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„Stell dir vor, wie ich es genoß: den Fluß der seidigen Wasser um unser Schiff, die körperlosen, märchenhaften Konturen der Hügel, die Dämmerung im Blattwerk der Wälder, die Windungen der Kobraküste, die finsteren Geschichten von Wracks und Piraten, die jene Unterwelt durchstreiften, durch die wir fuhren, wo man für neun Monate im Jahr das Wasser nicht vom Himmel unterscheiden konnte, so dunkel und feucht ist dort die Luft, so heftig schäumt die Dünung.

Und hinter allem erhob sich, wie in einem Haschischtraum, das Hochland, Provinzen, die sogar den zivilisierten Einwohnern völlig unbekannt sind. Dort lag im rosigen Purpur die Hoffnung auf unvorstellbare Menschenstämme, bizarr tätowiert und gekleidet, mit schrecklichen Bräuchen und mysteriösen Riten, unerahnbar und doch grausam wirklich, Menschen mit einer Erhabenheit, die aus Einfachheit gewachsen war, und Verderbtheit, die verwoben war mit allen Graden des Wahnsinns.

A. C.

 

Der Rest des Gespräches zwischen Rescharten Tlanh, dem Ältesten, und Shchifr, dem Spsom-Kapitän verlief, ohne daß Meure zuhörte. Auch auf die Gesten achtete er nicht. Er beobachtete so unauffällig wie möglich den hintersten Bildschirm, wo die unregelmäßigen Bewegungen der Ffstretsha hin und wieder die ungewöhnlichen Konturen der Thlecsne ins Bild brachten. Das Schiff zog weder an, noch ließ es sich zurückfallen, es blieb vielmehr sorgsam in seiner Position. Der Spsom-Kapitän, Vdhitz, Rescharten, Flerdistar, sie alle mußten es bemerkt haben. Sie konnten gar nicht vermeiden, es zu sehen, genau wie er; und doch waren sie völlig uninteressiert, also mußten sie damit gerechnet haben. Meure dachte noch einmal über ihren Bestimmungsort nach und fragte sich, wozu sie für die Reise dorthin ein bewaffnetes Kriegsschiff als Begleitung brauchten.

Kurze Zeit später spürte er, daß das Treffen zu Ende ging und die Themen abgeschlossen waren. Die beiden Ler erhoben sich von ihren Plätzen, entboten den Spsomi ihren Gruß und entfernten sich. Meure zögerte einen Moment, dann folgte er ihnen.

Das Mädchen schien sehr mit einem Gedanken beschäftigt zu sein, war vielleicht auch erschöpft. Meure hielt es für das beste, es jetzt nicht mit Fragen zu bestürmen. Und Rescharten? Der Gedanke, den Ältesten zu fragen, war ihm unangenehm. Sie kehrten über Leitern und durch Gänge schweigend zu ihren Quartieren zurück. Im Gemeinschaftsraum sah er den anderen Ler-Heranreifenden sitzen. Er studierte konzentriert die Seiten eines kopierten Textes. Rescharten beachtete den Jungen gar nicht, ging geradewegs in seine eigene Kabine und schloß die Tür hinter sich. Flerdistar verhielt ihren Schritt für einen Moment, so als ob sie etwas sagen wollte, aber Clellendol ignorierte ihre Anwesenheit völlig. Dann ging auch sie zu ihrer Kabine hinüber, sah sich aber noch einmal mit unergründlichem Gesichtsausdruck um.

Meure spürte, wie die mannigfaltigen Ereignisse des Tages schwer auf ihm lasteten. Er war müde. Auch sah er keinen Grund zu bleiben und streckte die Hand nach der Tür zu ihrem Quartier aus.

Dann jedoch kam ihm ein Gedanke, und er fragte: „Wissen Sie, daß wir ein Begleitschiff haben?“

Clellendol sah aus seinem Buch auf und warf Meure einen beunruhigend durchdringenden Blick zu. „Die Thlecsne? Ja, das weiß ich.“ Der junge Mann schob einen Stuhl zurück und erhob sich langsam, die kopierten Bögen legte er auf den Tisch.

Meure fragte: „Warum fliegt ein bewaffneter Transporter Formation mit einem kleinen Charterschiff?“

Der Jüngling lächelte, durchaus nicht unfreundlich. „Ein Transporter … ja, so ist sie eingetragen. Tatsächlich ist sie etwas mehr als das: die Thlecsne Ishcht wurde von der Spsom-Bundesmarine in Dienst gestellt und gehört einer besonderen Klasse an. Bau und Größe gleichen einer Fregatte, aber die Bewaffnung kommt der eines Kreuzers gleich.“

Staunen erfüllte Meure. Diese Leute waren doch tatsächlich reich genug, um ein komplettes Spsom-Schiff zu chartern und ein Schlachtschiff noch dazu. Er sagte: „Ihre Expedition hat beide Schiffe gemietet?“

Clellendol schüttelte den Kopf. „Beide gemietet? Nein. Das könnte nicht einmal Flerdistar schaffen. Die Thlecsne hat Shchifr angefordert … Nein, sagen Sie nichts mehr. Da steckt mehr dahinter, als man in einer Nacht besprechen könnte. Ich würde meinen, daß der Erste Offizier schon mit einem von Ihnen gesprochen hat. Aha, Sie waren das also. Verdauen Sie all die Neuigkeiten erst, Schasny, lassen Sie sich Zeit dabei. Ich wünsche keine Panik.“

Clellendol wies auf die Blätter auf dem Tisch. „Hier, dies wird Ihnen einige Tatsachen über unser Reiseziel verraten. Sie werden dieses Wissen brauchen. Und halten Sie sich fern von der Liy Flerdistar. Fragen Sie sie nichts.“

„Gehört sie Ihnen?“ bemerkte Meure.

Clellendol gähnte und räkelte sich wie eine Katze. „Ganz im Gegenteil … ich meine in einem ganz anderen Sinn.“

„Warum gerade ich von uns vieren?“

„Weil Sie ein cleverer Bursche sind, das ist der einzige Grund.“ Der jugendliche Ler sprach mit einer gewissen Ungeduld, so als würde Meure es geflissentlich vermeiden, seine versteckten Winke aufzunehmen. Er fügte hinzu: „Ich habe Kontakt zu einem bestimmten Spsom aufgenommen, der meine Befürchtungen teilt. Ich sehe es Ihrem Gesicht an, daß Sie ihn auch kennen. Lesen Sie bitte die Blätter, die ich hier für Sie zurücklasse, und sprechen Sie in Ihrer freien Zeit mit Vdhitz, wie schwierig es auch sein mag, den Spsom-Akzent zu verstehen. Seien Sie wachsam. Es wird nötig sein.“

Clellendol wandte sich um und ging zur Tür seines Quartiers. Dort wandte er sich noch einmal um und blickte zurück, als wolle er sich vergewissern, ob Meure seine Absicht verstanden hatte. Meure hatte den heimlichen Wink verstanden, schien sich aber dennoch sicher zu sein, daß er nicht aufgefordert wurde, an einer geplanten Verschwörung teilzuhaben. Er schob die Papiere zusammen und nahm sie mit sich.

In der Kabine schien alles bereits zu schlafen. Schwach leuchtete das Nachtlicht über der Kochstelle. Er sah zu den Kojen hinüber. Alle waren dunkel, die Schiebetüren geschlossen. Für einen Moment verspürte er Erleichterung. Es schien, daß Halander noch nicht zum Zuge gekommen war. Meure sah genauer hin. Tatsächlich waren alle Türen, bis auf seine, geschlossen. Wer jedoch mit wem hinter welcher Tür lag, ließ sich nicht feststellen.

Meure stieg die schmale Leiter zu seiner Koje hinauf, beugte sich vor und zwängte sich durch die schmale Luke. Im Innern war es überraschend geräumig und bequem; die Ausstattung war wohlüberlegt und von erlesener Qualität. Direkt hinter der Tür befand sich eine gepolsterte Ablage, das Bett selbst lag etwas tiefer. Auch die anderen Seitenwände waren mit Ablagebrettern und kleinen Schränken besetzt. Für die Beleuchtung sorgte ein Deckenschirm, aber in die Wände waren weitere Lampen eingesetzt. Geschaltet wurden sie von einem kleinen Kasten aus, den er bald entdeckt hatte. Neben diesem Kasten war eine Anordnung ungewöhnlicher Steckdosen zu sehen; er sah jedoch kein Gerät, das zu ihnen gepaßt hätte. Vielleicht gehörten sie zu einer Sprechanlage, vielleicht ließ sich ein Unterhaltungsgerät anschließen. Er wußte es nicht. Die Schalter lagen ungewöhnlich in der Hand, was dafür sprach, daß es sich um eine gewöhnliche Spsom-Kabine handelte. Abgesehen von der ungewöhnlichen Handhabung der Schalter vermittelte nichts in der Kabine ein befremdliches Gefühl. Er fühlte sich sehr wohl, fast wie zu Hause.

