Der Ohnmacht standhalten

 

Nach den letzten Vorträgen wurde ich gefragt: „Wie geht denn das, der Ohnmacht standhalten?“ Man könnte sagen, dass es darum geht, ein schwieriges Gefühl nicht zum Anlass zu nehmen, wegzulaufen. Denken, Grübeln, Urteilen sind Formen inneren Fluchtverhaltens. Denken ist die Vermeidung von realistischer Wahrnehmung. Der Ohnmacht standzuhalten bedeutet auch, in der wilden Gedankenflut, die durch Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit entsteht, stillzuhalten, auszuhalten. Was uns zivilisierte Menschen in diesem Moment besonders bedrängt, sind die Gedanken: `Das halte ich nicht aus` und `Das wird nie aufhören`. Keinem einzigen dieser Gedanken Glauben zu schenken, bis ich wirklich ganz und gar bei der gedankenfreien, ruhigen und klaren Empfindung selbst angekommen bin, kann sich zwischenzeitlich wie ein Höllenritt anfühlen. Wenn ich dann schließlich im wirklichen Fühlen angekommen bin, dann – genau dann – beginnt es, dass auch andere Menschen mich fühlen können und von sich aus in Kontakt mit mir gehen können.

 

Ich komme noch einmal auf den Zeitraum zwischen meinem 20. und 35. Lebensjahr zurück. In dieser Zeit habe ich Sexualität nie anders erlebt als mit dem Gefühl: `Irgendwie habe ich das, was ich eigentlich brauchte, nicht bekommen`, ohne je herauszufinden, was es gewesen wäre. Genau das erzeugt aber auch einen inneren Zwang, eine Sucht – und bringt Ersatzwünsche hervor, Konsumzwang. Unsere Konsumwelten funktionieren nur so lange, wie es einen Bedarf nach Ersatz-Konsum für zufriedenstellende emotionale Erfahrungen gibt. Sexuelle Süchte entstehen aus dem Bedürfnis heraus, im Körper und emotional etwas zur Ruhe zu bringen. Wenn man in der Sexualität den Fokus auf Erregung und nicht von Anfang an auf Entspannung richtet, erfährt man zwar eine durch Überreizung erzeugte Entspannung, die man auch ebenso gut als kurzzeitige Anästhesie bezeichnen könnte, aber keine Heilung bzw. Erfüllung des eigentlichen natürlichen menschlichen Bedürfnisses.

 

Zuhörer: Es ist krass und fällt mir immer mehr auf, wie viele Vorstellungen man im Kopf hat, wie Sexualität ist oder sein muss oder was Sexualität will und dass ich ganz lange eigentlich gar nicht wahrnehmen konnte, worum es eigentlich geht.

 

Jemand, der selbst nicht wahrnimmt, was er gerade braucht, kann auch nicht gut darin sein, wahrzunehmen, was der jeweils andere braucht. Was kann daraus hervorgehen, wenn zwei aus dem Kopf heraus etwas machen, von dem sie glauben, dass es das ist, was der andere gerade braucht??? Beide geben sich auch Mühe zu glauben, dass das, was sie bekommen, auch das ist, was sie haben wollen. Das wird auf Dauer recht anstrengend und kann Stress in der Beziehung verursachen. Gut gemeint...

 

Man überlege einmal: Warum sind die Rotlichtmilieus immer um den Bahnhof herum angesiedelt? Meine Antwort: Jeder Mensch ist in fremder Umgebung unsicherer, ängstlicher. Wenn man Angst hat, welchen Teil seines Körpers will man dann instinktiv am meisten schützen? Natürlich unsere Scham, den Bereich, in dem wir physisch wie emotional am verletzlichsten sind. Abgesehen davon, dass ein Schlag in diese Region tatsächlich tödlich sein kann, gibt es keinen anderen Körperbereich, in dem so viele Nervenenden zu finden sind. Wenn wir uns in einer Umgebung bewegen, die uns gänzlich unbekannt ist, stehen wir alleine da, und Angst und Unsicherheit konzentrieren sich gewissermaßen in unserem Genitalbereich. Es wird uns nicht direkt bewusst, aber instinktiv und unweigerlich schaue ich als Mann mich stark nach attraktiven Frauen um. Also die körperliche Angst, die Angstspannung in meinem Körper sucht nach einem Ausweg. Sie wird mir nicht bewusst, aber sie ist schon als eine Art Spannung da, für die ich eine Erlösung suche. Gott sei Dank gibt es heute in jedem Hotelzimmer auch einen Fernseher, der mir ersatzweise meine Spannung absaugen kann. Aber ich denke, ihr könnt nachvollziehen, wovon ich gerade rede: davon, dass man, wenn man an fremden Orten ist, in einer inneren Aufregung ist, in einer Art Aufgeregtheit und deutlich eine sexuelle Spannung im eigenen Becken wahrnehmen kann.

