukunft wissen?

Die Zukunft faszinierte die Menschen seit der Antike und gab ihnen Rätsel auf. Sie wollten schon immer wissen, was in den kommenden Monaten und Jahren geschehen wird, und entwickelten bei ihren Versuchen, künftigem Geschehen auf die Schliche zu kommen, ein Sammelsurium an ausgeklügelten Methoden und Techniken: Sie lasen in Eingeweiden, befragten das Orakel, deuteten Omen, legten Tarot-Karten, lasen Handlinien und deuteten Träume und Sternkonstellationen. Derlei Methoden, die auf dem Glauben an übernatürliche und paranormale Kräfte beruhen, stießen bei der Wissenschaft erwartungsgemäß auf Skepsis. Ihre Ergebnisse haben wohl mehr mit Spekulation als mit Wissen zu tun.

Zu den rationaleren Methoden zur Vorwegnahme der Zukunft zählt die sogenannte Wahrscheinlichkeitstheorie, die in ihren Kalkülen die Quantenphysik und Computermodelle bemüht. Mit ihren Methoden lässt sich zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit berechnen, mit der die Erde beben oder ein Vulkan ausbrechen wird. 2012 sagte die NASA einen besonders heftigen Sonnensturm voraus, der die Funktion technischer Systeme auf der Erde ernsthaft hätte beeinträchtigen können. Dank demografischer Berechnungen können wir vorhersagen, wie schnell die Erdbevölkerung wächst, welche Größe sie zu welchem Zeitpunkt erreicht und in welchen Ländern sie besonders rasant zunimmt. Auch verraten Statistiken, wo etwas getan werden muss, um diese wachsende Bevölkerung auch in Zukunft zu ernähren. Weltweite Beobachtungen des Klimas rückten die Erderwärmung in den Fokus, die langfristig die Zukunft der Menschheit auf dem Planeten bedroht. In der sich ständig verändernden Welt der Politik ist eine interessante und häufig eingesetzte Form der statistischen Vorhersage die Meinungsumfrage, mit der versucht wird, die Ergebnisse von Wahlen oder Volksbefragungen vorwegzunehmen. Ähnlich versuchen in der Geschäftswelt vor allem global aufgestellte Unternehmen mit riesigen Datenbanken auf den volatilen, das heißt schwankenden Märkten künftige Verhältnisse vorauszuberechnen.

Radioteleskope empfangen Signale aus dem All, anhand derer sich die Wahrscheinlichkeit errechnen lässt, ob ein gewaltiger Meteorit auf der Erde einschlagen wird. Experten rechnen künftige Verhältnisse von Angebot und Nachfrage oder andere ökonomische Variablen hoch, damit Investoren und Aktionäre auf Prognosen bauen können. Für die meisten Menschen haben solche Sicherheit gebenden Methoden im Alltag freilich keine Bedeutung. Ihnen genügte es schon, wenn sie wüssten, wie die Dinge in der nächsten Woche oder auch nur am nächsten Nachmittag liegen: Welches Pferd beim nächsten Rennen als Sieger durchs Ziel geht oder ob diese oder jene Fußballmannschaft das Spiel gewinnt, verliert oder mit unentschieden abschließt. Vor allem wüssten wir gern, ob wir gesund bleiben, oder, wenn wir krank sind, wie unsere Chancen auf Heilung stehen. In diesem Bereich könnten wir auf fachliche Prognosen zu unserer Zukunft zählen, während diejenigen, die wissen wollen, was ihnen, ihrer Familie und ihren Freunden mittel- und langfristig widerfahren wird, noch immer auf Horoskope, Wahrsager und Propheten angewiesen sind.

Der Ökonom Peter Drucker (1909–2005) hat gewiss recht, wenn er meint: »Die beste Art, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie zu schaffen.« Allerdings können wir nicht wissen, ob das, was wir schaffen, überhaupt zukunftsfähig ist.

Was »müssen« wir wissen?