Nach einigen Versuchen hatte er den Schalter für die Deckenbeleuchtung gefunden, und nachdem er etwas entdeckt hatte, was ganz offensichtlich eine Leselampe war, schaltete er das Hauptlicht aus. In einem Schrank fand er Decken, aber keine Kopfkissen. Er zog sich aus, wickelte sich in eine Decke und rollte die andere zu einem Kopfkissen zusammen. Dann fielen ihm die Blätter wieder ein. Er war müde und zögerte eine Weile, fragte sich, ob er nicht besser schlafen und den Artikel, den Clellendol ihm gegeben hatte, einfach vergessen sollte. Er gähnte, seufzte und zog den Blätterstapel dann resigniert zu sich heran. Er würde ihn vor dem Einschlafen einmal kurz überfliegen.

Beim ersten Abschnitt handelte es sich um einen trockenen Text über die allgemeine Ordnung des Planetensystems, zu dem Monsalvat gehörte. Meure blätterte ihn hastig durch. An dem System schien nichts bemerkenswert zu sein. Gar nichts? Er las den Abschnitt genauer. Nichts besonders Interessantes. Es gab sechs Planeten, einer war bewohnt, ein weiterer theoretisch bewohnbar, aber noch unerforscht. Vom Zentrum aus gesehen war Monsalvat der dritte Planet, der andere, mit Namen Catharge, war der zweite, eine heiße Welt, felsig und trocken. Es gab in diesem System keinen Gasriesen – das schien Meure ein wenig ungewöhnlich zu sein –, und die Sonne war ein Zwillingsgestirn aus eng beieinanderliegenden K6-Sternen, auch das war eigenartig, aber keineswegs besorgniserregend. Das System war zugleich außergewöhnlich stabil und sehr alt, soviel ließ sich aus dem Metallprozentsatz auf dem Spektrum der beiden Sonnen ablesen. Das Sternenpaar war einander so ähnlich, daß man sie als identisch bezeichnen konnte.

Auf intelligente Lebensformen gab es in der Vergangenheit Monsalvats keinen Hinweis. Sicher gab es dort heimische Lebewesen, die menschlichen Entdecker des Systems hatten jedoch keine Relikte, Werkzeuge oder Ruinen gefunden. Dies war eine Tatsache, die sie einigermaßen überraschte, und Monsalvat wurde für eine spätere, gründlichere Erforschung vorgesehen. Bevor dies jedoch geschehen konnte, war plötzlich eine Notlage entstanden: Man benötigte eine ganze Welt, so wie sie war, und der Planet wurde auf willkürliche und überstürzte Art besiedelt. Hier folgte ein Absatz im Text. Als die Beschreibung wiederaufgenommen wurde, war der Tonfall weniger allgemein und anschaulicher.

„… Monsalvat, eine recht wasserreiche Welt, besitzt vier Landmassen von fast kontinentaler Ausdehnung: Kepture, Cantou, Glordune und Chengurune. Der letztgenannte Kontinent ist der größte, Cantou der kleinste. Die gesamte Landfläche einschließlich der bekannten vorgelagerten Inseln macht neunzehn Prozent der Planetenoberfläche aus. Die Landmassen sind unzureichend, um die Pole vom Kreislauf des Wassers abzuschließen, daher findet sich auf beiden Halbkugeln keine Vereisung. Zwar weisen die geologischen Schichten aller Kontinente außer Cantou Anzeichen leichter Vereisung auf, aber diese hat offenbar nicht gleichzeitig stattgefunden.

Obwohl die Planetenachse zur Umlaufbahn stark geneigt ist (achtundzwanzig Grad), kann man das Klima als wenig wechselhaft bezeichnen; dies läßt sich zurückführen auf den hohen Wasseranteil sowohl im flüssigen als auch im gasförmigen Zustand.

… Wenn das Klima auch beständig ist, so gelten für das Wetter jedoch andere Bedingungen. Der Monsalvat-Tag dauert zweiundzwanzig Standardstunden; der kleine Mond übt keinen nennenswerten Einfluß auf die Gezeiten aus. Daher ist das Wetter starken Veränderungen unterworfen. In den äquatorialen und subpolaren Regionen wird es von heftigen Winden bestimmt, die einen ständigen Wechsel verursachen. Am Südpol, wo der Weltozean weder von Festlandsockeln noch von unterseeischen Erhebungen unterbrochen wird, können Wogen und einzelne Stürme den ganzen Planeten umrunden. In gemäßigteren Gegenden kommen Stürme weit weniger häufig vor, hier sind jedoch Wetterschwankungen häufiger anzutreffen. Die dichte Atmosphäre mit dem hohen Wasserdampfgehalt begünstigt eine rasche Wolkenbildung. Es mag überraschen, daß Monsalvat dennoch keine regnerische Welt ist. Gemessen am Wasserdampfanteil fällt wenig Niederschlag. Die Ursache hierfür mag das völlige Fehlen von atmosphärischem Staub sein, das typisch für diesen Planeten ist. Daher hat auch der Himmel, wenn er an klaren Tagen von der Planetenoberfläche aus betrachtet wird, eine dunkle, blau-violette Farbe. Die Wolkenfarben reichen von Weiß über ein gelbstichiges Grau bis hin zu Orange. Dies hängt vom Einfallswinkel der Strahlen der Doppelsonne ab.

Ein Forscher liefert eine subjektive Beschreibung der ungewöhnlichen Art des Lichtes von Monsalvat: Von gläserner Klarheit, und doch schien die Atmosphäre aus etwas anderem als Luft zu bestehen. Von dem von Wolkentürmen und -bändern durchwogten Himmel drangen Lichtpfeile und glänzende Strahlen in sie ein wie in eine dünnflüssige Substanz und schufen eine Stimmung ständiger Veränderung, Gärung, Aktivität, die bald an den Nerven zu zerren begann. Ständig spürte man den Zwang, sich umzublicken. Und nie konnte man sich völlig sicher fühlen, immer schien sich etwas zusammenzubrauen.“

Meure gähnte und blätterte um. Nun begann ein Abschnitt, der die allgemeine Beschaffenheit des Planeten auf einer sehr abstrakttechnischen Ebene behandelte. Ein schwerverdaulicher Text. Meure überflog die allgemeinen Daten und nickte. Nichts an diesem Monsalvat war wirklich außergewöhnlich. Er konnte es leicht zusammenfassen: Monsalvat war eine Welt, die von Wassermassen des großen Ozeans geprägt wurde. Ihr Umfang war etwas größer als gewöhnlich, ihre Masse etwas geringer. Es war ein Planet für Fußgänger: keine sehr großen Entfernungen, keine sonderlich hohen Gebirgszüge. Es gab allerdings ein paar ziemlich niedrige Gebirge. Die Ozeane waren tief, aber keine unendlichen Abgründe. Bisher klang alles recht angenehm, eine Welt zum Ferienmachen. Ein Ort, wo man sich erholen konnte, wo man Zuflucht vor allzu hektischen Dingen finden konnte. Meure schlug eine neue Seite auf.

Dies war ein Abschnitt, den man aus einem anderen Band kopiert hatte. Es ging um die Geschichte des Planeten. Er las ihn sehr sorgfältig.

„… 9223 wurden die Klesh vom Planeten Morgenröte ausgesiedelt und nach Monsalvat transportiert, wo sie völlig unter sich bleiben sollten. Die Klesh waren Menschen, die von einem degenerierten Nebenzweig der Ler zu völlig rassereinen Archetypen gezüchtet worden waren. Zu jener Zeit hielt man sie für kulturell derart verschieden von gewöhnlichen menschlichen Organisationsformen, daß man sie auf Monsalvat isolierte, um ihnen Zeit zu geben, sich umzugewöhnen. Da niemand weise genug sein konnte, um zwischen den unterschiedlichen Stämmen und Rassen Entscheidungen zu treffen, sollten sie sich selbst überlassen bleiben. Man richtete jedoch eine Gouverneur-Stelle ein, um die allgemeine Ordnung aufrechtzuerhalten und friedliche Bestrebungen zu ermutigen.

