Ist der Mensch auch nur ein Tier?
Sicher ist, dass wir Tiere der Gattung Homo sind, auch wenn Charles Darwin erst in relativ neuer Zeit bewies, dass unsere Vorfahren in der Tierwelt Primaten waren. Wie Wissenschaftler errechneten, trennt uns von unseren mit den Schimpansen gemeinsamen Vorfahren eine Entwicklungszeit von 5 bis 7 Millionen Jahren. Einige unserer unmittelbareren Vorfahren, so der Homo erectus und der Homo sapiens neanderthalensis, sind inzwischen ausgestorben. Vor 50 000 bis 100 000 Jahren verbreitete sich unsere ursprünglich aus Afrika stammende Spezies über Europa. Dies sind die dürftigen Fakten über eine komplizierte Entwicklung, zu der, was die Orte und Wanderrouten angeht, verschiedene Theorien vorliegen.
Die biblischen Religionen verliehen dem Menschen einen Sonderstatus. Gott soll ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt als Krone der Schöpfung erschaffen haben. Dagegen verwies die Evolutionslehre als eine »wissenschaftliche Revolution« auf eine lang anhaltende Entwicklung und nahm so der Unterscheidung der Kreationisten zwischen Mensch und Tier deutlich die Schärfe. Ihr zufolge kamen wir eher nach dem Ebenbild eines höheren Primaten als nach dem Gottes in die Welt. Nach Richard Tarnas (* 1950) war »der menschliche Verstand kein Gottesgeschenk, sondern ein biologisches Werkzeug«. Menschen sind wie jede Spezies der natürlichen Auslese unterworfen, die von Naturgesetzen vorangetrieben und am Laufen gehalten wird.
Nach neueren Forschungen, so zum Beispiel in R. J. Britten (1919–2012), ›Proceedings of the National Academy of Science 2002‹, deckt sich das in der DNS codierte menschliche Erbgut zu ungefähr 95 Prozent mit dem von Schimpansen. Menschen haben 23, Schimpansen 24 Chromosomenpaare. Aber auch wenn wir uns von diesen Affen biologisch nur geringfügig unterscheiden, so zeichnen uns Besonderheiten aus. Und auch wenn wir Tiere sind, bescheren uns diese kleinen Unterschiede eine radikal andere Lebensweise und Wahrnehmung von unserem Leben. Das wohl Bemerkenswerteste ist, dass wir ein Bewusstsein für die eigene Sterblichkeit haben und schon das allein gibt unserer Existenz einen einzigartigen Rahmen. Wir denken über diesen und alle anderen Aspekte unseres Lebens nach, entwickeln philosophische Theorien, um zu einem tieferen Verständnis der Dinge zu gelangen, und kommunizieren in komplexen Sprachen und mit High-Tech-Mitteln. Wir haben Elemente erobert, für die wir biologisch nicht geschaffen sind. Wir gehen aufrecht, schwimmen, fahren und fliegen um die Welt und sogar bis zum Mond. Wir wirken schöpferisch in einer riesigen Bandbreite von Disziplinen, wir verhüten und schaffen künstlich Leben, verändern seine Formen, fällen ästhetische Urteile und sind theoretisch in der Lage, das Leben auf der Erde auszulöschen.
»Welch ein Meisterwerk ist der Mensch!«
William Shakespeare (1564–1616), Hamlet, II,2
Wir seien »unbegrenzt an Fähigkeiten«, staunte Hamlet, und diese zeichnen uns gegenüber den anderen tierischen Spezies aus, auch wenn der dänische Prinz (beziehungsweise Shakespeare) noch nicht wissen konnte, dass hinter unseren Besonderheiten ein Evolutionsprozess steckt. Doch sind wir deswegen keineswegs das wohltätigste oder friedliebendste Geschöpf auf unserer Erde, und ein Urteil, ob wir, mit Hamlet gesprochen, wirklich als »das Vorbild der Lebendigen« gelten können, steht noch aus.
Was ist der Tod?
Weder wir noch andere Lebewesen können jemals den Tod erfahren, sondern nur das Sterben. Der Tod als Ende des Lebens ist der Zustand des Nicht-Mehr-Seins, der Stillstand aller biologischen Funktionen, die das Leben eines Organismus ausmachen. Was der Tod sei, lässt sich so nur anhand einer Definition des Lebens bestimmen, und hier herrscht kein Konsens. Wenn wir sagen, der Tod trete beim Aussetzen der lebenswichtigen Organfunktionen ein, müssen wir diese definieren. Üblicherweise geht man davon aus, dass das Leben da aufhört, wo die unwillkürliche Atem- und Herztätigkeit aussetzt. Allerdings lassen sich beide künstlich aufrechterhalten, was die Frage aufwirft, wie lange ein Leben auf diese Weise unterstützt werden kann, ehe klar erkennbar ist, dass der lebensbedrohliche Zustand unumkehrbar ist. In Großbritannien tauchte 1976 erstmals der Ausdruck brain death für »Hirntod« auf, um Patienten, die sich zumindest teilweise erholen können, von denen zu unterscheiden, deren Schicksal für immer besiegelt ist. Ein Patient, bei dem der »Stammhirntod« festgestellt wurde, wird sich nie mehr erholen, aber er ist auch noch nicht tot.
»Komm, nun höchstes Fest auf dem Wege zur Freiheit, Tod …«
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
Der Sinn des Lebens sei es, so hieß es, das Sterben zu lernen – eine bedrückende Aufgabe. Auch wenn wir im Wissen der eigenen Sterblichkeit leben, können wir uns nicht ständig vor Augen halten, dass der Schatten des Todes auf uns liegt. Die wichtigsten Religionen der Welt halten ihre Gläubigen dazu an, den fernen Horizont des Todes im Blick zu behalten, aber nicht, um sich zu fragen, wann sie sterben werden. Vielmehr sollen sie, wie der Benediktinermönch und Theologe David Steindl-Rast (* 1926) es formulierte, »jeden Augenblick des Lebens als Herausforderung sehen, sich das Sterben in jedem Augenblick mit bewusst zu machen, um umfassender lebendig zu sein«.
