Was ist Glaube?

»Glaube (m): Überzeugtheit ohne Beleg von dem, was jemand behauptet, der ohne ein Wissen von Dingen redet, die ohne Beispiel sind.« Dieser Definition von Ambrose Bierce können wir die des Paulus hinzufügen: »Glaube aber ist: Feststehen in dem, was man erhofft, überzeugt sein von Dingen, die man nicht sieht.« (Hebr 11, 1–2) Aber Glaube wirkt nicht im luftleeren Raum. Für Jakobus muss er einen praktischen Ausdruck im Leben finden, da »der Glaube ohne Werke nutzlos« und auch nie weit vom Zweifel entfernt sei. Der Psychologe und Philosoph William James meinte sogar, dass »Glaube Überzeugtheit von etwas bedeutet, an dem theoretisch Zweifel möglich sind«. Als Jesus dem Vater des besessenen Jungen versicherte, dass derjenige »alles kann, der glaubt«, rief der verwunderte Mann: »Ich glaube; hilf meinem Unglauben!« (Mk 9, 23–24). Der Theologe Paul Tillich meinte, dass Zweifel den Glauben nicht unbedingt untergrüben, da wir auf unsere Zweifel vertrauten: Der Glaube schließe sich und den Zweifel an sich selbst mit ein. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Glauben und Zweifel leben allerdings viele von uns, ob es um den Glauben an uns selbst, an andere, ans Göttliche oder an eine Kombination aus diesen Glaubensfragen geht. Glaube und Zweifel brauchen einander: Für sich allein können sie nicht bestehen. Weil Glaube keine Gewissheit ist, sind Zweifel unvermeidlich. Der Zweifel ist einfach eine Art Eingeständnis, dass wir nicht alles verstehen. Er ist unser Kampf mit dem Rationalen. Wie Mahatma Gandhi (1869–1948) versicherte: »Glaube muss durch den Verstand gestärkt werden. Wenn Glaube blind wird, stirbt er.«

In der westlichen Religion, die zum Dualismus neigt, steht Glaube dem Verstand entgegen, der eher an den rationalen Humanismus als an die irrationale Spiritualität appelliert. Trotz der Glaubensbekenntnisse, Theologien und Philosophien gibt es keine Muster, keine Landkarten, die den »Weg« eindeutig markieren. Der Dichter Wyston Hugh Auden (1907–1973) verwies darauf, dass »das Glaubensverhältnis zwischen Subjekt und Objekt in jedem Fall einzigartig ist. Hunderte können glauben, aber jeder muss für sich selbst glauben«. Für Buddhisten ist der Glaube einer der Sieben Schätze (Dhanas), eine spirituelle Fähigkeit und Kraft und einer der vier »Ströme des Verdienstes«. Glaube ist das Vertrauen in Buddha als selbsterweckter Lehrer und in seine Lehren zur spirituellen Verwirklichung und Erfüllung. Aber Glaube allein genügt nicht. Er muss rational inspiriert sein, weshalb Buddha seine Anhänger auffordert hinauszuziehen und zu überprüfen, ob seine Lehren richtig sind. Im Buddhismus gilt Glaube als Weg, nicht als Ziel. Und wenn wir dem Weg folgen, wird Glaube durch Wissen ersetzt. »Wenn jemand an den Weg glaubt, ist so ein Weg des Glaubens die Wurzel des Glaubens.«

Fassen wir zusammmen: Glaube ist Zuversicht oder das Vertrauen in eine Person oder Idee. Glaube an eine transzendente Realität, wie sie von den Religionen der Welt definiert wird, ist irrational und beruht auf Annahmen, die sich empirisch nicht überprüfen lassen. Wie Thomas von Aquin (1225–1274) sagt: »Für den, der glaubt, ist keine Erklärung notwendig. Für den, der nicht glaubt, ist keine Erklärung möglich.«

Können wir ohne Religion glauben?

Es heißt, das, woran jemand glaube, sei seine Religion. Glaubensinhalte können auf einem Theismus, Atheismus oder Agnostizismus beruhen und als ein theologisches System, eine politische Philosophie, eine Ästhetik oder ein moralisches Gesetz ausgestaltet sein. Wir praktizieren ständig auf einen Glauben, indem wir Ärzten und ihren Verschreibungen, Bus- und Taxifahrern, unserer Familie und unseren Freunden und den zahlreichen Dienstleistungen und Annehmlichkeiten vertrauen, die wir täglich in Anspruch nehmen. Solcher Glaube ist nicht irrational, denn das Vertrauen, das wir hier einbringen, beruht auf gesammelten Erfahrungen. Auch wenn wir nie sicher sein können, dass ein Arzt oder Taxifahrer seine Aufgabe fehlerfrei erledigt, unsere Beziehung gelingt oder unser Auto auch anspringt, haben wir in unserer Abhängigkeit bei ihnen eine hohe Zuverlässigkeit festgestellt, die unser Vertrauen rechtfertigt. Aber so ein Glaube ist niemals unerschütterlich.

Das Vertrauen in Religion definiert sich traditionell als eine Haltung oder Neigung, die unseren Glauben an Gott und die Vorstellungen stützt, die seine Vertreter entwickelt haben. In einer säkularen Gesellschaft ist freilich wichtig, dass der Glaube von dem einengenden Monopol befreit wird, dass die Religion und ihre Lehren und theologischen Anschauungen auf ihn erheben. Wir können ohne Religion, nicht aber ohne Spiritualität glauben. Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey (1859–1952) stellte fest, dass »religiöse Eigenschaften und Werte, so sie überhaupt real sind, nicht an einen einzelnen bejahten Glaubensinhalt geknüpft sind, nicht einmal an den, dass der Gott des Theismus existiert«. In der abendländischen Kultur herrschte von jeher das Problem, dass sich der Glaube üblicherweise auf unantastbare Wahrheiten bezog, die festlegten, unter welchen Bedingungen und in welchem Zusammenhang an etwas geglaubt werden musste. Der Säkularismus trug dazu bei, die scharfen Konturen von Glaubensinhalten zu verwischen. Möglich wurde so beispielsweise ein religionsloses Juden- oder Christentum, bei dem man die äußeren Schichten ihrer Geschichte, ihrer Mythen und angehäuften Glaubenssätze abschält und den jeweiligen spirituellen Kern freilegt. Der deutsch-amerikanische Philosoph und Dichter Walter Kaufmann (1921–1980) merkte an, dass es zahlreiche religiöse Überzeugungen gebe, die keinen offenen Bezug zu Gott enthielten, darunter historische Bekenntnisse, Verallgemeinerungen und spekulative Äußerungen. Und inzwischen könnten wir hinzufügen, dass ganze Religionen ohne Gott auskämen.