… Im Rückblick kann die Geschichte der Besiedlung Monsalvats nur als ein großer Fehlschlag betrachtet werden. Nichts in der Geschichte der Menschheit oder der Ler kommt ihm gleich. Gouverneur folgte auf Gouverneur und Verwaltung auf Verwaltung, doch das Ergebnis blieb immer das gleiche: Während sich die Klesh die Grundvoraussetzungen zum Überleben aneigneten, wurden sie gleichzeitig mit den Jahren immer widerspenstiger und barbarischer. Sie schienen sich selbst als vom Schicksal betrogene Rasse zu betrachten, die zu nichts anderem taugte, als den Planeten mit Barbarei zu überziehen; mit endlosen Scharmützeln, Sklaverei und Grausamkeiten aller Art.

… Jeder Klesh, welchem Typ er auch immer zuzurechnen war, hatte einen sonderbaren Standpunkt, von dem er niemals abrückte. Niemand hatte Heimweh nach dem Planeten Morgenröte. Erst recht erinnerte sich niemand an einen Zustand, der vor ihrem Leben auf Morgenröte geherrscht haben mochte. Es gab keine Legenden, keine Sagen, nichts. Die Krieger der Morgenröte hatten alle ihre Verbindungen zur Vergangenheit vollständig ausgelöscht. Daher erfüllte sie eine wilde Sehnsucht nach der Zukunft, tiefe Abscheu vor allen Ler und Verachtung für den Rest der Menschheit. Ansonsten wurde der durchschnittliche Klesh beherrscht von seiner Abneigung (im besten Falle) gegen alle Klesh, die einer anderen Rasse angehörten.

… Man hatte gehofft, daß die Isolierung auf Monsalvat den Kulturschock auf ein Minimum reduzieren würde, und wollte durch allgemeine Verordnungen verhindern, daß gewissenlose Händler aus ihren Bedürfnissen nach Produkten hochentwickelter Zivilisation hohe Profite ziehen würden. Die Verordnungen brauchten jedoch nach einer Weile gar nicht mehr angewendet zu werden. Monsalvat war zu abgelegen, und hier … (an dieser Stelle war die Kopie unleserlich) der Anflug war zu gefährlich, und die Klesh selbst waren zu zersplittert, um eine Organisationsform zu erreichen, die erfolgreich einen Start in den Weltraum hätte anstreben können.

… In der Zwischenzeit blühten die unterschiedlichen Klesh-Rassen auf oder gingen unter, sie vermischten und kreuzten sich, starben aus und erstanden neu in dieser ewig gärenden Welt. Die Anzahl der überlebenden ursprünglichen Rassen (Klesh-Bezeichnung: Radah) ging natürlich immer weiter zurück, aber es entstanden ständig neue Rassen, so daß es schließlich mehr Erscheinungsformen gab als ursprünglich auf dem Planeten angesiedelt wurden. (Es ist überliefert, daß es mehr als fünfhundert Klesh-Rassen gab, als die Schiffe auf Morgenröte beladen wurden.) Alle beanspruchen natürlich das gleiche Lebensrecht. Dieser Prozeß ist in der Gegenwart noch keineswegs abgeschlossen. Es ist eigenartig, daß die Kreuzungen der Rassen untereinander nicht zu allgemeiner Gleichartigkeit geführt haben. Wenn man von Kulturen auf Monsalvat sprechen kann, so ist diesen allen ein Grundsatz gemein: Das unbedingte Ziel ist die Reinerhaltung der Rasse, Mischlinge gelten als Parias und müssen gemieden werden.

… 9403 verließ der letzte Gouverneur Monsalvat, seine Stelle wurde nicht wieder besetzt. Zu diesem Zeitpunkt war die winzige Niederlassung der zivilisierten Gesellschaft bereits von einem bewaffneten Verteidigungsgürtel umgeben, und der Gouverneur hatte sein Amt nicht mehr ausgeübt. 9405 verließen auch die restlichen Menschen den Planeten. Es müßte vielleicht ergänzend erwähnt werden, daß die überlebenden Mitglieder der Gesellschaft von einem bewaffneten Kriegsschiff gerettet werden mußten. Ein Vorgang, wie er seit der Tau-Ceti-Krise 5225 nicht mehr eingetreten war.

… Händler, Forscher und verschiedene Institutionsgruppen flogen den Planeten zwar noch gelegentlich an, diese Kontakte gestalteten sich jedoch zunehmend gefährlicher und wurden daher schließlich völlig eingestellt. Monsalvat ist kein Anflughafen mehr. Hin und wieder kommt schon einmal ein Schiff in die Gegend, selten wird jedoch eine Landung versucht. Die Berichte dieser kurzen Besuche sagen alle dasselbe aus: Die Rassenvielfalt scheint einer Stabilisierung entgegenzugehen, aber das Leben dort ist so gefährlich, wie es immer war. Die Zustände sind chaotisch bis anarchisch.“

Den Blättern lag eine einfache Karte bei. Der Text fuhr fort mit einer Beschreibung der unterschiedlichen Klesh-Typen, ihrer Anzahl, Siedlungsräume, Gewohnheiten. Dem allen war eine Warnung vorausgestellt, daß die Informationen vermutlich überholt seien und heute keine Gültigkeit mehr hätten für jemanden, der närrisch genug wäre, eine Landung auf Monsalvat überhaupt zu versuchen. Meure studierte die Beschreibungen mit Spannung und Erstaunen. Die Vielfalt der Erscheinungsformen einer Gattung, der er selbst angehörte, flößte ihm Angst ein. Schließlich waren sie doch alle Zweige eines gemeinsamen Stammes. Die Menschen, die er kannte, waren einander fast so ähnlich, wie die Ler es waren. Aber dort auf Monsalvat, las er, gab es Rassen, deren Angehörige deutlich über zwei Meter groß wurden – und zwar beide Geschlechter –, andere waren kaum einen Meter groß. Andere waren so bleich und frei von Hautpigmenten, daß ihre Venen violett durch die Haut schienen. Wieder andere waren von stumpfer kohlschwarzer Farbe. Manche waren so dicht behaart, daß man sie als pelzig bezeichnen konnte, andere waren völlig unbehaart. Alle Erscheinungsformen waren auf Monsalvat möglich. Manche Arten waren sehr beständig, doch keine war den anderen auf Dauer überlegen, und keine schien in einem größeren Gebiet auf einem der vier Kontinente die Herrschaft an sich gebracht zu haben.

 

Meure legte die Blätter neben sich ab, löschte das Licht und zog sich die Decke bis unter das Kinn. Monsalvat! Diese Welt hatte er vergessen. Sie war im Geschichtsunterricht nur als ein unbedeutendes Datum aufgetaucht. Ein Ort, wo es noch Menschenrassen gab. Dies alles erschien ihm so wild und barbarisch, daß er es sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Und gerade dorthin waren sie unterwegs. Dies war ihr erklärtes Reiseziel, nicht etwa ein kurzer Zwischenstopp. Meure spürte, wie der Schlaf ihn umfing, und er wehrte sich nicht. Furcht stieg in ihm auf.

