Wer bin ich?

Ein naheliegender Ansatz zur Beantwortung dieser Frage sind Nachforschungen zu unserer Abstammung und unserer Familiengeschichte: also die Art Recherche, wie sie im englischsprachigen Raum in der beliebten Fernsehserie ›Who Do You Think You Are‹ angestellt wird. Von wem wir genetisch abstammen, sehen wir gewöhnlich auch so: Wir schlagen unserem Vater oder unserer Mutter nach, und Geschwister weisen Ähnlichkeiten auf, die über Generationen hinweg als die typischen Züge einer Familie weitervererbt werden. Doch geht die Frage nach dem Ich über diejenige nach der Herkunft und dem Erbgut hinaus. Wer ich bin, das bestimmen auch meine Umwelt, meine Erziehung und meine Beziehungen.

Das Thema Identität knüpft sich eng an Selbsterkenntnis. Wir definieren uns anhand dessen, was wir über uns selbst wissen, wobei auch die Frage, wie andere uns wahrnehmen, einen Beitrag leistet. Als der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer auf seine Hinrichtung durch die Nazis wartete, schrieb er ein Gedicht mit dem Titel: ›Wer bin ich?‹ Noch im Wehrmacht-Untersuchungsgefängnis wirkte er auf andere wie ein Mann, der mit sich selbst im Reinen war. Aber während er seinen Wärtern freundlich und gefasst begegnete, litt er im Innersten Qualen aus Sorge um sein Schicksal und das seiner Freunde. Sein Gedicht wirft die Frage auf, ob unser Wissen über uns selbst das widerspiegelt, was andere über uns sagen, oder »nur das, was ich selbst von mir weiß«. Als begeisterter Anhänger Luthers kannte Bonhoeffer nur eine Gewissheit: dass er Gott gehöre.

Unser Name sagt nichts über uns aus. Er ist nur ein Etikett, das einer Person anhaftet: Wenn wir uns vorstellen mit »Ich bin der David« oder »Ich bin die Maria« geben wir anderen nur einen nützlichen Bezugspunkt. Ebenso beschreibt unsere berufliche Tätigkeit nur, womit wir unser Geld verdienen. Dass jemand »Geschäftsinhaber« oder »Arzt« ist, weist auf die Aufgaben hin, die er erfüllt, sagt über ihn als Person aber nichts Wesentliches aus. Auch können wir uns anhand aller unserer Lebenserfahrungen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht wirklich definieren. Wer bin ich? »Ich bin tibetischer Buddhist«, sagt etwas über einen. »Ich bin in England aufgewachsen«, sagt noch mehr. »Ich lebe jetzt in Deutschland« fügt dem Puzzlebild ein weiteres Teil hinzu. Aber mehr haben wir auch nicht: eben nur ein Bild.


»Andere erkennen, ist Weisheit, sich selbst erkennen, ist Erleuchtung.«

Laozi (um 570 – um 490 v. Chr.)


Um die Frage nach dem Ich zu beantworten, müssen wir mehr betrachten als den Körper und seine Lebensumstände. Für manche zielt sie im Kern auf den Geist und/oder auf die Seele. Sind beide, wie von René Descartes vertreten, getrennte Entitäten oder nur die beiden grundverschiedenen Aspekte von ein und demselben Wesen? In seiner ›Meditation XVII‹ schrieb der englische Dichter John Donne (1572–1631): »Niemand ist eine Insel, in sich ganz …« Sicher ist nur, dass sich die Frage »Wer bin ich?« nur im Zusammenhang mit unseren Beziehungen zu anderen erschließt. Wie der österreichisch-israelische Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) sagte: »Im Anfang war Beziehung«, woraus folgt: »Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«

War ich vor meiner Geburt jemand anders?

Für Hindus und Buddhisten ist dies die bedeutungsschwerste Frage des Lebens. Die Anschauungen, an die sie rührt, sind so alt und tiefgründig, dass wir gut daran tun innezuhalten und sie zu ergründen.

