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Kapitel 9

Okay, ja, sie hatte ihn angelogen. Und sie wussten es beide. Sie wussten beide, dass sie sich eine Story zusammengesponnen hatte, dass jemand durch den Notausgang in ihr Büro einbrechen wollte. Sie hatte ihm die Geschichte sogar mit einem ehrlichen Gesichtsausdruck serviert, aber sie konnte es in seinem Blick erkennen. Er glaubte ihr kein Wort. Zu schade. Er gehörte nicht zur Meute. Nicht zu ihrer Meute. Deshalb war es nicht sein Problem. Und die Tatsache, dass sie ihm nichts sagen wollte, ärgerte ihn maßlos.

Jess war das aber egal. Sie hatte im Moment größere Probleme.

May hatte die Nachricht über die mögliche Rückkehr ihres Ex nicht sehr gut aufgenommen. Sie war in verzweifelte, panische Tränen ausgebrochen, war davongelaufen und zum Hinterausgang hinausgerannt, bis Danny sie einholte. Dann standen die fünf in der Kälte und taten ihr Möglichstes, sie zu beruhigen.

Danach hatten sie die Strategie und ihre nächsten Schritte besprochen. In diesem Stadium die ganze Meute zu informieren, wäre nicht gut, denn es bestünde die Gefahr, dass es sich wie der Blitz durch die Welpen-Gerüchteküche verbreitete und bei Kristan landete. Sie würden den Rest der Meute auf Trab bringen, wenn es nötig wurde.

Jetzt dagegen musste sie mit einem neugierigen Wolf fertigwerden. Ein neugieriger Wolf, der wusste, dass sie log. Sie standen sich direkt gegenüber, während er sie ausfragte und versuchte, ihr ein Bein zu stellen, um die Wahrheit herauszufinden. Sie stolperte nicht. Sie hatte das Lügen gelernt, damals, als die Meute noch Windeln und Babynahrung für die neu angekommene Kristan stahl. Es machte Jess nichts aus zu lügen, um ihre Meute zu beschützen; wenn Smitty also hoffte, irgendwelche Schuldgefühle in ihren Augen zu finden, brauchte er gar nicht erst zu suchen. Sie hatte keine.

Irgendwann, als ihm bewusst zu werden schien, dass seine Fragen sie nicht im Mindesten verwirrten, schnappte Smitty das Handy, das an seiner Jeanstasche hing, und klappte es auf.

Stirnrunzelnd fragte Jess: »Wen rufst du an?«

»Mace. Wenn Leute versuchen einzubrechen – und das willst du mir ja sagen, richtig?« Sie nickte, während sie einander finster ansahen. »Dann müssen wir dieses Gebäude abriegeln. Heute Abend.«

»Abriegeln?« Abriegeln klang teuer. »Ich erinnere mich nicht, gesagt zu haben, dass wir das bezahlen.«

»Hast du auch nicht. Aber ihr werdet bezahlen.«

Jess’ Augen wurden schmal, und sie streckte den Arm aus, um seine Nippel zu verdrehen, doch May schlug ihre Hand herunter.

Wie immer versuchte May, die Lage zu glätten. Mit falscher Fröhlichkeit fragte sie ihre Tochter, die das Machtspiel zwischen Jess und Smitty mit offensichtlichem Eifer verfolgt hatte: »Und was tut ihr hier?«

Kristan schnappte Johnny am Kragen und riss ihn nach vorn. »Johnny hat euch etwas zu sagen, Leute.«

Doch Johnny sah aus, als wäre er lieber eine Million Kilometer von hier weg.

»Na los«, drängte Kristan. »Sag es ihr.«

Mit einem Seufzen zog Johnny einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn Jess. Sie fürchtete sich fast davor, ihn zu nehmen. Was nicht überraschte, da die meisten Umschläge, die irgendeins der Kinder nach Hause brachten, normalerweise von ihrer Schule kamen und es um etwas ging, das sie getan oder nicht getan oder gesagt oder besser nie gesagt hätten.

