Was ist eine Religion?
Der Begriff »Religion« hat eine interessante Geschichte. Dem römischen Politiker und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) zufolge leitet sich das Wort etymologisch vom lateinischen relegare für »bedenken« oder »beachten« her. Nach anderen geht es auf das Verb religare für »anbinden«, »an etwas festmachen« im Sinn einer Pflicht oder Bindung zurück, die Menschen untereinander zusammenhält. Religio ist die Achtung vor dem Heiligen oder die Verehrung der Götter. Das englisch-französische Wort religiun aus dem 11. Jahrhundert bezeichnete eine religiöse Gemeinschaft, während im 12. Jahrhundert »Religion« eine Lebensweise bedeutete, die an Klostergelübde gebunden war und eine Glaubenspraxis beinhaltete, wie sie die Ordensregel formulierte. Eine Zusammenfassung dieser etymologischen Ursprünge umreißt die Religion als eine bestimmte Menge von Glaubensinhalten, zusammen mit den jeweils erforderlichen Praktiken, Riten und Andachtsformen, die per Gewohnheit oder durch gemeinschaftliche Beschlüsse autorisiert wurden. Wir können hinzufügen, dass die Menge der Glaubensinhalte, durch die sich eine Religionsgemeinschaft definiert, wahrscheinlich einen ethischen Kodex beinhaltet, der ihre Einstellungen und Verhaltensweisen als Gruppe bestimmt.
Seit dem Zeitalter der Aufklärung hat sich das Bedeutungsspektrum des Begriffs der Religion deutlich erweitert. Nach dem französischen Soziologen Émile Durkheim ist »eine Religion ein einheitliches System von Glaubensinhalten und auf heilige Dinge bezogenen Praktiken«. Es besteht kein Zwang zu einem Glaubensbekenntnis oder einer Autorität, und die Entscheidung, was »heilig« ist, bleibt dem Einzelnen überlassen. Der Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead (1861–1947) meinte, »Religion [sei] das, was der Einzelne mit seiner Einsamkeit anstellt«, eine Definition, die für den damals aufkommenden Standpunkt des anything goes (»Mach, was du willst«) des Philosophen Paul Feyerabend (1924–1994) kennzeichnend ist. Die Bewegung zielte auf Einfachheit fernab jeder Form der Orthodoxie ab. Wohl überraschend bei einem Führer des tibetischen Buddhismus verkündete der Dalai Lama: »Dies ist meine einfache Religion. Es braucht keine Tempel, keine komplizierte Philosophie. Unser eigenes Gehirn, unser Herz ist unser Tempel. Die Philosophie ist Güte.« Das Prinzip dieser Art Offenheit übt eine gewaltige Anziehungskraft aus, stellt es doch dem Menschen anheim, dem Göttlichen auf die ihm am sinnvollsten erscheinende Weise zu begegnen. Auch wenn es keineswegs die gesamte Geschichte seines christlichen Glaubens widerspiegelt, so gab Jakobus in seinem ersten Brief für die »reine« Religion eine höchst überraschende Definition, die das Gefühl weckt, dass er ihre Konsequenzen nicht erwogen hat: »Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind, und sich vor jeder Befleckung durch die Welt zu bewahren.« Daran ist nichts speziell Christliches. Das Gesagte passt auf viele Religionen, die sich darauf stützen, Gott als »Vater« zu präsentieren. Ansonsten geht es um den Dienst an der Gesellschaft und das Meiden vor »Befleckung durch die Welt«, eine Warnung vor Habgier und Materialismus.
»Gott hat keine Religion.«
Mahatma Gandhi (1869–1948)
Die Religion hat nach jeder Definition ihre Kritiker und Querdenker, sei es Karl Marx (1818–1883), der sie als »Opium des Volkes« verspottete, George Bernard Shaw (1856–1950) mit seiner weltlichen Mystik oder Percy Bysshe Shelley mit seinem lyrischen Atheismus. Ambrose Bierce (1842–1914) gibt in ›Des Teufels Wörterbuch‹ eine pointierte Definition: »Religion (f): Eine Tochter von Hoffnung und Furcht, die dem Unwissenden die Natur des Unerkennbaren erklärt.«
Bedient Religion ein menschliches Grundbedürfnis?