Es gibt viele Berichte über eine sogenannte »Nahtoderfahrung«, der offenbar einzigen Möglichkeit, den Tod tatsächlich zu erfahren. Entweder kommt der Betreffende dem Tod so nahe, dass er ihn beschreiben kann, oder – ein seltener Fall – er kehrt, nachdem er bereits für tot erklärt worden ist, ins Leben zurück und kann von seiner Erfahrung berichten. Im letzteren Fall können wir sagen, die Erfahrung sei eine zeitweilige Transzendenz des Todes. Nahtoderfahrungen wurden von medizinischen, psychiatrischen und psychologischen Fakultäten untersucht. Dabei zeigten sich gemeinsame Merkmale, so ein Bewusstsein dafür, dass man tot ist. Andere »Empfindungen« werden beschrieben als absolute Ruhe, als das Gefühl, sich außerhalb der Welt oder des eigenen Körpers zu befinden, einen Tunnel zu passieren, einem Licht, mit dem man kommunizieren kann, entgegenzueilen und darin einzutauchen, als ein überwältigendes Gefühl der Liebe, eine Begegnung mit spirituellen Wesen, die hell gleißen, strahlen oder in Weiß gekleidet sind, als Annäherung an eine Art Grenze, eine Rückschau auf das eigene Leben, das Gefühl, das Wesen des Kosmos zu erkennen oder zu verstehen, ein Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen religiösen oder spirituellen Kultur, und die Entscheidung, in den eigenen Körper zurückzukehren oder nicht – so eine Zusammenfassung von Nahtoderfahrungen, wie sie in der einschlägigen Literatur geschildert werden (siehe Janice Miner Holder, The Handbook of Near-Death Experiences).
Diesen Beschreibungen zufolge können wir bewusst erleben, dass wir dem Tod ganz nahe sind. Ob unser Bewusstsein den endgültigen Tod des Körpers überleben kann, wird anhand weiterer Fragen in diesem Buch noch behandelt.
Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Lässt man Glaubensfragen beiseite, so kann man nichts Sicheres darüber sagen, ob ein Leben nach dem Tod möglich ist. Wohl nur Atheisten können hier eine überzeugte Antwort geben, die natürlich negativ ausfällt. Fast seit den Anfängen der menschlichen Gesellschaft war der Glaube an ein Leben nach dem Tod Teil der Kultur. Dass wir diesen überdauern können, bildet den Kern der Glaubenslehren der biblischen Religionen. Und wir können sicher sein, dass diese Überzeugung schon die Überlieferungen bestimmte, aus denen sie hervorgingen. Die Szenarios, in denen wir den Tod überwinden, malen uns die großen Religionen der Welt unterschiedlich aus. Das Judentum entwickelte das allgemeine Konzept von der Olam Ha-Ba, der »kommenden Welt«, in der die Gerechten ein jenseitiges Leben genießen. Unter verschiedenen Benennungen entwirft das Christentum verschiedene Bilder eines Jenseits, das die Gerechten erwartet, so das Paradies, eine Art Garten Eden, und das Reich Gottes oder das Himmelreich. Das Letztere kann entweder »jenseitig« oder diesseitig im Sinn einer Herrschaft Jesu Christi auf Erden über die Wiederauferstandenen sein. Im Koran, in der Sure ar-Rad, »der Donner«, ist die Rede von einem Garten Eden: »Das Bild des Paradieses, das den Gottesfürchtigen verheißen ward.« (13,35) Der Hinduismus setzt auf die Wiedergeburt und Reinkarnation der unsterblichen »Seele«, ein Zyklus, der durch das Karma in Form der eigenen Taten bestimmt wird. Das letzte Ziel ist dabei aber keine Art Himmel, sondern die Erlösung. Im Buddhismus bedeutet Reinkarnation gewöhnlich Seelenwanderung. Das Leben wird wie die Flamme von einer Kerze zur nächsten weitergereicht, wobei die jeweilige Flamme mit der vorigen zwar verbunden, aber mit ihr nicht identisch ist. Das Nirwana als endgültige Befreiung von diesem Ablauf bedeutet das Erlöschen der Flamme. Mit seiner endgültigen Erlösung vom Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt geht das individuelle Bewusstsein im Ganzen auf. Um genauere Erklärungen zu diesem Ablauf gebeten, beschrieb Buddha diesen als »unverständlich, unbeschreiblich, unvorstellbar, unsagbar«. Er drückte damit aus, dass das Subjekt ebenso wie die Schöpfung und der Ursprung des Universums letztlich ein Mysterium ist, das wir mit unserem Verstand nicht erfassen können. Und da es hier keine klaren Antworten gibt, sollte uns das Thema auch nicht über Gebühr beschäftigen.
Obwohl die Vorstellung von der Wiederauferstehung des Leibes auf unsere Kultur großen Einfluss ausgeübt hat, glauben nur wenige daran, dass wir den physischen Tod dereinst so überwinden, dass unsere zerfallenen oder verbrannten Überreste auf wundersame Weise unversehrt wiedererstehen. Falls es ein Überleben gibt, dann in spiritueller Form, wohl als eine Seele, die einen Bestandteil des Bewusstseins bewahrt. Den Gegenpol zu diesem Glauben bilden die Meinungen von Atheisten, insbesondere des Evolutionsbiologen Richard Dawkins (* 1941). Von diesem Autor zahlreicher herausragender Bücher ist in jüngerer Zeit ›Der Gotteswahn‹ erschienen. Menschen dieser Auffassung behaupten, da es für ein Leben nach dem Tod keinen wissenschaftlichen Beweis gebe, könne so eine Vorstellung allenfalls als ein Mythos gelten, der vom Glauben weitergetragen werde. Der Glaube, so sagt Dawkins, sei »die große Ausflucht, die große Ausrede, um sich vor der Notwendigkeit zu drücken, nachzudenken und Hinweise zu evaluieren. Der Glaube ist eine Überzeugung, obwohl, oder vielleicht gerade weil, Anhaltspunkte fehlen«. Durch den Glauben, wir könnten den Tod überleben, wappnen wir uns gegen die erschreckende Gewissheit eines Todes, mit dem wirklich alles aus und vorbei ist. Als alternative Sicht konstatierte Albert Schweitzer: »Die Idee der Wiedergeburt enthält also eine trostvolle Erklärung der Wirklichkeit, durch die das indische Denken über Schwierigkeiten, mit denen das europäische nicht fertig wird, hinausschaut.« Außer trostvoll, so meine ich, liefert diese Erklärung aber auch intellektuell die befriedigendste Antwort auf die Frage: Sind wir nur zum Sterben geboren?
Hat das Leben einen Sinn?
Der Sinn und Zweck unseres Lebens ist eng mit dem des gesamten Universums verknüpft. Da wir als Teil des Ganzen denselben physikalischen Gesetzen wie die zahllosen Galaxien des Kosmos gehorchen, ist unwahrscheinlich, dass unser Leben einen von allem Übrigen abgekoppelten Sinn habe. Für die unbeseelte materielle Welt ließe sich ein Sinn dahingehend konstruieren, dass sie mit den Prinzipien der Physik übereinstimmt und so an der tätigen Harmonie des Ganzen teilhat. Ein solcher »Sinn« entspränge den Naturgesetzen, auch wenn dieser Ausdruck deren Funktionsweisen vielleicht nicht am besten beschreiben kann. Für die Menschheit knüpft sich Sinn an das Bewusstsein. Wenn wir die Bedeutung unseres Lebens betrachten, tun wir dies mit dem Wissen, dass die physikalischen Gesetze unserer allumfassenden Umwelt unsere Verhältnisse bestimmen. Und dass uns in diesem kosmischen Umfeld unsere Erbinformation weitere Grenzen setzt. Niemand hat als Bestimmung die eigene Geburt angestrebt oder es in der Hand gehabt, auf die Welt zu kommen. Das Leben wurde uns als Ablauf aufgezwungen. Wir können es entweder so leben, als habe es keinen Sinn, oder ihm einen Sinn geben oder einen suchen.
