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„Es ist schwer zu erklären und noch schwerer zu verstehen, daß die Wahrheit in der innersten Kammer der Seele wohnt und nicht ausgesprochen werden darf, weder durch Worte noch durch Schweigen. Auch alle Versuche, sie zu umschreiben, entstellen sie, da unsere Sprache durch subjektive Erfahrung geprägt ist. So gerät die Wahrheit zur Karikatur, wenn wir ihr mit unseren Ausdrucksmitteln beizukommen versuchen. Nun wird aber der Wirklichkeitsgrad aller Dinge durch die ihnen innewohnende Wahrheit bestimmt, und es ist kein philosophisches Paradoxon, sondern eine Lehre der Erfahrung, wenn wir erkennen, daß wir der äußeren Erscheinung gerade dann besonders mißtrauen müssen, wenn diese uns besonders ‚wahr’ erscheint.“

A.C.

 

Während des langen inneren Dialoges mit Cretus hatte Meure kaum darauf geachtet, was um ihn herum geschah. Es war ohnehin nicht der Mühe wert. Die Zeit auf dem Fluß verstrich in schleppender Einförmigkeit, und die Beziehungen der Gruppenmitglieder zueinander waren endgültig festgelegt.

Aber inzwischen war jemand still und unauffällig neben ihn an die Bordwand der Barke getreten: Ingraine Deffy, das Mädchen, das ebenfalls mit der Ffstretsha gekommen war.

Meure hatte Spaß an Mädchen, ohne daß er sie besitzen wollte. Aber er konnte sich leicht vorstellen, daß die schlanke Ingraine sehr leicht Besitzansprüche erwecken konnte. Aus der Ferne betrachtet war sie einfach ein hübsches Mädchen, nicht einmal besonders auffällig. Wenn man ihr jedoch dicht gegenüberstand, war sie von einer atemberaubenden, fast übermenschlichen Schönheit. Die Eleganz ihres schmalgliedrigen Körpers wirkte zerbrechlich kostbar, und ihre Haut war durchscheinend zart. Die ebenmäßigen Gesichtszüge waren wie von der Hand eines Meisters gestaltet. Sie waren vollendet. Die Ereignisse seit der Notlandung hatten in der fast kindlichen Feinheit dieses Gesichts kaum Spuren hinterlassen.

Meure war kein schneller Straßen-Casanova (so schätzte er Cretus ein), aber auch kein unerfahrener Dorfjunge. Er war gewitzt genug, um aus eigenen Erfahrungen beurteilen zu können, daß Ingraine nicht so jung war, wie sie wirkte; und die Schrecken, denen sie entrinnen mußten, hatten sie kaum in Panik versetzt. Aber – ganz gleich, ob sie das wollte oder nicht – es ging von ihr ein Schutzbedürfnis aus, dem sich niemand entziehen konnte. Sie hatte es gelernt, ihr Verhalten ihrem Äußeren anzupassen. Ein feines Gespür verriet ihr die Gefühle, die ihr die anderen entgegenbrachten, und sie verstand es, sie zu ihrem Vorteil auszunutzen. Es fragte sich nun, was sie wohl als ihren Vorteil erkannt haben mochte.

Die Situation bereitete ihm Unbehagen. Meure und Halander waren nur zufällige Gefährten, keine echten Freunde, und Halander hatte sie schon an Bord des Schiffes für sich beansprucht.

Ingraines Verhalten beunruhigte Meure. Es beschwor nur neue Probleme herauf, und er war der Meinung, daß die Lage bereits kompliziert genug war.

Bisher schien sie ihn kaum wahrgenommen zu haben, doch jetzt stand sie neben ihm, strich sich ihr glänzendes braunes Haar aus der Stirn und starrte traumverloren über das Wasser. Ihre vollen Lippen verzogen sich nachdenklich.