Wenn wir uns fragen, ob ein weltlich orientierter Humanist eine Spiritualität haben kann, lautet die Antwort zweifelsfrei Ja. So gibt es beispielsweise im Naturalismus Strömungen, die weltliche Spiritualität durchaus zulassen. Der Naturalismus als philosophische Richtung vertritt den Standpunkt, dass »die Natur alles ist« und alle grundlegenden Wahrheiten Wahrheiten der Natur seien. Bestimmte Reaktionen auf das Leben, in denen ein emotionales und ästhetisches Gemisch aus Ehrfurcht, Staunen und Gleichmut zum Ausdruck kommt, stellen eine Form von Spiritualität dar, in welcher der menschliche Geist instinktiv nach Transzendenz strebt. Solche Arten des Glaubens können religionslos sein, zum Beispiel der Glaube an ein sinnfreies Universum, in dem die physikalischen Gesetze keinen anderen Zweck als dessen Aufrechterhaltung haben. Das Universum ist buchstäblich selbst eine Gesetzmäßigkeit und existiert dabei völlig grundlos. Aus dieser Sichtweise folgt, dass unser einziger Sinn im Leben darin besteht, dass wir dessen Sinnlosigkeit und unsere eigene Stellung im Universum erkennen. Wie Religiosität erfordern solche Anschauungen Glauben, aber dieser religionslose Glaube beinhaltet radikale Offenheit und Freiheit von jeder vorgegebenen Tradition. Wie der vietnamesische buddhistische Mönch, Schriftsteller und Lyriker Thich Nhat Hanh (* 1926) riet, sollten wir »weder Götzen dienen noch einer Lehre, Theorie oder Ideologie, auch keinen buddhistischen, anhängen. Buddhistische Denksysteme sind Anleitungen, keine absoluten Wahrheiten.«


»Ein Gott, der sich von uns beweisen ließe, wäre ein Götze.«

Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)


Können wir uns der Existenz Gottes je sicher sein?

In einer konventionellen Religion ist das Vertrauen auf Gottes Existenz Glaubenssache. Und in allen Religionen beinhaltet der Glaube an auch eine Beziehung zu etwas. Wenn der Glaube einer Person an Gott nicht auf Erfahrung mit dieser Beziehung beruht, stützt er sich auf die Autorität der Religion, also auf das, was geschrieben steht oder gelehrt wird. Jemand mag an die Lehren einer Religion glauben, aber diese beruhen auf der Autorität ihrer Traditionen. Wo immer eine Beziehung zu Gott konzipiert wird, ist die Gewissheit von Gottes Existenz dem Zweifel unterworfen. Wie wir gesehen haben, sind Glaube und Zweifel zwei Seiten einer Medaille. Sie müssen zusammen existieren. Voltaire verstand das Paradox: »Zweifel ist kein angenehmer Zustand, aber Gewissheit ist absurd.« In jedem Fall bleibt der Glaube an die Existenz Gottes, unabhängig von der Tiefe und Intensität der religiösen Erfahrung, immer subjektiv.

Das religiöse Schrifttum enthält gleichwohl viele Versuche, die Existenz Gottes durch Nachweise zu belegen. Der Pharao konnte die Existenz des Gottes der israelitischen Sklaven nicht mehr leugnen, als »zehn Plagen« (Ex 7, 1–11, 10) über die Ägypter hereinbrachen, damit »sie erkennen, dass ich der Herr bin« (Ex 7, 5). Von Gottes Existenz überzeugen konnten viele auch die Wunder Jesu, zum Beispiel wundersame Heilungen. Aber derlei Beweise gab es anscheinend nur in den Zeiten, auf die sich die Schriften beziehen, auch wenn manche behaupten, das »Zeitalter der Wunder« sei keineswegs zu Ende. Damian Stayne, der Begründer der katholischen Gemeinschaft Cor et Lumen Christi, ist ein zeitgenössischer Heiler, der daran glaubt, dass Gott durch ihn Wunderheilungen vollbringe: »Ich befahl den Krebsgeschwülsten im Namen Jesu zu verschwinden: Zwei Minuten nach dem Gebet war der Krebs aus seinem Mund verschwunden.« Auch konnte die Christenheit auf gelegentliche Erscheinungen von Stigmata verweisen, den Wundmalen Jesu, die auf den Händen oder Füßen von Gläubigen erschienen. Bei all diesen Wundern, die als »Beweis« für die Existenz Gottes angeführt werden, sind die Naturgesetze außer Kraft gesetzt oder es wird gegen sie verstoßen, aber gerade dies zeichnet das Mirakel ja aus.

Östliche Religionen gehen von einer anderen Prämisse aus, da sie auf keinen Schöpfergott setzen. Alle Formen der hinduistischen und buddhistischen Kunst spiegeln einen Polytheismus, die Existenz vieler Götter wider, wobei derlei Darstellungen aber als die verschiedenen Aspekte eines einzigen höchsten und völlig abstrakten Wesens begriffen werden. Nicht einmal die Inkarnationen Gottes oder des Absoluten, die vollendetste Form der göttlichen Manifestation, sind an sich ein Beweis.

Atheisten verkünden die Gewissheit, dass Gott nicht existiert – einfach deshalb, weil es für die Behauptung, dass er existiere, keinen empirischen Nachweis gibt. Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass auch die Leugnung von Gottes Existenz ein Glaubensakt ist. Die meisten religiösen Bindungen vollziehen sich im Spannungsfeld zwischen Glauben und Zweifel. Der sri-lankische Mönch Nyanaponika Mahathera (1901–1994), ein Vertreter des Theravada-Buddhismus, gab zu bedenken, dass jede Neigung, in Glaubensdingen Gewissheit zu haben, »einer strengen Überprüfung« bedürfe. Diese »wird zeigen, dass die Gottesvorstellung in den meisten Fällen nur die Projektion des – im Allgemeinen erhabenen – Ideals des Gläubigen sowie seines glühenden Wunsches und tief empfundenen Bedürfnisses nach Glauben ist«.

Was ist ein Gebet?

Das Gebet, so heißt es, sei schlicht eine Sache des »Denkens und Dankens«. Aber diese Formel greift nicht immer. Wegen seiner festgefügten Form fließen in ein Gebet wenige Gedanken ein. Es wird mehr mit dem Mund als mit Herz und Verstand dargebracht. Allerdings kann das Denken, wie Reflexion und Kontemplation, an sich schon als Gebet wirken, als eine Ausrichtung des Geistes hin zu Gott in der Hoffnung, zumindest für einen flüchtigen Augenblick, »im Einklang mit dem Unendlichen« zu stehen, wie es der Schriftsteller und frühe Vertreter der Neugeist-Bewegung Ralph Waldo Trine (1866–1958) ausdrückte. Traditionell herrschen zwei Arten des Gebetes vor: der Lobpreis und die Fürbitte. Der Lobpreis ist ein Ausdruck der Dankbarkeit, des Staunens und der Verehrung, die Fürbitte ein Ersuchen an Gott um Erfüllung eines Wunsches, die mit dem Schlusssatz endet: »Dein Wille geschehe.« Die meisten Fürbitten sind Gesuche um Beistand und Kraft. Gebete sollen Veränderungen bewirken, aber am meisten verändern sie wohl etwas bei den Bittenden.