Diese Frage ist insofern offen, als die Antwort darauf von Zeit, Ort und Umständen abhängt. Allgemein kann diese Frage auf unser körperliches Überleben abzielen: Vor 100 000 Jahren mussten wir wissen, wie wir uns eine Höhle graben, uns mit Kleidung gegen die Kälte schützen, Beute erlegen, Wurzeln sammeln, Feuer entzünden und am Brennen halten und wie wir überleben, wenn wir verletzt oder krank geworden sind. Dagegen erfordern die hochentwickelte Gesellschaft und ihre komplexen Verhältnisse Spezialisierungen, durch die sich unser Wissensbedarf in Sachen nacktes Überleben deutlich verringert hat. Ihn haben wir längst weitgehend an andere delegiert: an die Bauindustrie, die Erzeuger und Vertreiber von Nahrungsmitteln, an medizinisches Personal, Notfalldienste und Streitkräfte. Dagegen benötigen die Menschen in der sogenannten »Dritten Welt« noch immer viel Wissen ums tägliche Überleben. Auch wenn ihnen gelegentlich Hilfsorganisationen beispringen, sind sie weitgehend auf sich gestellt, um für ihr körperliches Wohlergehen zu sorgen. Allerdings müssen in den Industrienationen die meisten wissen, wie sie ihr finanzielles Überleben sichern.

Das Need-to-Know-Prinzip, die Kenntnis nur bei Bedarf, die in sicherheitsrelevanten Bereichen gilt, verordnet ein Wissen, das geradeso genügt, um anstehende Aufgaben zu erfüllen: damit man zum Beispiel aus einem Soldaten in Feindeshand nicht unnötig viele Informationen herausholen kann. Als ähnlich strukturiert kann auch unser Leben gelten. Da wir uns bei der Befriedigung unserer Alltagsbedürfnisse auf andere verlassen, müssen wir nur das wissen, was wir für unseren Beruf benötigen, und hier wissen wir vielleicht nicht einmal so viel, wie wir wissen sollten. Umfassender wird das, was wir wissen müssen, durch unsere Wissenslücken bestimmt. Aber ebenso wichtig ist die Art Wissen, dank derer wir Prioritäten setzen und ein Gespür für Werte entwickeln können, weil diese unsere Entscheidungen und Urteile im Alltag bestimmen.

Natürlich brauchen wir auch ein Wissen um uns selbst und, wie manche meinen, um Gott, in welcher Form er uns auch begegnen mag. Nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen wir uns dagegen über das Wissen, was der Endzweck aller Dinge sei, solange wir nur wissen, dass das Leben einen Sinn hat, auch wenn wir ihm diesen vielleicht selbst geben müssen. Am wohl wichtigsten, wenn auch weniger offensichtlich, ist eine Kenntnis darüber, wie wir uns in einer sich ständig verändernden Welt selbst verändern müssen. Charles Darwin fasste es so: »Nicht die stärkste Art überlebt, und auch nicht die intelligenteste. Es ist vielmehr die Art, die sich am besten anpassen kann.«

Geht großes Wissen mit großer Weisheit einher?

Philosophen sahen Weisheit gewöhnlich als Fähigkeit, vom Wissen auf beste Weise Gebrauch zu machen. Alle Kulturen haben von der Weisheit Allegorien oder Personifikationen geschaffen. Im Abendland am bekanntesten ist die Göttin »Sophia«, die in der bildenden Kunst und Dichtung auftauchte. Die griechischen Sophisten boten professionellen Unterricht in Weisheit an. Das Alte Testament enthält sechs »Weisheitsbücher«. Der hellenistisch-jüdische Philosoph Philon von Alexandria (20 v. Chr.-50 n. Chr.) brachte unter dem Begriff des Logos platonische und jüdische Konzepte der Weisheit in Einklang, worauf dieser Logos denn auch ins Vorwort des Johannesevangeliums einfloss. In sämtlichen Ausprägungen des Christentums und der jüdischen Kabbala bildete Sophia als Heilige Weisheit den Kern von deren Mystik. Für Buddhisten steht das Sanskritwort Prajna, das mit »Weisheit« wiedergegeben wird, für einen Grundbegriff aus der Mahayana-Tradition, der unmittelbare Erkenntnis oder ein intuitives Verständnis meint. Prajna existiert unabhängig von der Begriffsbildung und verschafft an zentraler Stelle Einblick in die Leere, welche die wahre Natur der Realität ausmacht. Als solcher Einblick wird Weisheit mit Erleuchtung als ein Zeichen der Buddhaschaft gleichgesetzt.