In seiner Theorie der Religion listet der amerikanische Psychologe und Psychiater Steven Reiss 16 menschliche Grundbedürfnisse auf, welche die Religion befriedige. »Die Religion«, so schreibt er, »ist facettenreich. Sie lässt sich nicht auf ein oder zwei Bedürfnisse reduzieren.« Seine Theorie basiert auf dem Konzept der Motivation, das heißt, des zielgerichteten Verhaltens, das unsere »Bedürfnisse« bestimme. An dieser Stelle kann nicht auf alle Bedürfnisse, die Reiss ausgemacht hat, eingegangen werden. Aber einige Beispiele geben eine grobe Vorstellung von dem, was er meint: Akzeptanz (das Bedürfnis nach Anerkennung), Neugierde (das Bedürfnis, zu lernen), soziale Kontakte (das Bedürfnis nach Freunden), Status (das Bedürfnis nach gesellschaftlichem Ansehen) und Ordnung (das Bedürfnis nach einer organisierten, stabilen und vorhersagbaren Umwelt). Sicher kann Religion diese Bedürfnisse befriedigen. Aber auch wenn Reiss versichert, dass alle Elemente seiner Theorie wissenschaftlich überprüfbar seien und diese so zu einem besseren allgemeinen Verständnis der Religion führe, so kann das von ihm umrissene Bezugssystem einen »religiösen Instinkt« oder eine religiöse Sehnsucht, wie man auch sagen könnte, nicht erklären, so breit es auch gefasst wird.
Nach dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910) versteht man die Funktion der Religion nur dann, wenn man sie als eine Erfahrung betrachtet, als »religiöse Gabe«, wie er es nannte. Er betonte die persönliche Religiosität, da sich alle institutionalisierten Formen von Religion aus Erfahrungen Einzelner ableiteten. Jeder von uns habe Überzeugungen, seien sie religiös oder nicht. Manche seien zwar nicht rational überprüfbar, trügen aber zu unserer Verwirklichung bei. James hob zwei Arten von Grundbedürfnissen hervor. Erstens das des »seelisch Gesunden«, der sich, anstatt bei der Schlechtigkeit der Welt zu verharren, auf das Gute und Positive konzentriert. Die Religion so eingestellter Gläubiger ist offen, kaum autoritär und für die Gesellschaft nützlich. Zweitens das Grundbedürfnis des »seelisch Kranken«, der vom Leiden, der Sorge und dem Übel in der Welt umgetrieben wird. Die Religion, die seine Bedürfnisse befriedigt, muss auf die Sünden ausgerichtet sein und die Sicherheit einer Erfahrung bieten, die Einheit und Erlösung verheißt. Als ein Beispiel für die erste Art Religiosität berief sich James interessanterweise auf den amerikanischen Dichter Walt Whitman (1819–1892): »Göttlich bin ich innerlich und äußerlich … Ich mache alles heilig, was ich berühre oder das mich berührt.« Für die zweite Art führte er den englischen Baptistenprediger und Schriftsteller John Bunyan (1628–1688) an: »Ich fand so lange keine Ruhe, bis ich zu einer gesicherten Erkenntnis darüber gelangte, ob ich nun Glauben hätte oder nicht, und dies ging mir immer wieder durch den Kopf … aber wie kann man sagen, ob man Glauben hat?«
Bleibt festzuhalten, dass das in der Bibel breit verankerte Bedürfnis nach Erlösung ein grundlegendes und dringendes ist, weil wir nach dieser Sichtweise nur über ein Leben verfügen, um diese Erlösung zu erlangen. Menschliche Grundbedürfnisse sind auch die »Erkenntnis« oder »Erleuchtung«, die uns den östlichen Religionen zufolge nach langen Praktiken befähigen, unser »wahres Selbst« zu erkennen und die Dinge zu sehen, »wie sie wirklich sind«. Unsere religiösen, wissenschaftlichen oder philosophisch rationalen Bestrebungen entspringen dagegen einem Bedürfnis nach »Wahrhaftigkeit«, wie man es fassen könnte. Wir wollen in der Überzeugung leben können, dass der Sinn und die Inhalte, für die unser Leben steht, Berechtigung haben. Deswegen sagen wir, dass wir dem einen wahren Gott begegnen, unser wahres Ich erkennen oder wahres Glück, wahre Liebe und wahre Erfüllung erfahren wollen. Dies alles entspringt unserem Bedürfnis, die Gewissheit zu haben, dass wir in Wahrhaftigkeit leben – ein Bedürfnis, das die Religion, egal in welcher ihrer vielen Gewandungen, befrieden kann.