Nach religiöser Auffassung besteht der wichtigste Sinn des Lebens darin, eine enge Beziehung zu Gott oder dem Göttlichen zu pflegen. Die meisten Religionen lehren, dass dieser Vereinigung Barrieren entgegenstehen, seien es, wie die biblischen Religionen hervorheben, die Sünde oder, wovor östliche Religionen warnen, die Unwissenheit und die Illusion. Die Mittel, mit denen diese Hürden überwunden werden sollen, geben dem Leben einen anspornenden Zweck. Aber ein weiterer, ebenso wichtiger Punkt steht auf der Agenda: die sittliche Dimension des Lebens, der »Anspruch«, nach bestimmten ethischen Normen zu leben, um unseren Platz in den Rängen des Guten zu behaupten. Wir werden ermuntert, für andere wie für uns selbst zu leben. So gab Selbstlosigkeit, ob religiös oder weltlich motiviert, dem Leben von jeher einen Sinn. Viele andere Faktoren mögen unserem Leben einen Sinn geben, nicht zuletzt den, dass wir gerade nicht danach streben, für einen Zweck zu leben, sondern Sinn in unser Leben zu tragen. Deswegen fragen wir nicht danach, warum um Himmels willen wir auf die Welt gekommen sind, sondern wie wir uns am besten verhalten, solange wir in ihr leben. Ein chinesisches Sprichwort drückt es so aus: »Das Wunder besteht nicht darin, durch die Lüfte zu fliegen oder über Wasser zu schreiten, sondern auf der Erde zu gehen.« Wo und wie wir dies tun, liegt vornehmlich im eigenen Ermessen. Manche meinen, wir seien auf der Welt, um uns selbst und andere kennenzulernen oder um diese Welt in unserer kurzen Lebenszeit zu verbessern. Wir arbeiten, um zu leben, oder leben, um zu arbeiten. Und dann gibt es noch diejenigen, welche nach dem Glück streben, die Hedonisten, die sämtliche Freiräume zwischen Essen und Schlafen auf möglichst interessante und angenehme Weise nutzen wollen. Wir werden geboren, und wir sterben, aber dazwischen, so ein jüdisches Sprichwort, sind ein Happen und ein Getränk ganz nützlich.
»Unser Geist ist endlich, und doch sind wir selbst unter diesen Umständen der Endlichkeit von unendlich vielen Möglichkeiten umgeben. Der Sinn des Lebens besteht darin, uns aus dieser Unendlichkeit möglichst viel herauszupicken.«
Alfred North Whitehead (1861–1947)
Der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus (1913–1960) warnte: »Wenn man nach dem Sinn des Lebens sucht, wird man nie leben.« Ist dies einer der Fälle, in denen eine ausufernde Beschäftigung mit einer Frage die Antwort erschwert? Wie dem auch sei, Friedrich Nietzsche hat wohl recht: »Wenn wir wissen, warum wir leben, werden wir nie ein Problem damit haben, wie wir leben sollen.«
Können wir je wirklich glücklich sein?
Glück ist ein Gemütszustand, der von der Einstellung, der Veranlagung und dem Temperament abhängt. Kein Mensch kann dasselbe Glück wie ein anderer empfinden, aber das Glück eines jeden kann zu dem eines anderen beitragen, wie es auch dessen Unglück schmälern kann. Auch wenn wir eine Zeit lang tatsächlich wahrhaft glücklich sein können, ist fraglich, ob sich dieses Glück dauerhaft hält. Denn selbst bei den positivsten Einstellungen bewältigen nur wenige alle neuen Umstände, die unser Glück bedrohen.
»Glückseligkeit ist der Sinn und der Zweck des Lebens, dem das ganze Tun und Trachten des menschlichen Seins gilt.«
Aristoteles (384–322 v. Chr.)
Was den Einzelnen glücklich macht, ist gewöhnlich persönlich und subjektiv. Manche sind, unabhängig von den äußeren Umständen, ständig glücklich, während andere nur kurze Augenblicke des Glücks genießen. Aber die Bedingungen des Glücks zeigen gemeinsame Züge. Die ständig Glücklichen verdanken diesen Zustand wahrscheinlich einer Veranlagung und neigen nicht zur Besorgnis. Sie sind zuversichtlich und lebensbejahend, leben ganz im Augenblick und setzen nicht nur auf Verstand und Intelligenz, sondern auch auf Intuition. Sie sind klug genug, um zu wissen, dass Dinge sich ändern können, weshalb sie Rückschläge nicht unvorbereitet treffen. Und sie zeigen in schwierigen Lebenslagen Widerstandskraft. Das Glück kommt leichter zu denen, die nicht zu materialistisch und gierig sind und sich mit einem einfachen Auskommen begnügen. Ihnen sind Familie und Freunde wichtiger. Und ihr Lebenssinn knüpft sich häufig an ihren Beruf.
Viele sehen ihr Glück in religiösen Überzeugungen. Auch in schwierigen Lebenslagen spendet ihnen der Glaube, dass ihr Gott sie mit seiner Stärke und Barmherzigkeit stützt, inneren Frieden. Ähnliche Kraft beziehen andere aus einer stillen Besinnung. Sie bauen ihr Glück auf eine Unabhängigkeit, die in der hinduistischen Schrift ›Manusmriti‹ (Die Gesetze des Manu) so beschrieben wird: »Verlasse dich nicht auf andere, sondern stütze dich auf dich selbst. Wahres Glück entspringt aus Selbstvertrauen.«
Natürlich können wir nicht immer glücklich sein. Zeitweise haben wir Gründe zur Trauer, zum Zorn, zur Enttäuschung, zur Frustration oder zur Unpässlichkeit, weshalb wir auf alles und jeden negativ reagieren. Manche richten sich rasch, andere erst allmählich wieder auf. Drei Mittel können unser Glück steigern: erstens, mehr lächeln, weil lächeln bisweilen sogar dann die Stimmung hebt, wenn wir uns nicht glücklich fühlen; zweitens für das dankbar sein, was wir sind und haben; und drittens, uns nützlich machen, zum Beispiel im Dienst an anderen, die weniger glücklich sind als wir. In seinem ›Versuch über den menschlichen Verstand‹, der 1690 erschien, schrieb der englische Philosoph John Locke (1632–1704), dass »die höchste Perfektion der geistigen Natur in einem sorgfältigen und ständigen Streben nach wahrem und solidem Glück besteht«. Dieser Gedanke floss in die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ein, wo unter den unveräußerlichen Souveränitätsrechten des Menschen »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« aufgelistet sind.