Es war kein friedlicher Schlaf. Er warf sich in seiner Koje hin und her, so heftig, daß er fürchtete, die anderen aufzuwecken. Doch alles blieb still und dunkel, und immer wieder sank er zurück in seinen unruhigen Schlaf. Dann begann er zu träumen. Zuerst erschienen nur bruchstückhafte Fetzen, Symbole und Bilder. Aus dem Dunkel stiegen sie auf und versanken wieder, nahmen immer neue Formen, neue Gesichter an. Sehr einfach und unerwartet veränderte sich plötzlich der Traum; er wurde konkreter, so lebendig wie die Wirklichkeit. Er befand sich in einem Palast. Soviel war klar. ‚Nicht eben sehr luxuriös’, kommentierte sein Unterbewußtsein. Doch, es war ganz eindeutig ein Palast. Ein Gefüge aus Steinen. Große, dunkle Steine waren es, schwer und massig. Sie waren geschickt behauen und geschliffen und ohne Mörtel aufeinandergefügt. Dieser Palast war seine Burg. Er konnte sich darin so frei bewegen, wie er es wünschte. Und doch wußte er, daß die Burg auf eine geheime Weise auch sein Gefängnis war. Es gab jemanden, das wußte er, der ihn bediente und den er gleichzeitig fürchtete. Meure war sich all dieser Dinge bewußt, ohne sie zu verstehen. In einem Vorzimmer ging er auf und ab. Dann wechselte die Szene, und er war in einem Verlies, tief unter dem Palast. In eisernen Haltern an den Wänden steckten Pechfackeln und warfen ein flackerndes Licht. Unsicher verhielt er seinen Schritt … Er hatte etwas vor. Etwas, das er fürchtete, etwas … Ehrloses, so schien es ihm. Sein Verstand lieferte ihm kein Bild davon. Er fürchtete das Ungewisse. Gleichzeitig gab es viele Möglichkeiten, sich anders zu entscheiden. In seine Angst jedoch mischten sich mit furchterregender Helligkeit Triumphgefühle. Rachegelüste, die so ursprünglich und stark waren, daß Meure beinahe davon aufgewacht wäre. Er mühte sich, in seinen Traum zurückzukehren, spürte, daß er ihn fast verloren hätte. Jetzt hielt er etwas in der Hand. Etwas metallisch Kaltes, Scharfkantiges. Es zerschnitt fast seine Haut, so fest hielt er es umklammert. Er stieß eine schwere Tür auf und trat in den Raum dahinter. An einer Wand hing dort ein Spiegel mit reichverziertem Rahmen. Er blickte hinein, doch dort entstand kein Bild. Im roten Dämmerlicht sah er schärfer hin. Er mußte wissen, wie er aussah. Endlich klärte sich der Blick, und Meure spürte, wie er dem Aufwachen entgegenschwebte. Aber jetzt konnte er das Bild im Spiegel erkennen. Er sah ein unbekanntes Gesicht. Ein Fremder starrte ihn an. Er hatte ein hartes, bitteres Gesicht; Falten umzogen Augen und Mund. Sein lockiges Haar war genauso rot wie sein sauber gestutzter Oberlippen- und Kinnbart. Ein brutales, knochiges Gesicht, jedoch auffällig schmal. Die Augen blinzelten, um das Dämmerlicht zu durchdringen, sie schienen böse triumphierend zu lächeln. Die zusammengepreßten Zähne blitzten. Meure erwachte schweißnaß, die Augen weit aufgerissen. Die Augen hatten ihn besonders fasziniert. Er hatte versucht, den Spiegel hinabzublicken … aber er konnte sich nicht erinnern. Der Faden war gerissen. Plötzlich hellwach, spürte Meure jenes sonderbare Phänomen, das oft von Menschen beobachtet wird, die aus einem besonders bewegten, rätselhaften Traum erwachen: Die Erinnerung an das Traumgeschehen ist oft eindrucksvoller als der Traum selbst. Dieser rothaarige Mann, die harten, scharfen Gesichtszüge eines streitbaren Einzelgängers. Meure kam dieser Mann bekannt vor. Ein unwirkliches Gefühl ließ ihn frösteln. Er kannte diesen Mann. Er war dieser Mann. Und genausogut war er es nicht. Er war auch er selbst. Er glaubte sogar seinen Namen zu kennen … In seinem ganzen Leben war Meure Schasny keinem solchen rothaarigen Mann begegnet. Langsam verblaßten die eindrucksvollen Bilder. Von irgendwo aus der Gemeinschaftskabine drangen schwache Laute an Meures Ohr. Die anderen erhoben sich aus den Kojen und gingen umher.

 

Meure hielt sich nicht für besonders introvertiert und begann, sich mit den alltäglichen Verrichtungen zu beschäftigen. Er sagte sich, daß der seltsame Traum eben nichts als ein seltsamer Traum gewesen sei und daß er ihn bald vergessen haben würde. Er sprach mit niemandem darüber. Halander hätte ihn für mondsüchtig gehalten. Auch Ingraine Deffy, die bereits eines der Überhemden aus dem Kleiderschrank trug, kam nicht in Frage. Und Audiart? Mit ihr konnte er – bis jetzt – auch nicht reden. Erst recht nicht mit einem der Ler. Sie waren zwar sehr höflich, aber zu distanziert. Außerdem hatten Flerdistar und Clellendol ein Verhältnis zueinander, das Meure nicht verstand. Es schien, daß sie ständig bemüht waren, einander aus dem Weg zu gehen. Offensichtlich hatten beide kein besonders tiefgehendes Interesse für seine Probleme.

Tag- und Nachtwachen wechselten sich an Bord der Ffstretsha ab. Auch Audiart trug nun Ler-Kleidung, da diese ihrer Meinung nach bequemer war. Halander schloß sich dieser Auffassung an und schließlich auch Meure. Mehrere Male ging er noch in die Offiziersmesse hinauf, einmal in seiner Freizeit. Der Anblick auf den Bildschirmen war im wesentlichen immer noch der gleiche wie beim erstenmal. Schwärze, die fernen Lichtpunkte der Sterne und im hintersten Schirm ein unförmiges Gebilde, der Kreuzer Thlecsne. Bei seinem letzten Aufenthalt in der Messe glaubte er jedoch eine rollende, stoßende Bewegung auf den Schirmen erkannt zu haben. Besonders die Thlecsne schwankte eindeutig, so als ob sie Mühe hätte, ihrem Kurs zu folgen … Meure hatte keine Vorstellung davon, wie Spsom-Schiffe funktionierten, und so konnte er nicht sagen, ob das Schaukeln für ihn irgendeine Bedeutung hatte. Aber das Bild prägte sich ihm ein: Ein Schiff, daß schwankte und schlingerte wie auf der Oberfläche eines bewegten Ozeans.

Auch bei den Spsomi wurde eine Veränderung bemerkbar. Der erste Eindruck, den Meure von ihnen allen gewonnen hatte, war der von entspanntem Sachverstand. Sie führten das kleine Schiff, die Ffstretsha, ohne sichtbare Mühe oder persönliche Spannung. Der Kapitän hatte das Kommando, der Astrogator steuerte, der Aufseher sorgte dafür, daß die unsichtbaren Sklaven etwas zu tun hatten, und Vdhitz kümmerte sich um den allgemeinen Zustand des Schiffes. Die Veränderung war kaum zu spüren. Die Mannschaftsmitglieder hatten es nur häufiger eilig als früher, sie wirkten manchmal angespannt. Die Tür zur Brücke war öfters geschlossen, schließlich blieb sie ständig zu. Dann wurde die Offiziersmesse geschlossen. Wenn man Vdhitz einmal sah, wirkte er gehetzt.

Der Traum blieb Meure im Gedächtnis. Nach einiger Zeit, mehrere Tagwachen waren vergangen, besuchte er Vdhitz in dessen Unterkunft im Heck des Schiffes. Keine geschlossenen Türen hielten ihn auf; er drang weiter und weiter nach hinten vor. Der geschwungene Gang gab den Blick nach vorn nicht frei und wurde ständig enger. Am Ende stieß er auf eine kleine kreisrunde Kammer. Dort bot sich Meure ein seltsamer Anblick.

Vdhitz beugte sich über eine leblose Form, die auf dem Boden lag. Sie war Meure so fremd, daß er sie nicht erkennen konnte. Hinter Vdhitz stand ein zweites dieser Wesen und sah unbewegt hinab. Außerdem war noch Zdrist, der Aufseher, zugegen. In der rechten Hand trug er ein eigenartiges Instrument, eine Kombination aus einem Griff und einem Handschuh mit ein paar unregelmäßigen Öffnungen. Möglicherweise war es eine Spsom-Waffe, aber Meure konnte sich nicht vorstellen, wie sie funktionieren sollte. Sie hatte keine Öffnung, die einer Mündung auch nur entfernt ähnelte.

Die beiden fremden Wesen stammten wahrscheinlich von Vfzyekhr. Das stehende war ungefähr halb so groß wie ein Spsom, sein Körper war von einem dichten, fahlweißen Pelz bedeckt. Es hatte zwei Arme und Beine, welche sehr kurz waren. Es schien auch einen Hals und Kopf zu haben; Gesichtszüge waren jedoch nicht zu erkennen, das dichte Fell verhüllte alles. Meure mußte sich eingestehen, daß er nicht einmal sagen konnte, ob das Wesen überhaupt in seine Richtung sah.