Was hatte Cretus gesagt? Gedanken sind eine endlose Kette, aber man muß ihr so weit folgen, wie man kann. Er zweifelte nicht daran, daß er von Cretus viel lernen konnte, und er wandte Cretus’ Satz auf ihre Situation an: Ingraine hatte gespürt, daß Cretus eine starke Persönlichkeit war, und jetzt wollte sie sich diesem neuen Partner anschließen … Ingraine konnte sie in ärgere Verwicklungen stürzen als alles, was sie bisher auf Monsalvat erlebt hatten. Die Lage spitzte sich bereits zu. Er brauchte sich gar nicht umzudrehen, um Halanders aufsteigende Wut wahrzunehmen. Was würden die anderen denken? Tenguft? Audiart? Ja, und wie war es mit Cretus? Er sah sich nach innen und nach außen um, aber alle hatten sich zurückgezogen. Er war auf sich selbst angewiesen.

Sie fragte so leise, als sei es nur für seine Ohren bestimmt: „Woran denkst du gerade?“

„Wer, ich? Ja, ich dachte … äh … wieso? Ich hätte nicht geahnt, daß ich einmal solche Abenteuer erleben würde, als ich auf Tankred auf der Ffstretsha angeheuert habe.“

„Ja, schreckliche Dinge sind geschehen. Glaubst du, daß wir je von diesem … Monsalvat gerettet werden?“

„Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, aber die Ler glauben, daß irgendwann ein Spsom-Schiff hierherkommen wird. Wenn wir dann noch leben, wird es uns sicher mitnehmen.“ Er fragte sich, warum sie bei dem Wort Monsalvat gezögert hatte.

„Aber die Spsomi haben uns doch verlassen und sind bei den Jägern geblieben …“

„Ich glaube, daß sie einfach dicht bei der Absturzstelle bleiben wollten. Vielleicht hoffen sie auch, daß die Haydars es mit ihren hochempfindlichen Sinnesorganen lange vorher spüren werden, wenn ein Schiff kommt. In der Zwischenzeit können sie sich mit etwas Sport die Zeit vertreiben.“

„Und wir müssen in jeder Minute um unser Leben bangen. Ich dachte, die Jäger wollten uns auffressen. Warum taten sie es eigentlich nicht?“

„Soviel ich weiß, folgen sie bei allen ihren Taten einem System von Orakeln und Prophezeiungen. Man kann auch sagen: Ihre Geister befahlen ihnen, uns zu dieser Festung zu verfrachten. Außerdem … glaube ich nicht, daß sie uns tatsächlich verspeist hätten. Sie betrachten uns nicht als Wild. Sie hätten uns wahrscheinlich eher als lästiges Gepäck irgendwo abgeworfen oder uns an einen anderen Stamm verkauft. Wer weiß? Wir stellen für sie keine Bedrohung dar, und das hatten sie sicher schnell erkannt. Von allen Klesh, die wir bisher gesehen haben, scheinen sie am meisten zu taugen. Zumindest sind sie sehr aufrichtig, auch wenn sie ein wildes Leben führen. Ich wünschte, ein paar von ihnen würden uns dorthin begleiten, wohin wir jetzt ziehen.“

„Ich dachte, wir würden über diesen langweiligen Fluß fahren, damit wir von der Festung wegkommen. Wohin reisen wir denn?“

Meure war durchaus auf der Hut, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er wußte, daß Ingraine eigentlich zu Cretus sprach und nicht zu ihm, Meure Schasny. Cretus hatte sie zum Fluß und zu diesem Boot geführt; Cretus wußte, was dort liegen mochte, wo dieser stinkende Fluß sich in den stürmischen Golf zwischen den beiden südlichen Halbinseln von Kepture ergoß. Das wußte er besser als sie alle, Tenguft eingeschlossen. Wenn er also dahin unterwegs war – welchen Grund hatte er dafür? Ingraine spürte, daß das Land nichts Neues zu bieten hatte, aber eine Stadt, das bedeutete Veränderung, das war eine Brücke, die ins Ungewisse führte. Er sagte schlicht: „Zu einer Stadt.“

„Gibt es denn tatsächlich Städte auf diesem Planeten?“

„Ja, das hat man mir erzählt. Aber sie sehen sicher nicht so aus wie die Städte, die ich kenne, eher wie etwas aus der tiefsten Vergangenheft.“ Er versuchte, sie abzulenken: „Kommst du auch von Tankred?“

