lion

Kapitel 26

Smitty kletterte den Baum herunter, über den er in Jessies Zimmer und wieder heraus geklettert war. Wenn er erst herausgefunden hatte, wie er sie ein für alle Mal zu der Seinen machen konnte, würde er diesen verdammten Baum abholzen. Über ihn war es zu einfach für jeden Drecksack, in ihr Zimmer zu gelangen. Aber an diesem Wochenende diente er definitiv seinem Zweck.

Als er sich auf den Boden fallen ließ, roch er einen Wolf und drehte sich eilig um, fand aber nur Johnny vor, der am Stamm eines anderen Baumes lehnte und ihn beobachtete.

»Junge.«

»Verlierer.«

Smittys Augen wurden schmal. Nein, nein. Keine gute Idee, den Kleinen jetzt schon grün und blau zu schlagen. Egal, wie sehr er es verdiente.

Sie starrten einander an, und Smitty war beeindruckt, dass der Junge den Blick nicht abwandte. Dafür sprach er als Erster.

»Tu ihr nicht weh.«

»Ich versuche es.«

»Tja, dann machst du deine Sache beschissen.«

»Vielleicht solltest du dich raushalten, Sohn. Bis du wirklich Reißzähne hast.«

Johnny warf einen Blick zu Jessies Fenster hinauf. »Diese Frau bedeutet mir die Welt. Wenn du ihr Leben versaust, tust du das auf eigene Gefahr, Landei.«

Er stolzierte davon, und Smitty lächelte. Der Kleine würde gefährlich werden, wenn er erst einmal ausgewachsen war.

Jess saß auf der Veranda, die Füße auf das Geländer gelegt und eine Tasse von Mays heißem, köstlichem Kaffee zwischen den Händen. Sie machten sich heute wieder auf den Heimweg. Zurück an die Arbeit. Zurück in ihr Leben. Was sie immer noch nicht wusste – ob ihr Leben auch Smitty mit einschloss. Sie hatten in der Nacht zuvor wieder miteinander geschlafen. Im Wortsinn. Vollständig angezogen. Hatten einander nur im Arm gehalten. Jess schlief wie ein Baby, so sicher und geliebt fühlte sie sich in Smittys Armen.

Sie musste diesem Idioten eindeutig auf die Sprünge helfen. Wenn sie auf ihn wartete, war sie alt und grau, bis er es endlich kapierte.

So genervt von der ganzen Sache, ging Jess an ihr Telefon, ohne auf die Rufnummer zu schauen.

»Jess hier.«

»Ich weiß.«

Jess’ Füße fielen auf den Boden, und sie runzelte die Stirn, als der Südstaatenakzent, der durchs Telefon ihr Ohr erreichte, ihr die Nackenhaare aufstellte.

Als sie nichts sagte, fuhr die Männerstimme fort: »Ich hätte Maylin ja direkt angerufen, aber die ist ja unfähig zu den einfachsten Entscheidungen. Und ich brauche Entscheidungen.«

Jess stand langsam auf und ging die Verandastufen hinunter. »Entscheidungen worüber?«

»Darüber, wie meine Tochter die nächsten zwei Jahre ihres Lebens verbringen wird. Mit euch? Oder mit mir und meinen Leuten?«

Jess entfernte sich weiter vom Haus, während sich eine rasende Wut in ihr aufbaute. »Sie wollen sie nicht.«

»Nein, aber ich werde sie nehmen. Die Gerichte sind wirklich nett, was diese Dinge angeht. Vor allem, wenn einem Vater sein Kind vorenthalten wird.«

Sie machte sich nicht die Mühe, das mit ihm zu diskutieren. Sie wussten beide, dass es eine Lüge war – eine Diskussion wäre nur Verschwendung von Atemluft gewesen.

»Also, was wollen Sie?«

»Viel. Ich will viel.«

»Das ist ziemlich vage.«

»Ich kann konkreter werden … persönlich.«

Sie blieb stehen. »Da bin ich mir sicher.«

»Wir können es hübsch und einfach machen, du und ich. Nur zwischen uns beiden.«

Jess schnaubte kurz auf.

»Was ist so lustig?«

Sie drehte sich zum Haus der Meute um. Es überraschte sie nicht, dass über die Hälfte der Erwachsenen dort stand und zuhörte. Ihr Wildhundgehör setzte sie ins Bild, ihre Loyalität untereinander leitete sie.