Er wartete. Vdhitz richtete sich auf und sagte etwas zu Zdrist, der leise antwortete. Dann redeten beide gedämpft auf den stehenden Vfzyekhr ein. Das Wesen verlagerte nur stumm das Gewicht von einem Fuß auf den anderen in einer sanft schaukelnden Bewegung. Die beiden Spsomi berieten wieder untereinander. Vdhitz griff nach einer Schalttafel oben an der Wand und drückte einen beleuchteten Knopf. An der gegenüberliegenden Seite der Kabine öffnete sich ein Spalt, wo vorher nichts auf eine Tür hingedeutet hatte. Nachdem der verborgene Durchlaß sich ganz geöffnet hatte, trat der Vfzyekhr in einen silbrig glänzenden Gang, der dahinter lag, drehte sich um und wartete. Zdrist befreite seine Hand von dem rätselhaften Gerät und reichte es dem anderen Spsom. Vdhitz ergriff es, und Zdrist stieg durch die Öffnung zu dem Vfzyekhr in den Gang hinein. Danach schloß Vdhitz den Durchlaß wieder und öffnete eine kleinere Luke, die sich unten zu seiner Linken befand. Dort hinein stieß er das leblose Wesen, das auf dem Boden gelegen hatte. Erst als er damit fertig war und nachdem er das waffenähnliche Instrument verstaut hatte, wandte er sein Gesicht Meure zu.

Er sagte: „Ick viehl ge-iept. Dejn Sprack. Ick glaup, ick jtzt viel beszer, Jia?“

Ohne es zu merken, nahm Meure selbst den zischenden Tonfall der Spsom-Redeweise an: „O jia, viel beszer.“

Ein Ohrtrichter des Spsom schwenkte in Richtung auf die Rückseite der Kabine. „Wihr ejnen Vfzyekhr verrlohren. Dasz wircklick szchlimm. Jtzt musz Zdrist in den Rehren helpen. Wihr verlirren ander Vfzyekhr, ick musz Rehren saubermacken.“

„Woran ist der … äh, Vfzyekhr gestorben?“

„Er beszchähdickt, bej Ahrbejt.“

„Verletzt?“

„Jia, jia, dasz der ricktick Wort: Värrleckzt! Hier schleckte Gegend. Wilder Rraum, sährr wild. Gefährlick. Iszt auck Sturm!“

Meure riskierte eine Frage: „Auf den Schirmen in der Messe habe ich deutliche Bewegungen gesehen. Sie waren viel heftiger als bei unserm Start – meinst du das? Im Schiff kann man nichts davon spüren.“

„Wenn szchlimmer, du spüren auck. Wir dasz erwartet, aber nickt so szchlimm.“

„Was können wir tun? Umkehren?“

„Käptn musz mit Lirleut sprecken. Ick weisz nickt. Sie haben sczhon betsahlt und ch, ch, ch …“ – er stieß ein kurzes, meckerndes Lachen aus – „… Shchifr hat faszt dasz ganz Geld ausgegeben. Spsom-Szchiff hat immer Szchulden.“ Er dachte einen Augenblick nach, dann fügte er hinzu: „Iszt diesz vährdammt Planett Monszalfatt! Diesz Teil von Raum wir meiden wie, äh, wie szackt man … wie die Peszt!“

Einen Moment lang schienen die großen, ausdrucksvollen Augen Meure nicht mehr wahrzunehmen. Sie blickten starr ins Leere, und er schien eine innere Vision zu betrachten. Dann kehrte allmählich seine Aufmerksamkeit zurück, und er fügte hinzu: „Raum iszt niemalsz leer, und kejne tzwei Platz sin gleick, ejner ruhick, der ander wild, nock ejn ander voll komiszch Bewegunck … Dieser hat von all dasz schlecktest!“

Meure ließ einige Zeit verstreichen, dann fragte er beiläufig: „Ich würde gern wissen, ob Spsomi jemals träumen?“

„Wasz Bädeutung von Wort ‚treumen’?“

„Visionen während des Schlafes. Man sieht sie und erlebt sie, aber es geschieht alles nur im Kopf.“

„Aha, jia, Mstli, ija.“ Der Spsom schwieg, und Meure konnte eine angedeutete Mißbilligung spüren, so als ob Träume ein Gebiet seien, über das bei den Spsomi nicht gesprochen wurde. Vdhitz sagte unvermittelt: „Du hast Mstli, du hast nickt verstanden?“

Meure nickte, und Vdhitz fuhr fort: „Passiert dauerndt in diesz Gegend. Alle Leut werden erszchreckt von etwasz hier. Manch mehr, manch weniger.“

Meure wollte etwas sagen, aber der Spsom gebot ihm zu schweigen. „Mir nix ertzälen. Das iszt bej uns sähr schleckt Benähmen. Du kannszt es der Liy ertzählen, vielleickt verstäht sie etwas und szagt dir, wasz sie sieht.“

„Die Liy Flerdistar?“

„Dieszelbe. Sie mackt so etwas, dasz hab ick gehört.“

Dann wandte er sich ab und begann, sich mit belanglosen Handhabungen zu beschäftigen, ganz so, als ob ihm das Thema zu geschmacklos sei und er nichts mehr davon hören wolle. Er hatte Meure auf eine Art an Flerdistar verwiesen, die an das Abwimmeln eines Vertreters erinnerte, der völlig unmögliche Waren feilbot. Meure seinerseits hatte kein Interesse daran, den Spsom zu verärgern, darum wandte er sich zum Gehen, ohne noch einmal auf das Thema zu sprechen zu kommen.

 

Als am Abend die letzte Mahlzeit eingenommen worden war und er all seine Arbeiten erledigt hatte, legte Meure das feinste Übergewand an, das er im Kleiderschrank finden konnte, und begab sich auf die Suche nach der Liy Flerdistar. Sie war nicht in ihrer Suite, und Clellendol war es ebensowenig. Er trat auf den Gang hinaus. Die Ffstretsha war ein kleines Schiff. Es gab nicht viele Orte, an denen sie sich aufhalten konnte. Bis jetzt war es im Schiff still gewesen. Wie auch immer ein Spsom-Schiff sich durch das Weltall bewegen mochte, der Antrieb schien kein hörbares Geräusch zu verursachen. Draußen auf dem leeren Korridor jedoch, fern von den anderen Menschen, stellte er fest, daß es Geräusche gab, Serien von Tönen, die er zuvor noch nie gehört hatte. Sie waren schwach, kaum merkbar, nicht zu lokalisieren, schienen aber aus dem Schiff selbst zu kommen. Meure lauschte angestrengt. Diese Töne konnte er nicht identifizieren.

Er ging den Gang entlang, dem Bug des Schiffes entgegen. Dann stieg er die Leiter empor, die zum zweiten Deck führte. Die Tür zum Kontrollraum war fest verschlossen, und über dem Rahmen leuchtete trübe eine rote Lampe. Die Offiziersmesse war jedoch offen, und Licht drang heraus auf den Gang. Als Meure auf den Eingang zuging, kam Clellendol heraus. Unter der Tür blieb er stehen und sah in den Messeraum zurück. Als er Meure erblickte, sagte er etwas Unverständliches ins Zimmer hinein. Er gebrauchte die trillernd summende Multisprache der Ler. Aus dem Innern kam keine Antwort. Da schwieg Clellendol, schritt den Gang entlang und verschwand über die Leiter nach unten.

Die Messe war leer, bis auf einen Gast: Flerdistar. Mitten auf dem Tisch standen zwei Becher, und aus beiden stieg Dampf auf.