In den biblischen Religionen wird in Form einer Anrufung gebetet, zum Beispiel mit dem »Vaterunser«: »Vater unser, der Du bist im Himmel …« Ob diese Anrufung eine Einbahnstraße ist oder nicht, bleibt ein Geheimnis. Wir reden, und Gott hört zu, aber antwortet er auch? Mutter Teresa (1910–1997) sagte: »Gott redet in der Stille des Herzens. Zuhören ist der Beginn des Gebets.« Ein großer Unterschied besteht offenbar zwischen dem Gebet in der Gemeinde und einer nach innen gerichteten persönlichen Gebetspraxis, in der man womöglich »die stille schwache Stimme« hört.


»Beten ist nicht bitten. Es ist ein Sehnen der Seele. Es ist das tägliche Eingeständnis der eigenen Schwäche. Besser legt man in das Gebet ein Herz ohne Worte als Worte ohne Herz.«

Mahatma Gandhi (1869–1948)


Wenn ein Gebet erhört wird – zum Beispiel eine Prüfung bestanden, ein Geschäft erfolgreich abgeschlossen oder eine Krankheit besiegt –, kommt dies einem Wunder gleich. Gott hat das Gebet irgendwie vernommen, es erwogen und den Lauf der Dinge so beeinflusst, dass das Erbetene eingetreten ist. Andererseits muss natürlich bei einem Bittgebet auch ein »Nein« als Antwort hingenommen werden. Aber wie Gottes Antwort auch aussieht, das Ergebnis erfordert eine Korrektur an der Naturgesetzlichkeit. Ähnlich äußerte sich denn auch der russische Romancier Iwan Sergejewitsch Turgenew (1818–1883): »Wofür ein Mensch auch betet, er betet für ein Wunder. Jedes Gebet reduziert sich auf dies: ›Großer Gott, lass zu, dass zwei mal zwei nicht vier ist.‹« Dennoch steht hinter den meisten Gebeten die Haltung: »Bittet, so wird euch gegeben.« Wir sind so »erzogen« worden, dass wir bittend beten – in Form eines sogenannten Bittgebets oder einer Fürbitte. Und wir erwarten zweckdienliche Reaktionen. Aber Gebete werden nicht immer direkt und klar erkennbar erhört – eines der Probleme der Fürbitte. Eines scheint gewiss: Worum wir in einem Gebet auch bitten, wir können uns nicht einfach zurücklehnen und darauf warten, dass etwas geschieht, denn glauben beinhaltet auch Eigenverantwortung. So riet Augustinus von Hippo: »Bete, als hänge alles von Gott ab. Arbeite, als hänge alles von dir ab.«

Franz von Assisi mahnte: »Wenn wir zu Gott beten, dürfen wir nichts, gar nichts erstreben«. Nach Buddha ist »das größte Gebet die Geduld«. Da es für Buddhisten keinen Gott im biblischen Sinn gibt, ist Beten das sich Öffnen hin zur Wahrheit, ein Entfalten des Geistes. »Das buddhistische Gebet ist eine Form der Meditation«, sagte G. R. Lewis, ein Vertreter des Shin-Buddhismus. »Es ist eine Praxis der inneren Neukonditionierung … das Ersetzen des Negativen durch Positives, und weist uns auf die Segnungen des Lebens hin.«

Was erfahren Mystiker?

Es wird allgemein anerkannt, dass alle Religionen nach dem streben, was sich in der mystischen Erfahrung erfüllt. Einfach gefasst, ist Mystik eine bewusste und doch intuitive Erfahrung des Einswerdens mit dem Göttlichen, dem Absoluten, der Natur oder mit dem, was für den Einzelnen am meisten Bedeutung hat. Mystik ist eine Dynamik, eine Energie, die von Menschen genutzt wird, die sich in der Regel aus den Geschäften des gewöhnlichen Lebens zurückgezogen haben. Sie konzentrieren sich in Abgeschiedenheit auf eine tiefe Kontemplation oder Meditation. Der irische Dichter William Buttler Yeats (1865–1939) schrieb: »Die Mystik war in der Vergangenheit eine der großen Kräfte der Welt und bleibt dies wahrscheinlich auch immer. Das Gegenteil zu behaupten, ist schlechte Wissenschaft.« Was der Mystiker erfährt, ist ein Destillat sämtlicher Glaubensrichtungen und Religionen und deren Glaubenslehren und theologischen Formulierungen. Es ist die Erfahrung einer extrahierten Essenz aus all ihren Glaubenswahrheiten.

Der gemeinsame Nenner in der mystischen Erfahrung ist das Einswerden mit dem Göttlichen. Der persische Sufi Bayazid Bistami (803–875) beschrieb die Erfahrung so: »Ich entledigte mich meines Ichs wie eine sich häutende Schlange und blickte in mein Wesen oder Ich, und siehe, ich war Er.« Der Verfasser der ›Bhagavad Gita‹ beschwört die mystische Union: »O Krischna! Die Stille der mystischen Vereinigung, die du beschreibst, übersteigt meinen Verstand.« Der heilige Johannes vom Kreuz (1542–1591) bezeugt die Angst und sogar die Marter, die eine solche Vereinigung mit sich bringen kann, denn »sie überkommt die Seele als ein heftiger Angriff, um sie zu unterwerfen. Die Seele empfindet Schmerz in ihrer Schwäche«. Der deutsche Mystiker Heinrich Seuse (1295/1297–1366) beschreibt das mystische Erleben ebenfalls als eine herausfordernde Erfahrung: In diesem unvorstellbaren Berg des Übergöttlichen, in dem es eine Abgründigkeit gebe, für die alle reinen Geister empfänglich seien, trete die Seele in eine geheime Namenlosigkeit, eine wundersame Verzückung ein. Der Geist ersterbe, um in den Wundern des göttlich Höchsten vollauf lebendig zu werden.

Auch wenn diese Berichte ein intensives mystisches Erleben widerspiegeln, müssen solche Erfahrungen nicht immer so dramatisch ausfallen: Den meisten von uns sind hier nur flüchtige Einblicke vergönnt, oft ohne jede Verbindung zu einer etablierten Religion. Verwiesen wurde bereits auf den Begriff des Numinosen, dieses Empfinden für das andere, das göttlich sein kann oder nicht. So berichtet der Dichter William Wordsworth von der Erfahrung einer erspürten »Präsenz, die mich mit der Wonne erhabener Gedanken verstört«. Diese Form des Pantheismus beförderte denn auch das Aufkommen dessen, was man eine Art Naturmystik nennen könnte.