Wenn wir vor unserer Geburt schon einmal lebten und nach unserem Tod wiedergeboren werden, durchlaufen wir eine Art Zyklus. Für diesen Kreislauf aus Geburt, Tod und Wiedergeburt prägten die Buddhisten den Begriff Samsara, ein Wort aus dem Sanskrit, das »reisen« bedeutet. Brechen wir aus diesem Kreislauf der Existenzen aus, erlangen wir das Nirwana – wörtlich das »Erlöschen« oder die »Erleuchtung« – und treten ein in eine völlig neue Seinsart, die das letzte Ziel unserer Reise ist. Im Kreislauf festgehalten werden wir dagegen durch Habgier, unsere Bindung an »Dinge« und das Streben nach rein materieller und vergänglicher Befriedigung. Wir jagen Trugbildern hinterher und begehen in jeder Lebenslage den Fehler, uns ins »Karma« zu verstricken, ein Begriff, der unser »Wirken« oder unsere »Tat«, aber ebenso unsere Absichten meint. Alles, was wir denken, tun und sagen hat eine Konsequenz, insofern es immer Anstoß gibt. So häufen wir alle ein persönliches Karma, die Gesamtsumme von Absichten, an, erschaffen uns neu und entwickeln uns so beständig weiter. Wenn wir wissen wollen, wer wir vor unserer Geburt waren, gibt uns ein Blick auf unser jetziges Sein einen Hinweis. Und ebenso kann uns die Betrachtung dessen, was wir in der Jetztzeit denken und tun, einen Anhaltspunkt im Hinblick auf unsere künftige Existenz geben.

Es wäre unklug, diese Deutung der Reise des Lebens als eine Form von Fatalismus aufzufassen, wonach unser Lebensweg durch unser früheres Verhalten, das unser Karma ausmacht, endgültig vorherbestimmt sei. Das Karma will uns nicht für Unrecht oder Leid die Verantwortung aufbürden, sondern aufzeigen, dass auf jede Aktion eine Reaktion folgt und wir so echte Kontrolle über unser Leben haben. Da wir uns als Wesen weiterentwickeln, müssen wir uns verändern. Und diese Veränderungen bringen wir mit eigenen Entscheidungen auf den Weg.

Es gibt dokumentierte Berichte von Menschen, die Kenntnis von einer früheren Existenz haben. Während viele Einblicke in ein vormaliges Leben erhalten zu haben scheinen, halten die meisten von uns dies schlichtweg für unmöglich. Nach den hinduistischen und buddhistischen Überlieferungen, welche die spannende Vorstellung der Wiedergeburt aufbrachten, können wir unter anderem durch Meditationspraxis in Erfahrung bringen, wer wir vor unserer Geburt waren. Innere Versenkung soll in uns die Erinnerung an eine frühere Lebenszeit wiedererwecken.

Was ist das Ich?

Wenn wir an ein »Ich« denken, machen wir uns gewöhnlich unsere Identität und die Eigenschaften bewusst, die uns von anderen unterscheiden. Demnach bestünde unser Ich aus dem, was unsere Einzigartigkeit ausmacht. Was es damit auf sich hat, werden wir später erörtern. Die Frage nach dem Ich ist ein zentrales Thema in der Psychologie. Für Sigmund Freud ist das »Ich« – im Englischen mit ego wiedergegeben – jene Instanz unserer Psyche, die wir bewusst von sämtlichen anderen Aspekten der Welt unterscheiden. Das Ich kontrolliert das Denken und Verhalten, unsere bewusste Wahrnehmung, unsere Vernunft und unseren gesunden Menschenverstand, die uns in Kombination miteinander Kontakt zur äußeren Realität halten lassen. Das »Selbst« dagegen ist für Carl Gustav Jung ein Archetypus – eines der angeborenen Vorstellungsmuster, die aus der vergangenen kollektiven Erfahrung der Menschheit stammen. Sind die »Große Mutter« und der »Held« weitere Beispiele für Archetypen, so ist das Selbst eine einheitliche Kombination aus dem Bewussten und dem Unbewussten, zu dessen Erkenntnis wir durch »Individuation«, wie Jung diesen Prozess nennt, gelangen. Das Selbst ist das Verschmelzen sämtlicher unterschiedlicher Aspekte der eigenen Zusammensetzung zu einem Ganzen, die »Unteilbarkeit der Persönlichkeit«, wie Alfred Adler (1870–1937) sie nennt, oder auch, für Jung, die Steuerungszentrale der Psyche.