»Sie wissen wirklich nicht, was Sie getan haben, oder?«

Er lachte. »Ich lasse mich nicht von kümmerlichen Kötern einschüchtern.«

»Ich weiß«, seufzte Jess. »Aber das liegt daran, dass Sie dumm sind.«

Sie legte auf, bevor er noch etwas sagen konnte, ihr Blick war auf ihre Meute gerichtet. Sie hatte einen Versuch, um die Sache in Ordnung zu bringen, bevor die Hölle losbrach. Dann war es egal, mit wem Wilsons Meute gekoppelt war, wer seine Verwandten waren.

Nichts davon würde noch zählen, wenn der Schaden erst einmal angerichtet war.

»Beweg deinen Hintern, Sissy Mae!«

»Immer mit der Ruhe, Bobby Ray.«

Sissy Mae rannte die Treppe herunter, ihre Reisetasche über die Schulter geworfen. »Kein Grund, so zu drängeln.«

»Ich drängle, wenn ich es für nötig halte. Und jetzt mach endlich hin!«

Sie murmelte etwas Unflätiges und stürmte aus dem Haus. Smitty wollte ihr gerade folgen, als sein Telefon klingelte.

»Ja?«

»Hi. Hier ist Jess.«

Sein Herz hüpfte allein beim Klang ihrer Stimme, und Smitty lächelte. »Hey, Schätzchen. Wie geht’s?«

»Ich will dir wirklich keine Umstände machen, und du kannst nein sagen …«

»Was brauchst du, Jessie Ann?«

»Wilson hat mich angerufen.«

Smitty holte tief Luft. »Und?«

»Und entweder bezahlen wir ihn, oder er wird versuchen, Kristan zu bekommen. Das darf nicht passieren.«

Nein, das durfte es nicht. Er kannte die Wilsons, und er kannte Kristan. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass das süße kleine Mädchen auch nur zehn Sekunden auf Wilson-Territorium verbrachte.

»Dem Hintergrundgeräusch nach, als er mich anrief, glaube ich, er ist in New York.«

»Aber Mitch hatte tierische Schwierigkeiten, ihn zu finden.«

»Ich weiß. Phil auch. Aber wenn unsere besten Fährtensucher ihn nicht finden …« Er konnte hören, wie sie auf und ab ging, konnte ihre Anspannung durch das Telefon spüren. »Und es macht mir Sorgen, dass wir ihn nicht finden können. Das bedeutet, dass er sich versteckt. Warum?«

»Wir wissen beide warum, Jessie Ann.«

»Ja«, sagte sie mit tiefer Resignation. »Wir wissen beide warum.«

»Sag mir, was du brauchst, Jessie.«

»Hör zu, ich würde dich deshalb nicht stören …«

»Du störst mich nicht, Jessie.«

»… aber meine Meute ist ganz kurz davon entfernt, etwas zu tun, das … nicht gut wäre. Etwas, das uns die Smiths nie verzeihen könnten, glaube ich. Entweder verhindere ich das jetzt, oder ich lasse sie von der Leine.«

»Tu das nicht. Ich kann helfen.« Er wusste nur nicht, wie. Doch wie er ihre Meute inzwischen kannte, hatte er keinerlei Zweifel, dass sie schweren Schaden anrichten konnten, der einen Krieg zwischen den Smiths und den Kuznetsovs auslösen könnte und würde. Das durfte er nicht zulassen. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, denn …

Ronnie Lee kam zurück ins Wohnzimmer gestürmt. »Würdest du bitte aufhören, mich anzubellen«, schrie sie in Richtung Haustür. »Ich bin gleich wieder draußen!« Sie lächelte Smitty an, bevor sie in den Sofakissen herumwühlte. Nach ein paar Sekunden hatte sie ihren MP3-Player gefunden und machte sich wieder auf den Weg nach draußen.

»Hey, Ronnie Lee?«

Sie blieb stehen und schaute ihn erwartungsvoll an.

»Wohnt deine Tante immer noch hier draußen?«

»Ja, aber sie ist in Nassau County.«

»Meinst du, es würde ihr etwas ausmachen, wenn ich vorbeikäme?«

»Natürlich nicht. Sie hatte immer eine Schwäche für die Smiths, Bobby Ray.« Ronnie grinste und schnappte sich einen Stift und ein Stück Papier.

