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Kapitel 21

Nach einer halben Flasche Tequila suhlte Smitty sich richtig schön in seinem Unglück. Sein Abendessen mit Mace war gut gelaufen, und die Chancen standen hoch, dass sie diesem Kenshin-Typ ein Vermögen abknöpfen würden. Aber na und? Nichts davon brachte sein Problem mit Jessie Ann in Ordnung.

Er hätte nach Hause gehen sollen, aber er konnte sich immer noch nicht vorstellen, sein Bett leer vorzufinden, also war er hier gelandet. Im Kingston Arms. Es überraschte ihn auch nicht, als seine kleine Schwester ihn in der hinteren Bar aufspürte, in die die Meute am liebsten ging. Wie er hatte sie eine gute Nase. Das lag in der Familie.

Lachend und mit Ronnie und Marty im Schlepptau, ließ sich Sissy Mae auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen und legte die Füße auf den Tisch.

»Tja, du hast einen lustigen Abend verpasst.«

»Ich bezweifle, dass es da viel zu verpassen gab.«

»Das würde ich nicht sagen.« Marty machte einem der Kellner mit einem einfachen Kopfnicken ein Zeichen, und innerhalb von Sekunden erschien ein Wodka vor ihr. »Deine Schwester wäre fast von einem tollwütigen Tier zerfleischt worden.«

Weit weniger interessiert, als er sein sollte, fragte Smitty dennoch: »Was?«

»Die Alphafrau der Magnus-Meute hat versucht, ein Stück aus mir herauszubeißen.«

Smitty schüttelte angewidert den Kopf. So etwas konnte sich nur seine kleine Schwester einhandeln. »Was hast du angestellt?«

»Nichts.«

Mit einem müden Seufzen neigte Smitty den Kopf zur Seite und sah sie an.

»Wirklich nicht! Sag es ihm, Marty! Denn dir wird er niemals glauben, Ronnie Lee.«

»Es stimmt. Sie hat nichts getan.«

»Du hast nichts gesagt oder getan? Nichts angezettelt?«

»Bin nur vor einem Club herumgehangen und habe mich um meinen eigenen Kram gekümmert.«

»Das wäre das erste Mal. Also, was hat sie dann auf die Palme gebracht?«

»Keine Ahnung. Aber sie war mit Jessie Ann Ward da.«

Mit allem, was er an Selbstkontrolle aufbringen konnte, versuchte Smitty, keine Miene zu verziehen, und antwortete nur: »Ach ja?«

Seine Schwester starrte ihn so lange an, dass er fast angefangen hätte, sich zu winden. Er hatte sich nicht mehr so gefühlt, seit seine Momma die Schnapsbrennerei entdeckt hatte, die er gebaut hatte, als er vierzehn war.

»O mein Gott«, sagte Sissy endlich. »Du vögelst sie!«

Ronnie zog eine Grimasse. »Sissy Mae! Du weißt, dass Shaw es hasst, wenn du so ein Zeug im Hotel herumschreist.«

Plötzlich lachte seine Schwester. »Ich wusste immer, dass du eine Schwäche für sie hattest«, beschuldigte sie ihn gutmütig. »Kaum vierzig Kilo, grün hinter den Ohren, voller Akne und total schräg, aber ich wusste, ihre großen, dämlichen Hundeaugen kriegen dich.«

»Lass es gut sein, Sissy Mae.«

»Jetzt werde ich die Tante von Wolfshunden werden müssen. Das wird eine lustige Mischung.«

»Ich sagte, lass es gut sein.«

»Und ich hoffe, das heißt nicht, dass wir anfangen müssen, mit ihrer kleinen jaulenden Meute herumzuhängen. Das wäre vielleicht zu viel ver…«

Seine auf den Tisch knallende Hand brachte seine Schwester zum Schweigen. Um genau zu sein, brachte sie den ganzen Raum zum Schweigen. Ronnie schaute auf ihre Hände, und Marty wandte den Blick ab.

Seine Schwester dagegen starrte ihn nur finster an.

»Was ist los mit dir? Ich mache nur Spaß!«

»Ich sagte: Lass es gut sein.«

Sissy tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch, und sie wandte den Blick nicht von seinem Gesicht ab. Endlich sagte sie: »Könntet ihr uns bitte allein lassen?«

»Yup.«

»Wir sehen uns.«

Dann waren sie fort.