Die Frage nach dem Ich trieb auch die Philosophen um. Platon setzte das Ich der Seele gleich. Für René Descartes war es – mit seinem berühmten Ausspruch »Ich denke, also bin ich« – der Kern der bewussten Erfahrung. Dagegen gab sich David Hume überzeugt, dass unsere Erfahrungen nur aus lose verbundenen unterschiedlichen »Wahrnehmungen des Geistes« bestünden, von denen unser Selbst-Bewusstsein nur eine unter vielen sei. Ebenso argumentierte Immanuel Kant (1724–1804), dass das dauerhafte Ich das Subjekt geordneter und koordinierter Erfahrung sei: Wir müssten nur deshalb die Vorstellung von einem Ich zulassen, weil »etwas« diese Erfahrung vornehme. Im Erfahrungsprozess sei das Ich für jede Art physisches Vorkommnis empfänglich: Es schaffe sich sein eigenes Konstrukt der Welt der Erscheinungen, das sich mit dem, was andere Ichs sich schaffen, teilweise decken, sich davon aber auch deutlich unterscheiden könne. Beim Fühlen, Vorstellen, Erinnern und Denken setze sich das Ich seine eigene persönliche Geschichte zusammen. Wie der italienische Lyriker und Dramatiker Ugo Betti (1892–1953) sagte: »Wenn ich ›ich‹ sage, meine ich ein absolut einzigartiges Ding, das mit keinem anderen verwechselt werden kann.« Gewiss liegt im Zentrum unseres Bewusstseins eine Wesenheit, ein mit dem Begriff »Ich« umrissener Fixpunkt, denn wie könnte etwas, das das Subjekt der Erfahrung ist, das auf den steten Wandel reagiert und ihn assimiliert, etwas anders sein als eine unveränderliche Entität?


»Man mag den Kosmos verstehen, nie aber das Ich. Das Ich ist weiter entfernt als jeder Stern.«

Gilbert Keith Chesterton (1874–1936)


Dank des »Ich«, über das ich nachdenke und von dem ich rede, weiß ich, dass ich existiere. Ich kann mir dessen sicher sein, dass »ich bin«, welche Kriterien ich auch anlege, um dies zu bestätigen. Dieses »Ich« ist das Subjekt der Selbstachtung. Es hat ein Bild von sich selbst und gefällt sich selbst darin, sich für frei und unabhängig zu halten. Wir sind uns unserer selbst bewusst. Wir wissen, was das Selbst denkt und treibt, und wir spüren Selbstbewusstsein, Selbstzweifel und Selbstwertschätzung, geraten aber in Schwierigkeiten, wenn wir nachfragen, was dieses Selbst, dieses Ich, eigentlich sei. Denn auf welchem Weg wir uns ihm auch nähern, es scheint sich uns immer zu entziehen.

Wie viele Ichs habe ich?