Es gibt natürlich viele andere Anlässe in unserem Leben, in Spannung zu geraten, in Aufgeregtheit, in Angst. Sexualität ist ein häufig gewähltes Ventil. Viele Menschen machen ja so Deals miteinander: Mich interessiert nicht unbedingt ein anderer Mensch, aber ich brauche dringend mal wieder körperliche Entspannung. Dafür kann ich vorübergehend Interesse an einem anderen heucheln oder mir sogar selbst vorspielen.

Für nicht wenige Menschen, Singles wie Verheiratete, ist dies die einzige Form von Sexualität, die sie kennen. Die Frage ist: Muss dies der Normalfall der Sexualität sein, oder gibt es auch andere Formen von Sexualität?

 

Zuhörer: Mir ist gerade noch etwas eingefallen. Im Film, also im Actionfilm, ist wirklich immer dann, wenn die Spannung am höchsten ist, kurz bevor man sich vorstellt, dass einer ermordet wird, dann kommen genau immer die Liebesszenen, wo sich die Hauptdarsteller vereinigen. Ist das Absicht beim Film, oder ist das Zufall?

 

Lebenserfahrung. Realität. Der Zuschauer empfindet das als natürlich. Da sind ein Mann und eine Frau, und die stehen beide unter Druck und fallen übereinander her, ge- oder missbrauchen sich, um Spannung abzubauen.

 

                                                --- Vortragspause ---

 

 

Sexuelle Wesen sind wir von Geburt an. Wir sind körperlich erregbar von Geburt an. Wir sind aber noch nicht fähig, diese Erregung selbständig aufrechtzuerhalten, aufzubauen oder eine körperliche Vereinigung einzugehen. Ein eigener innerer Impuls dazu entsteht erstmals zu Beginn der Pubertät. Wenn es vorher geschieht, handelt es sich um Initiation. Ein Kind empfindet es nicht als störend, wenn es so im Genitalbereich angefasst wird, dass es das Wohlbefinden steigert. Es steigert das gesamte körperliche Wohlbefinden, und da spricht auch nichts dagegen. Es sei denn, dass ich als Erwachsener es benutze, um mich selber zu erregen. Das wäre Missbrauch, und ein Kind würde dies unbewusst auch als solchen wahrnehmen.

 

Ich weiß nicht, wann das hierzulande aufgehört hat, obwohl es in anderen Kulturen immer noch so ist: Es gibt ein ganz einfaches Mittel, wenn Kinder Einschlaf- oder Schlafstörungen haben: Man muss nur eine Zeit lang ihre Genitalien ruhig halten, dann kommen sie zur Ruhe und schlafen ein. Aber nicht Stimulation. Unsere Genitalien sind der Bereich, wo sich unsere Anspannung, unsere Unruhe, unsere Ängstlichkeit konzentrieren. Es ist aber auch der zentrale Bereich, wo ich mit meiner beruhigenden Hand auf einen Schlag den ganzen Körper beruhigen kann.

Ich möchte noch einmal die Situation, die ich vor der Pause angesprochen habe, vertiefen. Diese verstärkte erotische Ansprechbarkeit, wenn man in einer unvertrauten Umgebung ist,  gilt auch, wenn ich auf eine Party gehe, wo viele fremde Leute sind. Die Unsicherheit, in die es mich versetzt, geht einher mit dem Gefühl, ausgeliefert zu sein, potentiell ausgeliefert zu sein. Wenn ich meine Genitalien auswärts trage, also als Mann, habe ich das Gefühl, ich suche Schutz und würde gerne irgendwo unterkriechen. Und genauso gibt es die Empfindung bei der Frau, sich offen ausgeliefert zu fühlen und etwas zu suchen, das physisch diese Öffnung füllt. Und so kommen sich diese beiden Bestrebungen eben entgegen.

Daraus folgt die Frage, ist das dann die einzige Möglichkeit? Bin ich als Mensch dem ausgeliefert? Heißt das, ich muss immer in einem Spannungszustand bleiben, wenn ich nicht Gelegenheit zur Sexualität habe?

 

Zuhörerin: Also, ich habe in der Jugend mehrmals die Schule gewechselt und verschiedene Formen von Sexualkundeunterricht erlebt. Rückblickend ist deutlich, dass das Tabu-Thema nicht Sex ist, sondern eher Zärtlichkeit. Jeder hat im Sexualkunde nur beigebracht bekommen, wie der mechanische Vorgang abläuft. Auch jetzt bin ich noch an einer Schule tätig und höre die Frauen immer nur Fragen stellen, wie sie das Glied des Mannes besser erregen können und nicht Fragen stellen, was Zärtlichkeit mit Sexualität zu tun hat. Also es ist immer nur der rein mechanische Vorgang, der irgendwie angesprochen wird, hinterfragt wird.

 

Also wenn es tröstet: Man kann auch einige Jahre Psychologie und Sexualtherapie studieren und bekommt dort auch nicht viel mehr vermittelt.