Sissy nahm die Flasche und goss ihm noch einen Tequila ein. »Also gut, großer Bruder. Sprich mit mir.«

Johnny wusste, dass die einzige Art, wie er ein bisschen Zeit mit Jess allein bekommen konnte, war, auf den Stufen zu ihrem Apartment im obersten Stockwerk des Meutendomizils auf sie zu warten. Er las, während er wartete; er hatte sich ein weiteres Buch von Tolkien aus Jess’ Bücherregal genommen.

Als Jess endlich die Treppe herauf auf ihn zukam, ging sie langsam und mit gesenktem Kopf – offensichtlich erschöpft. Doch als sie ihn sah, leuchteten ihre Augen auf, ihre Energie kehrte zurück. Sie schien sehr froh, ihn zu sehen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Seit seine Mutter vor so vielen Jahren gestorben war, hatte er nicht mehr erlebt, dass jemand so froh war, ihn zu sehen.

»Hey!«

»Hi.«

Jess setzte sich neben ihn und zuckte sichtlich zusammen, als er anstelle eines Lesezeichens die Ecke der Seite in dem Tolkien-Buch umknickte. Er konnte ihren inneren Schrei »Sakrileg!« beinahe hören.

»Was ist los, Liebling?«

Sie nannte ihn immer so, wenn sie allein waren. Ihr persönlicher Spitzname für ihn. Er hätte sich darüber ärgern sollen, aber es war so lange her, seit ihn jemand bemuttert hatte.

»Ich glaube, es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«

»Dann sag es mir.«

Er sah sie an. Jetzt konnte es unangenehm werden. Doch bevor er ein Wort herausbrachte, nahm Jess seinen Arm und flehte: »Bitte sag mir, dass du nicht mit Kristan geschlafen hast.«

»Was?«

»Ist es nicht das, was du mir nicht zu erzählen wagst?«

»Nein!«

Jess ließ seinen Arm los. »Puh! Ich dachte schon.«

»Kann ich weitermachen?«

»Klar.«

»Es geht aber trotzdem um Kristan.«

»Was ist mit ihr?«

»Sie trifft sich mit ihrem biologischen Vater. Schon seit ein paar Wochen.«

Langsam richtete Jess den Blick auf ihn. »Und wie ist das möglich, wenn sie jedes Mal, wenn ich oder ihre Mutter gefragt haben, mit dir zusammen oder in der Bibliothek war?«

»Ich habe sie sozusagen gedeckt.«

»Also hast du mich angelogen.«

»Ja.« Er hatte sich bis zu diesem Augenblick noch nie schuldig gefühlt, wenn er gelogen hatte. Doch jetzt sahen ihn diese liebevollen braunen Augen an. Sie würde ihn definitiv hinauswerfen. Kristan war die Chefin unter den Welpen. Er hätte sie beschützen müssen, anstatt ihr zu helfen, mit diesem Mist davonzukommen. »Es … es tut mir leid.«

»Das sollte es auch. Du bist der Älteste, du solltest die Welpen beschützen.«

»Ich weiß.« Keine große Sache. Er konnte irgendwo anders leben. Er hatte eine Menge Notfallpläne. Er wurde dieses Wochenende siebzehn. Nicht ganz erwachsen, aber mit einem gefälschten Ausweis könnte er sich einen Job besorgen und …

»Sag deinem Taschengeld zwei Wochen auf Wiedersehen, Freundchen. Und dass mir das nicht wieder vorkommt!«

Er runzelte verwirrt die Stirn. Wo war die Wut? Die Missbilligung? Der Befehl, sich aus ihrem Haus zu verpissen?