Ingraine schüttelte heftig den Kopf, ihre braunen Locken wirbelten durch die Luft. „Nein. Hast du das nicht gewußt? Nun, offenbar hast du es nicht mitbekommen. Ich bin in Flordeluna an Bord gekommen.“

Meure blickte zur Seite, um seine Überraschung zu verbergen. „Das ist ja …“

„… ganz schön weit weg“, beendete sie seinen Satz. „Ich weiß.“

„Woher ist Audiart gekommen, auch von Flordeluna?“

„Hat sie es dir nicht erzählt?“

„Nein, ich habe sie nicht danach gefragt.“

„Sie war schon an Bord, als ich kam. Mir hat sie es auch nicht erzählt. Manches in ihrer Art deutet darauf hin, daß sie von einer ähnlichen Welt wie Tankred kommt, aus einer abgelegenen Gegend …“

Meure sah darin keine Beleidigung. Er wußte, daß Tankred ein ziemlich entlegener Fleck war. Flordeluna lag auf der anderen Seite der zentralen Sonnensysteme. Wenn Audiart schon vor Ingraine an Bord war und von einem Kolonieplaneten stammte, dann mußte dieser sehr weit draußen auf der anderen Seite liegen, fast schon im Spsom-Gebiet. Er fragte: „Haben euch die Ler genauso angeheuert wie uns?“

„Sie haben uns angeheuert, aber nicht so wie euch. Audiart und ich, wir waren schon an Bord, als das Ler-Mädchen das Schiff gechartert hat. Wir konnten entweder das Schiff verlassen oder einen Job bei der Ler-Gruppe annehmen. Wir waren damals gerade auf einem Ler-Planeten, und da wollte ich auf keinen Fall hängenbleiben!“ Ihre letzten Worte klangen sehr hitzig; der Gedanke, daß eine ganze Welt ausschließlich von Ler bewohnt würde, schien ihr unerträglich zu sein.

„Haben sie denn dort keine Transi{23}?“

„Auf Lickrepent? Doch, natürlich. Aber man muß ganz schön schuften, bis man da wieder rauskommt. Dazu hatte ich keine Lust.“ Sie sah selbstbewußt von der Seite zu ihm auf. „Ich ziehe es vor, nicht härter zu arbeiten; als es unbedingt nötig ist; und da gebe ich schon lieber das Dienstmädchen für ein paar Ler-Aristokraten ab, als daß ich mich in einer Transi abrackere. Aber eigentlich hätte ja alles noch viel schlimmer kommen können. So habe ich wenigstens später eine interessante Geschichte zu erzählen.“ Sie ließ ihre Locken noch einmal fliegen und blickte lächelnd zum Himmel hinauf.

Da steht sie nun, dachte Meure, ein schlankes Mädchen, das aussieht, als ob es noch in die Schule gehen würde. Und doch war diese Ingraine erfahren genug, um allein durch das Weltall zu trampen. Mut hatte sie also, und sie war auch … gefährlich. Audiart hatte sich ihm hingegeben, ohne etwas zu fordern, ohne an morgen zu denken. Tenguft hatte ihn zu etwas benutzt, dessen Zweck ihm dunkel geblieben war, aber sie hatte etwas mit ihm geteilt. Doch Ingraine hatte ihren Preis, und er war sich nicht sicher, ob er ihn zahlen konnte – oder wollte. Wollte sie, daß er Cretus ganz die Herrschaft über seine Person überließ? Er wußte nicht, ob Cretus bereit war, einen Preis zu zahlen, ganz gleich, wie hoch er sein mochte. Cretus haßte alle Einschränkungen und Verpflichtungen … Doch wenn Meure sie länger betrachtete, die glatte Haut ihres schlanken Halses, den zarten Körper unter dem geborgten Ler-Oberkleid, dann spürte er, wie das Begehren in ihm wuchs. Meure sah sich schuldbewußt um. Ihm war nicht wohl in seiner Haut, und Cretus hielt sich natürlich zurück und ließ ihn mit dieser wichtigen Entscheidung allein. Wahrscheinlich wollte er ihm auch noch gemütlich dabei zusehen …