Mystisches Erleben setzt keine Einsamkeit voraus: Man kann sich ihm überall stellen. So wurde der irische Schriftsteller C. S. Lewis (1898–1963) in London oben in einem Doppeldeckerbus »von Wonne überrascht«. Ob in einer großen Kultstätte oder einem Kloster, einer Höhle, an einer Waldlichtung oder inmitten des eintönigen Alltagsbetriebes, Mystik, so sagt der Holocaustüberlebende Elie Wiesel, bedeutet »den Weg zum Erlangen von Erkenntnis. Sie steht der Philosophie nahe, nur dass man in der Philosophie horizontal und in der Mystik vertikal voranschreitet«. Die Pflege solcher Erkenntnis hat etwas Erhebendes, wie es schon Albert Einstein formulierte: »Zu wissen, dass das, was wir nicht ergründen können, wirklich existiert …, dieses Wissen, dieses Spüren ist der Kern wahrer Religiosität.«

Was ist Erleuchtung?

Der Begriff »Erleuchtung« bezeichnet neben dem geistigen Erleben, dass »einem plötzlich ein Licht aufgeht«, unter dem Einfluss der fernöstlichen Tradition inzwischen auch im Westen die höchste Form spiritueller Erfahrung. Der im Englischen dafür gebrauchte Begriff enlightenment bezeichnet zugleich auch das Zeitalter der »Aufklärung« des 17. und 18. Jahrhunderts: Damals wandte man sich dem Verstand zu, um all jene Formen des Wissens zu erkunden, die zuvor ins Reich der Metaphysik und spekulativen Philosophie gehört hatten. Aber wenn einem die Verstandeskraft »die Augen öffnet«, ist man weit entfernt von einer »Erleuchtung«, wie man sie in den östlichen Religionen versteht. In der westlichen Welt ist Wahrheit – in einem religiösen Zusammenhang – traditionell eine allgemein anerkannte geoffenbarte Überlieferung. Dagegen ist sie im Osten etwas, das man persönlich anstrebt und zu dem man durch Einsicht Zugang erhält. Diese findet im Geist statt und wird durch Erfahrung bestätigt. Der 14. Dalai Lama Tendzin Gyatsho rät, dass »alles, was Erfahrung und Logik widerspricht, aufgegeben werden sollte. Die höchste Autorität muss stets beim Verstand und der kritischen Analyse des Einzelnen liegen«.


»Andere zu erkennen, ist Weisheit; sich selbst zu erkennen, ist Erleuchtung.«

Laozi (6. Jh. v. Chr.)


Für Hindus und Buddhisten ist Erleuchtung ein geläuterter Zustand des persönlichen Bewusstseins, in dem Begierden und Leiden überwunden werden, die sich dem Erreichen des Nirwanas in den Weg stellen. Ein solcher spiritueller Zustand ist so subtil, dass der buddhistische Zen-Meister Dogen Zenji (1200–1253) mahnte: »Denke nicht, dass du dir deiner eigenen Erleuchtung notwendigerweise bewusst sein wirst«. Nach der Lehre von der Reinkarnation, die wir als Nächstes betrachten, sind wir in einem Kreislauf aus Geburt, Tod und Wiedergeburt gefangen, den wir durchbrechen müssen, um das Nirwana zu erlangen. Und das Mittel dazu ist Erleuchtung. Sie bedeutet Befreiung vom Samsara, dem »beständigen Wandern« des Lebens, in einem alltäglichen Sinn Befreiung von Heimat, Besitz, Familie usw. So betonte der indisch-tamilische Mönch Bodhidharma (5.-6. Jh.), der erste Patriarch der Chan- und Zen-Linien: »Solange du Geburt und Tod unterworfen bist, wirst du niemals Erleuchtung erlangen«.

Der wichtigste Weg zur Erleuchtung ist Meditation, eine Praxis in vielerlei Gestalt. Sie kann individuell oder in Gruppen, in förmlichen Ritualen oder völlig frei von jedem vorgegebenen Ablauf vollzogen werden. In welcher Form der Meditierende sie auch praktiziert, er strebt einen inneren Zustand der absoluten Ruhe an, in dem der Strom der Gedanken und Vorstellungen verebbt. Auf diese Weise wird Erleuchtung durch ein richtiges Denken erreicht, das uns befähigt, Leiden und Begierden zu überwinden. Auf die Praktiken der Meditation kann hier nicht näher eingegangen werden. Hervorzuheben ist nur, dass für die Erleuchtung der Geist von entscheidender Bedeutung ist: Nur mit ihm als Werkzeug, ist die Aufgabe zu bewältigen. Buddha hätte es nicht deutlicher sagen können: »Alles was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten. Der Geist ist alles. Was wir denken, werden wir.«

Die Praxis der Meditation ist grundlegend für die Befreiung vom Samsara, um das Nirwana zu erlangen. Aber dieses kann nicht unabhängig von unserem alltäglichen Leben betrachtet werden, und wir sollten es auch nicht mit übertriebenem Eifer anstreben. Der Dalai Lama rät zur Geduld: »Ich denke und sage dies auch anderen Buddhisten, dass die Frage des Nirwana später kommt. Große Eile ist nicht nötig. Wenn man im Alltag ein gutes Leben führt, aufrichtig, mit Liebe, Barmherzigkeit und weniger Egoismus, dann führt es einen automatisch ins Nirwana.«

Was geschieht, wenn wir wiedergeboren werden?

Die Vorstellung einer Wiedergeburt ist eine der ungewöhnlichsten und möglicherweise bedeutsamsten religiösen Anschauungen. Schon Sokrates verkündete: »Ich bin zuversichtlich, dass es wahrhaftig so etwas gibt, wie noch einmal zu leben, dass die Lebenden von den Toten herstammen und dass die Seelen der Toten am Leben sind.« Im Judentum eigentlich eher am Rande, findet sich diese Vorstellung allerdings in der Mystik der Kabbala als Seelenwanderung oder »Seelenzyklus« sowie im Chassidismus des »Meisters des guten Namens« Baal Shem Tov (1698–1760). Und obwohl das Christentum diese Vorstellung zugunsten des Konzepts der Auferstehung zurückwies, so taucht sie dennoch in gnostischen Texten wie der ›Pistis Sophia‹ auf, wo der wiederauferstandene Jesus sagt: »Die Seelen werden aus einer in eine andere verschiedener Arten von Leibern in der Welt gegossen.« Und der Koran vermittelt die Überzeugung: »Allah ließ euch aus der Erde gleich Pflanzen sprießen; alsdann wird er euch in sie wieder zurückbringen und von neuem erstehen lassen.« (71, 16–17)

Am deutlichsten ausgeprägt ist die Lehre von der Reinkarnation in den östlichen Religionen, in denen sie an zentraler Stelle steht. So auch in der ›Bhagavad Gita‹: »Wie die verkörperte Seele in diesem Körper von der Kindheit über die Jugend bis zum Alter weiterwandert, so geht sie beim Tod in einen anderen Körper über. Einen nüchtern Denkenden wundert ein solcher Wandel nicht.« Die Wiedergeburt, wie die Reinkarnation häufig auch genannt wird, ist in den buddhistischen Schriften – gewöhnlich in Verbindung mit dem Karma des Einzelnen – ein weithin erörtertes Thema. Was wir tun und wie wir leben, bestimmt die »Eigenschaft« oder Art unserer späteren Wiedergeburt. In der ›Majjhima Nikaya‹, der ›Sammlung mittellanger Abhandlungen‹, führt Buddha ein Gespräch mit seinem Schüler Ananda, der Fragen zur Wiedergeburt stellt. Das Karma illustriert Buddha anhand der Extreme, dass man entweder »hier Lebewesen getötet« oder »das Töten von Lebewesen hier vermieden hat … Das Ergebnis wird [derjenige] hier und jetzt, in seiner nächsten Reinkarnation oder in einer der nachfolgenden Existenzen spüren«.