Kann Hoffnung eine gefährliche Täuschung sein?
»Aber was ist Hoffnung?«, fragte der englische Dichter Lord Byron (1788–1824) rhetorisch. »Nichts als die Schminke auf dem Antlitz der Existenz. Das geringste Streifen der Wahrheit reibt sie herunter. Dann sehen wir, an welch hohlwangige Hure wir geraten sind.«
Ungeachtet der Skepsis Byrons besteht Hoffnung für viele in dem Glauben, dass die kurz- oder langfristigen Vorhaben, mit denen sie sich gerade befassen, schließlich doch zu einem guten Ende kommen, insbesondere, wenn das Ziel bedroht oder schwierig zu erreichen ist. Der Zuversicht entspringend, ist Hoffnung eine geistige Verfassung, die ein Gefühl der Vorfreude und des Wohlbehagens auslöst. Als eine positive Haltung durchwirkt sie das Gewebe unserer Persönlichkeit. Aber so stark Hoffnung auch sein mag, sie kann durch einen Hauch Besorgnis getrübt werden oder mit dem Bedürfnis einhergehen, einzuschätzen, wie realistisch sie ist. Paulus hebt in seinem ersten Brief an die Korinther die »Hoffnung« als eine der wichtigsten und dauerhaftesten menschlichen Eigenschaften hervor: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.« (13, 13.)
Eine unrealistische Hoffnung kann sich allerdings – wie auch ein trügerischer Glaube oder bestimmte Formen der Liebe – als gefährliche Täuschung erweisen. Wie Glaube und Liebe bedarf die Hoffnung, damit sie bestens trägt, eines gewissen Maßes an Reife. Ausreichend Lebenserfahrung muss uns erkennen lassen, wann Hoffnung fehl am Platze ist. Auch wenn der griechische bukolische Dichter Theokritos (3. Jh. v. Chr.) uns lehrt, dass da, »wo Leben ist, Hoffnung ist, und nur die Toten haben keine«, so gibt es doch offenbar auch ganz hoffnungslose Lagen. Ein Patient, bei dem eine unheilbare Krankheit im Endstadium diagnostiziert wird, hofft wahrscheinlich nicht mehr auf ein langes Leben. Andernfalls wäre er töricht. Solche Hoffnung, so schrieb Aristoteles (384–322 v. Chr.), gleiche einem »Wachtraum«. Dennoch bleibt uns in Ausnahmesituationen, so wenn unser Leben in Gefahr gerät, zuweilen nur noch die Hoffnung. Die fantastischen Schilderungen, wie die Mitglieder von Ernest Shackletons (1874–1922) Antarktisexpedition gerettet wurden, liefern ein Beispiel dafür, wie sehr das Überleben von den zähen Hoffnungen eines Einzelnen abhängen kann. Es gibt Dutzende Berichte von Menschen, die trotz verschwindend geringer Überlebenschancen auf Bergen, auf hoher See oder nach Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben doch mit dem Leben davonkamen. Dabei ist aber darauf hinzuweisen, dass Hoffnung allein noch nie ein Leben gerettet hat. In allen Lebenslagen geht Hoffnung im besten Fall mit einem starken Willen und der Entschlossenheit einher, das Erhoffte zu verwirklichen. Hoffnung im Verbund mit Willen kann niemals passiv sein. Gemeinsam stehen sie hinter den Taten, dank derer sich Hoffnung erfüllt.
Zuweilen hoffen wir aber natürlich auch nur deshalb, weil wir über die Lage nicht genug wissen und über den Verlauf der Zukunft nur spekulieren können. Wir hoffen, dass wir, unsere Familie und unsere Freunde gesund bleiben, dass unser Auskommen weiterhin gesichert ist, dass die Probleme im Nahen Osten gelöst oder die Bedrohungen für die Ökologie auf unserem Planeten abgewendet werden. Solche Hoffnungen halten sich nur, wenn wir sicher sein können, dass die Gefahren für unsere Gesundheit, für unsere Finanzen oder für den Friedensprozess mit geeigneten Maßnahmen abgewendet werden können oder dass sich die Weltgemeinschaft ernsthaft bemüht, den Kohlendioxidausstoß auf der Erde einzudämmen. Der Romancier Alexandre Dumas (1802–1870) schilderte das schwere Schicksal des Grafen von Monte Christo, der Hoffnung mit Geduld verband. In dem Verlies, in dem er zu Unrecht schmachtete, erkannte er schließlich: »Bis zu dem Tag, an dem Gott dem Menschen die Zukunft zu enthüllen geruht, geht alle menschliche Weisheit in diesen beiden Worten auf: warte und hoffe.«
»Und so lang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde. «
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Haben wir einen freien Willen?
Diese Frage wird gewöhnlich als Gegenentwurf zum Determinismus diskutiert, wonach alle Ereignisse durch Ursache und Wirkung eindeutig festgelegt seien. Ein freier Wille setzt voraus, dass wir aufgrund eigener freier Entscheidungen handeln, die zwar äußeren Einflüssen ausgesetzt, aber frei von einer absolut bestimmenden Kausalität seien. Dagegen sind nach der deterministischen Sichtweise alle Ereignisse, auch die in unserem Leben, durch vielfältige und von uns nicht zu kontrollierende Faktoren vorherbestimmt. Der Gedanke, dass die Welt in ihren Abläufen festgelegt ist, taucht auch in den Religionen auf, in deren Kern ein allmächtiger Schöpfergott steht, der alles Geschehen vorherbestimmt. Eine solche Sichtweise birgt allerdings selbst für religiöse Menschen Probleme: In den meisten Glaubenslehren sind wir für unsere Taten selbst verantwortlich, während sie bei einer Vorherbestimmung zwangsläufig außerhalb unserer Verantwortung lägen. Auch bietet der Determinismus sogar für übelstes Fehlverhalten automatisch eine Ausrede, da er uns die Verantwortung von den Schultern nimmt: Unser Tun war ja vorherbestimmt. Allgemein widerstrebt den Menschen der Gedanke, dass ihre Entscheidungen und Taten aus etwas anderem hervorgehen als ihrem freien Willen. In der deterministischen Sichtweise sehen sie sich zu Marionetten eines göttlichen oder himmlischen Strippenziehers degradiert. Uns gefällt der Gedanke nicht, dass wir gleichsam hochkomplex strukturierte Roboter seien, die über eine Tastatur von den Händen eines kosmischen Despoten programmiert und gelenkt würden.