»›Ich möchte zum Beispiel wissen, warum Schönheit existiert‹, sagte [Gabrielle], ›warum die Natur sie noch immer hervorbringt, wie das Leben eines Baumes mit seiner Schönheit in Verbindung steht, und was die schiere Existenz des Meeres oder eines Gewitters mit den Empfindungen verbindet, die sie in uns auslösen. Wenn es Gott nicht gibt, wenn diese Dinge nicht in einem metaphorischen System vereint sind, warum haben sie für uns dann eine so gewaltige Symbolkraft?‹«

Anne Rice (* 1941)


Obwohl Wissen und Weisheit in der Diskussion um ihre Beziehung oft einander gegenübergestellt werden, stehen die Inhalte dieser Begriffe nicht im Konflikt zueinander. Jemand kann umfänglich wissend, aber überhaupt nicht weise sein, während ein Weiser auch sehr viel weiß. Wissen ist etwas Erlerntes, Weisheit erwächst aus Erfahrung. Und obwohl beide untrennbar miteinander verknüpft sind, hält die Weisheit sich etwas abseits, wie der Dichter Hermann Hesse (1877–1962) vermerkte: »Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.«

Weisheit und Wissen erfordern beide Einsicht und Intelligenz, haben aber einen unterschiedlichen Wert und spielen eine jeweils andere Rolle im Leben. Im Bildungsbereich besteht Wissen aus unzähligen Daten und Fakten, die aufgenommen und abgespeichert werden müssen. Dieses Wissen um Fakten ist unverzichtbar, wenn Schüler bei den zahlreichen aufeinanderfolgenden Tests und Prüfungen, die sie absolvieren müssen, bestehen wollen. Wir werden angewiesen, Wissen einzusetzen, womit aber weitaus eher eine Anwendung auf weiteres Wissen als auf seinen Gebrauch im Leben gemeint ist. Die Nützlichkeit eines Menschen bemisst sich nicht nur an seinem Wissen, sondern auch daran, wie schnell er es abrufen kann. Zu testen, wie viel jemand weiß, macht den Reiz der beliebtesten Quizsendungen in Radio und Fernsehen aus. Wir staunen ehrfürchtig über die fantastischen Gedächtnisleistungen der Kandidaten und die Geschwindigkeit, in der sie mit dem auftrumpfen, was Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.) das »verständige Wissen um diesseitige Dinge« nannte.


»Für die Weisheit ist nichts gut, das nicht für immer gut ist, kein Mensch glücklich, der mehr als nur das Glück braucht, das in ihm selbst steckt, und kein Mann groß und mächtig, der nicht Herr seiner selbst ist.«

Seneca der Jüngere (ca. 3 v. Chr. – 65 n. Chr.)


Woran erkennen wir dann, dass eine Person nicht nur ein fundiertes Wissen, sondern auch echte Weisheit besitzt? Wenn jemand tiefgründige Gedanken äußert oder klugen Rat erteilt, wissen wir noch nicht, ob er beständig weise ist. Um darauf zu vertrauen, braucht es eine Beziehung, wie sie zwischen Schüler und Lehrer oder Anhänger und Guru herrscht. Dann entdecken wir, dass Weisheit aus weitreichendem Wissen und vielfältiger Erfahrung erwächst. Weisheit beruht nicht nur auf rationalen Fähigkeiten und Intelligenz, sondern auch auf Gefühlen, einem Willen und Spiritualität. Aber ihr Fundament bildet stets das Wissen. Doch erkennt nur der weise Zuhörer, dass er Weises hört, wie der amerikanische Schriftsteller und Journalist Walter Lippmann (1889–1974) bemerkte: »Es erfordert Weisheit, Weisheit zu verstehen: Musik nutzt nichts, wenn das Publikum taub ist.«