»Ich starb als Mineral und wurde Pflanze, ich starb als Pflanze und wurde Tier, ich starb als Tier und wurde Mensch. Warum soll ich mich fürchten? Wann wurde ich weniger durch einen Tod?«

Dschalal ad-Din ar-Rumi (1207–1273)


Das Hauptargument für die Wiedergeburt ist das Konzept von der Kontinuität des Geistes, das heißt, dass der gegenwärtige Augenblick des Bewusstseins – wie auch der nachfolgende – vom jeweils vorigen abhängt. Der Dalai Lama vergleicht dies mit der physischen Welt: »Alle Bestandteile in unserem gegenwärtigen Universum … lassen sich auf einen Ursprung, einen Ausgangspunkt zurückführen … So tritt auch der Geist oder das Bewusstsein als Ergebnis früherer Augenblicke ins Sein.« Nach Lama Anagarika Govinda, einem deutschen Mönch der Theravada-Tradition und bedeutenden westlichen Interpreten des Tibetischen Buddhismus, darf das Konzept der Reinkarnation nicht auf eine mechanistische Theorie der Erblichkeit beschränkt werden. Diese betreffe nur die physischen Merkmale, aber was »weitergegeben wird«, schließe auch eine Form von Bewusstsein, Talent und Erinnerung ein: »Wie ließe es sich anders erklären, dass ein kaum vierjähriges Kind spontan den kompliziertesten Mechanismus eines musikalischen Instruments, wie den eines Spinetts, und die noch viel komplizierteren und subtileren Gesetze musikalischer Komposition ohne vorherige Schulung zu meistern imstande sein kann, wie dies bei Mozart, Beethoven und anderen Wunderkindern der Fall war.« Dem ließen sich die Berichte derer hinzufügen, die Erinnerungen aus einem früheren Leben ausgegraben haben, so Menschen, die Erinnerungen an den Holocaust haben, obwohl sie erst eine Generation später zur Welt kamen.

Wir täten gut daran, die Triftigkeit der Hypothese von der Reinkarnation an unserer eigenen Praxis zu überprüfen, indem wir so leben, als ob Nietzsches Maxime richtig wäre: »Lebe so, als ob du dein Leben immer wiederholen müsstest, lebe so, dass du es immer wiederholen könntest!«

Ist die Suche nach spiritueller Erfüllung in Einsamkeit exzentrisch

Dass jemand seine spirituelle Erfüllung in der Einsamkeit sucht, ist wohl seltener, als man erwarten könnte. Selbst in den östlichen Traditionen, die stark auf Mediation setzen, findet diese in der Sangha, in Gemeinschaft, statt. Einzelne ziehen sich für eine Zeit zur Einkehr in die Einsamkeit eines abgeschiedenen Ortes zurück, zuweilen unter schwierigen Bedingungen. So gab sich der tibetische Buddhist Milarepa (um 1052–1135) in einer Höhle im Himalaya neun Jahre lang ununterbrochen der Meditation hin. In einem Gedicht schrieb er: »Erhalte den Zustand der Ungestörtheit, und die Störungen verfliegen. Weile allein, und du findest einen Freund.« Die Buddhistin Tenzin Palmo, die 1944 im Londoner East End als Diane Perry zur Welt kam, verbrachte ab 1976 zwölf Jahre in einer abgelegenen Höhle von ca. 3 x 1,5 Metern im Himalaya, drei Jahre davon in strenger Meditationsklausur. »Das ganze Unternehmen war wie in einem Traum«, schrieb sie. »Es erschien nahezu unmöglich, dass ich diese ganze Zeit tatsächlich in Abgeschiedenheit verbracht hatte. Mir kam es eher wie drei Monate vor. Wenn man so lange Zeit in Einsamkeit verbracht hat, wird der Geist natürlich extrem klar.« In der abendländischen Tradition schreiben besonders strenge Ordensregeln die Einsamkeit formell vor. So sind Kartäuser nach der treffendsten Beschreibung eine Gemeinschaft von Einsiedlern, die Schweigegelübde abgelegt haben und in Einzelzellen leben, in der sie den Großteil des Tages allein in Gebet und Meditation zubringen. Sie verlassen sie nur dreimal am Tag zum Gemeinschaftsgebet in einer Kapelle. Einmal in der Woche dürfen sie spazieren gehen und dabei miteinander sprechen.

Ob es exzentrisch ist, sich zur Entfaltung eines spirituellen Lebens in die Einsamkeit zurückzuziehen, hängt von den Umständen ab. Einsamkeit bedeutet Verzicht. Orden, die in Abgeschiedenheit und mit Schweigegelübde leben und wie die Kartäuser durch Abkehr der Welt entsagen, sehen die Hingabe ihres Lebens ans Gebet als einen Dienst an. Dieses Prinzip, das letztlich für alle klösterlichen Ordensgemeinschaften gilt, dient üblicherweise als Begründung für ein Leben in Abgeschiedenheit. Ob die Mönche und Nonnen vollständig davon überzeugt sind, dass ihr Gebet als Werkzeug praktischer Nächstenliebe funktioniert, können wir nur vermuten. Manche werden indes nur deshalb in die Einsamkeit »gerufen«, damit sie später in die Welt zurückkehren. So räumte Tenzin Palmo ein, dass sie »geplant hatte, in meiner Höhle zu bleiben, aber das Leben tischt einem bisweilen eher das auf, was man braucht, als das, was man will«. Buddha, der einem privilegierten Leben entsagt hatte, suchte als Einsiedler in strenger Askese Erleuchtung. Als er sie erfuhr, kehrte er in die Gesellschaft zurück und wurde zum Lehrer und Begründer des Buddhismus.

Die meisten von uns können nur sporadisch auf Zeiten echter Abgeschiedenheit hoffen. Wenn sie sich dabei innerlich erneuern, bedeutet Einsamkeit keine Exzentrik. Die amerikanische Autorin und Journalistin Susan L. Taylor (* 1946) meinte dazu: »Wir brauchen ruhige Momente, um unser Leben offen und ehrlich zu überprüfen … nur ruhige Zeiten geben dem Geist die Gelegenheit, sich selbst zu erneuern und Ordnung zu schaffen.« So, wie unsere innere Wahrnehmung funktioniert, sehen sich die meisten Menschen im Zentrum des Universums und sind überzeugt, dass ihre Horizonte denen der Welt entsprächen. Aber nur wenige, die sich eine Auszeit in Einsamkeit gönnen und diese positiv nutzen, kehren aus ihrer »Klause« in die Welt zurück, ohne festzustellen, dass sich all ihre Horizonte geweitet haben.