Meure hatte das Ler-Mädchen nicht als sehr attraktiv empfunden, als er ihr zum erstenmal begegnet war, und in der Zeit auf dem Schiff hatte sich seine Meinung kaum geändert. Sie war dünn, fast knochig. Die Grazie, mit der sich das schlanke Menschen-Mädchen Ingraine Deffy bewegte, fehlte ihr völlig. Auch ihr herrisches Auftreten stieß Meure ab, und er ging ihr sooft wie möglich aus dem Weg. Nun, nur durch die Tischplatte von ihr getrennt, konnte er sie aus der Nähe betrachten: Ihre Haut war farblos, der Mund dünnlippig und blaß, die Augen waren grau und immer ein wenig feucht. Ihre Erscheinung war an diesem Abend besonders auffällig, weil sie ein sehr ungewöhnliches Gewand trug. Das Oberteil war sehr locker geschnitten, hatte einen weiten Halsausschnitt und bestand aus einem transparenten Material, so daß der Oberkörper darunter sichtbar wurde. Sie hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt und saß vornübergebeugt, wodurch sie sehr erschöpft wirkte. Ihre frühreife Streitbarkeit war ausgelöscht.

Meure fragte: „Störe ich …?“

Flerdistar antwortete mit leiser, beherrschter Stimme, die müde klang: „Nein, fragen Sie, was immer Sie wollen.“

Es schwang etwas wie ein Hintergedanke in ihrer Antwort mit. Meure sah sie genauer an. Seine Blicke konnten den Stoff ihrer Bluse leicht durchdringen, doch es gab wenig zu sehen. Ler-Mädchen waren ohnehin meist recht flachbrüstig, und bei Flerdistar war dies besonders ausgeprägt. Der Körper, den er da betrachtete, war der eines zarten Jungen oder der eines Kindes. Meure begann zögernd: „Ich bin nicht genügend mit den Umgangsformen vertraut, um …“

Sie unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Geste der rechten Hand, die wohl andeuten sollte, daß aus irgendeinem Grund die Umgangsformen nicht beachtet zu werden brauchten.

„Nun, einer der Spsomi hat mir erzählt, daß Sie Träume deuten könnten. Ich hatte einen, hier auf diesem Schiff, dessen Bedeutung völlig dunkel für mich ist, und ich frage mich, ob Sie mir helfen können.“

Sie lächelte. „Traumdeuterei also … Nein, man kann eigentlich nicht sagen, daß ich so etwas mache. Ich lese die Vergangenheit. Ich lausche der Gegenwart, die … durchdrungen ist von den klingenden Echos der Vergangenheit. Ich siebe Geschichten, Wörter und Legenden, von denen die Literaturwissenschaftler sagen, daß sie verzerrt und unwahr seien, und die doch einmal wahr gewesen sind. Allmählich, Zeile für Zeile, kann ich so vordringen … und es schließlich fast ergreifen; kann es schließlich sehen, ganz so, wie es sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Wenn man mir lange genug Zeit läßt, um an einer Sache zu arbeiten, kann ich Geschehnisse rekonstruieren, von denen man annimmt, daß sie ein für allemal in Vergessenheit gesunken sind.“

„Warum sind Sie hier, unterwegs nach Monsalvat?“ fragte Meure.

„Es gibt ein großes Geheimnis in der Geschichte meines Volkes. Für Sie mag es ohne Bedeutung sein. Sogar unter uns Ler gibt es viele, die so denken. Die Geschichte ist schnell erzählt: Es gab einst eine Ler-Rebellin. Von späteren Ereignissen ausgehend, nimmt man an, daß sie zeitlebens immer eine Rebellin geblieben ist. Es existiert jedoch auch die beunruhigende Überlieferung, wonach sie sich änderte. So entstehen viele Fragen. Warum, zum Beispiel, wurde die gesamte Rebellion mit ihrem Namen bezeichnet? Der Name dieser Rebellin war Sanjirmil. In Ihrer Sprache nennt man so ein plötzliches, natürliches Entflammen: Irrlicht, Elmsfeuer. Jene Ler, die sie begleiteten, degenerierten zu den Kriegern der Morgenröte, deren Zahl ständig schrumpfte und die schließlich ganz verschwanden. Es gab auch Menschen, die von diesen Kriegern gefangen, mißhandelt und versklavt wurden. Dann begannen die Krieger, aus ihnen eine Vielzahl reiner Archetypen zu züchten. Wir sind auf dem Weg nach Monsalvat, um mit einigen dieser Klesh zu sprechen, die das einzige Bindeglied zu jener Vergangenheit bilden.“

„Ja, gut“, warf Meure ein, „jeder hat von den Kriegern und ihren Klesh gehört. Aber die Zeit! Wieviel Zeit ist allein zwischen den Tagen Sanjirmils und dem Aufbruch der Klesh nach Monsalvat vergangen! Sie werden sich nicht an sie erinnern können. Sie war schon tot und hatte ihr Leben beendet, bevor noch die Krieger ihre ersten Zuchtversuche unternahmen. Und nach allem, was man hört, ist in der Zwischenzeit noch viel geschehen, seit sie auf Monsalvat leben. Ereignisse, die für sie schrecklich gewesen sein müssen. Sie werden Glück haben, wenn Sie überhaupt zusammenhängende Geschichten zu hören bekommen, und bestimmt werden diese nicht von Ereignissen handeln, die sich vor Tausenden von Jahren zugetragen haben.“

Sie sah Meure freundlich an. „Sie haben eine falsche Vorstellung von meiner Methode. Für den in meiner Kunst Unerfahrenen klingt das, was ich zu einem zusammenhängenden Ganzen verwebe, wie ein zufälliges Geräusch. Außerdem sind uns zwei Tatsachen bekannt. Dies ist Wissen, keine Spekulation. Sanjirmil setzte Kräfte frei, die zur Entstehung der Krieger und der Klesh führten und die beide Arten voneinander sowie von Ler und Menschen trennten. Die andere Tatsache ist die, daß sich all die gegenteiligen Geschichten, die besagen, daß Sanjirmil selbst ein Opfer und kein Täter war, zu einer gemeinsamen Quelle zurückverfolgen lassen: zu Monsalvat und den Klesh. Wo immer ich nachgeschlagen habe, der gemeinsame Ursprung, den ich und die anderen Abkömmlinge des Hauses der Historiker fanden, war immer Monsalvat. Dahinter stoßen wir auf einen Vorhang, den wir nicht durchdringen können. Darum muß unsere Antwort dort liegen, tief verborgen im kollektiven Gedächtnis und den alten Sagen dieser Menschen.“

„Warum hat man nicht jene Ler befragt, die die Krieger nach deren Umsiedlung betreuten?“ fragte Meure mißtrauisch. „Schließlich haben Sie die bewußte Erinnerung, über die wir nicht verfügen.“

Flerdistar schüttelte den Kopf. „Das hat nichts erbracht. Wir haben es anfangs versucht. Aber alles, was wir erfuhren, war, daß es über den Ursprung der Krieger ein Geheimnis gab, das nur eine kleine Zahl von ihnen kannte. Der Inhalt dieses Geheimnisses wurde nie einem der Ler enthüllt, die die überlebenden Krieger bewachten und betreuten. Wir sind prädestiniert dafür, Geheimnisse zu bewahren. Ich kann Ihnen versichern, daß es Krieger gab, die Selbstvergessen übten, das heißt bewußt ihre gesamte Erinnerung löschten, nur um ein Geheimnis nicht preiszugeben, das ihnen selbst fast völlig unverständlich geworden war. Das Wesen der Krieger stellte ein weiteres Problem dar. Sie waren keine echten Ler mehr, sie waren zu etwas anderem geworden, und Menschen waren sie auch nicht. Die Strahlung auf Morgenröte hatte sie nach und nach mit verhängnisvollen Mutationen des Erbguts belastet. Wir Ler sind für solche Strahlung sehr anfällig, wie Sie vielleicht wissen. So war also die Erinnerung der Krieger völlig unergiebig für uns; wären es Menschen gewesen, hätte sich in deren Sagen wenigstens noch eine unbewußte Erinnerung erhalten … Nein, die Krieger stellten eine Sackgasse dar. Also haben wir uns den Menschen zugewandt. Aber hier – ich habe es bereits gesagt – erhalten wir entweder die offizielle Version, der wir mißtrauen, oder werden auf Monsalvat verwiesen.“

„Warum ist das überhaupt so wichtig nach all den Jahrhunderten und Jahrtausenden?“ fragte Meure zutiefst erstaunt. „Was macht es für einen Unterschied, ob sie eine Rebellin war oder nicht? Es ist geschehen. Das ist alles.“