»Jessie Ann?«

»Ja?«

»Hast du Lust auf eine Tour, Schätzchen?«

»Bobby Ray Smith!«

Jess ging aus dem Weg, als eine Frau in den Vierzigern sich in Smittys starke Arme warf.

»Morgen, Annie Jo.«

Die berüchtigte Annie Jo Lucas. Jess hatte sie in liebevoller Erinnerung. Warum? Weil die anderen Frauen die Wölfin hassten. Sie hatte sich durch sämtliche männlichen Smiths in mindestens vier Bezirken in drei Staaten gearbeitet. Sie nahm sich, was sie wollte, und sie zog immer weiter, ohne sich noch einmal umzusehen. Ein paar Männer hatten versucht, sie zu besitzen, aber keiner war mit ihr klargekommen. Und wenn ihre Gefährtinnen herausfanden, dass sie irgendwann einmal mit Annie Jo zusammen gewesen waren, sorgte die Eifersucht für ein paar Nächte in einem kalten Bett.

Auf der Fahrt hatte Smitty erzählt, wie ein hässlicher Streit zwischen Annie Jo und ihrer älteren Halbschwester und Ronnie Lees Mutter, Tala Lee Evans, zu Annie Jos Bruch mit ihrer Meute und ihrem Umzug ausgerechnet nach Long Island geführt hatte. Doch Annie Jo vergaß ihre Familie oder die Meute, die sie zurückgelassen hatte, nie. Bis auf ihre Schwester waren alle Mitglieder der Smith-Meute eingeladen, jederzeit vorbeizukommen. Aber man durfte nicht bleiben. Nicht länger als eine Nacht. Nach wie vor blieb Annie Jo der klassische einsame Wolf.

»Ich hätte gleich daran denken sollen, mit ihr zu reden«, hatte Smitty gesagt, als sie den Southern State Parkway entlangrasten, »aber ich hatte diese heiße kleine Wildhündin im Kopf. Das hat mich abgelenkt.«

Eine lange Sekunde lang fragte sie sich, von welcher »heißen kleinen Wildhündin« er sprach und wie lange es wohl dauern würde, die Schlampe aufzuspüren und ihr die Eingeweide herauszureißen. Dann lächelte er sie an, und ihr wurde bewusst, dass er von ihr gesprochen hatte.

O Mann.

Jetzt standen sie auf der Türschwelle von Annie Jos Haus, und die Wölfin schien keine Eile zu haben, Smitty wieder loszulassen. Jess hätten all diese Umarmungen normalerweise nichts ausgemacht, wenn die Frau nicht immer noch unglaublich heiß gewesen wäre.

»Lass dich ansehen«, sagte Annie Jo endlich und neigte sich zurück, um Smitty besser sehen zu können, ohne ihn loszulassen. »Ist er nicht gutaussehend? Du erinnerst mich an deinen Onkel Eustice. Hübsch, hübsch, hübsch. Wie geht es denn dem hübschen Eustice?«

»Sitzt lebenslänglich im West Tennessee State ab.«

Annie Jo blinzelte. »Oh. Na gut. Irgendwie überrascht mich das nicht.« Endlich ließ sie ihn los und trat zurück. »Und jetzt kommt endlich rein. Na los!«

Sie betraten ein kleines, aber sauberes Haus mit bequemen, reichlich abgenutzten Möbeln und einer Menge Bilder auf dem Kaminsims und den Bücherregalen. Ein kleines Klavier nahm eine Ecke des Wohnzimmers ein, und Jess erinnerte sich, dass Annie Jo früher Unterricht gegeben hatte. Nachdem sie die Stadt verlassen hatte, hatte die Zahl der Jungen, die Klavierstunden nahmen, rapide abgenommen.

»Annie Jo, das ist …«

»Jessica Ann Ward. Wie könnte ich so ein hübsches Gesicht vergessen?« Annie Jo umarmte sie, und Jess ließ es widerstrebend über sich ergehen. »Ich sehe, du bist noch hübscher geworden.«

»Danke.«

»Wollt ihr Kaffee oder heiße Schokolade?«

»Sehr gern.«

Annie Jo führte sie in die Küche und ließ sie am Küchentisch Platz nehmen. Sie holte frische Zimtschnecken heraus, während sie Kaffee aufbrühte und für Jess heiße Schokolade machte.