Ohne den Umschlag anzusehen, zog Jess das zerknitterte, aber hochwertige Papier heraus und las es kurz durch.

Mit einem tiefen Atemzug schaute sie zu Johnny auf. »Du bist drin.«

»Warte. Was?« May schnappte sich den Brief, und die anderen beugten sich vor, um mitzulesen. »Er ist nicht nur drin«, sagte sie schließlich, »er hat ein volles Stipendium!«

Ohne einen von ihnen ansehen zu wollen, zuckte Johnny abschätzig mit den Schultern. »Es ist nur ein Sommerkurs.«

»Du bist drin«, sagte Jess wieder. Dann warf sie sich auf ihn.

»Okay. Wir sehen uns, wenn du hier bist.« Smitty klappte sein Handy zu und klemmte es wieder an seine Jeans. Er drehte sich, um Jessie zu sagen, dass Mace und der Rest seines Teams in der nächsten halben Stunde auftauchen würden, und stellte fest, dass sie, May und Sabina sich auf den Jungen gestürzt hatten. Sie hatten die Arme um ihn geschlungen und drückten ihn. Ein Teil von ihm wurde irgendwie ein bisschen sauer darüber, bis der Kleine ihn ansah. Er konnte es in den Augen des Jungen lesen – ein deutliches Flehen um Hilfe.

Er ging hinüber und hörte Jess sagen: »Ich bin so stolz auf dich.«

»Das sind wir alle«, fügte May hinzu.

Johnny sah aus, als hätte er alles gegeben, wenn er die Frauen von sich hätte stoßen und fliehen können. Natürlich hätte das nie funktioniert. Sie waren schnell. Sie hätten ihn einfach wieder eingefangen.

»Mace ist auf dem Weg hierher«, sagte er zu Jessies Rücken. »Er sagte, er sei nicht überrascht, dass er eingreifen und euch helfen muss. Da Sicherheit ja nicht gerade eure Stärke ist.«

Es dauerte eine Sekunde, bis zu Jessie durchdrang, was er gesagt hatte; dann schob sie Johnny weg und wandte ihre komplette Aufmerksamkeit Smitty zu. May, die ewige Friedensstifterin, stellte sich zwischen sie, und Sabina grinste und freute sich auf einen guten Kampf.

»Er hat was gesagt?«, wollte Jessie wissen.

Und hinter ihrem Rücken schickte ihm Johnny ein tonloses »Danke!«.

Jess hatte keine Ahnung, wie die ganze Sache außer Kontrolle geraten war. Sie hatte einen haarigen Löwen erwartet, nicht ein ganzes Team von Gestaltwandlern, die ihr Gebäude und sie selbst übernahmen.

Mace kam ständig in ihr Büro und bat sie, Dinge zu genehmigen. Wenn sie fragte: »Was genehmigen?«, schenkte er ihr seinen entnervten Katzenblick, und sie unterschrieb.

Sie zahlte wirklich einiges für eine Lüge.

Smitty kam in ihr Büro und lehnte sich an den Türrahmen. »Du hast Mitch erzählt, dass du glaubst, es könnte noch einen anderen Weg hier herein geben.«

Jess seufzte und rieb sich die Stirn.

»Stimmt was nicht, Jessie Ann?«, fragte Smitty und klang viel selbstzufriedener, als es ihr nötig erschien. »Etwas, das du mir sagen solltest, bevor das Ganze hier noch weiter geht?«

Jess ließ die Hände auf den Schreibtisch fallen und zwang sich zu einem Lächeln. »Nein, ich hab nichts zu sagen.«

Sie stand auf und führte Smitty durchs Büro und den langen Flur entlang, der zu den Toiletten und zum Notausgang führte. Sie nahm ihn mit in einen der Räume mit sicheren Servern. Zusammen zogen sie eine Metallkiste mit alten Computerteilen von der Wand weg und kauerten sich neben einen Belüftungsschacht.

Sie zuckte die Achseln. »Es ist nicht riesig, aber …«

»Es ist groß genug.«

Mit einer Hand fasste er das Gitter, das den Schacht verschloss, und zog versuchsweise daran. Ein Ruck, und das Gitter und zehn Zentimeter Trockenmauer um das Gitter herum waren herausgerissen.