Ist Agnostizismus berechtigt?

Der Begriff »Agnostizismus« von griechisch a-gnosis bedeutet »ohne Wissen«. Er weist nicht unbedingt auf einen Zweifel hin, sondern beruht vielmehr auf der Einsicht, dass unser Wissen begrenzt ist. Er lässt eine gewisse geistige Offenheit und die Möglichkeit zu, dass der Agnostiker vom Ungewissen zum gesicherten Wissen voranschreiten kann. Eingeführt wurde der Begriff von Thomas Henry Huxley (1825–1895) im Jahr 1876 in einer Ansprache vor der Metaphysical Society. Huxley lehnte in seiner Philosophie das Mystische und Spirituelle als gültige Kategorien des Wissens ab und beschrieb mit dem Begriff seine Weltanschauung. Der Agnostizismus beinhaltet nicht unbedingt einen Atheismus, aber ein Atheist würde sich mit Sicherheit als Agnostiker bezeichnen. Der Begriff wurde auf anderen Gebieten wie der Philosophie und der Psychologie in dem Sinn gebraucht, dass etwas nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand »nicht wissbar« ist, was sich aber ändern kann, wenn neue »Hinweise« oder Fakten auftauchen. Ein Agnostizismus kann auch teilweise oder provisorisch zum Beispiel dann vertreten werden, wenn man Aussagen mit dem Ausdruck »ich glaube« relativiert.


»Kaiser Bu von Ryô fragte den Großmeister Bodhidharma: ›Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wirklichkeit?‹ Bodhidharma sagte: ›Offene Weite – nichts von heilig.‹ Der Kaiser fragte: ›Wer bist du, der du mir gegenüberstehst?‹ Bodhidharma sagte: ›Ich weiß es nicht.‹«

Biyan Lu, Niederschrift von der smaragdenen Felswand (um 1300)


Der Agnostizismus ist die Kampfansage der Philosophie an die Metaphysik und den Fideismus, dem zufolge dem Glauben vor der Vernunft absoluter Vorrang gebühre. Damit reicht seine Geschichte bis weit hinter Huxleys Begriffsprägung zurück. Seine Ursprünge liegen im vorsokratischen Skeptizismus und bei den Philosophen der Platonischen Akademie. Wie wir unseres Wissens gewiss sein können (siehe Kapitel 1), ist eine wichtige Fragestellung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Philosophie zieht. Die Frage lautet, wie wir Wissen erwerben und mit welchen Mitteln wir es überprüfen können. Im weitesten Sinn ist Agnostizismus keineswegs unvereinbar mit einer tiefen Religiosität. Wir haben gesehen, dass Glaube und Zweifel koexistieren. Die meisten religiösen Menschen können die Bitte des Vaters nachvollziehen, als dieser seinen besessenen Jungen zu Jesus brachte: »Ich glaube; hilf meinem Unglauben!« (Mk 9, 24) Der deutsche Philosoph Nikolaus von Kues (1401–1464), obwohl Kardinal und Generalvikar im Kirchenstaat, vertrat einen christlichen Agnostizismus. Ein Prinzip seines Denkens war die »belehrte Unwissenheit«, die seiner Meinung nach der Wahrheit so nahe komme, wie es dem menschlichen Geist möglich sei. Ein agnostisches Judentum wird von einer Gruppe vertreten, die sich mit dem Judentum identifiziert, aber ohne die rabbinische Tradition der Religion zu praktizieren. Bei der Darlegung eines agnostischen Buddhismus schrieb der Autor Stephen Batchelor (* 1953): »Ein tiefgründiger Buddhismus wäre einer, der auf dieser Art Unwissenheit aufbaut: auf dem Eingeständnis, das ich in der Frage, was das Leben wirklich ist, keine Antwort habe.«

Der Agnostizismus wird manchmal auf die sogenannte »gesunde Skepsis« bezogen, eine zweifelnde Haltung gegenüber Wissen überhaupt oder gegenüber einem bestimmten Gedanken. Sie beschreibt eine Art schwebendes Verfahren nach dem Motto: »Schauen wir mal, dann sehen wir schon«. Sie hält den Geist »auf gesunde Weise« so lange offen, bis eine Vorstellung oder Tatsache bestätigt oder widerlegt werden kann. Der Agnostizismus ist insofern ein spannendes Gebiet, als er davon ausgeht, dass das religiöse Leben, anstatt eines festgefügten Satzes an Gedanken und Lehren eine Entdeckungsreise darstelle. Dabei finden wir allerdings nur selten das, wonach wir zu suchen meinten.

Ist Atheismus der Mut zum Unglauben?

Atheist zu sein, erfordert Mut, obwohl die atheistische Position die einzig rationale ist. In das Dilemma, das Voltaire formulierte, geraten offenbar viele: »An Gott zu glauben ist unmöglich, nicht an Ihn zu glauben, ist absurd.« Der Atheist soll ebenso gläubig sein wie ein Glaubender. Unglaube vertraut auf das Fehlen empirischer Nachweise, Glaube auf das unwiderlegbare, aber subjektive Argument der persönlichen Erfahrung. Gut nachvollziehbar ist das Bekenntnis eines anonymen Suchenden: »Ich habe den Atheismus eine Zeit lang ausprobiert, aber mein Glaube war einfach nicht stark genug.«

Der Agnostiker gilt bisweilen als ein Abwartender, der sich nicht entscheiden kann. »Sei kein Agnostiker, sei etwas!«, verlangte der amerikanische Dichter Robert Frost (1874–1963). Ein Atheist ist klar und eindeutig »etwas«, aber er hat über dieses »Etwas« hinaus eine Botschaft, die mit einem Bekenntnis und einer neuen Mission einhergeht. Atheisten haben den Mut entwickelt, ihr »Evangelium«, ihre »Frohe Botschaft« zu verbreiten, die manche so glaubenseifrig wie jeder fundamentalistische Religionsanhänger verkünden. Jeder, so wird unterstellt, müsse zum Atheismus bekehrt werden, Kinder ab dem Grundschulalter und in allen staatlichen Institutionen. Wir brauchen offenbar auch hier eine »Taufe«, bei der wir im kalten und klaren Wasser der Vernunft vollständig untergetaucht werden. Der englische Schriftsteller William Ernest Henley (1849–1903) verschaffte dieser »schönen neuen Welt« des Atheismus bereits eine Hymne in Form seines Gedichts ›Invictus‹ (Unbezwungen):

Was macht’s ob die Pforte schmal,
Wie voll von Strafen das Lebensbuch,
Ich bleibe meines Schicksals Herr:
Der Kapitän meiner Seele bin ich.