Können alle Religionen recht haben?
Alle Religionen enthalten Wahrheit, aber die Unterschiede in den Grundlagen und Formulierungen sind tendenziell inkompatibel. Wie aufrichtig ein Glaube vertreten wird, ist kein Maß für seine Stichhaltigkeit: Man kann sich auch aufrichtig irren. Damit ein Dialog zwischen Religionen sich lohnt, muss er anstatt um spezielle Details um breit angelegte Sichtweisen und idealerweise um gemeinsame Grundanschauungen geführt werden. Im Osten sind die verschiedenen Kulturtraditionen durch ähnliche Glaubensinhalte verbunden. Dagegen werden in den biblischen Religionen diese Inhalte von Theologien und Dogmen bestimmt, die das Ermitteln einer gemeinsamen Basis erschweren.
Manchmal werden Glaubenswahrheiten zu einem – gewöhnlich unbequemen – Synkretismus, einer Kombination aus Glaubenswahrheiten, die nicht immer so überzeugend wirken wie die Teile, aus denen sie zusammengesetzt sind. Der Synkretismus zielt darauf ab, gegensätzliche oder grundverschiedene religiöse Überzeugungen miteinander auszusöhnen oder religiöse Anschauungen so zu kombinieren, dass sie die Ausstrahlung und Anziehungskraft einer Religion erhöhen. So entstand beispielsweise das Urchristentum aus vielfältigen jüdischen und griechischen Einflüssen aus der jeweiligen Kultur und Philosophie. Der lateinamerikanische Katholizismus nahm bestimmte Aspekte und religiöse Praktiken aus den indigenen Sklavenkulturen mit auf. Baha’ullah (1817–1892), der Stifter der Religion der Bahai, galt als Nachfolger Mohammeds, Jesu, Moses, Buddhas, Zoroasters sowie Abrahams und verband anscheinend Elemente aus deren Lehren miteinander. Der Sikhismus, der von Guru Nanak Dev (1469–1539) gegründet wurde, ist ein Versuch, den Islam der Mogule mit dem Hinduismus in Einklang zu bringen. »Da ist weder Hindu noch Muslim, welchem Weg soll ich dann folgen«, fragte Nanak. »Gott ist weder Hindu noch Moslem, und der Weg, dem ich folge, ist der Gottes.« Die Bildung von Synkretismen ist eine fortdauernde Entwicklung, die viele moderne Sekten hervorgebracht hat. So kombiniert beispielsweise der Caodaismus in Vietnam Elemente des Buddhismus, des Katholizismus und des spiritistischen Kardecismus. Und der Versuch in Nigeria, die Glaubenslehren von Christentum und Islam miteinander zu verbinden, heißt nicht überraschend »Chrislam«.
»Gott hat so viele verschiedene Arten von Menschen erschaffen; warum sollte Gott nur eine einzige Art der Religionsausübung erlauben? «
Martin Buber (1878–1965)
Stellen die vielen Religionen dann wahrscheinlich einfach nur verschiedene Wege zum selben Ziel dar? Die Frage lässt sich nur in einem sehr generellen und abstrakten Sinn mit Ja beantworten. Das Christentum wie der Islam nehmen für sich in Anspruch, dass jeweils sie als einzige Religion ihre Gläubigen zu Gott führen könnten. Deshalb stehen die Wege, die sie dazu weisen, zu denen aller anderen Religionen im Widerspruch. Die Antwortmöglichkeit auf unsere Frage reduziert sich folglich auf eine von zwei Lösungen: Entweder alle Religionen führen zum selben Ziel oder nur eine einzige hat recht. Wenn Wahrheit als absolut behauptet wird, kann es nur eine Wahrheit geben. Aber aus dieser Sackgasse führt ein Weg heraus. Religionen, die ein Wahrheitsmonopol für sich reklamieren, beanspruchen es aus einer inneren fundamentalistischen Strömung heraus. (Der Begriff »Fundamentalismus« wird etwas weiter unten behandelt.) Alle Religionen, auch die, in denen das Fundamentalistische vorherrscht, enthalten zugleich entgegengesetzte mystische Strömungen. Die Mystik, in der die unmittelbare Erfahrung der göttlichen Wahrheit angestrebt wird, macht sich nicht an Formen fest: Sie hängt nicht von Rechtgläubigkeit oder Dogmen ab, sondern führt den Gläubigen in transzendente Seelenzustände, in denen die erkannte eine gemeinsame Wahrheit ist, selbst wenn ihre Vision die Gestalt Jesu, das En Sof der Kabbala oder der unsagbare und unfassbare tiefe Versenkungszustand einer buddhistischen Meditation ist. In ihrem mystischen Aspekt können so durchaus alle Religionen »recht haben«, weil dieser ihre historischen und dogmatischen Unterschiede transzendiert. Die Mystik, sagt der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel (* 1928), sei »ein Weg, Wissen zu erlangen. Sie steht der Philosophie nahe, nur dass man in der Philosophie horizontal vorgeht, während man in der Mystik vertikal verfährt.«
»Eine Untersuchung zu den Pflichten von Christen, um Mittel zur Bekehrung der Heiden einzusetzen.«
William Carey (1761–1834)
Warum versuchen Religionen, Menschen zu bekehren?
