lion

Prolog

Klar, er war betrunken. Sehr betrunken. Die Vorstellung seines Vaters von einer angemessenen Abschiedsfeier für seinen Jüngsten, bevor er für die nächsten Jahre der Regierung der Vereinigten Staaten gehörte. Doch nur weil er die letzten vier Tequilas nicht hätte trinken sollen, hieß das nicht, dass er nicht merkte, dass sie sie verfolgten.

Sie verfolgten sie immer. Ständig quälten sie sie. Soweit er wusste, blieb sie nicht einmal mehr zu Hause. Ihren Pflegeeltern war das egal, solange die Schecks weiterhin kamen. Also lebte sie meistens draußen im Wald wie ein wildes Wolfsjunges. Nur dass sie kein wildes Wolfsjunges war. Nur ein armes Kind, das das Pech hatte, seiner kleinen Schwester in die Quere zu kommen.

Er nahm ihren Geruch auf und wusste sofort, wohin sie wollten – zur Highschool. Sie würden sie unter der Tribüne finden. Dort versteckte sie sich oft. Sie konnte sich überall verstecken, wenn sie musste. Im Gegensatz zu den kräftigeren Wölfinnen war der Körperbau ihrer Art klein und drahtig, wie bei allen Wildhunden.

Bis sie es zum Sportgelände geschafft hatten, stand er schon vor der Tribüne. Er hatte keine Zeit, sie zu finden und herauszuholen; er musste die Mädchen hier aufhalten.

»Hey, Bobby Ray«, gurrte Bertha, auch bekannt als »Bertha mit den schweren Knochen«. Seine Schwester, die mit sechzehn schon eins zweiundachtzig groß war, war immer noch kleiner als Bertha. Aber sie war härter, und Bertha hatte früh gelernt, sich nicht mit Sissy Mae Smith anzulegen. Sie hatte es auf die harte Tour gelernt. Jetzt ließ sie es an den kleineren, schwächeren Omegas der Stadt aus. Dennoch schien sie es auf dieses eine Mädchen ganz besonders abgesehen zu haben. Dieses eine Mädchen ohne Schutz, ohne Familie, ohne Meute. Ein Hund unter Wölfen. Der Herr konnte grausam sein, wenn er es sich in den Kopf gesetzt hatte.

»Ich weiß, warum du hier bist, Bertha. Und ich will, dass du deine Freundinnen nimmst und gehst.«

»Ach, komm schon, Bobby Ray. Wir tun ihr nichts.« Bertha ging in die Hocke, um durch die Bretter der Tribüne zu spähen. »Ist sie da? Komm raus, Jessie Ann! Wir wollen nur hallo sagen.«

»Ich sagte, ihr sollt gehen.«

Bertha stand auf, fast genauso groß wie er, und warf die Haare zurück. »Warum bist du nicht auf deiner Party, Bobby Ray?«

»Wenn mein Daddy erst einmal anfängt, meine Brüder in den Schwitzkasten zu nehmen und ihnen zu sagen, sie seien nur am Leben, weil er sie nicht in der Wiege umgebracht hat, ist es Zeit für mich zu gehen.«

Sie kam näher. »Gehst du wirklich morgen zur Navy?«

»Hab mich schon verpflichtet, Schätzchen. Morgen steige ich in den Bus.« Und bin endlich hier weg.

»Du wirst hier fehlen«, sagte sie leise, damit nur er es hören konnte.

»Das sagt meine Momma auch.« Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zurück zum Ausgang. »Hör mal, bring du die anderen hier raus. Ich warte auf jemanden.«

»Auf wen?«

»Auf einen Freund, der mir den besten Selbstgebrannten in drei Bundesstaaten besorgt. Aber er kommt nicht, wenn er Publikum sieht. Wie wäre es also, wenn ihr zurück zur Party geht und wir uns dort treffen?«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Und dann machen wir unsere eigene Party.«

»Okay. Dann bis in ungefähr einer Stunde?«

»Klar!«, log er und hätte sich fast schuldig gefühlt, wenn er nicht gewusst hätte, dass sie hergekommen war, um ein Mädchen von gerade mal vierzig Kilo zu verprügeln.

Bertha küsste ihn auf die Wange und bedeutete den anderen Wölfen, ihr nach draußen zu folgen. Der ganze Haufen war schon ziemlich betrunken. Noch ein paar Drinks mehr, und sie wären alle ohnmächtig, und wenn sie am nächsten Morgen aufwachten, saß er im Bus und war für immer weg aus Smithtown.

Als ihr Geruch sich verzog, drehte sich Bobby Ray um und ging wieder auf die Tribüne zu.

»Es ist okay, Jessie Ann. Du kannst jetzt rauskommen.« Er wartete auf eine Antwort, aber es schien, als habe sie immer noch Angst. Er konnte sie riechen, also war sie hier irgendwo. »Komm schon, Jessie Ann, du weißt, dass du von mir nichts zu befürchten hast. Ich begleite dich nach Hause.« Zumindest hoffte er, dass er das konnte. Der Tequila entfaltete langsam eine ziemlich starke Wirkung.