Eine solche Mission erfordert bekanntlich Mut. Und der Weg wurde bereits von verschiedenen Herrschaftssystemen beschritten, die Religionen mitsamt ihren Gläubigen zu eliminieren versuchen. Die historischen Lehren lassen ahnen, was ein atheistischer »Evangelikalismus« anrichten könnte. Er würde das Aus für die kreative Koexistenz von weltlichen und religiösen Anschauungen bedeuten und zu einer Erosion des Pluralismus religiöser Kulturen führen. Und wenn am Ende nachgewiesen würde, dass es Gott nicht gibt und Metaphysik nur eine fantasievolle Mär ist, die man in einer »herangereiften« Gesellschaft fahren lassen kann, entstünde ein anhaltendes Gefühl der Leere. Und weil das Bedürfnis nach Religiosität bestehen bliebe, würde sich Voltaires Feststellung bestätigen: Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

Atheist sein erfordert Mut. Der amerikanische Satiriker, Schriftsteller und TV-Moderator Stephen Colbert (* 1964) hat wahrscheinlich recht: »Ist ein Agnostiker nicht einfach ein Atheist ohne Mumm?«

Können wir mit dem Verstand allein leben?

Würden wir nur mit dem Verstand leben, fiele das Leben eintönig und seelenlos aus. Der Verstand ist ein geistiges Können, zu dem weitere Fähigkeiten hinzukommen: Erst in Kombination mit dem Gefühl, der Fantasie, der Intuition und dem Irrationalen ermöglicht er uns ein Leben im umfassendsten Sinn. Der Literaturkritiker und Schriftsteller Cyril Connolly (1903–1974) formulierte es so: »Ein auf Vernunft beruhendes Leben braucht als Gegengewicht immer eine gelegentliche heftige und irrationale Aufwallung an Emotionen, weil die Triebe ihren Tribut verlangen.« Unsere Frage enthält allerdings indirekt den Hinweis, dass der Verstand unsere wichtigste Fähigkeit ist. Und mehr noch: dass wir ihn vielleicht gerade auf die Erfahrungen stützen sollten, die ihn scheinbar untergraben, da der Verstand doch nahelegt, dass Irrationales falsch sei. Martin Luther hielt ihn für den Feind des Glaubens. Und Benjamin Franklin (1706–1790) meinte: »Um durch den Glauben zu sehen, muss man das Auge des Verstandes schließen.«

Diese Spannung zwischen Verstand und Glauben markiert einen Dualismus, der in der westlichen Kultur für eine Spaltung in den Anschauungen sorgt – für die schon erwähnte »unüberbrückbare« Kluft zwischen Gut und Böse, Geist und Fleisch usw. Problematisch wird es da, wo die verschiedenen Arten der Wahrnehmung aufs jeweils andere Territorium übergreifen. Ist es vernünftig, den Verstand dazu zu bringen, dass er sich auf den Glauben stützt? Sollte der Verstand ins Wirken unserer Fantasie eingreifen? Sollte er zum Beispiel zu einem Gestaltungsprinzip der Kunst erhoben werden? Hier muss unterschieden werden zwischen dem Verstand, der Dinge rational auf empirischer Basis überprüft, und dem Verstand als Ursache für Entscheidung. Katholiken, orthodoxe Juden oder Scientologen mögen sich deswegen an ihren jeweiligen Glauben binden, weil sie ein psychisches Bedürfnis nach Autorität, klaren Strukturen und vorgegebenen Antworten haben, aber sie glauben nicht deswegen an die Unfehlbarkeit des Papstes, die Unantastbarkeit des Gesetzes oder an Ron Hubbards (1911–1986) Dianetik. Die Gründe für diese Überzeugungen liegen jenseits des Verstandes.


»Die höchste Aufgabe des Verstandes ist zu zeigen, dass manche Dinge den Verstand übersteigen.«

Blaise Pascal (1623–1662)


Anstatt Verstand und Glaube im Konflikt zu sehen, meinte Mahatma Gandhi, müsste der Verstand in den Dienst des Glaubens gestellt werden: »Alle Formeln jeder Religion müssen im Zeitalter der Vernunft dem Härtetest des Verstandes und der universellen Gerechtigkeit unterzogen werden, wenn sie universelle Zustimmung bekommen sollen.« Gandhi vertritt hier die Position, dass der Glaube, um bestehen zu können, in unserer postmodernen Welt auch als geistige Fähigkeit verstanden werden müsse, als etwas, das sich nicht in eine einzige bestimmende Kategorie wie Verstand, Intuition oder Fantasie zwängen lasse, weil er aus allen schöpft. Der irische Schriftsteller C. S. Lewis (1898–1963) schrieb: »Die Vernunft ist die natürliche Ordnung der Wahrheit. Aber die Fantasie ist das Organ des Sinns.« Auch der Glaube ist ein »Organ des Sinns« und besteht in seinem umfassendsten Ausdruck niemals allein, sondern geht Hand in Hand mit der vom Verstand bestimmten Wahrheit.

Kann Intuition Logik ersetzen?

Selbst wenn sie könnte, müsste die Intuition nicht an die Stelle der Logik treten. Wie im Fall von Glaube und Verstand leisten Intuition und Logik beide ihren speziellen Betrag zur Einsicht in Wahrheit. Logik ist eine Denkweise oder ein Denksystem, das auf exakt definierten Axiomen beruht. In der Philosophie ist Logik das Studium des Aufbaus und der Grundlagen des Denkens an sich und der Stichhaltigkeit der Argumentation. Sie soll sicherstellen, dass jeder gedankliche Schritt richtig ist. Im volkstümlichen Gebrauch ist Logik klares Denken und das Ziehen von eindeutigen und vernünftigen Schlüssen bei Überlegungen oder in Debatten.

Der Psychologe Carl Gustav Jung beschrieb die Intuition als »Wahrnehmung via Unbewusstes«. Sie ist ein Weg zur Wahrheit, der die Beobachtung, die überlegte Analyse oder die Argumentation umgeht. Aber wie jede andere Fähigkeit braucht Intuition Informationen. Dabei spielen Beobachtung und Verstand eine Rolle, insofern der intuitive Denker auf gesammelte Erfahrungen zurückgreift, die im Unbewussten verborgen liegen. Auch wenn sie als »sechster Sinn«, als »Bauchgefühl« oder als »psychisches Radar« bezeichnet wurde, ist sie keineswegs ein pseudowissenschaftliches Mittel zur Erkenntnis, sondern vielmehr ist, wie Immanuel Kant feststellte, reine Intuition die eine grundlegende Erkenntnisfähigkeit, eine Art Anschauung.

Der französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) erklärte, Relatives werde durch Analyse und Absolutes durch Intuition erfasst. Deswegen sei die Intuition die beste Methode für das Verständnis von Metaphysik. Er definierte sie als »eine einfache, unteilbare Erfahrung der Sympathie, durch die man in das innere Sein eines Gegenstands versetzt wird und erfasst, was daran einzigartig und unsagbar ist«. Bergsons Verständnis der Intuition liegt dicht beim zenbuddhistischen Konzept der unmittelbaren oder intuitiven Wahrnehmung: »Verstehen«, sagt der vietnamesische Mönch, Schriftsteller und Lyriker Thich Nhat Hanh ist »direkte und unmittelbare Einsicht, eher Intuition als die Kulmination des Nachdenkens«.