Halander starrte vom Bug aus finster zu ihnen herüber, hin und wieder bewegte er sich unentschlossen auf der Stelle. Tenguft schien den ganzen Vorgang zu ignorieren. Audiart wich Meures Blicken aus. Sie wirkte traurig. Offensichtlich machte sie sich Sorgen um ihn und war nicht eifersüchtig auf das Mädchen. Er mußte eine Entscheidung treffen; dieser Gedanke lastete schwer auf Meures Schultern. Doch ganz gleich, wie er sich entschied, irgend jemanden würde er sich zum Feind machen, und er konnte sich keine neuen Feinde leisten. Auch Cretus konnte zu seinem Feind werden, und er war ein schrecklicherer Feind, als ihn je ein Mann hatte.

Einer der Bootsleute rief plötzlich seinen Gefährten etwas zu und begann aufgeregt zu zittern. Sofort versammelten sich die anderen bei ihm am Heck der Barke. Alle spähten nach Westen, flußaufwärts. Irgend etwas mußte dort im Wasser verborgen sein. Die Mischlinge der Besatzung schwatzten wild durcheinander, doch Meure konnte nicht entdecken, was sie so aus der Fassung brachte.

Die Aufregung der Bootsleute schlug in Panik um. Einer kletterte auf die Reling und schrie den Passagieren etwas zu. Meure beobachtete angestrengt die Wasseroberfläche, aber da gab es keine auffällige Veränderung. Er fragte sich, was in die Männer gefahren war … Doch, in weiter Ferne war die Wasseroberfläche etwas bewegt, der unregelmäßige Fleck bewegte sich vage in ihre Richtung. Irgendein Tierkörper war allerdings nicht zu erkennen, und erst recht konnte man keine Einzelheiten ausmachen.

Der Mann auf der Reling stieß einen langen, klagenden Schreckensruf aus. Seine Stimme überschlug sich, während der Schrei über das Wasser schallte. Es lag ein Entsetzen in diesem Laut, das sich nicht in Worte fassen ließ. Dann schwang sich der Mischling über das Geländer, sprang ins Wasser und schwamm auf das südliche Ufer zu, das nicht allzuweit vom Schiff entfernt war. Die verbliebenen Bootsleute zögerten; sie tauschten fragende Blicke untereinander aus, schauten dann auf ihren Gefährten im Wasser, auf das Boot und wieder auf den Ruß. Einer nach dem anderen kletterten sie über die Reling und sprangen ins Wasser. Der Fluß war noch ruhiger geworden, seine Oberfläche war starr wie geschmolzenes Glas. Die kräftigen Schwimmstöße der Bootsleute verursachten nicht die kleinste Welle.

Die Passagiere sahen sich unsicher an. Die Bootsleute hatten ihr Schiff aufgegeben! Morgin hatte nachdenklich vor sich hin gedöst, aber jetzt hastete er zum Heck der Barke. Meure und Ingraine schlossen sich ihm an. Sie liefen an Tenguft vorbei, die sich nicht von ihrem Platz gerührt hatte, aber auch sie starrte unter ihren dichten Brauen hervor gebannt flußaufwärts.

Im Südwesten hinter sich sahen sie jetzt die Köpfe der Bootsleute im Wasser, die weiter verzweifelt auf das Ufer von Ombur zuschwammen. Mit einem schmatzenden Geräusch stieg zwischen ihnen eine kleine Wassersäule auf, und dann gab es einen Kopf weniger. Meure spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Was war das für eine Kreatur, vor der die erfahrenen Bootsleute flohen wie aufgescheuchtes Wild?

Die Passagiere standen nebeneinander an der Heckreling und schauten auf den Fluß. Etwas kam näher, schwamm auf die Barke zu. Es hatte keine erkennbare Form und schwebte dicht unter der Wasseroberfläche, wie von einer unsichtbaren Kraft getragen. Meure blickte Morgin fragend an, doch dessen Gesicht war ausdruckslos. Hier hatten sie es mit einem Phänomen Monsalvats zu tun, das dem Mittler noch nicht untergekommen war.