Hier geht es nicht um die multiple Persönlichkeitsstörung, bei der sich die Betroffenen bewusst sind, dass sie verschiedene, abgespaltene Persönlichkeiten haben, sondern um das viele von uns beschleichende Gefühl, dass wir als ein Ich auf zahlreiche unterschiedliche Arten existieren. Was uns ausmacht, ist eine endlose Vielfalt, so dass wir in gewissen Situationen sogar von uns sagen können: »Das war doch nicht ich.« Oder: »Ich mag nicht glauben, dass ich das tatsächlich getan (oder gesagt) habe.« Unser öffentliches Ich unterscheidet sich deutlich von unserem privaten. Wir verstehen uns darauf, unser Ich an verschiedene gesellschaftliche Umgebungen anzupassen und nach der jeweiligen Beziehung zu anderen ein verschiedenes Ich zum Vorschein zu bringen. Der amerikanische Soziologe Charles Cooley (1864–1929) schrieb über das Looking glass self oder den »Spiegelbildeffekt«, wonach wir uns an anderer Leute Meinungen und Wahrnehmungen, die uns betreffen, anpassen und uns so im sozialen Miteinander selbst erschaffen. Wir »sehen uns nicht so, wie uns andere sehen«, sondern verwandeln uns in das, was andere von uns halten. Und da wir dies ständig tun, bringen wir aus unserer konstanten Anpassung eine beachtliche Vielfalt an Ichs hervor.

Meistens geschieht dies sogar bewusst. Wir verwandeln uns in jeder Situation unter dem sozialen Druck zur Anpassung oder unter dem persönlichen zur Behauptung unserer Einzigartigkeit in etwas anderes. Zu einem Problem wird dies nur dann, wenn wir selbst und diejenigen, die uns kennen, gar nicht mehr wissen, wer wir tatsächlich sind. Wir sind als eine bestimmte Person mit komplexen Charakter- und Persönlichkeitsmerkmalen bekannt. In unserem sich ständig verändernden sozialen Umfeld bemühen wir uns allerdings, diejenige Person zu verkörpern, von der wir meinen, dass sie jeweils bekannt ist, und spielen uns selbst als Reaktion auf die vermeintlichen Erwartungen der anderen. Dabei kommen in allen unseren wechselnden Rollen, ob privat, gesellschaftlich oder beruflich, verschiedene Wünsche, Bedürfnisse, Ambitionen, Stärken und Schwächen zum Vorschein.


»Ein Mensch hat so viele soziale Ichs, wie es Individuen gibt, die ihn beachten.«

William James (1842–1910)


Und auch uns selbst präsentieren wir ein jeweils anderes Ich. Wenn wir trauern, versucht das Ich Abstand zu gewinnen, um den seelischen Schmerz zu lindern. Wenn es beschämt oder verletzt wird, zieht es sich in sich zurück, bis wir die Ursache objektiv angehen können. Andere Ichs kommen zum Vorschein, wenn wir glücklich sind, gelobt werden oder Angst bekommen. Wenn wir unsere Erfahrungen durchleben, blicken wir gleichsam in ein Kaleidoskop der Gefühle, in dem sich ein immer neues Ich zeigt: das selbstbewusste, das fragende, das rationale oder das intuitive. Alle Ichs sind natürlich Teil von ein und derselben Person, aber verschiedene Aspekte unseres essenziellen Ich. Die mannigfaltigen Ichs erfüllen unterschiedliche Aufgaben, und wir stützen uns auf sie, weil uns die Erfahrung gelehrt hat, dass wir mit den beständigen Veränderungen in unserem Leben so am besten fertigwerden. Komplizierter wird die Lage, wenn wir unsere verschiedenen Potenziale betrachten. Die meisten Menschen sind Multitalente, verfügen aber wegen Entscheidungen, die sie häufig schon sehr früh trafen, nicht mehr über das volle Spektrum ihrer Möglichkeiten. Ein und dieselbe Person hätte mit Erfolg ganz verschiedene Laufbahnen einschlagen können, die ihr »Ich« jeweils ganz unterschiedlich geprägt hätten. Durch die Entscheidungen tritt ein Ich als dominant hervor, wobei aber auch die anderen bestehen bleiben und zeitweilig wieder die Bühne betreten. Für unser Glück wichtig ist, dass wir den Weg wählen, der unser innerstes oder eigentliches Ich am umfassendsten verwirklicht. Die Schweizer Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross (1926–2004), die Pionierin auf dem Gebiet der »Nahtoderfahrung«, betonte das innere Ich als Priorität. Nicht das Ende des physischen Daseins solle uns Sorge bereiten. Vielmehr sollten wir uns darum kümmern zu leben, solange wir leben, um unser inneres Ich vor dem spirituellen Tod zu schützen, der uns dann drohe, wenn wir uns hinter einer Fassade verschanzten, um uns an äußere Festlegungen darüber anzupassen, wer und was wir sind.

