lion

Kapitel 8

Jess brauchte den Rest der Nacht und den größten Teil des Tages, um sich an den Buick zu erinnern. Der Buick, in dem die zwei Wölfinnen vor dem Museum weggefahren waren. Es war ihr merkwürdig vorgekommen, als sie ihn sah; jetzt wusste sie wieder, warum. All diese langen Diskussionen, als sie gerade die immer noch schluchzende May kennengelernt hatte, über den Buick ihres Freundes und das ganze »Herummachen«, das auf diesem Rücksitz passiert war. Wie konnte es sein, dass der Kerl immer noch im selben Auto herumfuhr? Und wenn es sein Auto war, wer waren die Wölfinnen? Sie beunruhigten Jess, aber sie machten ihr keine Angst. Nicht, nachdem sie zwei Jahre lang unter den Smith-Wölfen gelebt hatte.

Ihr großes Problem war, ob sie es dem Rest der Meute erzählen sollte. Als sie ein paar Minuten frei hatte, hatte sie sich Phil geschnappt, aber das war schnell zu einem ihrer Streits ausgeartet, bei denen sie beide ständig dasselbe sagten, aber trotzdem weiterstritten.

Leider ahnten Jess und Phil nicht, dass Sabina in der Tür stand, bis sie bellte. Und sie hatte auch noch dieses hohe, kläffende Bellen.

Jess und Phil zuckten schuldbewusst zusammen.

Sabina musterte sie mit wissendem Blick, wie sie es bei jedem tat. »Was diskutiert ihr beide so hitzig?«

Jess drehte sich zu ihrer Freundin um und antwortete: »Unsere heiße Affäre?« Das wäre vielleicht glaubwürdiger gewesen, wenn sie es nicht als Frage formuliert hätte.

»Eure heiße Affäre?«

»Ja, ich und Phil. Schon seit Jahren. Heiß und heftig. Stimmt’s, Phil?«

Er starrte seine Frau an, und Jess musste ihm den Ellbogen in die Brust rammen, um eine Antwort hervorzurufen. »Richtig. Klar. Heiß und heftig.«

Sabina verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr zwei seid jämmerlich. Jämmerliche Lügner. Und jetzt sagt mir die Wahrheit.« Als sie weiterhin schwiegen, fügte sie hinzu: »Sagt es mir. Oder ich verwandle mich, und dann fängt das Pinkeln an.«

Ein weiblicher Hund, der nur zum Spaß das Hinterbein hob – das war keine leere Drohung.

Jess hob die Hände. »Okay! Okay!« Sie konnte es genauso gut gleich angehen. »Schnappen wir uns die anderen und bringen wir es hinter uns.«

»Du musst es ihr sagen.«

»Warum kann es nicht warten? Bis sie nach Hause kommt?«

Kristan verdrehte die Augen. »Also ehrlich! Man könnte meinen, ich würde deinen dämlichen Hintern in die Gaskammer zerren.« Und sie zerrte ihn wirklich, denn er weigerte sich, selbst zu gehen.

Während sie Johnny in das Gebäude zog, lächelte sie die Frau hinter der Rezeption an. »Hi, Paula. Sind meine Eltern und Jess oben?«

»Natürlich. Geh nur rauf, Liebes.«

»Danke.« Der Trottel bewegte sich noch langsamer, aber sie riss umso fester an ihm und zog ihn den ganzen Weg bis zum Aufzug. »Ich schwöre! Du machst so ein Drama daraus!«

Sie warf dem Mann, der auf den Aufzug wartete, einen Blick zu, lockerte aber nicht ihren Griff um Johnnys Arm. Sein Geruch erinnerte sie an den von Johnny, und angesichts seiner Größe wurde ihr bewusst, dass sie wohl zur selben Rasse gehörten. Und Mann, war der süß!

Die Türen gingen auf, und der Wolf trat in den Aufzug. Sie folgte ihm, musste Johnny aber immer noch schleppen. Der Wolf drückte den obersten Knopf, und die Türen schlossen sich.

»Und zu wem wollen Sie?«, fragte sie, denn sie wusste, dass er nur nach oben durfte, wenn die Meute ihn oben haben wollte.

»Jessie Ann.«

Sie prustete und erntete eine hochgezogene Augenbraue. »Wir alle nennen sie Jess«, erklärte sie.

»Ich kannte sie schon vor langer Zeit, als sie einfach Jessie Ann war.«

»Ich bin Kristan. Das ist Johnny.«

»Nett, euch kennenzulernen. Ich bin Bobby Ray Smith, aber ihr könnt mich Smitty nennen.«

Sie lachte ein wenig. »Sie klingen genau wie meine Mom. Der Akzent.«

»Dann bist du also Mays und Dannys Tochter.«

Ihr gefiel, dass er nicht, nur weil sie asiatisch aussah, automatisch annahm, dass sie Maylins Tochter sein musste. »Yup.«

Kristan warf Johnny einen Blick zu, überrascht, dass er noch nichts gesagt hatte. Aber sie war nicht darauf vorbereitet, dass er den Wolf – den viel größeren Wolf – finster anstarrte, als glaube er wirklich, er könne es mit ihm aufnehmen. Na großartig. Jetzt beschloss sein Testosteron, sich zu melden?