Für Psychologen verkörpern Logik und Intuition die Funktionen der beiden Hälften des Gehirns oder des Denkens. Logik wird der linken Gehirnhälfte und dem rationalen Denken und Intuition der rechten und den Emotionen, Gefühlen usw. zugeordnet. Bei den meisten von uns stellen beide zusammenwirkend verschiedene geistige Potenziale bereit, wobei aber in unserer Auseinandersetzung mit der Welt zuweilen die eine oder die andere Hirnhälfte dominiert. Wo nicht ungeschickt eingesetzt oder absichtlich fehlgeleitet, führt Logik wahrscheinlich zu richtigen Schlüssen, während sich Intuition durchaus als falsch erweisen kann. Im besten Fall arbeiten beide ergänzend und in gegenseitiger Überprüfung in einem idealen Gleichgewicht zusammen. Der Physiker und Philosoph Fritjof Capra (* 1939) sieht diese gegenseitige Ergänzung so: »Die moderne Physik, die Manifestation einer extremen Spezialisierung des rationalen Verstandes, schließt jetzt Kontakt mit der Mystik … einer extremen Spezialisierung des intuitiven Denkens. Dies zeigt sehr schön die Einheit und komplementäre Natur der rationalen und der intuitiven Bewusstseinsweisen, des Yang und des Yin.«


»Menschen geben sich zu nichts so bereitwillig hin, als ihren Glauben durchzusetzen. Wo gewöhnliche Mittel scheitern, greifen sie zum Gebot, zu Gewalt, Feuer und Schwert.«

Michel de Montaigne (1533–1592)


Hübsch illustriert wurde dieses Gleichgewicht mit der Namensgebung eines Berges auf Livingston, der zweitgrößten der Südlichen Shetlandinseln in der Antarktis. Er heißt Intuition Peak in Anerkennung des Beitrages, den die Eingebung beim Fortschritt in der Wissenschaft und in der Erkenntnis leistet.

Ist wirklich wichtig, was wir glauben?

Die Freiheit zu glauben, was wir glauben wollen, brachte eine schier grenzenlose Fülle an religiösen und weltlichen Glaubenssystemen und Ideologien hervor. Bisweilen können wir uns schon nicht mehr entscheiden, was wir glauben sollen und gelangen im Leben zu der Haltung, dass »alles erlaubt ist«. In der Vergangenheit wurde den Menschen vorgeschrieben, was sie zu glauben hatten. Diese Glaubensinhalte durchdrangen jeden Aspekt des Lebens und der Kultur und bestimmten ihr Leben und die Art ihres Denkens. Was geglaubt wurde, war für den Einzelnen von entscheidender Bedeutung, denn angeblich bestimmte es sein Schicksal für die Ewigkeit im Paradies oder in der Hölle. Ebenso große Bedeutung hatte es auch für die gesamte Gesellschaft, da ihr der Zement des vorherrschenden Glaubens Zusammenhalt gab und ihrer Zersplitterung vorbeugte. Der Glaube stellte eine nahezu unumstößliche Autorität dar, die die Gesetze und sittlichen Werte absicherte, die die Herrscher über das gemeine Volk bestimmten. Dabei erleichterten diese klar definierten und kompromisslosen althergebrachten Traditionen in gewisser Weise das Leben: Die Menschen kannten ihren Platz im Hier und Jetzt und ihre Bestimmung für die Ewigkeit. Und Zeit ihres Lebens genossen sie die geistige Sicherheit einer Autorität, die ein Monopol auf die Wahrheit hatte.

Auch wenn eine offen denkende Gesellschaft gegenüber der Welt vor der Aufklärung einen deutlichen Fortschritt darstellt, so können wir uns im »Chaos der Möglichkeit«, wie es Martin Buber nannte, leicht verirren. Als eine Reaktion darauf ist das Aufkommen und die weite Verbreitung des religiösen Fundamentalismus zu verstehen: Mit ihm soll dem Chaos eine Ordnung aufgezwungen werden. Nach Benjamin Cardozo (1870–1938), einem Richter am Obersten Gerichtshof der USA, ist »die Freiheit des Denkens … die Matrix, die unabdingbare Voraussetzung für fast jede andere Form der Freiheit.« Was wir in Freiheit denken, ist wohl wichtiger als alles, was wir unter Zwang meinen, denn in einer Demokratie werden Recht und Sittlichkeit nicht durch die Überzeugungen bestimmt, die eine Minderheit der Mehrheit aufzwingt, sondern durch die kollektiv in Erscheinung tretenden Sichtweisen des Einzelnen.

Der »Glaube« an sich birgt allerdings das Problem, dass er zuweilen insofern vollständig subjektiv ist, als er weder auf einem Wissen noch auf einer Erfahrung beruht. Glaube kann fehlgeleitet und sogar völlig irrig sein und selbst dann noch blind verfochten und aufrechterhalten werden, wenn seine Irrtümer erwiesen sind. »Ich weiß, was ich glaube. Ich werde auch weiterhin sagen, was ich glaube. Und was ich glaube, halte ich für richtig«, sagte der ehemalige US-Präsident George W. Bush (* 1946). Ob Glaube berechtigt ist, hängt deshalb auch von seinem Inhalt und davon ab, warum er geteilt und wie er vertreten wird. Der schwedische Wirtschaftsprofessor Niclas Berggren (* 1968) schrieb: »Der Glaube steuert das Verhalten, aber er basiert oft nicht auf Erfahrung und trifft oder reflektiert deshalb auch nicht die innig gelebte Dimension der menschlichen Existenz.« Stattdessen stecke er eine Identität ab und vermittle ein Gefühl von Zugehörigkeit. Berggren setzt den Glauben mit einem tief in uns steckenden Kompass gleich und sieht ihn als einen Beitrag zu unserem Empfinden dafür, wer wir selbst sind. Damit hebt er auf den wichtigen Punkt ab, dass das, was wir sind und tun, nicht vollständig von unserem Wissen bestimmt wird. Unsere Überzeugungen können unsere Beziehungen wie auch unsere Verhaltensweisen bestimmen. Sie müssen nicht endgültig sein, sondern können als Ausgangspunkt für die weitere Suche dienen: als Hypothese, als ein Ansatz für wissenschaftliche Forschungen oder philosophische Fragestellungen. David Hume schrieb: »Der Glaube ist dieser Akt des Geistes, der Wirklichkeiten oder das, was wir dafür halten, gegenwärtiger macht als Erdichtungen, der dafür sorgt, dass sie im Denken größeres Gewicht erhalten, und der ihnen einen bedeutenderen Einfluss auf die Leidenschaften und die Vorstellungskraft gibt.«