»Verdammt, Jessie Ann, ich habe keine Zeit für so etwas.« Er ging um die Tribüne herum und kauerte sich nieder, um darunter zu schauen. Er fühlte sich ein bisschen wacklig von all dem Alkohol, deshalb stützte er sich leicht mit der Hand am Metall der Tribüne ab.

»Nicht!«

Kleine braune Hände packten seine Schultern und rissen ihn zurück. Sie schlugen beide auf dem Boden auf, als die Tribüne zusammenkrachte wie Dominosteine. Wenn er da drunter gewesen wäre, wäre er zerquetscht worden.

Die Stille nach dem ohrenbetäubenden Lärm des zusammenbrechenden Metalls betäubte ihn.

»Das warst du.« Bobby Ray blickte über seine Schulter Jessie Ann Ward an. Sie war ein süßes kleines Ding, aber ein bisschen unschuldig für seinen Geschmack. Große braune Augen, eine süße kleine Nase und volle Lippen, die alles Mögliche verhießen, von dem er sich ziemlich sicher war, dass sie es nie würde einlösen können. Sie trug die langen lockigen Haare in zwei Zöpfen, und man konnte leicht die vielen Farben sehen, die sich durch jede Strähne zogen. Alle Wildhunde hatten eine Vielzahl von Färbungen in ihrem Fell und als Mensch in den Haaren. Braun, Gold, Blond, Weiß und Schwarz – alles zusammen auf einem Kopf machte es Jessie schwer, nicht aufzufallen.

Dennoch war er scharf auf sie, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Doch Jessie Ann war die Art von Frau, die man sich zur Gefährtin nahm und mit der man nicht einfach nur herummachte. Und er hatte nicht vor, in dieser Stadt hängenzubleiben. Diese Stadt brauchte nicht noch einen männlichen Smith mit einer Meute bösartiger Söhne und einer Gefährtin, die nicht wusste, ob sie ihn liebte oder hasste – wahrscheinlich beides.

»Ich hätte tot sein können!«, knurrte er.

»Fahr mich nicht an!«, knurrte sie zurück und setzte sich auf. »Es war sowieso nicht für dich gedacht.«

»Nein, es war für sie. Und glaubst du, du hättest es dir je verzeihen können, wenn sie wirklich da runtergegangen wären?«

»Das wären sie nicht. Es sollte ihnen nur Angst machen. Ich habe genug davon, gejagt zu werden wie eine Gazelle.«

Er schaute sie an und sah schließlich all die Verletzungen an Gesicht und Hals, die sich wahrscheinlich auch weit über ihren Körper und die Beine zogen. Sie hatten sie wieder erwischt. Verdammt. Er versuchte wirklich, sie zu beschützen, aber er konnte nicht viel tun, und Sissy Mae pfiff ihre Wölfinnen einfach nicht zurück. Noch nicht einmal siebzehn, und sie hatte schon ihre eigene Meute. Die Mädchen ihres Alters folgten Sissy durch die Stadt, als wäre sie der weibliche Messias. Er hatte keine Ahnung, was zwischen ihnen passiert war, doch Sissy betrachtete Jessie Ann Ward unverkennbar als die Omega ihrer eigenen Meute. Das Problem war, dass Jessie Ann diese Position nicht besonders gut gefiel. Sie wehrte sich, wo die meisten Omegawölfe es über sich ergehen lassen hätten, bis es vorbei war. Doch sie war kein Wolf. Sie war ein Wildhund. Und wenn sie ihre eigene Meute gehabt hätte … aber die Wildhunde starben aus. Die jungen Erwachsenen waren von einem bösartigen Grippevirus heimgesucht worden, der nur von einem zum anderen wanderte, wenn sie verwandelt waren. Es hatte mehr als die Hälfte der erwachsenen Zuchthunde ausgelöscht, bevor ihre eigenen Ärzte die Sache in den Griff bekommen und einen Impfstoff herstellen konnten, um es auszumerzen. Der verdammte Virus hatte eine Menge ältere Großeltern hinterlassen, die Welpen aufzogen, und viele Waisen. Waisen wie Jessie Ann.

Tragischerweise starb Jessies Volk aus, genau wie die Vollblut-Wildhunde in Afrika. Was bedeutete, dass sie außer ihm niemanden hatte, der auf sie aufpasste. Und wenn er morgen erst in diesem Bus saß, hatte sie nicht einmal mehr das.

»Jessie, du musst lernen, dich um dich selbst zu kümmern.« Ohne nachzudenken, streckte Bobby Ray die Hand aus, um ihre Wange zu berühren, und sie wich vor ihm zurück, was seine Gefühle verletzte. Vor allem jetzt, wo er betrunken war. »Ich würde dir nie etwas tun.«

Sie krabbelte von ihm weg. »Das weiß ich.« Wenn sie es wusste, warum wich sie dann die ganze Zeit vor ihm zurück? Verärgert hielt er sie am Knöchel fest. »Wenn das stimmt, warum rennst du dann vor mir davon?«

»Ich renne nicht davon.« Aber sie versuchte verzweifelt, ihn von ihrem Bein abzuschütteln.