Für Christen besteht der »Missionsbefehl« in der Anweisung Jesu an seine Apostel: »Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern.« (Mt 28, 19–20) Kraft dieser wenigen Worte wurde das Christentum später zur Staatsreligion des Römerreichs, von dem aus es sich dann über die gesamte Welt ausbreitete. Das Judentum geht davon aus, dass über den Bund, den Gott mit Noah schloss, auch Nichtjuden zu ihm eine vollwertige Beziehung haben. Deshalb gibt es keinen Grund, sie zum Judentum zu bekehren. Andererseits bemühten sich alle bedeutenden Religionen der Welt darum, ihre Botschaft möglichst weit in die Welt hinauszutragen. Die Mission des Islam besteht neben der Bekehrung der Menschen auch darin, einen weltweiten islamischen Staat zu errichten. Der Auftrag dazu ist wie im Christentum in der Schrift, dem Koran, als Anweisung Allahs formuliert: »Sagt die Wahrheit von euerm Herrn; und lasst den, der will, glauben, und den, der nicht will, nicht glauben.« (18, 29) Aber wie die Geschichte zeigt, beruhen solche Bekehrungen nicht immer auf freien Entscheidungen.
Die Stifterfigur einer Religion erteilt einen »Missionsbefehl« in der Annahme, dass deren Lehre ein Monopol auf die Wahrheit besitze. Jesus nahm für sich in Anspruch, er sei »der Weg und die Wahrheit und das Leben«, und drückte es in Folgendem noch exklusiver aus: »Niemand kommt zum Vater außer durch mich.« (Jh 14, 6) Eine ähnliche Autorität verleiht Allah dem Islam, wie es mit Blick auf den Koran heißt: »Und in Wahrheit haben wir ihn [den Koran] hinabgesandt, und in Wahrheit stieg er hinab.« (17,105) Der islamische Weg gilt als »die offenkundige Wahrheit.« (27,79) Offiziell Berufene oder freiwillige Laien, die ein missionarisches Werk betreiben, müssen die Überzeugung teilen, dass sie etwas Einzigartiges vertreten, das nicht hinterfragt werden kann. Einem solchen Missionsbefehl kann man sich kaum entziehen, ohne vom Glauben abzufallen.
Kurz gesagt, streben Religionen danach, andere zu bekehren, weil ihre Anhänger dies als ihre bindende religiöse Pflicht ansehen. Aus ihrer Sicht sind alle Andersgläubigen fehlgeleitet. Weil das ewige Leben der umnachteten »Heiden« auf dem Spiel steht, bedeutet es einen höchsten Dienst, sie zur »Wahrheit« zu bekehren. Die Zwiespältigkeit der Mission können dabei zwei Anekdoten veranschaulichen, von denen die erste von Erzbischof Desmond Tutu (* 1931) stammt: Als die Missionare nach Afrika kamen, »hatten sie die Bibel und wir, die Urbevölkerung, das Land. Sie sagten: ›Lasst uns beten.‹ Und wir schlossen pflichtschuldig unsere Augen. Als wir sie wieder öffneten, hatten sie – warum? – plötzlich das Land und wir die Bibel.« Die zweite Anekdote stammt von der Dichterin und Pulitzer-Preisträgerin Annie Dillard (* 1945). »Eskimo: ›Wenn ich nichts von Gott und der Sünde wüsste, würde ich dann in die Hölle kommen?‹ Priester: ›Nein, nicht, wenn du davon nichts wüsstest.‹ Eskimo: ›Warum hast du es mir dann gesagt?‹«
Warum werden Menschen Fundamentalisten?