Als Jess den ersten Schluck nahm, konnte sie nichts weiter denken als: Heirate mich.

»Also, was kann ich für dich tun, mein lieber Bobby Ray?«

Smitty stellte seinen Kaffee ab. Er hatte schon drei Zimtschnecken verschlungen, während der Kaffee durchlief. Jetzt griff er nach der vierten.

Gott, der Mann ist ein Fass ohne Boden.

»Ich brauche deine Hilfe«, sagte er.

»Hilfe wobei?«

»Ich versuche, jemanden zu finden.«

Ihre bernsteinfarbenen Augen, die so hell waren, dass sie gelber und hundeartiger aussahen, als Jess es in Erinnerung hatte, musterten Smitty scharf. »Du meinst Walt Wilson?«

Smitty hörte auf, den Zuckerguss von seinen Fingern zu lecken, was Jess schlicht verrückt machte. Wie sollte sie sich konzentrieren, wenn er das unbedingt tun musste? »Du hast von ihm gehört?«

Mit einem Seufzen stand Annie Jo auf und ging zu ihrem Kühlschrank hinüber, um Kaffeesahne heraus- und Zucker vom Regal zu holen. Sie bot Smitty davon an, der abwinkte, und goss ein wenig davon in ihren Kaffee, bevor sie weitersprach. »Vor ungefähr vier Wochen sind er und seine Gefährtin hier aufgetaucht und sahen aus, als hätten sie schon bessere Tage gesehen. Ich weiß, dass er gehofft hatte, ich würde ihn länger bleiben lassen, aber ich habe eine Regel: Hier bleibt man eine Nacht, und wirklich nur eine. Ansonsten würde ich keinen von ihnen je wieder los. Sämtliche Smiths würden sich aufführen, als wäre das hier ein Bed & Breakfast, wenn sie New York besichtigen.« Sie brachte die Sahne in den Kühlschrank zurück, bevor sie sich wieder setzte und Jess ansah. »Ich kenne seinen Daddy, verstehst du? Hatte mal was mit ihm, als ich achtzehn oder neunzehn war.« Sie zuckte die Achseln. »Es war nicht der beste Ritt meines Lebens, aber es war auch nicht der schlechteste. Zumindest ist Walt Junior klüger als sein Daddy. Wenn auch nicht viel. Jedenfalls tauchten am nächsten Morgen ungefähr drei weibliche und ein männlicher Wolf auf, und weg waren sie.«

»Weißt du, wohin sie wollten?«

Sie nippte an ihrem Kaffee, und ihre schlauen Augen beobachteten Smitty. »Warum fragst du?«

»Meinetwegen«, schaltete sich Jess ein. »Weil ich ihn finden muss.«

»Er hat etwas hiergelassen.« Sie stand auf und verschwand aus dem Raum, rief aber durch die Türöffnung herüber: »Er hat am nächsten Tag deswegen angerufen, und ich sagte, ich hätte es schon weggeworfen, weil ich ihn nicht noch mal hier haben wollte.«

Annie Jo kam wieder herein. »Ich fand es komisch, dass er wegen so etwas anruft, deshalb habe ich es mir angeschaut. Und ich habe das hier gefunden.«

Sie legte eine Ausgabe des Wired Magazine auf den Tisch. »Bist das nicht du, Jessie Ann? Im Hintergrund? Mit dem Schwert?«

Jess zuckte zusammen. Dieser verdammte Artikel! Sie hatten recht erfolgreich dafür gesorgt, ihre Namen und Infos aus den Zeitungen herauszuhalten, bis Wired vor ungefähr sechs Monaten einen Beitrag über die Firma gebracht hatte. Im Hintergrund eines der Fotos konnte man, wenn man genau hinsah, Phil und Jess mit den römischen Kurzschwertern kämpfen sehen, die sie damals gerade bestellt hatten. Danny, May und Sabina schauten zu und lachten. Als sie das Foto sahen, dachten sie alle, niemand würde sie so weit im Hintergrund bemerken.

Dann hatte die Frau von der Personalabteilung erzählt, dass sie wegen dieses einen Artikels tonnenweise Bewerbungen zugeschickt bekämen. Warum? Weil jeder die »Besitzer« im Hintergrund beim Schwertkampf sah. Mit anderen Worten: »Was für ein cooler Arbeitsplatz!«

Toll für ihren Bewerberpool, aber schlecht, wenn Verlierer wie Walt Wilson auftauchten.