»Dann hör auf, so einen Aufstand zu machen!«, blaffte er sie an. Als sie es nicht tat, riss er sie zu sich heran und schaffte es irgendwie, sie direkt auf seinen Schoß zu ziehen.

Sie schnappte überrascht nach Luft, die Arme um seinen Hals, die Schenkel zu beiden Seiten seiner Hüften. Für so ein kleines Ding fühlte sie sich wirklich gut an, wo sie war. Er legte die Hände an ihre Hüften. Bobby Ray wusste, dass er sie von sich herunterschieben sollte, aber alles, was er wollte, war, sie noch näher an sich zu ziehen.

Sie sah in sein Gesicht herab, und diese braunen Augen verschlangen ihn auf der Stelle. Ja, er wusste es, wenn eine Frau ihn wollte, und zu seiner unendlichen Überraschung wollte ihn Jessie Ann Ward. Er sah, wie sie ihren Mut zusammennahm; dann kam sie näher, ihre Lippen kamen auf seine zu. Er spürte ihren süßen Atem an seinem Mund, und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie heiß der Kuss sein würde. Er wusste, dass sie wundervoll schmecken und sich auf ihn einlassen würde wie niemand je zuvor.

Er wusste auch, dass sie zu küssen das Dümmste wäre, was er tun konnte. Zu betrunken, um seine Gesten richtig zu dosieren, schubste er sie also von seinem Schoß und zuckte zusammen, als sie hart auf dem Boden aufschlug.

Bobby Ray fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Irgendwann morgen würden all diese Haare weg sein. »Wir … wir können nicht.«

»Wir können was nicht?«, knurrte sie, während sie sich aufrappelte. »Du hast mich geschnappt!« Sie stand auf, und er sah, dass sie eines ihrer Star-Wars-T-Shirts trug. Sie hatte bestimmt zehn davon, und zehn Jäger-des-verlorenen-Schatzes-Shirts. Ein echter Sonderling, diese Jessie Ann.

»Sei nicht sauer, Jessie Ann. Es ist nicht …«

»Vergiss es.« Sie sah auf die kleine Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte es irgendwie mit der Uhrzeit, was er faszinierend fand, denn niemanden sonst in der Stadt interessierte das. »Ich bin mit meinen Freunden bei Riley’s verabredet.« Eine Comic-Buchhandlung in der nächsten Stadt.

»Ich gehe mit dir.« Er wollte nicht, dass sie allein da draußen unterwegs war.

»Nein, ich brauche dich nicht.« Sie spuckte es ihm praktisch ins Gesicht; dann schnappte sie sich ihren riesigen Rucksack voll mit ihren seltsamen Büchern und Papieren und hievte ihn sich auf die Schultern. Er hatte keine Ahnung, wie dieses kleine Ding es schaffte, diesen Rucksack herumzuschleppen.

»Es ist zu gefährlich für dich, um diese Uhrzeit allein dorthin zu gehen.«

»Ich treffe mich mit meinen Freunden.« Ihre Freunde. Alle männlich. Er konnte oft ihren Geruch wahrnehmen, der noch an ihr klebte. Er hatte sie einmal gesehen, als er und einer seiner Kumpel aus einer Laune heraus zur Comic-Buchhandlung gegangen waren. Sie hatte dort im hinteren Bereich mit fünf anderen Typen ein Spiel gespielt, das mit einer Tafel, Papier und einem vieleckigen Würfel zu tun hatte. Er hatte das Gefühl gehabt, dass es um Drachen ging, und ungefähr zu diesem Zeitpunkt hatte Bobby Ray das Interesse verloren. Drachen, Schwerter, Feen – das ganze Zeug fand er ziemlich dumm. Aber es hatte ihm nicht gepasst, dass sie mit all diesen vollmenschlichen Jungen zusammen war. Jetzt gefiel es ihm noch viel weniger.

Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen und sah über die Schulter zu ihm zurück. »Viel Glück, Smith. Du weißt schon, für morgen. Du wirst großartig sein.« Dann rannte sie davon. Er machte sich nicht die Mühe, ihr zu folgen. Wildhunde waren verflixt schnell, und er war viel zu betrunken, um mitzuhalten.

Stattdessen legte sich Bobby Ray rückwärts auf den Boden, schloss die Augen und stellte sich vor, wie viele Stunden Schlaf er wohl brauchte, um wieder auf den Damm zu kommen. Natürlich machten ihn all die Träume über eine kleine Hündin mit unschuldigen Augen und einem verruchten Mund nur fertig und ließen ihn wünschen, die Dinge lägen anders. Taten sie aber nicht. Nicht, bevor er aus Smithtown heraus war und sein Leben ein für alle Mal änderte.

Denn vielleicht, nur vielleicht, hatte er dann irgendwann einer draufgängerischen kleinen Wildhündin, die die Träume und das Herz eines Mannes heimsuchen konnte, etwas zu bieten.