Der Fundamentalismus verursacht bis heute besonders blutig ausgetragene Konflikte in der Welt. Fundamentalismus kann religiös wie politisch motiviert sein, aber da, wo er religiös motiviert ist, gewinnt der Streit fast immer auch politische Züge. Alle Religionen haben einen harten Kern an fundamentalistischen Anschauungen. In den extremsten Formen gründet sich dieser auf die Überzeugung, dass die heiligen Schriften – sei es die Bibel, der Koran oder andere – sakrosankt seien und kompromisslos wörtlich gedeutet werden müssten. In den Vereinigten Staaten haben sich in Opposition zum Säkularismus und Liberalismus als Gegenbewegung militante evangelikale Strömungen entwickelt. Diese christlichen Fundamentalisten gibt es in so großer Zahl, dass sie etwa bei Präsidentschaftswahlen als möglicherweise ausschlaggebend gelten. Ähnliche Bewegungen finden sich im Islam mit dem ambitionierteren Ziel, einen weltumspannenden islamischen Staat zu schaffen, in dem das islamische Rechtssystem der Scharia herrscht. Diese Art Fundamentalismus wird inzwischen weithin mit den politischen Bestrebungen des Terrorismus im Nahen und Mittleren Osten gleichgesetzt, auch wenn offensichtlich nicht alle diese Islamisten Terroristen sind.
Einfach gesagt, gibt der Fundamentalismus Überzeugungen, Verhaltensweisen und Werten ein autoritäres Fundament. Er bietet Menschen eine Absicherung gegen unbequeme Fragen und anders lautende Argumente sowie eine Rechtfertigung, um ihre Sache gegen jede Kritik und Anfechtung weiter zu verfolgen. Auf politischer Ebene ist dies leicht nachzuvollziehen: Menschen, die sich für ihre Ideale begeisterten – sei es für die verbrecherische Ideologie des Nationalsozialismus oder für die fortschrittliche der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung –, wurden von klaren und eindeutigen Vorstellungen motiviert und angespornt. Im Reich der Religion haben die Menschen vielfältige Bedürfnisse, nach denen sie ihre jeweilige Ausrichtung wählen. Ein autoritäres Lehrgebäude ist, psychologisch gesehen, für diejenigen attraktiv, die nach einfachen Antworten und präzisen Anweisungen verlangen. Ihnen bieten fundamentalistische religiöse Anschauungen eine »sichere« Zuflucht, was erst dann Probleme bereitet, wenn sie aus ihr heraustreten und andere überzeugen wollen. Denn wie der Religionsphilosoph und einstige Präsident Indiens Sarvepalli Radhakrishnan (1888–1975) hervorhob: »Nicht Gott wird verehrt, sondern die Gruppe oder Autorität, die in Seinem Namen zu sprechen behauptet.«
Die Grundkritik an den Fundamentalisten lautet, dass sie zum Schutz ihres Glaubens den Verstand ausschalten. »Religiöse Fundamentalisten sind wild entschlossen, die wissenschaftliche Bildung Zigtausender unschuldiger, gutmütiger, wissbegieriger junger Geister zu ruinieren«, sagt Richard Dawkins, der Autor von ›Der Gotteswahn‹. Aus Sicht des gesunden Menschenverstandes wirft die wörtliche Auslegung sakraler Schriften zudem eine andere Art Problem auf, wie Judith Hayes, Autorin von ›The Happy Heretic‹ (Die glückliche Ketzerin), hervorhob: »Die biblische Erzählung von der Arche Noah ist wohl die unglaubwürdigste Geschichte, die die Fundamentalisten verteidigen müssen. Wo trieb Noah beim Beladen der Arche in Palästina beispielsweise Pinguine und Eisbären auf?«
Was ist Erlösung?