Können wir uns wirklich selbst erkennen?

Während sich das Ich nur schwer klar definieren lässt, bestimmt die Selbsterkenntnis den Kern der Diskussion – als ein Schlüssel zum Verständnis vieler Aspekte des Wissens. In manchen Regionen der Welt ist dies anders. So verfolgt der Buddhismus in der Auseinandersetzung mit dem Ich und der Selbsterkenntnis einen völlig anderen Ansatz: Unser Empfinden eines persönlichen, individuellen Ichs, so die Lehre, sei reine Illusion. Dagegen vertreten die biblischen Religionen ein sehr klares Konzept vom Ich, das so dominant sei, dass es zwischen uns und Gott eine Barriere lege: Um Gott zu »finden«, müssen wir unser »Selbst« verlieren. Zwischen diesen Sichtweisen leiten zahlreiche weitere Lehren ihre Anhänger dazu an, ihr »wahres Ich« zu erkennen oder zu entdecken. Dieses essenzielle Ich liege in einem Leben der Konditionierung unter Schichten von Eindrücken, Vorstellungen, Annahmen, Überlegungen, Philosophien, Abneigungen, Vorlieben und Diskriminierungen verborgen. Die Suche nach unserem wahren Ich, die »Selbstaktualisierung«, wie existenzialistische Psychologen sie nennen, sei so, wie wenn man eine Zwiebel häutet oder von einer Wand mehrere später aufgetragene Farbschichten entfernt, um die ursprüngliche freizulegen. Obwohl uns weder die Literatur noch Zeugenaussagen verraten, wie unser wahres Ich aussieht, so soll die Erkenntnis dieses wahren Selbst doch die unabdingbare Voraussetzung dafür sein, dass wir unsere Talente entfalten und unser Potenzial ausschöpfen können. Unser Bild von uns selbst hat sicherlich einen beträchtlichen Einfluss auf unsere Lebensführung, wobei aber der Eindruck, den wir von uns selbst haben, von dem, den wir auf andere machen, deutlich abweichen kann.


»Selbsterkenntnis ist dem Menschen zueigen, der seinen Leidenschaften volles Spiel lässt, aber über deren Ergebnisse nachdenkt.«

Benjamin Disraeli (1804–1881)


Alltäglicher betrachtet, müssen wir über uns selbst so viel wie nur möglich wissen. In gewissem Sinne trägt alles, was wir lernen, zu unserer Selbsterkenntnis bei, wie der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson (1803–1882) in seinen ›Tagebüchern‹ notierte: »Wohin wir auch gehen, was wir auch tun, das Ich ist das einzige Subjekt, das wir studieren und erfahren.« Und hier erwartet uns denn ein beachtlicher Lehrplan. Neues über uns selbst lernen wir nur, wenn wir neue Erfahrungen anstreben, wenn wir uns in die »unbereiste Welt«, wie der Dichter Alfred Tennyson (1809–1892) sie nannte, hinauswagen und das Risiko eingehen, das der Schriftsteller Henry Miller (1891–1980) so umrissen hat: »Jedes Wachstum ist ein Sprung ins Dunkel, ein spontaner, unvorbereiteter Akt ohne den Nutzen der Erfahrung.«

Können wir uns ändern?