»Warum starrst du mich so an, Liebling?«

»Um ehrlich zu sein, dachte ich, du würdest mich rauswerfen.«

»Wofür? Ich meine, du hast definitiv Mist gebaut, deshalb bekommst du auch zwei Wochen kein Taschengeld, aber du wirst nirgendwohin gehen. Abgesehen davon haben wir das Adoptionsverfahren schon angefangen.«

Johnnys Herz ließ buchstäblich mehrere Schläge aus. »Adoption?«

»Ja.«

»Ihr adoptiert mich?«

»Ja. Haben wir nicht mit dir darüber gesprochen?«

»Nein.«

»Hm, müssen die Brownies gewesen sein.« Jess schaute kurz in die Weite und lächelte dann. »Es waren wirklich gute Brownies. Dunkle Schokolade.«

Als er sie nur anstarrte, sagte Jess: »Warte. Willst du etwa nicht, dass wir dich adoptieren?«

»Ich werde am Samstag siebzehn. Ich dachte, ich müsste weg, wenn ich achtzehn bin.« Das System warf Pflegekinder mit achtzehn hinaus. Auch dafür hatte er Pläne, falls die Meute ihn in einem Jahr vor die Tür setzte.

Aber zu seinem Entsetzen hatten sich Jess’ Augen mit Tränen gefüllt.

»Nicht … nicht weinen! Ich wollte damit nicht sagen, dass ich nicht will, dass ihr mich adoptiert!«

Sie schniefte. »Was dann?«

»Ich wollte sagen, dass mich bis jetzt nie jemand adoptieren wollte. Ich dachte mir, wenn ich achtzehn bin, erwartet ihr von mir, dass ich gehe.«

»Nein, wir erwarten nicht, dass du gehst. Wir erwarten, dass du aufs College gehst. Ich nehme an, dass du deinen Abschluss in Musik machst. Wobei mir einfällt – wir müssen uns hinsetzen und überlegen, bei welchen Schulen du dich bewerben willst.«

»Ich … ich denke, dort, wo ich ein Stipendium bekomme.«

»Stipendien sind gut und schön für Lebensläufe. Aber wenn du keines für eine gewünschte Schule bekommst, haben wir schon ein College-Sparbuch für dich eingerichtet, damit das bezahlt ist. Die Frage ist also, wo du hingehen willst

»Ich habe ein College-Sparbuch?«

»Natürlich. Jedes von euch kleinen Gören wird aufs College gehen. Ob ihr wollt oder nicht«, endete sie knurrend. »Hast du verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

»Also gut. Sonst noch Fragen?«

»Nein.«

»Sonst noch etwas, das du mir verheimlichst?«

»Nein.«

»Gut. Aber danke, dass du immerhin jetzt zu mir gekommen bist. Wir sind uns noch nicht sicher, was wir mit Walt Wilson machen, deshalb musste ich das wissen.«

»Gern geschehen.«

Johnny neigte sich ein bisschen zur Seite, sodass seine Schulter an der von Jess lehnte. Er hatte über die Jahre gelernt, seine Gefühle zu vergraben. Ihm war eindeutig nicht wohl dabei, dass sie wieder hochkamen. Aber er musste etwas sagen. Er betete nur, dass sie nicht wieder zu weinen anfangen würde. »Danke.«

»Gern geschehen.« Zum Glück weinte sie nicht. »Trotzdem bekommst du kein Taschengeld, Baby. Aber netter Versuch.« Sie zwinkerte ihm zu, doch ihr Gesichtsausdruck änderte sich in der Sekunde, als sich ihr Kopf hob und sie in die Luft schnüffelte.

»Was ist los?«, fragte er, der immer noch daran arbeitete, die Fertigkeiten zu verbessern, die für Erwachsene normal waren.

Jess antwortete ihm nicht; sie sprang auf und stürmte die Treppe hinauf in ihre Wohnung. Johnny folgte ihr und rannte fast in sie hinein, als sie direkt im Türrahmen anhielt.

Die Hände in die Hüften gestemmt, blaffte Jess: »Was zum Teufel tust du hier?«

Smitty verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wollte dich sehen, mein kleiner Honigkuchen.«

Honigkuchen?

Warum war da ein betrunkener Wolf in ihrem Apartment? Wie war er überhaupt hineingekommen? Der einzige Weg zum zweiten Eingang ihrer Wohnung war der über den Zaun und durch den Garten.

Das Haus war voller Hunde, und keiner roch einen vorbeikommenden Wolf? Einen betrunkenen Wolf?

»Ich dachte, wir hätten heute Nachmittag alles gesagt, was es zu sagen gab.«

»Nö.« Er erspähte Johnny über ihre Schulter. »Junge.«

»Idiot.«

Smitty machte einen Schritt vorwärts, und Jess schob Johnny zur Tür hinaus. »Wir reden morgen weiter.«

Die Sorge auf Johnnys Gesicht wärmte ihr das Herz. »Jess, bist du sicher?«

»Ja, ich mache das schon.«

Er sah nicht glücklich darüber aus, aber er ging trotzdem.