Unser Heil oder unsere Erlösung setzt etwas voraus, von dem wir erlöst werden müssen – nach Lesart der Bibel sind dies die Sünde und ihre Folgen. Soteriologie ist die Lehre vom Heil und der Erlösung des Menschen. Die Notwendigkeit, erlöst oder errettet zu werden, und die Mittel dazu tauchen in den verschiedenen Religionen in unterschiedlicher Form auf. Auf die östlichen Religionen passt hier eher der Ausdruck »Befreiung« als »Erlösung«. Für Christen liegt das Heil darin, die Beziehung zu Gott, die durch den Sündenfall im Garten Eden zerbrach, wieder zu kitten. Jeder kann sich durch seinen Glauben mit Gott aussöhnen, denn es war Gott, »der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete« (2 Kor 5, 19). Dagegen ist es dem Judentum eher um Sittlichkeit und gute Taten in diesem Leben als um die Mysterien des Jenseits zu tun. Notwendig ist allerdings eine Teschuwa, eine Umkehr, Abkehr von schuldhaftem Verhalten oder Buße, wie sie zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag, zelebriert wird. Es heißt, die Juden seien so sehr mit dem eigenen Überleben in dieser Welt beschäftigt gewesen, dass für eine Beschäftigung mit dem Jenseits die Zeit fehlte. Wohl deshalb vermerkte der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786): »Das Judentum rühmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind.« Und ähnlich stehen auch in der Theologie der Muslime Heil und Erlösung eher im Hintergrund. Der Sinn des Lebens ist es, so zu leben, dass es Allah gefällt: »Verheißen hat Allah denen, die glauben und das Rechte tun, Verzeihung und gewaltigen Lohn«, heißt es im Koran (5, 9).
»Drei Dinge sind für das Heil des Menschen notwendig: zu wissen, was er glauben soll, zu wissen, was er begehren soll, und zu wissen, was er tun soll.«
Thomas von Aquin (1225–1274)
In den östlichen Überlieferungen dreht sich das Konzept weniger um Erlösung als um Befreiung. Für das Christentum knüpft sich das Heil – und die letzte Bestimmung – dagegen an das Urteil beim Jüngsten Gericht, wenn auf einer Waage der Glaube und die Werke mit Blick auf die Rechtschaffenheit eines Lebens abgewogen werden. In dieser Mythologie lautet das Urteil auf Belohnung im Himmel oder Strafe in der Hölle. Während der Himmel im Bild des Gartens Eden verkörpert ist, fehlt für die Hölle eine klare Vorstellung außer der, dass sie das Reich Satans irgendwo unter der Erde sein soll, wohingegen das Himmelreich über dem Firmament angesiedelt sei. Das Nirwana, der letzte Bestimmungsort in den östlichen Religionen, ist eine abstrakte Vorstellung, ein Zustand des Eins-Seins mit dem Absoluten, frei von jeder Form des Leidens. Seine Verwirklichung hängt ganz davon ab, wie der Einzelne das – eigentlich nicht moralische – karmische Gesetz von Ursache und Wirkung begreift und für sich umsetzt.
Trotz der von Gott mit Bedacht erstellten Heilsökonomie weisen alle Religionen auf die Bedeutung von Eigenverantwortung hin. So lehrte Buddha: »Arbeite an deinem eigenen Heil. Verlasse dich nicht auf andere« – ein Aufruf, der auf seltsame Weise auch im Neuen Testament anklingt: »Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil.« (Phil 2, 12) Der amerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) soll hier das letzte Wort haben: »Wir werden nie Zeit in der Zukunft haben, um an unserem Heil zu arbeiten. Die Herausforderung liegt im Augenblick. Diese Zeit ist immer jetzt.«
Gibt es das Böse tatsächlich?
In der abendländischen Kultur ist »das Böse« der Teil einer unüberwindlichen Dualität, der dem »Guten« entgegensteht. Diese als absolut geltende Polarität spiegelt sich in weiteren vertrauten Gegensätzen wider: Gott und Teufel, Heiliger und Sünder, Licht und Finsternis oder Geist und Fleisch. Nur wenige glauben heute noch an einen Teufel oder Satan, der als ein selbstständiges Wesen über ein eigenes Reich herrscht und sich mit Gott eine beständige Schlacht um die Seelen liefert. Dagegen können nur wenige anzweifeln, dass auch ohne diese Personifikation eine Kraft ihr Unwesen treibt, die wir als »böse« bezeichnen. Die Bosheit oder Böswilligkeit gilt als die bewusst und absichtsvoll ausgelebte Neigung, anderen Schaden, Leiden oder Verletzungen zuzufügen.