Der innere Fixpunkt in uns, unser »wahres Ich«, ändert sich nicht. In der östlichen Philosophie spiegelt sich dieses Konzept im Atman wieder, dem unzerstörbaren Selbst, der ewigen Essenz, die, wie wir gesehen haben, unter dem abgelagerten Sediment von Erfahrung und Konditionierung verborgen liegt. Dass es etwas in uns gibt, das Bestand haben und unveränderlich sein soll, ist beruhigend, ganz gleich, ob wir uns dieses Etwas zeitlich begrenzt oder ewig vorstellen. Doch ist das Selbst, mit dem wir der Welt entgegentreten, in anderer Hinsicht dem unvermeidlichen steten Wandel unterworfen. »Weil die Dinge so sind, wie sie sind«, so fasste es der Dramatiker Bertolt Brecht (1898–1956) zusammen, »werden die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind.« Wandel erscheint unvermeidlich: Alles – wir selbst, die anderen, unser Planet und das gesamte sich ausdehnende Universum – befindet sich immerwährend im Fluss. Während wir viele Veränderungen, die wir durchlaufen, selbst planen, haben wir über manche Einflüsse und Zwänge, unter denen wir uns ebenfalls verändern, keinerlei Kontrolle. Und in beiden Fällen widerstrebt uns der Wandel zuweilen, so notwendig er auch sein mag.


»Sei stets unzufrieden mit dem, was du bist, wenn du erreichen willst, was du noch nicht bist. Denn wo du mit dir zufrieden bist, dort bleibst du im Rückstand … Füge stets hinzu, laufe immerzu, mache ständig Fortschritte …«

Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.)


Bis zu welchem Grad, so können wir fragen, bin ich dieselbe Person, die meinen Körper vor vielen Jahren beseelte? Der amerikanische Dichter Ezra Pound (1885–1972) sagte zu Recht: »Es gibt keinen Grund, warum ein Buch demselben Menschen mit 18 und mit 48 Jahren gefallen sollte.« Wie wir die oben gestellte Frage auch beantworten: Wir haben wahrscheinlich auch dann noch das gleiche Gefühl von Selbstidentität, wenn wir uns in vielerlei Hinsicht verändert haben. Einige Veränderungen, so ein Wechsel unserer politischen oder religiösen Bindungen, mögen radikal sein, während andere nur äußeren Umständen wie dem Tod eines Angehörigen, einer zerbrochenen Ehe oder einer Auswanderung geschuldet sind. Aber trotz solcher Veränderungen bleibt das Gefühl für das »Ich« doch gleich.

Subtiler und wohl bedeutsamer sind Veränderungen unseres Charakters: Auf lange Sicht sind sie es, die unseren Freunden und unserer Familie am ehesten auffallen und die auch unser eigenes Bild von uns selbst verändern. Alle oben erwähnten Veränderungen könnten durchaus von einem charakterlichen Wandel herrühren. Die Frage, bis zu welchem Grad wir uns verändern und negative Charaktereigenschaften wie kriminelle Antriebe oder eine Neigung zum Alkoholismus überwinden können, beschäftigt seit längster Zeit die Psychologen und Soziologen. Um feste Bestandteile unserer Persönlichkeit zu verändern, brauchen wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit professionellen Beistand, während wir Haltungen wie Ungeduld, Kritiksucht oder Rechthaberei überwinden können, je nach dem, ob wir sie überwinden wollen und auch bereit sind, den Wunsch in die Tat umzusetzen. Jede Veränderung hat ihren Preis: Auch wenn »Wachstum der einzige Hinweis auf Leben« ist, wie es der englische Theologe und Kardinal Henry Newman (1801–1890) ausdrückte, kann Wachstum durchaus mit schmerzlicher Erfahrung verbunden sein.