»Ja, Ma’am. Das bin ich.«

»Aber er hat sie eingekreist.« Sie deutete auf den schwarzen Filzstiftkreis um May. »Warum?«

Wenn sie ihre Hilfe wollten, mussten sie ehrlich mit ihr sein. Annie Jo musste wissen, warum sie Familienmitglieder verpfeifen sollte.

»Das ist Maylin. Sie gehört zu meiner Meute. Sie wurde vor sechzehn Jahren von Wilson schwanger. Aber er kümmert sich nicht um das Kind. Jetzt will er Geld, und benutzt ihre Tochter als Druckmittel.«

Annie Jo setzte sich wieder. »Ja, ich hatte schon befürchtet, dass du so etwas erzählst. Die Wilson-Männer sind verschrien. Sie schwängern Mädchen und sind sofort wieder weg. Dann wollen sie nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Wisst ihr, ich war sehr vorsichtig, denn ich habe einmal einen Schrecken bekommen, als ich fünfzehn war, und habe mir geschworen, dass das nie wieder vorkommt. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass eine meiner Schlampen von Schwestern herausfindet, dass ich schwanger bin. Die Hölle wäre losgebrochen. Abgesehen davon wollte ich nie Kinder. Also habe ich immer verhütet und dafür gesorgt, dass jeder Mann, mit dem ich je Sex hatte, Kondome benutzt hat. Eines darf man bei Wolfsmännern nie vergessen, ob Smiths oder andere: Sie sind wahnsinnig fruchtbar. Als Frau muss man sich schützen. Stimmt’s etwa nicht, Bobby Ray?«

»Sie hat recht. Was mich an etwas erinnert.« Er tätschelte Jess’ Arm. »Ich muss mich mit Johnny über Kondome unterhalten.«

Jess richtete sich abrupt auf. »Entschuldige. Was?«

»Wer ist Johnny?«

»Ihr Pflegesohn. Ein Wolf. Sie wird ihn adoptieren. Aber er ist gerade siebzehn geworden.«

»Ach, du meine Güte!«, rief Annie Jo lachend aus. »Ja, Schätzchen. Er muss mit ihm darüber reden. Und zwar schnell. Das Smith-Mantra: Kondome, Kondome, Kondome.«

»Vielen Dank, aber das kann ich mit meinem Sohn besprechen.«

Annie Jo verdrehte die Augen. »Schätzchen, du kannst mit diesem Jungen nicht übers Vögeln reden. Das geht einfach nicht. Er würde durchdrehen. Lass es Bobby Ray machen. Ihr seid zusammen, oder?«

»Ja.«

»Nein.«

Jetzt verdrehte Annie Jo entnervt die Augen. »Wie ihr meint.«

»Ich verstehe nicht, warum wir das jetzt besprechen müssen.«

»Müssen wir nicht. Aber ich muss bald mit ihm reden.« Smitty grinste Annie Jo an. »Maylins Tochter ist sechzehn und eine Sahneschnitte.«

»O Gott!«, rief Annie Jo wieder aus. »Schätzchen, du lässt ihn wirklich besser mit dem Jungen reden, oder ihr habt bald ein kleines Problem.«

»Phil und Danny können es machen.«

»Sie sind auch Wildhunde, oder? Sie können diesem Jungen nicht sagen, was er wissen muss. Du brauchst Bobby Ray dafür.«

»Warum?«

»Wölfe sind anders. Mit, sagen wir mal, fünfzehn bis siebzehn tritt ihre Aggression ein.«

»Johnny ist nicht aggressiv.«

»Er hat mich im Aufzug angeknurrt«, erzählte ihr Smitty aus heiterem Himmel.

»Was hat er?«

»Wäre die kleine Kristan nicht dabei gewesen, wäre er mir an die Kehle gegangen.«

»Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Was gibt es da zu erzählen?«

Jess machte den Mund auf, um ihn anzuschreien, als Annie Jo ihr beruhigend die Hand auf den Unterarm legte.