Smitty sah sie an. »Hoppla.«

»Hoppla? Mehr hast du nicht zu sagen? Hoppla?«

»Ich hatte vergessen, wie stark ich bin.«

Prustend und mit dem Gefühl, dass die Anspannung der letzten zwei Stunden zwischen ihnen sich löste, schubste Jess Smitty spielerisch an der Schulter – allerdings hätte sie auch eine Ziegelwand schubsen können.

»Das hier hättest du sowieso zumachen müssen«, sagte er, während er das Gitter mit den Mauerresten zur Seite stellte.

»Brauchen wir keine Belüftungsschächte … du weißt schon, zum Atmen und so?«

»Doch, Miss Klugscheißerin. Aber es gibt Mittel und Wege, dafür zu sorgen, dass sie sicher sind.«

»Hast du mich gerade Miss Klugscheißerin genannt?«

»Das bist du doch.« Smitty zog eine kleine Taschenlampe aus seiner hinteren Hosentasche und beugte sich nieder, um in den Lüftungsschacht zu schauen. »Gibt es hier in diesem Gebäude überhaupt etwas, wofür jemand hier einbrechen wollte?«

»Computerausrüstung, denke ich. Aber es wäre ein ziemlicher Aufwand, die Schreibtischrechner hier rauszubringen, denn sie sind alle an ihren Schreibtischen angeschlossen. Und wir erlauben niemandem, im Büro Laptops zu benutzen, außer der Meute. Und wir nehmen unsere mit, egal, wo wir hingehen.«

»Hmmm. Und warum sollte dann jemand versuchen, hier einzubrechen, Jessie Ann? Denn es sieht nicht aus, als hättet ihr viel zu stehlen, was nicht weggeschlossen ist.«

Sie antwortete ihm nicht, und das wunderte ihn nicht. Smitty wusste, wenn ihn jemand anlog, und Jessie Ann log sich ihren süßen kleinen Arsch ab. Etwas stimmte nicht. Ganz und gar nicht. Und die ganze Sache mit dem »Büroabriegeln« war lediglich ein Versuch, sie aufzurütteln. Er hatte nicht geahnt, dass sie es durchziehen würde. Smitty war sich sicher gewesen, dass sie oder einer ihrer Freunde der Sache Einhalt gebieten würde, sobald ihr klar würde, wie viel es sie kosten würde. Im Lauf der Zeit hatte er versucht, jeden Einzelnen von ihnen zu Fall zu bringen, und hatte so schließlich die Leute kennengelernt, die Jessie nahestanden, inklusive »Tanzhund Phil«. Aber sie hielten den Mund und unterschrieben, was auch immer das Team vor sie hinlegte, bis Sabina etwas davon murmelte, Smittys Firma auf ein Pauschalhonorar umzustellen.

Sture kleine Mistkerle waren sie.

Mit einem müden Seufzen setzte sich Jessie mit dem Rücken an die Wand gelehnt auf den Boden. »Ich hätte mir Kaffee holen sollen. Jetzt bin ich zu müde, um aufzustehen und mir einen zu besorgen.«

»Soll ich dir welchen holen?«

Sie lächelte schwach. »Nein, aber danke für das Angebot.«

Smitty schaltete die Taschenlampe aus, schloss die Tür und setzte sich neben sie. Sein Bein berührte ihres, und er spürte, wie sich ihr Körper ein klein wenig anspannte.

»Also gut, Jessie Ann, spuck’s aus. Was verschweigst du mir?«

»Nichts.« Und hätte er sie nicht gekannt, dann hätte er ihr wahrscheinlich geglaubt.