Als Jess die Tür schloss und sich umdrehte, stellte sie fest, dass Smitty nur Zentimeter von ihr entfernt stand.

»Du siehst heute Abend wirklich hübsch aus.«

»Danke.«

»Ich habe dich schrecklich vermisst.«

»Es sind erst acht Stunden.«

»Das ist zu lang!«

»Schschsch!« Jess schob Smitty von der Tür weg. »Nicht so laut!«

»Ich will heute Nacht bei dir bleiben.«

»Nein.«

»Warum nicht? Bedeute ich dir überhaupt nichts?«

»Smitty, das ist nicht fair.«

»In der Liebe und beim Vögeln ist alles erlaubt.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht der genaue Wortlaut ist. Wie bist du überhaupt hierhergekommen?« Himmel, hoffentlich war er nicht selbst gefahren.

»Sissy hat mich in ein Taxi gesteckt. Sie sagte, wir sollten reden. Also bin ich hier, um zu reden.«

Verdammt, diese Frau!

»Du hast mich weggestoßen, Smitty. Das war das zweite Mal. Ein drittes Mal wird es nicht geben.«

»Okay«, sagte er viel zu ruhig. Dann fügte er hinzu: »Also lässt du mich hierbleiben?«

Jess knirschte mit den Zähnen. »Nein, ich rufe dir ein Taxi.«

»Schön. Sei böse.« Er nahm ihren Arm und zog sie an sich. »Gib mir zumindest einen Kuss, böse Frau.«

»Smitty …«

»Küss. Mich.«

»Gehst du friedlich, wenn ich dich küsse?«

»Ja.«

Resigniert und weil sie es irgendwie sowieso wollte, schob Jess die Hand in Smittys Nacken und zog ihn zu sich hinunter, damit sie ihn küssen konnte. Er schmeckte nach Tequila, der Drink der Wahl bei Wölfen. Aber Tequila hatte wirklich noch nie so gut geschmeckt. Seine Hände streichelten ihren Hals, seine Zunge vollführte langsame Kreise um ihre. Der Kuss schien endlos, und sie wünschte, er könnte es sein. Wenn Smitty sie küsste, konnte sie fast alles andere vergessen.

Seine Hände lösten sich von ihrem Hals und griffen nach ihren Brüsten. Sie fing sie ab und schob ihn von sich.

»Das reicht.«

Smitty leckte sich die Lippen. »Ich wusste es.«

»Was wusstest du?«

»Du bist nicht über mich weg.«

Jess holte tief Luft und sah sich nach etwas um, das sie ihm an den aufgeblasenen Kopf werfen konnte. Doch Smittys nächste Worte ließen sie innehalten.

»Mach dir nichts draus«, sagte er, während er ins Schlafzimmer wanderte, »ich werde auch nie über dich wegkommen.«

Jess folgte ihm mit klopfendem Herzen. »Was?«

»Du bist eingegraben … wie eine Zecke.«

Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und fragte: »Du vergleichst mich mit einem Parasiten?«

»Das ist eine negative Sichtweise.«

Sie schnappte sich das schnurlose Telefon von ihrer Kommode. »Ich rufe dir ein Taxi.«

»Okay.« Smitty stolperte zum Bett. »Ich lege mich nur kurz hin, bis das Taxi kommt.«

»Nein, nein. Nicht …«

Zu spät. Wie erwartet gingen bei ihm die Lichter aus, sobald sein aufgeblasener Schädel die Matratze traf. Sie legte wieder auf. Sie würde keinen Taxifahrer zwingen, einen Smith auf die Rückbank seines Wagens zu hieven.

Die Segel streichend, schaltete sie die Lichter in ihrem Apartment aus und schleuderte die Turnschuhe von den Füßen. Angezogen legte sie sich neben Smitty ins Bett. Sobald die Matratze nachgab, streckte er den Arm aus und zog sie eng an sich.

»Lass mich los.«

Er murmelte etwas und begann wieder zu schnarchen.

»Jämmerlich«, grollte sie. »Absolut jämmerlich.«