Der französische Schriftsteller Anatole France (1844–1924) glaubte gar, das Leben sei ein Prozess aus mehrfachem Geborenwerden und Sterben: »Alle Veränderungen, auch die ersehntesten, haben schwermütige Aspekte. Denn was wir mit ihnen hinter uns lassen, ist ein Teil von uns. Wir müssen in einem Leben sterben, um ins nächste einzutreten.«

Wie sehr unterscheide ich mich von meinem oder meiner Nächsten?

Wie Verbrecher dieser Tage erkennen müssen, kennzeichnet jeden von uns ein unverwechselbares genetisches Profil in Form unserer DNS. Sieht man von der Fast-Identität eineiiger Zwillinge oder den ererbten Ähnlichkeiten innerhalb einer Familie ab, so zeigen Menschen ein breites Spektrum körperlicher Unterschiede. Noch größere sind freilich die im Charakter, der Persönlichkeit und dem Temperament, die uns denn wohl auch individuell kennzeichnen. Wir stellen uns gerne vor, dass wir die meiste Zeit wir selbst sind, und werden schon in frühester Kindheit dazu ermuntert. Doch engen viele Beschränkungen den Ausdruck ein, mit dem wir der Welt zeigen, wer wir eigentlich sind. Wenn wir uns aus der Masse nicht herausheben, durchdringt unsere Einzigartigkeit wahrscheinlich immer nur kurz den Schleier der Vertrautheit, durch den unsere Familie und Freunde uns sehen. Sitten und Gesetze impfen uns Anpassung ein: Aber die meisten Jungen wollen auf eine Art dazugehören, durch die sie in ihrer Bezugsgruppe aufgehen, aber auch zum Ausdruck bringen können, was sie von den anderen unterscheidet.

Die amerikanische Sängerin und Schauspielerin Bette Midler (* 1945) rät: »Pflege immer, was dich einzigartig macht, denn wenn es verschwindet, bist du stinklangweilig!« Inwiefern können wir also, außer in körperlicher Hinsicht, anders als die anderen sein? Außen vor bleiben müssen hier in jeder Antwort charakterliche Aspekte, die unbeständig, wechselhaft und von einer subjektiven Bewertung abhängig sind – so etwa Attraktivität, Humor und ästhetischer Geschmack. Zu den Merkmalen, die uns von allen anderen unterscheiden, könnten die Intelligenz, die geistigen Fähigkeiten, die schöpferischen Fähigkeiten, das Temperament und die Intro- sowie die Extrovertiertheit gehören. Doch sind nicht alle diese Merkmale »fix«. Geistige und schöpferische Fähigkeiten können sich im Verlauf unseres Erwachsenenlebens je nach den Umständen durchaus verändern. Allein umreißt keine von ihnen unsere persönliche Einzigartigkeit, während sie in einer Kombination mit den anderen zu unserer »Persönlichkeit« beitragen.

In welchem Maß wir uns von anderen unterscheiden, ist nur schwer einschätzbar. Hier geraten wir wieder in die Diskussion um das, was angeboren und was anerzogen ist. Die Frage ist bislang ungelöst, auch wenn neuere Erkenntnisse aus der Genetik und der Hirnforschung eher für eine angeborene Persönlichkeit sprechen. Auch wenn das Ausmaß unserer Einzigartigkeit uns allen gemein sein soll, so fühlt sich manch einer doch unbehaglich, wenn er als besonders anders wahrgenommen wird. Andere, die nach Mitteln suchen, um Individualität zu bekunden, werden dabei in der Gesellschaft vielfach entmutigt. So bemerkte der Schriftsteller Rudyard Kipling (1865–1936), dass »das Individuum von jeher darum kämpfen musste, sich der Übermacht des Stammes zu erwehren. Sein eigener Herr sein ist ein hartes Geschäft. Wer es versucht, ist oft einsam und zuweilen verängstigt. Doch ist für das Privileg, sich selbst zu gehören, kein Preis zu hoch.«

Ist aggressive Selbstbehauptung immer falsch?