Tenguft glitt in einer katzenhaften Bewegung von dem Stapel, auf dem sie gesessen hatte, und trat dicht hinter Meure. Sie ließ ihre Augen nicht von der Erscheinung im Wasser. Meure blickte sich zu ihr um, aber sie beachtete ihn nicht.

Er wandte sich wieder dem rätselhaften Objekt zu. Es war jetzt nahe am Boot und schwebte weiter auf sie zu. Man konnte nicht erkennen, wie es sich eigentlich im Wasser bewegte, und es gelang Meure nicht, die Erscheinung genau zu fixieren, so sehr er sich auch bemühte. Das Ding entzog sich der Wahrnehmung durch die gewöhnlichen menschlichen Sinne. Es war von bräunlicher Farbe, aber es hatte keine klare Kontur. Seine Gestalt änderte sich dauernd: Manchmal wirkte es klein und weit entfernt und Augenblicke später riesig und in unmittelbarer Nähe. Meure kannte kein Lebewesen, mit dem er es annähernd hätte vergleichen können.

Er sah Tenguft an. Das Mädchen hatte die Lippen zusammengepreßt und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf das unbekannte Wesen. „Was ist das?“ fragte Meure. „Warum fürchten sie sich so davor?“

Sie antwortete ihm, ohne ihn anzusehen: „Es gibt sehr alte Geschichten, die davon berichten.“ Sie sprach sehr leise, so als ob sie etwas nicht aus dem Schlaf aufschrecken wollte. „Aber ich selbst habe es noch nie gesehen; ich kenne auch niemanden, der es je gesehen hätte. Unsere Riten dienen dazu, das Erscheinen solcher Dämonen zu verhindern. Es ist schlimm, daß uns dieser Dämon erscheint. Das kann Schreckliches bedeuten.“

Meure wiederholte seine Frage: „Was ist das?“

Sie fuhr fort: „Die Lami Sari Au Aderbe ist einst ganz allein einem entgegengetreten, um ihren Stamm, die Tahiret, zu retten. Gambir ’Am-sekeb, der heilige Mann, hat eines herbeigerufen, um den großen Krieg von N’Guil-Ellem zu beenden. Man sagt, daß Imrem Galtaru sich mit einem verbündete und daraufhin von den Haydars ausgestoßen wurde. Man erklärte ihn zur Jagdbeute, und die Größten meines Volkes machten sich auf, um ihn zu verfolgen, aber sie hatten keinen Erfolg und kehrten ohne Trophäe zurück. Und manch ein tapferer Haydar-Krieger war unfähig, darüber ehrenhaft zu berichten …“

„Soll das heißen, daß sie es gesehen hatten, aber nicht darüber sprechen konnten?“

Morgin unterbrach sie taktvoll: „Sie versucht anzudeuten, daß die großen Krieger auf eine Art verschwunden sind, die nicht dazu angetan war, ihnen ihr ehrenhaftes Andenken zu sichern …“

Tenguft nahm ihren Bericht wieder auf. „… Ebdallan Yamsa kehrte ohne seinen Speer nach Illili zurück; vor Furcht kroch er auf allen vieren. Da gaben sie die Jagd nach dem elenden Imrem auf. Er sei verflucht in Ewigkeit. Das Namenlose aber haben wir nicht vergessen, und wir hüten uns vor ihm. Ich weiß nicht, warum es jetzt gekommen ist, und Morgin, der einen Wendel sein eigen nennt, weiß es auch nicht.“