»Alles in der Natur ist das Ergebnis feststehender Gesetze.«
Charles Darwin (1809–1882)
Vertreten wird der biologische und der kosmologische Determinismus von Evolutionsbiologen und Physikern. So schrieb beispielsweise Richard Dawkins über das »Egoismus-Gen«, es sei das Molekül, das uns alle »versklavt«. Alles, was zähle, sei sein Durchhaltevermögen. Unser Körper und unser Geist seien »Überlebensapparate« unserer Gene, und unser Tun und Trachten werde durch sie bestimmt. Auch Einstein glaubte an eine umfassende Determinierung: »Wir alle tanzen nach einer geheimnisvollen Melodie, die ein unsichtbarer Spieler in den Fernen des Weltalls anstimmt.«
Aber die Vorstellung von einer solchen Programmierung, so unumstößlich sie erscheinen mag, beinhaltet nicht die ganze Geschichte. Wie viele Fragen, die sich vor dem Hintergrund eines wissenschaftlichen Absolutismus stellen, kann auch die des freien Willens differenziert betrachtet werden. Der Standpunkt ist möglich, dass unsere DNS uns notwendigerweise so programmiert, dass wir innerhalb eines breiten Bezugsrahmens unseren freien Willen ausüben. Wenn wir beispielsweise sagen, dass wir unsere Meinung in einer Sache deshalb geändert haben, weil dies so vorherbestimmt war, dann wird dies zur reinen Gedankenspielerei. Dass unser Äußeres, unsere Persönlichkeit und unsere Veranlagungen auch durch Erbanlagen festgelegt sind, kann niemand bezweifeln. Aber unsere Beziehung zur Umwelt, unsere Erziehung, unser Wissen und unsere Erfahrungen schaffen eine so komplexe Matrix, dass es ausreichend realistisch erscheint, dass wir innerhalb dieser einen freien Willen ausüben können und es völlig sinnlos wäre, hier Einschränkungen vorzunehmen. Vielleicht kommt die von Arthur Schopenhauer (1788–1860) getroffene Unterscheidung der Wahrheit näher: »Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.«
Was ist der menschliche Geist?
Das Wort »Geist« gehört wie »gut«, »Seele« und »Schönheit« zu den Begriffen, die ein besonders breites Bedeutungsspektrum entfaltet haben, seitdem sich die griechischen Philosophen mit den dahinterstehenden Sachverhalten befassten. Für die frühen Philosophen stand nous, das griechische Wort für »Geist«, für Wissen oder Vernunft, bei Platon für den rationalen – aber auch unsterblichen und ewigen – Teil der Seele und bei Aristoteles für den aktiven und den passiven Aspekt des Intellekts. Den Geist isoliert zu betrachten, macht wenig Sinn, weshalb sich die abendländische Philosophie denn auch stets auf die Frage konzentrierte, wie er mit dem Körper zusammenhänge – ob er unabhängig von diesem existieren und funktionieren könne und vielleicht den Teil oder Aspekt des Menschen darstelle, der über den Tod hinaus Bestand habe. Unabhängig von der Art dieser Beziehung ist der Geist jedenfalls mit dem Denken verbunden: Er ist der »Ort«, an dem wir Erfahrungen sammeln und verarbeiten.
Für René Descartes war der irreduzible Wesenskern des Einzelnen das Bewusstsein, für welches das Denken den Beweis lieferte. Dass dieses Bewusstsein das einzige Gewisse war, drückte Descartes in dem viel zitierten Satz aus: »Ich denke, also bin ich.« Der Philosoph und Mathematiker erkannte nicht nur das Denken als das Wesentliche des menschlichen Lebens, er erkannte auch das Sein der materiellen Dinge an, die selbst nicht denken. Wenn wir über sie nachdenken, bestätigt dies allerdings noch nicht, dass sie tatsächlich existieren. Descartes unterschied zwischen der res cogitans (dem »Denkenden« oder Geistigen) und der res extensa (dem »Ausgedehnten« oder Körperlichen), eine Unterscheidung, die heute als der Cartesianische Dualismus bekannt ist. Im Anschluss daran versuchten sich die meisten Philosophen an einer Aussöhnung dieses scheinbar unversöhnlichen Gegensatzpaares. So vertrat Baruch de Spinoza (1632–1677) den Standpunkt, dass das Mentale und das Physische nur zwei Aspekte derselben zugrunde liegenden Realität seien. Wenn auch unter anderen Voraussetzungen, ist es ein wesentliches Bestreben der östlichen Religionen, diesen Dualismus zu überwinden: Unser Bewusstsein von der Welt gilt ihnen als Illusion, womit eine Unterscheidung bedeutungslos wird.
Ein zentrales Thema ist die Beziehung zwischen Geist und Körper auch für die Psychologen. Sie sehen den Geist als das Mittel an, das uns zur Wahrnehmung, Erfahrung und Kommunikation befähigt – als unser einziges Mittel, denn wir können unseren Geist ja nicht verlassen. Die »Psyche« ist für Psychologen ein hochkomplexer Apparat, dem all unser Denken und Verhalten entspringt. Als die Gesamtsumme aller Hirnaktivitäten kann man sie an keiner bestimmten Stelle in unserem Kopf verorten. Dass sie schwer fasslich bleibt, zeigt sich an der Art und Weise, wie Psychologen ihre Introspektion betreiben: Sie gehen vom Verhalten, den einzigen verfügbaren Daten, aus und schließen aus diesen Beobachtungen eher auf die Arbeitsweisen des Mentalen, als darauf, was dieses Mentale denn nun eigentlich ausmacht. Anhand unseres Verhaltens »verfolgen« sie unsere Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Träume, Begierden, Überzeugungen, Ambitionen und Werte. Solche Beobachtungen und Schlussfolgerungen liefern das Rohmaterial zu dem, was als »Wissenschaft der Psyche« gilt.
»Was wir einen Geist nennen, ist nichts als ein Haufen oder eine Ansammlung verschiedener Wahrnehmungen, die durch bestimmte Beziehungen untereinander verbunden sind, und von denen, wenngleich fälschlicherweise, angenommen wird, dass sie mit vollkommener Einfachheit und Gleichheit ausgestattet seien.«
David Hume (1711–1776)
Wo es um Willensstärke und Entschlossenheit geht, ist viel von der »Geisteskraft« die Rede. Unser mentaler »Zustand« kann uns krank machen, aber auch wieder gesunden lassen und über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Wie der Dichter John Milton (1606–1674) es ausdrückte: »Der Geist ist eine Welt für sich und kann aus sich heraus aus der Hölle einen Himmel und aus dem Himmel eine Hölle machen.«
Wie gut durchschauen wir unseren eigenen Geist?
Wir verbringen den Großteil unseres Lebens damit, das Seelenleben anderer zu erforschen. Wir nehmen Signale aus ihrem Verhalten, ihrem Mienenspiel, ihren Worten und ihrer Lebensart auf und machen uns ein Bild von ihren Empfindungen, Meinungen oder Überzeugungen. Und je enger das gegenseitige Verhältnis ist, desto näher liegen wir mit unseren Deutungen an der Wahrheit. Manche stehen anderen so nahe, dass sie von sich behaupten, auch ohne Worte ihre Gedanken zu kennen, entweder intuitiv oder seltener sogar durch Gedankenübertragung oder Telepathie.