Das Böse hängt weder von der Existenz Gottes noch von der des Teufels ab: Es grassiert ebenso in einer säkularisierten Welt. Auch ist »das Böse« nicht absolut oder universell aufzufassen, da seine Definition und Erscheinungsformen von den moralischen Anschauungen der jeweiligen Zeitalter und Kulturen abhängen. Galten Hexen- und Ketzerverbrennungen einst als ein Dienst an Gott, so sehen wir sie heute als üble Praktiken an. Ähnlich verhält es sich mit der Sklaverei, mit Völkermord und Folter. Im Alten Testament verkündet Gott, er sei die Ursache von Licht und Finsternis (als Metaphern für Gut und Böse): »Ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.« (Jes 45, 7) Derlei Ideen stellten auch Philosophen von jeher vor ein Problem, das Epikur (um 341–270 v. Chr.) in klaren Worten so zusammenfasste: »Entweder will Gott das Böse verbannen und vermag es nicht, oder er vermag es, aber will es nicht. Wenn er es will, aber nicht kann, ist er unvermögend. Wenn er es kann, aber nicht will, ist er boshaft. Wenn Gott das Böse verbannen kann und es auch wirklich will, warum ist das Böse dann in der Welt?« Augustinus von Hippo stellte das Böse als die Abwesenheit Gottes dar. Für den Psychologen Carl Gustav Jung war es die »dunkle Seite« Gottes. Dagegen ging der Reformator Martin Luther (1483–1546) offenbar davon aus, dass ein Fünkchen Unvollkommenheit einer drohenden größeren Unvollkommenheit vorbeugen könne: Ein wenig Böses sei ein echtes Gut, so meinte er, denn es nehme dem Teufel die Gelegenheit, uns wegen reiner Nichtigkeiten übergewissenhaft zu machen.
Martin Buber glaubte, dass unsere Neigung oder Tendenz, entweder Gutes oder Böses zu tun, einen freien Willen voraussetze. Denn unser Tun werde nicht von äußeren Einflüssen verursacht, sondern entspringe unseren eigenen bewussten Entscheidungen. Dabei vertrat er den Standpunkt, dass die menschliche Natur kraft der menschlichen Freiheit paradox sei und der Einzelne wählen und danach streben müsse zu werden, was er wirklich sei. Er müsse sich selbst so auf die Welt beziehen, dass er sein einzigartiges Potenzial verwirklichen könne. Die Wechselbeziehung von Freiheit und Verantwortung wird im Buddhismus großgeschrieben: »Tatsächlich wird Böses von einem selbst begangen. Durch einen selbst wird man befleckt. Durch einen selbst bleibt Böses ungeschehen. Durch einen selbst wird man gereinigt. Reinheit und Unreinheit hängen von einem selbst ab. Keiner reinigt den anderen.«
Wir können das sogenannte »Böse in der Natur« – Feuer, Erdbeben, Krankheit, Hunger, Pest usw. – erklären, aber in der Frage, warum Menschen anderen Leiden verursachen, stehen wir vor einem unlösbaren Rätsel. Einer psychologischen Hypothese zufolge soll Grausamkeit einem angeborenen Bedürfnis nach Kontrolle und Herrschaft entspringen. Als ein Urinstinkt soll es hinter dem Jagdtrieb und dem Drang nach Eroberung eines Territoriums stehen und sich auch in religiösen Anschauungen widerspiegeln, die sich in Tier- und Menschenopfern niederschlugen. Hinter der Grausamkeit stecke die Gier nach Macht, erklärte Leo Tolstoi (1828–1910): »Um Macht zu erringen und zu behaupten, muss man Macht lieben. Aber die Liebe zur Macht ist nicht mit Güte, sondern mit den gegenteiligen Eigenschaften verknüpft, so mit Hochmut, Durchtriebenheit und Grausamkeit.«
Warum gibt es Leiden?