Die Erscheinung hatte sich inzwischen weiter genähert. Sie war höchstens noch einen Steinwurf von der Barke entfernt. Doch sie bewegte sich nicht weiter auf sie zu, sondern trieb in etwa gleichbleibendem Abstand hinter ihnen. Auch jetzt gelang es Meure nicht, das Ding genau zu erkennen. Sein Umriß blieb verschwommen, und seine Form und innere Struktur änderten sich so schnell, daß man keine Einzelheiten ausmachen konnte. Meure kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte sich ganz auf das Wesen zu konzentrieren, aber es half nichts. Es gelang seinen Sinnen nicht, die rasenden Veränderungen, die er wahrnahm, zu einem beständigen Bild zusammenzufassen. Kein Geräusch begleitete die Erscheinung. Meure war davon überzeugt, daß es sich um ein lebendes Wesen handelte, aber da war nichts, worauf er diese Vermutung stützen konnte. Es konnte sich sogar nur um eine außergewöhnliche Turbulenz des Wassers handeln.

Dann sprach das Ding plötzlich, mit einer Stimme, die aus großer Ferne kam und gleichzeitig direkt neben dem Ohr zu schweben schien: „Wo ist Cretus?“

Tenguft hob ihren Speer. „Cretus ist nicht hier. Entferne dich! Wir sind Pilger, die dem Orakel von Dossolem folgen müssen. Ich habe es gelegt, und ich habe es gedeutet. Ich weiß, daß für dich kein Platz darin ist.“

Es erwiderte: „So nicht, Haydar! Ich gebe die Deutung: Cretus wirft einen Schatten, der mir nicht verborgen bleibt. Lange Zeit war er an einem Ort, zu dem ich keinen Zutritt habe. Doch jetzt ist sein Schatten hervorgekommen. Ich habe von Cucany gehört, die Spiegeldeuter haben mir alles erzählt. Dort hat man große Furcht vor mir. Doch dort ist Cretus jetzt nicht mehr. Ich sehe seinen Schatten, doch ich suche sein Ich.“

„Hier ist kein Cretus!“ rief Meure. „Hier gibt es keinen solchen Mann!“

Das Wesen schien sich neu zu orientieren und seine Aufmerksamkeit auf Meure zu richten. Dazu benötigte es einige Zeit, doch dann spürte Meure geradezu körperlich die ganze Wucht der Konzentration dieser namenlosen Masse. Ein Druck legte sich auf seine Brust, der ihn zurückweichen ließ. Es sagte: „Ich erkenne dich. Du bist von Monsalvat gekommen. Aber der Schatten, den du wirfst, ist Cretus’ Schatten.“

„Cretus hat versucht, mich in Besitz zu nehmen, aber ich habe ihn abgewiesen. Du mußt ihn woanders suchen.“

„Ich soll mich irren? Das ist nicht möglich. Ich folge Cretus’ Weg, und ich sehe seinen Schatten. Etwas ist falsch, das stimmt, aber der Fehler ist irgendwo hier zu suchen. Er kann seinen Schatten an andere Personen heften. Er ist nur noch ein Schatten. Ja, so muß es sein!“ Das Wesen setzte sich in Bewegung, kam näher an die Barke heran. Es wollte Cretus und Meure.

Meure wünschte verzweifelt, er könne sich von Cretus befreien. Seine Angst vor Cretus war nicht so groß wie die vor dieser schreckenerregenden Erscheinung. Was würde mit ihm geschehen, wenn sie versuchte, Cretus von ihm zu trennen? Ohne darüber nachzudenken, hielt er plötzlich das Messer in der Hand, das Tenguft ihm geschenkt hatte. Er riß den Arm hoch, und das Messer flog, mit der Spitze voran, genau auf das Zentrum des Wesens zu. Die Waffe traf auf, flog dann jedoch zurück, auf genau dem gleichen Wege, wie sie gekommen war. Sie schnellte ihm in die geöffnete Hand zurück, und Meure wiederholte alle seine Wurfbewegungen in umgekehrter Reihenfolge. Er zielte kurz und warf noch einmal. Diesmal traf er etwas seitwärts von der ersten Stelle, und die Klinge flatterte leicht auf ihrer Flugbahn.