Eine solche Selbstbehauptung wird häufig mit der rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen, Meinungen und Forderungen assoziiert, in der Überlegenheitsgefühl und Intoleranz gegenüber anderen zum Ausdruck kämen. Positiver kann diese Art Selbstbehauptung auch in der Wahrung eigener Rechte und dem entschiedenen Vertreten eigener Ansichten gegenüber Anfechtungen oder Positionen bestehen, die als moralisch falsch angesehen werden. Aggressive Selbstbehauptung ist da berechtigt, wo sie dem Ziel dient, für das eigene Wirken oder Anliegen die Anerkennung zu erlangen, die ihr zu Unrecht versagt bleibt. Entsprechend bestimmt in Dingen, die uns persönlich berühren, oft nicht das Was, sondern das Wie unseres Tuns – und die sorgfältige Austarierung der Mittel – dessen Legitimität. Der Philosoph John Stuart Mill (1806–1873), ein Verfechter der Freiheit des Individuums, umriss diese Spannung in ihrer extremeren Form so: »Heidnische Selbstbehauptung ist ein Bestandteil menschlichen Wertes ebenso wie die christliche Selbstverleugnung.«

Das von Sigmund Freud vertretene strukturelle Modell der menschlichen Psyche umfasst drei Elemente: das Es, das Ich und das Über-Ich. »Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen könnte«, während das Über-Ich eine Art Gewissen sei, das Fehlverhalten mit Schuldgefühlen bestrafe. Das hier interessierende Ich »gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll«, wobei das Ich dies aber im Unterschied zum Reiter nicht mit eigenen, sondern mit geborgten Kräften tue.


»Das Recht der Natur … ist die Freiheit eines jeden, seine Macht nach eigenem Willen zum Erhalt seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen.«

Thomas Hobbes (1588–1679)


Setzte Freud das Ich als den Teil des Geistes an, der das Bewusstsein barg, so hat der Begriff inzwischen mehrere Bedeutungen erlangt. Die Philosophie hat ihn auf das erfahrene »Ich« festgelegt, das nicht mit Körper oder Geist, sondern mit der Fähigkeit gleichgesetzt wird, unsere Haltung gegenüber dem Körper, dem Geist und der physikalischen wie sozialen Umwelt zu organisieren. Das »Ich« bündelt die Identität und Individualität und gibt uns wie ein Kompass eine konsistente Richtung vor, an der wir uns auf unserer vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Reise durchs Leben orientieren. Selbstbehauptung, eine bewusste Propagierung des »Ich«, wurde, bezogen auf das Freud’sche Ich, mit der Selbstwertschätzung und einem übertriebenen Gefühl für den eigenen Wert in Verbindung gebracht. Kurz: Selbstbehauptung sei Ausdruck unseres Egoismus.

Der japanische Filmregisseur Akira Kurosawa (1910–1998) zog zwischen Egoismus und Altruismus eine scharfe Trennlinie: »Die Japaner sehen Selbstbehauptung als unmoralisch und Selbstaufopferung als die vernünftige Richtung an, die man im Leben einschlagen solle.« Wohl am engsten mit Amoralität verknüpft ist der Egoismus, der, ob unverhohlen oder verdeckt, in Form der Selbstbehauptung auftritt. Oscar Wilde (1854–1900) fasste es mit typischer Knappheit so: »Egoismus heißt nicht, so zu leben, wie man will, sondern von anderen zu verlangen, dass sie so leben, wie man es gern hätte.« Doch ist aufgeklärter Egoismus bisweilen entscheidend – als eine Überlebenstechnik, wie der babylonische Rabbi Hillel (110 v. – 10 n. Chr.) es verstand: »Wenn ich nicht für mich da bin, wer dann? Aber wenn ich nur für mich da bin, wer bin ich dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?«