Aber wie gut durchschauen wir unseren eigenen Geist? Die Frage geht Hand in Hand mit einer schon weiter oben im Kapitel 2 aufgeworfenen zur Selbsterkenntnis. »Erkenne dich selbst«, lautete die bekannte Inschrift am Apollon-Tempel in Delphi. Auf fruchtbaren Boden fiel dieser Aufruf bei dem englischen Dichter Alexander Pope (1688–1744): »Erkenne dich also selbst und gehe nicht davon aus, dass Gott dies für dich tut. Der eigentliche Studiengegenstand der Menschheit ist der Mensch.« Es wäre spitzfindig, zwischen der Selbsterkenntnis und der Kenntnis des eigenen Denkens eine scharfe Trennlinie ziehen zu wollen. Der menschliche Geist kann als ein Aspekt des Selbst verstanden werden, als das absolute Zentrum dessen, was wir sind. Sokrates, der den Geist mit der Seele gleichsetzte, hätte uns wahrscheinlich vor allem an »den Teil der Seele« verwiesen, »in dem die Tugend wohnt«. Die Betrachtung der eigenen Möglichkeiten, Gutes zu tun, so der Philosoph, helfe uns die wahre Natur unserer Seele zu erkennen. Mit anderen Worten: Um unseren eigenen Geist zu durchschauen, müssen wir nicht nur wissen was, sondern auch wie wir denken. Wenn wir wissen, zu welchen Denkweisen wir neigen, erhalten wir Einblicke in den Geist, den wir zu ergründen versuchen.
Im Englischen bedeutet to know one’s own mind wörtlich »seinen eigenen Geist kennen«, meint aber zunächst einfach nur, dass man weiß, was man will, und klare Entscheidungen treffen kann. Aber wie wir gesehen haben, ist Geist auch ein Werkzeug, wobei kein Geist dem anderen gleicht. Er ist unser ganz Eigenes und sollte dies bestenfalls auch bleiben. Wenn wir unseren Geist als Werkzeug verstehen, können wir uns fragen, was er am besten kann, wo seine besonderen Fähigkeiten liegen und welche Handicaps ihn beeinträchtigen. Unseren eigenen Geist zu kennen, heißt, eine Vorstellung davon zu haben, wie rege unsere Intelligenz ist. Darauf werden wir weiter unten zurückkommen. So gesehen, können wir unseren eigenen Geist durchaus erforschen und sollten dies auch tun: Mit ihm als Werkzeug gestalten wir all unser Handeln. Vielleicht entdecken wir, dass wir über einen mit scharfem Verstand gesegneten oder sprunghaften, einen begrifflich oder bildhaft denkenden, einen mathematischen oder intuitiven, einen wachen oder träumenden Geist verfügen. Welche Art Geist wir in uns auch entdecken, der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti (1895–1986) vermerkte dazu: »Nur wenige bewahren sich die Eigenschaft eines jungen Geistes, … eines Geistes, den die Wechselfälle und Missgeschicke des Lebens nicht beeinträchtigt haben … ein junger Geist entscheidet immer aufs Neue.«
Wird Intelligenz überbewertet?
Was Intelligenz ist und wie sie arbeitet, gibt nach wie vor Rätsel auf und wird gewöhnlich kontrovers diskutiert. Generell bezeichnet der Begriff unsere Fähigkeit, Erkenntnisse zu gewinnen und Wissen zu erwerben und anzuwenden. Diese weite Definition wurde allerdings inzwischen auf einen Aspekt eingeengt, der sich mit dem Begriff »Verstand« umreißen ließe. Der Verstand bezeichnet gewöhnlich unsere Fähigkeit zum logischen und rationalen Denken: Er ist – im Gegensatz zu unserem subjektiven Gefühl – unser objektbezogenes Verständnis der Dinge und ist somit eine geistige Fähigkeit. Die Stärke unseres Verstandes gilt als Gradmesser unserer Intelligenz. Eine intelligente Person ist demnach eine verständige Person, wozu allerdings noch mehr zu sagen ist.
Intelligenz wird gemessen, um die Leistungsfähigkeit eines Gehirns zu bestimmen, und zwar mit Intelligenztests, anhand derer nach einer festgelegten Skala die Höhe des Intelligenzquotienten (IQ) einer Person ermittelt wird. Ein besonders verbreiteter Intelligenztest stammt von der Gesellschaft »Mensa«, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Hochbegabte in der Bevölkerung ausfindig zu machen und zusammenzubringen. Solche Tests sind insofern problematisch, als sie keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben können: Stimmungslagen und Einstellungen der Testpersonen können die Ergebnisse verfälschen. Auch berücksichtigen sie die jeweils individuell besondere Art des Denkens und der Wahrnehmung der Testpersonen möglicherweise nur unzulänglich. Trotzdem gelten sie als nützlicher Indikator für geistige Fähigkeiten. Problematischer ist dagegen, wie diese Tests eingesetzt werden, wenn sie beispielsweise dazu dienen, eine »Elite« unter Kindern auszusieben oder den geeignetsten Bewerber für eine Stelle zu ermitteln. Die Normalverteilung der IQ-Werte in der Bevölkerung lässt sich mit einer Glockenkurve darstellen, in der sich die kleinen zufälligen Unterschiede durch genetische und umweltbedingte Einflüsse widerspiegeln. Das 1994 erschienene Buch ›The Bell Curve‹ löste heftige Debatten aus, weil die Autoren Richard Herrnstein und Charles Murray darin behaupteten, es gebe bei der Intelligenz rassisch bedingte Unterschiede. Sie sahen es »als hochwahrscheinlich an, dass sowohl Gene wie auch die Umwelt etwas mit rassischen Unterschieden zu tun haben«. Weniger provokant hoben sie in dem Buch hervor, dass in den USA die Intelligenz die eigene Schichtzugehörigkeit stärker bestimme als die soziale Herkunft. Sie sei so der bessere Indikator für einen möglichen gesellschaftlichen Aufstieg. Der Psychologe Arthur Jensen (1923–2012) kam bei seinen Forschungen zu dem Ergebnis, dass Intelligenz zu 40–80 Prozent erblich sei. Auch wenn sich diese Studien auf die amerikanische Gesellschaft beziehen, sind ihre Methoden generell übertragbar.