»Bevor du ihm den Kopf abreißt, musst du verstehen, dass Wölfe und Wildhunde verschieden sind. Sie wachsen verschieden auf. Du zählst natürlich nicht, weil du der einzige Hund in einer Stadt von Wölfen warst. Aber es ist so: Von fünfzehn bis siebzehn sind männliche Welpen männlichen erwachsenen Wölfen gegenüber aggressiv. Sie greifen sie im Nu an und bekommen jedes Mal einen Arschtritt. Sie brauchen diese Art von Disziplin, und es stört sie auch nicht weiter. Bubba war natürlich … ach, egal. Aber wenn sie achtzehn werden, wird ihre Aggression zu einem Grad an Geilheit, den du nie gesehen hast. Sie würden verdammt noch mal fast alles vögeln.«

Jess schnaubte. »Das stimmt nicht ganz.«

Smitty knurrte: »Ich bin aus einem guten Grund gegangen!«

»Bell mich nicht an!«

»Er ist wahrscheinlich aus zwei Gründen gegangen«, schaltete sich Annie Jo ein. »Erstens weil er keine Kondome hatte. Bubba Smith hat jedem seiner Söhne die »Kondome, Kondome, Kondome«-Regel eingebläut. Er hat dafür gesorgt, dass sie Kondome in ihren Trucks, in ihren Schultaschen, sogar in ihren Büchern stecken hatten. An jedem Platz, der ihm einfiel, und gnade dir Gott, man benutzte sie besser. Bubba wollte keinen Haufen Enkel herumrennen haben, weil er wusste, dass seine Söhne tonnenweise davon produzieren würden, wenn sie erst einmal eine Gefährtin hatten. Leider hatten die Wilsons nicht dieselbe Philosophie.«

»Und was, bitte schön, ist der zweite Grund?«

Annie Jo lächelte. »Der zweite Grund ist, dass du etwas Besonderes warst, Jessie Ann. Alle in der Stadt wussten das. Warum glaubst du wohl, waren die Mädchen hinter dir her? Aber das ist jetzt alles nicht so wichtig. Ihr könnt das unter euch ausmachen, denn in ungefähr fünf Minuten kommt einer von meinen Schülern.«

Smitty nickte. »Wo ist er, Annie Jo?«

»In der Bronx.« Sie stand auf, öffnete eine der Küchenschubladen und holte einen Block heraus. Sie riss das oberste Blatt ab. »Hier. Nimm es. Ich will den Jungen nicht wieder hier haben. Aber ich will dir etwas sagen, Jessie Ann. Das Beste, was Walt Junior wahrscheinlich je getan hat, war, diese kleine Maylin fallen zu lassen. Wilsons Gefährtin kann nicht älter sein als Ende zwanzig, Anfang dreißig. Aber sie sieht viel eher aus wie Mitte vierzig. Sie behandeln ihre Frauen wie Dreck, und das für sehr wenig Lohn.«

»Maylin ist jetzt verheiratet«, sagte Jess mit echtem Stolz. »Und ihr Mann liebt sie und ihre Tochter.«

»Da hast du’s. Das ist alles, was zählt.«

Es klingelte an der Tür, und Annie Jo stand auf. »Also gut, ihr beiden. Zeit zu gehen.«

Sie konnte sie nicht schnell genug zur Tür schieben. Doch als Jess Annie Jos »Schüler« sah, wurde ihr auch klar, warum.

Jess kannte nicht viele männlich aussehende Fünfundzwanzigjährige, die mitten in der Vorstadt Klavierstunden nahmen.

»Curtis, geh doch schon mal ins Wohnzimmer und warte dort auf mich, ja? Ich bin gleich da.«

Die Frau mit Blicken verschlingend, nickte er. »Ja, Ma’am.«

Annie Joe begleitete sie hinaus zu Smittys Truck. »Also, wenn ihr sonst noch etwas von mir braucht, sagt einfach Bescheid. Und ihr könnt natürlich jederzeit vorbeikommen.«

Sie küsste und umarmte zuerst Smitty, dann Jess. Doch bevor sie in den Truck steigen und wegfahren konnten, fügte sie hinzu: »Und du sei vorsichtig, Bobby Ray. Dieser Junge ähnelt seinem Daddy sehr, und du kannst über Bubba Smith sagen, was du willst, aber er kämpft fair. Von den Wilsons kann ich das nicht behaupten. Vergiss aber nicht, dass sie zur Familie gehören.« Sie deutete auf Jess. »Und sie nicht.«

»Danke, Annie Jo.«

»Sehr gerne. Und jetzt ab mit euch. Viel Glück.«