»Frau, du lügst mich an. Ich kann dir nicht helfen, wenn du mich anlügst.«

»Ich habe nicht um deine gottverdammte Hilfe gebeten!«

Smitty beugte sich vor und legte die Arme auf seine angezogenen Knie. »Ich habe fest vor, sauer zu werden, Jessie.«

»Du hast vor, sauer zu werden?«

»Ja.«

»Warum wirst du nicht einfach gleich sauer?«

»Ich bin noch nicht so weit. Aber es wird passieren, wenn du nicht anfängst, mit mir zu reden.«

Jessie stand auf. »Ich habe nichts zu sagen.«

Er sah zu, wie dieser süße kleine Hintern durch den Raum zur Tür ging. Hatte sie das etwa tragen wollen, wenn sie am Abend mit ihm ausging? Eine zerrissene schwarze Jeans mit einer grauen Thermohose darunter, ein Hockeytrikot der Chicago Blackhawks, das ihr bis zu den Knien reichte, und weiße, knöchelhohe Turnschuhe?

Vielleicht versuchte sie ein bisschen zu sehr, sich keine Mühe zu geben? Wenngleich er jetzt nichts weiter wollte, als ihr diese Kleider auszuziehen und zu sehen, was zum Henker sie versteckte.

Warum musste sie ihn unbedingt wahnsinnig machen? Tja, wenn sie Tauziehen wollte, war er dabei.

Sie hielt schon die Klinke in der Hand, als er fragte: »Hat das etwas mit dem Kuss zu tun?«

Und er fühlte sich beinahe wirklich schlecht, als ihr die Tür voll ins Gesicht knallte.

Jess hielt sich die Stirn und wirbelte zu ihm herum. »Was für ein Kuss?«

Er stellte sich langsam auf seine großen Wolfsfüße. »Der Kuss, den wir vor sechzehn Jahren fast hatten.«

»Warum sollte irgendetwas mit diesem Kuss zu tun haben, der nie passiert ist?«

Smitty lächelte nachsichtig. »Na, na, Jessie Ann, wir wissen doch beide, was für Gefühle du für mich hattest.«

»Was für Gefühle ich …«

»Und vielleicht hast du sie immer noch und hast jetzt Angst, mir zu nahezukommen. Mir zu vertrauen. Mir – na, Jessie, wir wollen doch nicht anfangen, Dinge zu werfen!«

Jess hielt eine alte externe 60-Giga-Festplatte in der Hand, die sie sich von einem der Regale geschnappt hatte. Das Ding wog eine Tonne. Damit konnte sie seinem Kopf eine hübsche Delle verpassen.

»Ich versuche nur, die Wahrheit herauszufinden.«

»Und wie versuchst du das?« Sie wollte nicht über jene Nacht reden. Die Nacht, in der er sie weggestoßen hatte. Sie war immer einer Spätentwicklerin gewesen und hatte mit sechzehn immer noch nicht ihren ersten Kuss bekommen – vor allem, weil sie wollte, dass dieser Kuss von Smitty kam. Aber er hatte sie in dieser Nacht verletzt, als er sie weggestoßen hatte. Nicht körperlich natürlich, aber emotional war ihr junges, viel zu romantisches Herz zerschmettert worden.

Selbst jetzt, sechzehn Jahre später, wollte sie immer noch nicht darüber sprechen. Sie spürte schon, wie ihre Wangen vor Scham heiß wurden, während sie sich daran erinnerte, dass sie nicht hübsch oder sexy genug gewesen war, um einen betrunkenen Jungen dazu zu bringen, sie zu küssen. Gab es ein Mädchen, das das nicht hinkriegte? Sie selbst offensichtlich.

Schon spürte sie, wie ihre Verlegenheit sich in Wut verwandelte. Nein, sie wollte nicht darüber reden. Sie wollte nicht mit Bobby Ray Smith über die alten Zeiten plaudern. Nicht jetzt und auch in Zukunft nicht.

»Weißt du, Jessie, ich denke, wenn wir diesen Kuss aus dem Weg schaffen, könntest du dich vielleicht auf die größeren Probleme konzentrieren, die direkt vor dir liegen.«

Ha. Na sieh mal einer an. Eben ist ihre Leine gerissen.

Gut, dass er schnell war, denn das schwere Stück Metall flog direkt auf seinen Kopf zu. Smitty trat zur Seite, und es segelte vorbei.