Interessanter wohl, aber nicht minder umstritten, ist die Theorie der multiplen Intelligenzen Howard Gardners (* 1943), eines Professors für Kognitionspsychologie und Erziehungswissenschaften an der Graduate School of Education der Harvard University. Nach seiner Theorie gibt es verschiedene Arten von Intelligenz. Wenn wir Intelligenz als Fähigkeit definieren, Wissen und Können zu erwerben und anzuwenden, dann ließen sich nach Gardner daraus acht verschiedene Formen von Intelligenz ableiten: eine sprachliche, musikalische, logisch-mathematische, räumliche, körperlich-kinästhetische, naturalistische, interpersonale (soziale) und intrapersonelle Intelligenz. Anstatt von einer alles beherrschenden Intelligenz angetrieben zu werden, entwickelt jeder von uns entsprechend seiner Persönlichkeit, seinen Erbanlagen, seinen Umwelteinflüssen usw. eine dieser »Intelligenzen« bis zur Dominanz über die anderen weiter. Dabei können sie sich natürlich auch gegenseitig beeinflussen.
»Nur durch seine Intelligenz wird der Mensch zum Menschen, aber Mensch ist er nur durch sein Herz.«
Henri-Frédéric Amiel (1821–1881)
Richtig gedeutet, kann Intelligenz ein nützliches Kennzeichen für die Fähigkeiten einer Person sein. Allerdings dauert die Debatte darüber an, ob Intelligenz wie der Genbestand in Nutzpflanzen so manipuliert werden kann, dass sich eine geregelte »Ernte« an brillanten Wissenschaftlern, Künstlern oder Handwerkern heranzüchten lässt.
Warum begehren wir materielle Dinge?
Wenn wir diese Frage einem Philosophen, einem Soziologen, einem Anthropologen und einem Evolutionsbiologen vorlegen, erhalten wir vier verschiedene Antworten, aus denen wir Folgendes herausziehen können:
Unabhängig von Bedürfnissen werden unsere Wünsche nach Dingen wahrscheinlich mit den Geschenken geweckt, die wir in frühester Kindheit erhalten. Gaben schenken uns Freude. Sie zeigen uns an, dass wir, eine Zeit lang zumindest, jemandes Aufmerksamkeit und Zuwendung genießen. Und je mehr sie unseren Vorlieben entsprechen, desto größer ist unsere Begeisterung. Sobald wir über eigenes Geld verfügen, legen wir bei unseren Konsumwünschen einen höheren Gang ein und befeuern mit ihnen die Wirtschaft. Wir kaufen Dinge, um mit den Müllers von nebenan mithalten zu können, um unser Selbstwertgefühl aufzupolieren oder um mit unserem Lebensstandard Flagge zu zeigen. Selbst wenn wir vieles, was wir erwerben, gar nicht brauchen, ziehen wir gerade aus solchen überflüssigen Käufen große Befriedigung.
»Ich wandle gerne unter den schönen Dingen, die die Welt zieren, aber privaten Wohlstand oder jede Art persönlichen Besitzes muss ich meiden, denn sie würden mir meine Freiheit rauben.«
George Santayana (1863–1952)
Eingehender betrachtet, auf psychologischer Ebene, gibt der Wunsch nach Materiellem immer noch Rätsel auf. Wie die Wissenschaftsjournalistin Melinda Wenner Moyer (* 1978) hervorhebt, »können wir vielleicht vorhersagen, wie wir uns unter bestimmten Umständen verhalten werden, oder wissen, dass wir in bestimmten Situationen klare Vorlieben zeigen. Aber wir wissen sehr wenig darüber, woher diese Neigungen stammen.« Unser sogenannter »Status«, unsere Stellung unter unseresgleichen oder allgemein in der Gesellschaft, wird auch durch unsere Habe – so durch unser Auto, unser Haus und unsere Kleidung – bestimmt. Wir begehren Dinge, weil wir aus ihrem Besitz Selbstvertrauen und auch ein Gefühl der Sicherheit ziehen, das aus der Gewissheit hervorgeht, dass wir über unser Eigentum volle Kontrolle und Verfügungsgewalt besitzen.
Der wachsende Wunsch nach Materiellem kann auch zur Obsession werden und dabei unsere Werteordnung durcheinanderbringen. Wir wollen wie besessen immer dann mehr haben, wenn wir den Status Quo und das, was wir schon besitzen, nicht genießen können. Wodurch diese Unersättlichkeit ausgelöst wird und warum wir auch jenseits des Nutzens Dinge begehren, ist noch nicht vollständig geklärt. Der amerikanische Soziologe Dalton Conley (* 1969) merkte in der populärwissenschaftlichen Fachzeitschrift ›New Scientist‹ an: »Soziologen, Evolutionspsychologen und Wirtschaftswissenschaftler haben verschiedene Vorstellungen darüber, was unsere Vorlieben steuert, aber dieser Frage ist bislang noch keiner auf den Grund gegangen.« Das Problem des schier unstillbaren Verlangens nach Dingen ist uralt. So meinte schon der katholische Priester und Humanist Erasmus von Rotterdam (1466–1536): »Heutzutage hat die Gier nach Besitz eine solche Größe erreicht, dass es nichts im Reich der Natur gibt, sei es heilig oder profan, aus dem sich kein Gewinn herausschlagen ließe.«
Manchen wird die aufgehäufte Habe gar zur drückenden Last. Sie sind von ihrem Besitz besessen – »ein Streben …, das die Menschen mehr als alles andere an einem freien und erhabenen Leben hindert«, wie Bertrand Russell es formulierte.
Ist der Hypermaterialismus eine Gefahr für uns?
Nach dem philosophischen Materialismus ist alles Seiende selbst Materie oder es hängt von der Materie ab. Die Abhängigkeit der Menschen vom Materiellen allgemein führt dazu, dass sie sich von Dingen und materiellen Bestrebungen so sehr abhängig gemacht haben, dass höhere oder geistige Werte erodieren. Das brachte viele dazu, den Materialismus als solchen infrage zu stellen und sich der Gefahren bewusst zu werden, die er mit sich bringt. Ein zwanghaftes Streben nach materiellen Gütern hat eine Kultur hervorgebracht, in welcher der Sinn und die Werte des Lebens auf der Anschauung beruhen, dass nichts außerhalb der Reichweite unserer Sinne erstrebenswert sei. Unsere Produktion und unser Konsum sind die beiden Kerngrößen, zwischen denen sich unser Leben, Streben und Sein abspielt.