Wieder prallte sie von dem Objekt zurück, doch diesmal tauchte sie mit einem lauten Klatschen ins Wasser ein. Eine Gischtfontäne stieg auf. An der Stelle, wo das Messer den Flußdämon berührt hatte, quoll eine Dampfwolke aus dem Wasser. Schnell wuchs sie zu einer mächtigen Säule, und unter einem zischenden Pfeifen verbreiterte sie sich ständig. Bald war ein großer Teil des Flusses von weißem Dunst bedeckt. Da verebbte das Zischen plötzlich, so als ob es sich sehr schnell entfernte. Als der Dunst verweht war, war die Erscheinung verschwunden.

Meure fragte sich, was seine Tat mit dem Vorgang zu tun haben konnte. Vielleicht hatte er das Objekt an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen, und es mußte sich zurückziehen. Wahrscheinlich würde es bald zurückkehren. Er sah hinüber zu der Stelle, wo das Messer verschwunden war. Es war unwiederbringlich verloren. Er hoffte, daß Tenguft ihm zugestand, daß er es einem guten Zweck geopfert hatte. Kleine Wellenringe liefen dort über die Wasserfläche, aber bald waren auch die vergangen.

 

Es war Nachmittag, aber die Sonnen waren unter einer hohen Dunstschicht verborgen. Durch die trübe Atmosphäre und die Reflexionen der Wasseroberfläche hatte das Licht einen fettigen Beigeton angenommen, bei dessen Anblick Meure Ekel empfand. Eine bedrohliche Stimmung beherrschte die ganze Umgebung. Seit ihnen die Wasserkreatur erschienen war, waren alle in tiefes Schweigen versunken. Niemand ließ den Fluß längere Zeit aus den Augen, da alle fürchteten, daß sie jeden Moment wieder auftauchen konnte.

Das Licht ließ weiter nach, die Wolken verfärbten sich giftig graugrün. Die fernen Uferlinien waren immer schlechter auszumachen, bald waren sie völlig unsichtbar. Morgin und Tenguft verteilten harte Brotscheiben, und jeder erhielt seine Wasserration. Als die Nacht hereinbrach, suchten sie Schutz vor der Feuchtigkeit, die in der Luft hing. Nach einer Weile waren alle in einen erfrischenden Schlaf versunken.

Der Tag war noch nicht angebrochen, als Meure erwachte. Er dachte, er hätte ein Geräusch gehört, doch als alles stillblieb, wollte er sich wieder zum Schlafen zusammenrollen. In seiner Nähe bewegte sich etwas, ein warmer Körper schmiegte sich an den seinen. Es war eines der Mädchen, aber er wußte nicht, welches, denn es hatte sich in eine der rauhen Decken gewickelt, die sie auf dem Boot gefunden hatten. Tenguft war es wohl kaum, denn die Eckigkeit ihres Körperbaus wäre ihm auch unter der Decke nicht verborgen geblieben. Schläfrig öffnete er die Augen und versuchte etwas zu erkennen.

Dichter Nebel stand über dem Fluß, der nicht von diesem aufgestiegen war, sondern von oben auf ihn niederdrückte. Es regte sich kein Lüftchen. Dicke Tautropfen bedeckten das Holz des Bootes. In der Luft war ein neuer Geruch. Es drang nicht mehr allein der gewohnte Gestank des fauligen Wassers an seine Nase, wenngleich dieser das andere Aroma fast völlig überlagerte. Es roch nach Rauch und nach Geröstetem, ein schaler, abgestandener Geruch. Sie näherten sich irgendeiner Ansiedlung. Meure hielt nach Lichtern Ausschau, aber er sah nur völlige Finsternis. Nein, ganz in der Ferne schimmerte es etwas heller.

Er lauschte. Das Mädchen atmete regelmäßig, aber es schlief nicht. Es wartete. Aus der Ferne, getragen von dem dichten Nebel, drang ein schwaches Geräusch an sein Ohr, ein rhythmisches Klopfen, das eine Weile anhielt und dann verstummte. Etwas leiser noch hörte er den Atem des Mädchens. Die angenehme Wärme ihres Körpers war wie eine Aufforderung. Das Klopfen setzte wieder ein und wurde allmählich lauter. Diesmal hörte es nicht wieder auf.