Er starrte sie an. »Hast du den Verstand verloren, Frau?«

»Nein, ich glaube, ich gewinne ihn gerade zurück.« Sie streckte die Hand aus und griff blind nach einem weiteren Stück Metall. Es sah aus wie Computerzubehör. »Ja, ich fühle mich mit jeder Sekunde besser.« Sie holte aus wie ein Baseballprofi, und Smitty machte drei lange Schritte auf sie zu und entwand ihr das Ding.

»Jessie Ann, beruhige dich!«

»Fahr zur Hölle!«, knurrte sie, während sie schon wieder in das verdammte Regal griff. Alles darin waren potentielle Wurfgeschosse, die seinen Kopf treffen konnten.

Smitty knallte das Ding, das er in der Hand hatte, auf den Boden und schnappte Jessie im Nacken. Ohne nachzudenken – reiner Wolfsinstinkt –, riss er sie an sich, wild entschlossen, sie unter Kontrolle zu bringen. Sie zur Unterwerfung zu zwingen. Das taten Alphamännchen, und er dachte nicht einmal daran, dass Jessie nicht zu seiner Meute gehörte. Zum Henker, sie war kaum Teil seines Lebens. Eigentlich nur ein kurzer Ausreißer in seiner Woche.

Doch als ihr Körper gegen seinen stieß, war nur noch der Wolf in ihm da. All diese ruhige, kühle, rationale Logik, die er jahrelang verfeinert hatte, bis er sich nur noch so schnell bewegte, wie er wollte oder musste, glitt von ihm ab und ließ das rohe, fordernde Tier zurück.

Jessie schaute zu ihm auf, schlug ihm mit den Händen gegen die Brust und versuchte, ihn von sich wegzuschieben. Doch dafür war es zu spät, und daran, wie ihre Augen sich weiteten und der Atem ruckartig aus ihrem Körper gepresst wurde, konnte er erkennen, dass es ihr auch bewusst wurde.

Sein Griff in ihrem Nacken wurde fester, und er hob sie an, bis sie auf den Zehenspitzen stand.

»Smitty, warte …«

Das tat er nicht. Er schnitt ihr das Wort ab, indem er seinen Mund auf ihren presste, seine Zunge glitt in ihren bereits geöffneten Mund, und er küsste sie grob. Er spürte, wie sie die Krallen ausfuhr und damit auf sein Gesicht oder seine Brust losgehen wollte, also ließ er ihren Nacken los und schnappte ihre Handgelenke, drehte sie dann beide um und drückte Jessie an die Wand. An den Handgelenken zog er ihre Arme über ihren Kopf und hielt sie dort fest.

Sie kämpfte gegen ihn, ihr Knie versuchte, nach seinem Schritt zu zielen. Wieder sagte ihm die rationale Stimme in seinem Kopf, auf die er immer hörte, er solle sie loslassen. Sagte ihm, »nette Südstaaten-Gentlemen« täten süßen, unschuldigen Wildhunden so etwas nicht an.

Dann stöhnte Jessie Ann. Es entschlüpfte ihr ganz weit hinten aus der Kehle, glitt in seinen Mund und steckte seine Nervenenden in Brand. In diesem Augenblick wurde seine rationale Stimme vollends zugunsten des Tieres abgeschaltet, das sein Herz regierte.

Und dies … dies hier war der Grund, warum er sie in dieser Nacht vor all den Jahren nicht geküsst hatte. Wenn es auch nur ein Zehntel der Lust hervorgerufen hätte, die in dieser Sekunde durch seinen Körper schoss, wäre sein armes kleines Achtzehnjährigengehirn von dem Druck zerquetscht worden, und sie beide würden immer noch in Smithtown festhängen und bis zu den Achseln in Smith-Söhnen waten.

Aber jetzt musste er sich darüber keine Sorgen machen. Sie waren beide erwachsen und kannten sich hervorragend mit Verhütung aus. Sie konnten die Sache einfach und freundlich halten und sich trotzdem wunderbar amüsieren. Denn er musste sie haben. Jetzt. In dieser Sekunde.