Der Schweizer Philosoph Henri-Frédéric Amiel (1821–1881) wetterte gegen den Materialismus: »Der Materialismus lässt alles plump und steinern werden. Er macht alles vulgär und verfälscht jede Wahrheit.« Auch wenn diese Kritik übertrieben erscheint, so warnt Amiel mit Recht vor den Gefahren. Der Glaube, wonach materielle Dinge einen letztgültigen Wert und Sicherheit bieten könnten, engt das Leben in seiner Bedeutung ein und stumpft uns ab. Er entwertet andere Werte wie philosophische Neugierde und persönliche Spiritualität oder Eigenschaften wie Schönheit, Seelenruhe und Bescheidenheit. Aus dem Materialismus ziehen wir nur eine kurzlebige Befriedigung, wie schon Mark Twain (1835–1910) meinte: »Jedes sogenannte materielle Ding, das man begehrt, ist nur Symbol: Man will es nicht um seiner selbst willen, sondern weil es die Seele für den Augenblick befriedigt.«
Als den erkennbarsten Aspekt des Hypermaterialismus prägen unsere Kultur High-Tech-Erzeugnisse, insbesondere massenhaft vertriebene Konsumprodukte wie Fernseher, PCs, Tablet-Computer, Mobiltelefone, Smartphones oder Fahrzeuge aller Art. Mit dem Verkauf von Technikgeräten, die zum Beispiel in der Medizin, der Bildung oder Forschung eingesetzt werden, werden gigantische Gewinne erzielt. Doch dabei stellt sich die Frage, welche Risiken technische Errungenschaften bergen und ob manche Verwendungen nicht der menschlichen Natur zuwiderlaufen. Der Transhumanismus ist eine Bewegung, die propagiert, dass mit Technik alle Behinderungen, alles Leiden und sogar das Altern ausgemerzt werden könnten, in einem Ausmaß, dass selbst die Unsterblichkeit in greifbare Nähe zu rücken scheint. Dazu setzt die Forschung auf die Biotechnologie und die aufstrebende Disziplin der Nanotechnologie, die auf eine Beherrschung der Materie auf molekularer und atomarer Ebene zielt. Gefährdet der Transhumanismus, der die Materie ganz dem menschlichen Willen unterwerfen will, unser menschliches Wesen? Vernor Vinge (* 1944), emeritierter Professor für Mathematik an der University of San Diego, schrieb 1983 dazu: »In dreißig Jahren werden wir die technischen Mittel haben, um übermenschliche Intelligenz zu erzeugen. Kurz danach wird die menschliche Ära enden.« Dieser technologische Aspekt des Hypermaterialismus lässt den Menschen als ein Artefakt erscheinen, dessen natürliche Evolution durch künstliche Eingriffe weiter vorangetrieben werden muss. Wird ein solch übertriebener Materialismus zur Entwicklung einer Spezies von Dr. Spocks führen, zu hochleistungsfähigen und hyperlanglebigen menschlichen Wesen, denen Gefühle und Empfindungen aber fehlen?
»Die Welt wird heutzutage immer materialistischer. Die Menschheit strebt auf den höchsten Gipfel des äußerlichen Fortschritts, getrieben von einem unstillbaren Verlangen nach Macht und großem Besitz.«
Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama (* 1935)
Müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind?
Seitdem es bewusstes Denken gibt, ist das Streben nach Wissen und Erkenntnis ein Kennzeichen der Menschheit. Es ist so intensiv und beständig, dass man behaupten könnte, es sei uns als wesentlicher Bestandteil unserer Überlebensfähigkeit bei der natürlichen Auslese in die Erbinformation einprogrammiert worden. Aber hier stoßen wir auf ein Paradox: Während wir durch unsere Prägung unfähig sind, Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind, bleibt uns bisweilen nichts anderes übrig. Der Instinkt, immer alles verändern und weiterkommen zu wollen, ist der Wachstumsmotor der Zivilisation. Ohne das Streben, von einer Stufe zur höheren zu schreiten, lebten wir wahrscheinlich noch in Höhlen. Insofern sind wir darauf gepolt, die Dinge so, wie sie sind, niemals hinzunehmen. Wenn wir lernen, wäre es unklug, etwas nur deshalb als richtig anzunehmen, weil es von alters her überliefert ist oder weil wir gelesen oder gehört haben, es sei eben »wahr« oder müsse auf eine bestimmte Weise verstanden oder getan werden. So warnte Krishnamurti: »Jede Akzeptanz von Autorität ist das eigentliche Leugnen von Wahrheit«.
Zu den »Dingen«, die wir akzeptieren sollten, müssen wir natürlich auch uns selbst zählen, was so manchem schwerfallen dürfte. Selbsterkenntnis ist, wie erwähnt, der Schlüssel zu jedem echten Verständnis, auch wenn uns die Suche danach unter Umständen den besten Teil unseres Lebens kosten könnte. Für Carl Gustav Jung war es das Erschreckendste, uns selbst vollständig akzeptieren zu müssen, weil wir dabei mit unseren Grenzen und finsteren Seiten konfrontiert werden. Wenn dies geschehen ist, müssen wir nach den Worten des Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich (1886–1965) »den Mut zum Sein« aufbringen. In allen Dingen ist Akzeptanz die erste Bedingung des Wandels.
»Unser gesamtes Leben besteht letztlich darin, uns so zu akzeptieren, wie wir sind.«
Jean Anouilh (1910–1987)
Die Notwendigkeit, etwas hinzunehmen, betrifft nicht nur uns und unsere unmittelbaren Verhältnisse, sondern auch unsere Erkenntnisse über das Universum. Dank der Wissenschaft haben wir uns von Mythen und religiösen Spekulationen zu einem objektiven Wissen hinbewegt – mit radikalen Veränderungen für unsere Einstellungen und unsere Kultur allgemein. Dieser Wandel bedeutete Emanzipation. Er hat den Geist befreit, der so jeden Gedanken ohne ein Risiko durchdenken kann, dass ihn ein religiöser, politischer oder sozialer Bannstrahl trifft. Aber wie die Israeliten nach der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft erfuhren, ist Freiheit zuweilen ernüchternd und beängstigend. Es hinzunehmen, dass Mythos, Aberglaube und Orthodoxie ihre Macht verlieren, erweist sich für viele durchaus als schwierig, die den Mut fanden, sich von althergebrachten Überlieferungen und theologischen Darstellungen wie zum Beispiel vom Ursprung des Universums zu lösen. Um solche Glaubensrichtungen, insbesondere um die biblischen Religionen, entstanden daher geistige »Schulen«, die die neuen Erkenntnisse der Evolutionsbiologen und Astrophysiker in ihre Weltsicht einzubeziehen versuchen. Nur die Akzeptanz der Dinge, wie sie wirklich sind, ermöglichte ihnen dieses freie Denken.
Dinge hinzunehmen, kann ein Weg zu echtem Seelenfrieden sein. Akzeptanz heißt nicht, dass wir es an Realismus fehlen lassen oder uns zur Wahrung eines Glaubens oder einer Grundanschauung Scheuklappen überstülpen, weil wir uns vor der Wahrheit fürchten. Ein echtes Geltenlassen kann nüchternen Realitätssinn erfordern, der uns – mit dem buddhistischen Begriff tathata für das wahre Wesen der Dinge gesprochen – dazu auffordert, die Dinge zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Buddha lehrte, dass Akzeptanz Transzendenz und Transzendenz Erleuchtung bedeutet.