Flerdistar sah Meure direkt ins Gesicht. „Es schließt eine Grundfrage ein, die die Existenz selbst betrifft. Das geht über Ler- oder Menschentum, ja selbst über jede intelligente Lebensform hinaus. Eine Grundfrage eben. Vor langen Jahren gab es in unserer Geschichte einen heftigen Streit um ihre Beantwortung. Sie haben dies bestimmt vergessen, darum will ich Sie jetzt auch nicht damit belasten. In diesem Streit gab es keinen Sieger, denn eine Partei war gar nicht wirklich an einer Antwort interessiert – darum ließ sie der anderen Partei einfach unangefochten ihren Standpunkt. Alles, was wir sind, Sie und ich, läßt sich auf diese Frage zurückführen. Alles. Und immer, wenn jemand an dieses alte Problem rührt, kommt erneut die Möglichkeit ins Gespräch, daß doch die andere Seite recht gehabt haben könnte.“

„Was macht es für einen Unterschied“, sagte Meure wieder. „Wenn die andere Seite recht gehabt hat, dann müssen wir uns eben ändern.“

„Wenn das so einfach wäre! Wenn jene Deutung, die sich schließlich nicht durchgesetzt hat, die Wirklichkeit wahrhaftiger deuten würde, würde dies bedeuten, daß wir alle wahnsinnig sind, es waren und immer sein werden. Aber ich habe hier von Dingen gesprochen, die viel zu hoch für Sie sind. Ehrlich gesagt ist selbst für mich das meiste davon kaum zu verstehen. Eigentlich wiederhole ich nur Dinge, von denen ich gehört habe. Ich bin ein Forschungsapparat, der nach der einen Wahrheit sucht. Jetzt will ich versuchen, Ihren Traum zu lesen. Erzählen Sie mir davon.“

Meure fühlte sich unbehaglich, verwirrt von ihrem plötzlichen Sinneswandel. Einen Anflug von demselben Gefühl hatte er gespürt, als er mit Clellendol gesprochen hatte. Es war, als ob ihre Aufmerksamkeit – das galt für beide – eigentlich ganz woanders lag. Aber wo? Er entschied, daß ihm das eigentlich nichts auszumachen brauchte. Er war fast dankbar, daß sie zweierlei Dinge beschäftigten, denn so stand er nicht völlig im Zentrum ihrer Konzentration. Er begann: „Jedermann hat Träume, aber die meisten sind nichts Außergewöhnliches, selbst ein gelegentlicher Alptraum wirkt oft läuternd. Aber dieser war so … überdeutlich. So als ob ich wirklich ich selbst sei und doch gleichzeitig jemand anders. Ich war in einem Schloß, einer Burg. Sie war ganz aus dunklen Steinen erbaut. Ich war der Herr über diesen Ort, und doch fürchtete ich ihn oder jemanden in ihm. Ganz so, als ob er mein Herr geworden sei. Das war alles sehr dunkel und verwirrend. Dann brach der Traum ab und begann von neuem in einem finsteren, unterirdischen Verlies. Feuchtigkeit war in der Luft, aber die Steine waren trocken. Ich wollte etwas tun, etwas, das ich sehr fürchtete und von dem ich doch wußte, daß es notwendig war. Ich hielt etwas in der Hand – ich weiß nicht, was das war. Es war schneidend scharf, aber es war kein Messer. Ein massiver Gegenstand war es wohl auch nicht. Ich sah mich selbst im Spiegel, und ich war es nicht! Ich will sagen, da stand jemand vor mir, der nicht ich war. Der Mann war rothaarig und hatte einen Bart. Er sah aus wie einer dieser Herumtreiber, die man auf der Messe in Kundre trifft. Ein streitsüchtiger Typ. Ich war in tiefer Furcht vor der schlimmen Tat, aber was er vorhatte, mußte getan werden. Dann wachte ich auf.“

Flerdistars Augen blickten an Meure vorbei. Sie schienen einen fernen Punkt zu fixieren, etwas, das weit jenseits der Wände und Türen der Offiziersmesse lag. Ohne ihre Blickrichtung zu verändern, begann sie zu sprechen: „Das Verstehen schreitet in dem Maße fort, in dem es einem gelingt, verwandte Phänomene in entsprechende Gruppen zusammenzufassen. Selbst wenn sich der erste Ansatz als teilweise falsch erweist, deutet die dem System innewohnende Ordnung auf die notwendigen Korrekturen hin, und so kann man sich der Lösung nähern. Auch Träume sind in diesem Sinne Phänomene und können in Gruppen zusammengefaßt werden. Da Sie vermutlich kein Student dieses Wissenschaftszweiges sind, möchte ich Sie nicht langweilen, indem ich Ihnen das Ordnungssystem vorstelle, das zur Zeit am häufigsten Verwendung findet. Es mag in diesem Zusammenhang genügen, wenn wir feststellen, daß Ihr Traum keinem ungestillten Verlangen oder einem ungelösten Konflikt entspringt. Auch scheidet die Deutung als Déjà-vu-Erlebnis aus, denn Sie sind offensichtlich nicht rothaarig und zeigen auch keine Neigung zu dieser Farbe.“

„Wie können Sie dies alles wissen?“

„Das läßt sich sehr einfach ableiten: Ich bin für Sie eine Fremde, gehöre einer anderen Rasse an, bin noch dazu weiblichen Geschlechts. Wenn Ihr Traum ein Wunschtraum gewesen wäre – wahrscheinlich hätten Sie ihn dann ohnehin schon vergessen –, hätten Sie ihn mir bestimmt nicht erzählt. Auch würden Sie keine Deutung verlangen, denn dann wüßten Sie die Bedeutung bereits.“

„Da muß ich zustimmen. Übrigens, als ich die Haare als ‚rot’ bezeichnete, meinte ich nicht die Haarfarbe, wie man sie heute bei Menschen findet, sondern wie sie früher war. Ein leuchtendes Rot, nicht ein Kastanienrot, wie zum Beispiel bei Audiart. Das ist mir aufgefallen, deswegen erinnere ich mich auch noch daran.“

Jetzt konzentrierte Flerdistar ihre volle Aufmerksamkeit auf Meure. Die Zerstreutheit, die eben noch in ihren Augen zu lesen war, schien nun wie ausgewischt zu sein. Meure fühlte sich entblößt, fast nackt. Durch die Kindhaftigkeit des Mädchens wurde dessen Konzentration noch spürbarer, sein volles Gewicht noch erdrückender; seine wäßrigen Augen und die schlanke Gestalt riefen Meure plötzlich die vielen Schauergeschichten, die über die Fremdartigkeit der Ler erzählt wurden, ins Gedächtnis zurück. Wenn sie erwachsen, ja schon alt und grau geworden waren, bewahrten sie doch den Gesichtsausdruck eines Kindes und viele seiner Tugenden; gleichzeitig sprach aus dem Gesichtsausdruck ihrer Kinder oft schon das Alter auf eine fremde, greisenhafte Weise.

Sie sprach bedächtig: „Sie erinnern sich daran, weil Sie es waren, nicht weil er rote Haare hatte.“

„Aber das versuche ich Ihnen doch zu erzählen“, entgegnete Meure. „Ich war es nicht! Mir kam der Traum gar nicht außergewöhnlich vor, bis ich in den Spiegel blickte und erkannte, daß dieser Mann nicht ich war.“

Sie antwortete, noch immer ganz auf ihn konzentriert: „Aber das wußten Sie nicht, solange Sie nicht in den Spiegel gesehen hatten, hm?“

„Tja, das … das alles war … äh, viel klarer, als ich es jemals in einem Traum erlebt habe, so als ob ich mich daran erinnern würde. Ja, eine Erinnerung.“

„Wie war Ihr Name?“ fragte sie unvermittelt.