Meure atmete tief ein und schmiegte sich enger an das warme Bündel zu seiner Linken. Er spürte, wie sich sein Pulsschlag erhöhte. Wer mochte es sein? An welcher Stelle der Barke befand sich Halander? Das Klopfen kam nun in unregelmäßigen Abständen. Jetzt wurde es schneller. Er ergriff das Mädchen bei der Schulter, tastete nach seinem Gesicht. Da bewegte sich die Unbekannte plötzlich und warf sich über ihn. Die Decke hatte sie kurz geöffnet und sie mit einer geschickten Bewegung so über sie beide geworfen, daß sie nun völlig darunter verborgen waren. Es beruhigte ihn, daß sie darauf achtete, daß sie unentdeckt blieben. Allerdings hatte er so keine Chance, seinen nächtlichen Besucher zu erkennen. Im Nacken spürte er eine warme, feuchte Berührung, einen liebevollen Kuß auf dem Schlüsselbein und dann einen kleinen, schmerzhaften Biß in der Schulter. Seine Hände glitten über warme, trockene Haut. Die unförmigen langen Schöße des Oberkleides wanderten wie von selbst an ihrem Körper hinauf. Zu diesem Zweck also sind sie so geschnitten, dachte er lächelnd.

Sie sagte kein Wort, überhaupt kein Laut drang von ihren Lippen. Auch er schwieg, denn er spürte, daß Worte den Zauber des Ereignisses nur zerstören konnten. Er suchte sie mit seinem Mund, und er fand ihr Ohr und ihre schmale Schulter, die er mit zarten Küssen bedeckte. Ihre Beine waren kühl, doch ihr Atem traf ihn heiß. Ihre Körper fanden mit natürlicher Selbstverständlichkeit zueinander, ein paar leichte Bewegungen, ein gelegentlicher sanfter Druck genügten. Sie war leicht wie eine Feder. Er fühlte kein Gewicht auf seinem Körper. So gab er sich ganz der Erregung hin, die in ihm wuchs. Es gab nur noch Gefühle, keine Gedanken. Mit jäher Plötzlichkeit kam die heiße Erlösung für ihn, und einen Moment später versteifte sich ihr Körper, und sie hielt den Atem an. Er hob horchend den Kopf; er konnte sich nicht erinnern, wann das Klopfen aufgehört hatte.

Lange Zeit verharrten sie bewegungslos und spürten, wie Puls und Atem wieder zu ihrem gewohnten Takt zurückfanden. Meure versuchte, die Körpergefühle zu bewahren, die ihm geblieben waren: Die warmen Stellen, wo sie sich am längsten berührt hatten, und die abgekühlte Haut, die nicht von der Decke geschützt gewesen war, ihr Duft, in den sich süßliches Blütenaroma mischte, die Art, wie ihre Hände seinen Körper berührten; eine lag noch immer unter ihm, und die andere massierte zärtlich seine Schulter … Etwas war ungewöhnlich an der Berührung dieser Hand, besonders jetzt, da sie sich auf seiner Schulter abstützte, weil das Mädchen sich von ihm lösen wollte. Der Druck ihrer Hand verteilte sich auf drei Stellen, anders als bei einem Menschen, der Daumen und Finger einander gegenüberstellt und dessen Hand so auf zwei Stellen drückt. Insgeheim versuchte er, ihre Handstellung mit seiner rechten Hand nachzuahmen, die auf ihrem Oberschenkel ruhte. Es gelang ihm nicht, da er seinen kleinen Finger nicht soweit zurückbiegen konnte. Ein plötzlicher Verdacht befiel ihn, und mit der anderen Hand griff er nach dem Haar des Mädchens. Das Haar war kurz, glatt und seidenweich. Flerdistar.

Meure wühlte sich aus der schweren Decke, und das erste Licht des Morgens traf ihre Gesichter. Es war noch sehr schwach und hatte eine zarte bläuliche Färbung, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er blickte in ein aufmerksames, schmales Gesicht, dessen Lippen sich zu einem feinen Lächeln geöffnet hatten, das nicht eine Spur von Gemütsbewegung zeigte.