Smitty starrte zurück; auch wenn sein Körper lässig an der Wand lehnte, verrieten ihr seine Augen, dass er sich alles andere als lässig fühlte. »Hast du ein Problem, Mann?«

Es war ein leises Knurren, aber es kam aus Johnnys tiefstem Inneren. Erschrocken trat Kristan zwischen die beiden, die Hand an Johnnys Brust.

»Also«, sagte sie viel zu eifrig, »wie war Jess denn damals? Hatte sie ständig die Nase in einem Buch? Ich wette, das hatte sie. Sie hat ungefähr eine Tonne Bücher. Zeug, für das man mir gar nicht genug zahlen könnte, damit ich es lese. Langweilig, langweilig, langweilig. Aber ich mag …«

»Himmel«, fuhr Johnny sie an, »hör auf zu faseln!«

Sie hatte gewusst, dass es funktionieren würde. Johnny hasste es, wenn sie plapperte. Aber das Wichtigste war: Sie hatte eine Situation entschärft, mit der sie wirklich nicht hätte umgehen wollen.

Sie fragte sich kurz, ob diese Fähigkeit in ihren Genen lag. Ihre Mom konnte das auch.

Smitty verließ den Aufzug und gab sich große Mühe, nicht zu lächeln. Der Junge hätte es nicht besonders geschätzt, wenn er es getan hätte. Smitty war nicht sauer. Er hatte keinen Grund dazu. In diesem Alter war es normal, erwachsene Wölfe herauszufordern. Das gehörte zum Erwachsenwerden. Genauso wie das Recht, von erwachsenen Wölfen den Hintern versohlt zu bekommen. Natürlich konnte es sein, dass der Junge, da er in einer Meute von Hunden aufwuchs, zum ersten Mal das Bedürfnis hatte, es mit einem Mann aufzunehmen, den er nicht einmal kannte. Offensichtlich war es zumindest das erste Mal, dass die kleine Kristan es mitbekam.

Gemeinsam betraten die drei das Büro.

Zweiergruppen von gegenüberstehenden Schreibtischen zogen sich in einer Reihe durch die Mitte des Raumes. Nur ein Büro befand sich in einer Ecke. Obwohl es eine Tür besaß, konnte man es nicht privat nennen, denn es bestand komplett aus Glas. Die Tür, die Fenster … alles aus Glas.

Auf dem Boden lagen überall Spiele und Spielzeug herum. Auf einigen Terminals konnte er angehaltene Computerspiele erkennen, und es gab mehrere Fernseher mit den neuesten Spielekonsolen daran. Poster der Star-Wars- und Herr-der-Ringe-Trilogien, von Flucht ins 23. Jahrhundert, Jäger des verlorenen Schatzes – von sämtlichen Nerd-Filmen, die je gedreht wurden – schmückten die Wände. Außerdem hatten sie lebensgroße Aufsteller von Star Wars, Xena, die Kriegerprinzessin und Raumschiff Enterprise.

Und Smitty hatte gedacht, Mace sei zu weit gegangen, als er in die dezenten zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter großen Bleistiftzeichnungen einer Küstenlandschaft für den Kundenbereich ihres Büros investiert hatte. Wie diese Wildhunde irgendetwas erledigt bekamen, war Smitty ein Rätsel.

»Das ist eigenartig«, sagte Kristan leise. »Wo sind denn alle?«

Es wirkte tatsächlich seltsam, dass niemand hier war, obwohl es noch nicht einmal sechs war.

Smitty hätte es Jessie Ann zugetraut, dass sie vor ihm davonlief, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass der Rest der Meute mit ihr wegrannte. Allerdings hatte er natürlich immer wieder gehört, dass Wildhundmeuten sich ungewöhnlich nahestanden.

Er schnupperte und ging zum hinteren Bereich des Büros, die zwei Welpen folgten ihm. Die Hintertür führte in einen langen Flur, der noch im Bau zu sein schien. Jessies Geruch führte ihn den Flur entlang, an Toiletten und Abstellräumen vorbei, bis er auf eine Flügeltür stieß. Smitty drückte sie auf und ging die Treppe hinunter.

Eine Tür führte nach draußen. Ein Notausgang, schätzte er. Er konnte hören, wie ihre gedämpften Stimmen abrupt schwiegen, als sie jemanden auf der anderen Seite der Tür spürten.

Smitty ging direkt darauf zu; er hörte das Flüstern auf der anderen Seite – und das Schnüffeln. Er grinste die Welpen an und bellte laut: »Was tut ihr da?«

Zuerst schrien sie überrascht auf. Sie alle, Männer wie Frauen, kreischten wie ein Haufen kleine Mädchen. Dann begannen sie zu lachen und hörten nicht mehr auf. Irgendwann öffnete Smitty die Tür und fand sie auf dem Boden sitzend und lachend vor, wie nur Hunde es konnten.

Albern. Das war das beste Wort, das ihm für sie einfiel. Albern.

»Also«, sagte er zu ihnen, den Blick aber auf Jessie gerichtet, »kann ich euch irgendwie helfen?«