Verdammt. Schlecht geplant, Smith. Er hatte nicht daran gedacht, ein Kondom mitzubringen. Was unselig war, denn er hätte nichts lieber getan, als sie hier und jetzt zu nehmen, mit dem Rücken an diese Wand gepresst. Andererseits war so eine dünne Trockenmauer vielleicht keine so gute Idee. Der Boden hatte allerdings ziemlich sauber ausgesehen …

»Hey, Tante Jess, Mom will wissen, ob ihr Hung- … wah

Jessie schubste so fest, dass Smitty von ihr wegtaumelte. Er wusste, dass Kristan in der Tür stand, aber im Moment konnte er sich nicht umdrehen. Sie war viel zu jung für diesen Anblick.

Entsetzen. Von allen Leuten auf der Welt, die sie hätten erwischen können, musste es ausgerechnet Kristan mit der großen Klappe und ohne Filter sein.

»Das sage ich aber so was von Mom!«, kreischte sie.

Das bösartige Gör rannte lachend davon, und Jess drängte sich an dem Mistkerl von Wolf vorbei, der vor ihr stand, und verfolgte ihre Nichte.

Kristan riss die Tür auf und schlitterte ins Hauptbüro. »Ihr werdet nicht glauben, was ich …«

Jess klatschte ihr die Hand auf den Mund und zerrte sie zurück in den Flur.

»Entschuldigt uns«, sagte sie in den Raum voller Gestaltwandler, die sie anstarrten.

Jess trug das rosa gekleidete Gör in die Abstellkammer und knallte die Tür zu.

»Kein Wort!«

»Ach, komm schon! Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich das für mich behalte! Du machst mit einem Wolf herum! Das könnte ich ans Fernsehen verkaufen!«

»Ich befehle dir, den Mund zu halten!«

Kristan schnaubte, und Jess trat vor sie hin.

»Du bist sechzehn. Fast erwachsen. Es wird Zeit, dass du lernst, wie es läuft, wenn du eine Alpha hast.«

»Ja, klar.«

Jess entblößte die Reißzähne und machte zwei dramatische Schritte vorwärts. Ängstlich stolperte Kristan rückwärts und knallte gegen die Wand in ihrem Rücken. Jess kam näher und lehnte ihre Wange an Kristans Stirn, knurrte leise und gefährlich, und ihre Reißzähne strichen über die Haut des Mädchens.

»Okay, okay!«

»Haben wir uns verstanden?«

»Ja!«

Jess trat zurück. »Kein Wort. Verstanden?«

Kristan nickte, schaute Jess aber nicht in die Augen. Gut. Sie lernte.

»Und jetzt hol Johnny, und ihr zwei geht nach Hause.«

Jess erlaubte sich einen ganz kurzen Moment, um wieder zu Atem zu kommen und sich mit zitternden Fingern über ihre schmerzenden Lippen und durch die Haare zu fahren, im Versuch, sie zu bändigen. Dann folgte sie Kristan, weil sie noch nicht ganz darauf vertrauen konnte, dass das Mädchen wirklich den Mund hielt.

Doch als sie die Tür öffnete, kollidierte sie praktisch mit Smitty.

»Jessie Ann …«

»Nicht.«

»Aber …«

Sie ließ ihn stehen und ging in den Hauptraum. Sie zwang sich zu einem Lächeln, denn alle standen immer noch mit verwirrten Gesichtern herum. »Die Kinder gehen nach Hause. Aber ich bin am Verhungern. Was bestellen wir uns zum Abendessen?«

Smitty lehnte sich zurück und sah zu, wie sie um die Speisekarte eines nahegelegenen Chinarestaurants herumstanden und ihre Bestellungen aufgaben. Jessie tat, als könne sie kein Wässerchen trüben. Kühl, gleichgültig und als bedeute es ihr rein gar nichts.

Doch es hatte der Frau, die er an diese Wand gedrückt hatte, verdammt noch mal eine Menge bedeutet. Und wenn Jessie Ann wirklich glaubte, es würde so einfach werden, ihn loszuwerden, dann hatte sie noch viel zu lernen.