Die beste Antwort auf die Frage lautet wohl, dass dem eben so ist: Die Leidensfähigkeit ist ein fester Bestandteil der Körperstruktur aller Lebensformen, auch wenn sich deren Leiden, geistig oder seelisch begriffen, voneinander unterscheiden. Leiden gehört zum Überlebenskampf. Für Tiere bedeutet Leiden, dass ihnen ein Unterschlupf fehlt, dass sie keine Nahrung finden, Angriffen von Fressfeinden ausgesetzt sind oder sich nicht fortpflanzen können. Dagegen können wir Menschen, und nur wir, über das Leiden nachdenken und schon dadurch leiden, dass wir es geistig vorwegnehmen. Nach Friedrich Nietzsche heißt leben leiden und überleben, im Leiden einen Sinn zu finden. Das Rätsel des Leidens besteht in der Frage, ob Leiden einen Sinn habe oder nicht. Jedes Leiden hat eine Ursache, und nicht nur eine unmittelbare wie bei Krankheit und Schmerz, unerwiderter Liebe, enttäuschtem Ehrgeiz, wirtschaftlicher Unsicherheit, Ängsten, Sorgen oder dem Wissen um die eigene Sterblichkeit. Es hat auch eine letztendliche Ursache insofern, als seine Existenz an sich »verursacht« wurde. Versuche zu erklären, warum es Leid überhaupt gibt, finden sich in der abendländischen Kulturtradition nur in deren reichhaltigem Schatz an Mythen, so im griechischen Mythos von der Büchse der Pandora. Eine biblische Erklärung liefert die Episode von Evas Ungehorsam im Garten Eden: Die Übertretung eines Verbots belastete die Beziehung der Menschheit zu Gott so sehr, dass das ursprünglich beabsichtigte Idyll der Schöpfung zerbarst. Das Leiden kam in die Welt. Es kann zwar nicht in diesem Leben überwunden werden, doch birgt eine Aussöhnung mit Gott die Hoffnung, dass es im nächsten endet.
»Wenn ich eine Formel hätte, um Ungemach zu umgehen, würde ich ihm nicht aus dem Weg gehen. Ungemach schafft eine Fähigkeit, mit ihm umzugehen. Ich empfange das Ungemach nicht mit offenen Armen. Das ist ebenso falsch, wie wenn man es als einen Feind behandelt. Aber ich sage: Begegne ihm wie einem Freund, damit du es gut kennenlernst, und rede lieber mit ihm.«
Oliver Wendell Holmes Jr. (1841–1935)
Die wohl weitreichendste Antwort auf das Rätsel des Leidens hält der Buddhismus bereit. Die Frage steht im Zentrum seiner Glaubensinhalte und Praktiken. Die »Vier Edlen Wahrheiten« betreffen 1) die Tatsache des Leidens, 2) den Ursprung des Leidens, 3) die Auslöschung des Leidens und 4) den Weg dorthin. Dieser Weg, der sogenannte Edle Achtfache Pfad, besteht aus der rechten Erkenntnis, der rechten Sicht, dem rechten Reden, dem rechten Tun, dem rechten Lebenswandel, dem rechten Streben, der rechten Achtsamkeit und der rechten inneren Sammlung. Die Vier Edlen Wahrheiten beinhalten, dass Leben Leiden heißt, dass dieses Leiden Ursachen hat, dass diese überwunden werden können und dass man dazu den Achtfachen Pfad beschreiten muss.
Unabhängig von der jeweiligen Theologie oder Philosophie muss man sein Leben leben. Viele leben es in einer Welt, in der an die Stelle des Prinzips Gott ein rationaler Humanismus getreten ist. Darin ist das Leiden schlicht und ergreifend Teil des Lebens. Die einzig konstruktive Antwort lautet, dass man sich dem Leiden stellen und es akzeptieren muss. »Aus dem Leiden gingen die stärksten Seelen hervor. Die kraftvollsten Charaktere sind mit Narben übersät«, schrieb Khalil Gibran (1883–1931). Das Leiden zu akzeptieren, bedeutet eine mutige, sachliche und insbesondere auch gesunde Einstellung. Die Psychologin und politische Journalistin Lesley Hazleton (* 1945) schrieb: »Einmal akzeptiert, verliert das Leiden seine Schneide, weil sich der Schrecken vor ihm verringert. Was übrig bleibt, ist im Allgemeinen weitaus besser zu bewältigen, als wir uns vorgestellt hatten«.