„Er fällt mir nicht ein. Es liegt mir auf der Zunge. Ich kenne ihn und gleichzeitig wieder nicht. Eigentlich müßte ich mich daran erinnern, denn er schwebt über mir wie eine Drohung. Es ist ein einfacher Name, er hat eine Bedeutung. Das spüre ich; aber ich verstehe es nicht. Auf Tankred hat es nie Barbaren gegeben …“

Flerdistar unterbrach Meure: „Mit Tankred hat Ihr Traum nichts zu tun. Ich kenne Tankreds Geschichte wahrscheinlich besser als Sie. Gerade wegen dieser Geschichte haben wir nämlich dort Leute angeworben und nicht etwa auf Lickrepent oder Okalinda.“ Sie seufzte, und ein Teil ihrer Aufmerksamkeit schien sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Schließlich sagte sie nachdenklich: „Die Menschen sind in den letzten paar tausend Standardjahren sehr ausgeglichen und normal geworden; es scheint, als hättet ihr die gleiche Immunität gegen die Geschichte entwickelt, die wir haben. Alle Leute führen ein geregeltes Leben und beenden es, ohne je ein Leid oder größere Aufregung verursacht zu haben. Die Zeit der großen Kriege, der Massenbewegungen und der Propheten ist endgültig vorbei. Tankred ist ein Produkt dieser neuen Zeit und noch ausgeglichener als die meisten anderen Welten.“

Meure antwortete: „Aber das ist es doch, worum die Menschen sich in allen Zeiten bemüht haben. Die Ler haben sich immer beklagt, daß wir Menschen zu regellos lebten; jetzt, da wir zur Ruhe gekommen sind, ist das offenbar auch nicht in Ordnung.“

Er war auf eine heftige Erwiderung, auf einen Verweis gefaßt, Flerdistar aber sprach mit einer freundlichen Zartheit, die er ihr gar nicht zugetraut hätte: „Ich wollte Sie nicht angreifen … Die Geschichte der Ler verlief in geregelten Bahnen, weil wir es so wollten. Wir sind ein bedachtsames Volk. Eine Geschichte ohne historische Ereignisse liegt in unserer Natur. Das aber gilt für euch ganz sicher nicht, und wenn die Geschichte der Menschen so glatt und ereignislos verläuft wie unsere, dann bringen wir andere Dinge damit in Zusammenhang. Ihr seid … irgendwie aus der Bahn geworfen. Frieden und Zufriedenheit habt ihr erreicht und bewahrt, aber eure Gesamtbevölkerung nimmt ab, und die Kolonialisierung des offenen Raumes habt ihr eingestellt.“

„Ich weiß von diesen Dingen, sie sind ohnehin kein Geheimnis. Aber wer würde schon ein Herzensbedürfnis eintauschen gegen einen ungewissen Ruhm … der vielleicht noch auf Kosten anderer erreicht wird?“

„Nun gut …“

„Was können Sie mir über den Traum sagen?“

„Ich habe Sie bereits darauf hingewiesen, daß dies nicht mein Spezialgebiet ist. Was ich darüber weiß, habe ich mir eher zufällig angeeignet. Es gibt gewisse Parallelen … Lassen Sie es mich so ausdrücken: Wäre ich eine Wahrsagerin in alter Zeit, würde ich Ihnen sagen, daß Sie besessen sind und daß Sie sich an den geheimen Plätzen, die nur die Alten kennen, den geeigneten Reinigungsriten unterziehen müßten. Aber ich bin keine Wahrsagerin, und wir beide hocken nicht vor dem Feuer eines Steinzeitstammes.“

„Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.“

„Das weiß ich selbst nicht. Wenn ich alles in einen bestimmten Rahmen fasse, läßt sich ein Sinnzusammenhang herstellen, aber wenn ich die geläufigen Ausdrücke der Gegenwartssprache benutzen soll, stehe ich vor einem Puzzle aus Widersprüchen.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“

„Im Prinzip geht es um Besessenheit: Für den Wilden umfaßt dieser Begriff eine Menge Dinge, die wir längst in Gruppen und Familien von Krankheiten aufgeteilt haben, wir zivilisierten Wesen. Wenn wir jedoch eingestehen müssen, daß es so etwas gibt, trotz aller Zivilisation, stellen wir plötzlich fest, daß wir heute nicht mehr die Werkzeuge besitzen, um uns mit etwas zu befassen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von Null Komma null null Prozent auftritt. Ich deute Ihr Erlebnis als Kontaktaufnahme mit jemand anderem, und ich rate Ihnen, sich vor weiteren Kontakten zu schützen, denn Ihre Anfälligkeit wird mit der Häufigkeit der Kontakte steigen.“

Meure dachte einen Moment darüber nach, dann sagte er: „Mir scheint, daß ich dazu kaum die Möglichkeit habe. Wie Sie schon sagten, stehen mir die Mittel der Wilden in der Vorzeit nicht mehr zur Verfügung. Ich bin auf einem Schiff eingesperrt, dessen Zielort ich nicht bestimmen kann. Soll ich etwa Shchifr bitten, abzudrehen und nicht nach Monsalvat zu fliegen?“

Ihre durchdringende Konzentration kehrte zurück: „Warum sagen Sie das?“

„Dorthin fliegen wir schließlich.“

„Sie sollten hoffen, daß der Traum nichts mit unserem Ziel zu tun hat.“

„Ich habe etwas über Monsalvat gelesen, bevor ich den Traum hatte. Gibt es rothaarige Klesh?“

„Vor langer Zeit gab es welche … Manches an dieser Sache gefällt mir gar nicht …“ Sie brach plötzlich ab, so als ob sie schon zuviel gesagt hätte.

Doch Meure ließ nicht locker: „Worum geht es?“

„Verglichen mit dem Rest der bewohnten Welten ist Monsalvat ein Planet des Chaos. Die Herrschaftsformen dort kommen der Anarchie gleich. Doch ich denke nicht nur an Monsalvats ungewöhnliche Geschichte. Die ganze Raumzone dort hat einen schlechten Ruf: Kommunikationssysteme, die sonst narrensicher sind, versagen dort völlig. Schiffe werden beschädigt, zerstört oder verschwinden für immer. Wir fliegen mit einem Spsom-Schiff, weil Ler-Schiffe es dorthin gar nicht schaffen. Dies ist einer von wenigen Orten, wo unser Matrix-Antrieb nicht arbeitet.“

„Irgend jemand muß ja einmal dorthin gelangt sein. Schließlich wurden die Klesh nach Monsalvat deportiert.“

„Über diese Periode wissen wir nichts. Nur über spätere Zeiten. Was wir wissen ist, daß dies eine Region mit ungewöhnlichen Turbulenzen von außerordentlicher Stärke ist. Wie eine Sturmzone auf irdischen Ozeanen. In einem solchen Sturm treiben wir gerade, und wir sind in großer Gefahr. Der Grund, warum wir bis jetzt durchgehalten haben, ist nur, daß die Ffstretsha so klein ist. Die Thlecsne hat schon vor einiger Zeit abgedreht. Die Beanspruchung war so stark, daß sie beinahe manövrierunfähig geworden wäre. Ihr Kapitän hat aufgegeben.“

„Unserer nicht?“

„Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte Shchifr sicher ebenso gehandelt. Es ist ihm aber nicht möglich! Spsom-Schiffe benutzen natürlich ein anderes Antriebssystem als Ler-Schiffe, aber sie haben ein Prinzip mit uns gemeinsam: Die Energiequelle für den Antrieb wird nicht an Bord mitgeführt, Bewegungsenergie wird vielmehr aus Kräften abgeleitet, die im Raum vorhanden sind. Das Prinzip der alten Segelschiffe.“

Meure fragte verdutzt: „Wie Segelschiffe, ganz ohne eigene Energie?“

„Natürlich haben sie einen unabhängigen Antrieb für die Starts und Landungen innerhalb eines Planetensystems. Sonst nichts. Für die großen Strecken zapfen sie einfach die Kräfte an, die im Raum zur Verfügung stehen, genauso wie ein Segelschiff seine Segel benutzt. Und wir befinden uns jetzt in der gleichen Lage wie ein Segelschiff in einem schweren Sturm: Wir können nicht wenden, und wir können nicht stoppen. Versuchten wir zu wenden, würde es uns die Segel zerfetzen, die Masten zerbrechen und uns unter die Wogen stoßen. Wenn wir Segel einholen würden, würden uns nur die folgenden Brecher überspülen …“

„Aber Sie sagten doch, daß die Thlecsne umkehren konnte.“

„Unser letzter Kontakt mit der Thlecsne ergab etwa folgendes: Die Thlecsne war weitgehend manövrierunfähig geworden, sie wurde jedoch in eine Region abgetrieben, wo der Sturm rasch abflaute. Sie war schwer beschädigt und mußte den nächsten Hafen anlaufen.

Glauben Sie mir, Shchifr hat sein möglichstes getan. Genaugenommen arbeiten alle seit einiger Zeit nur daran, einen Ausweg aus dieser Lage zu finden.“

„Wissen Sie, wohin wir getrieben werden?“

„Wohin wohl? Ziemlich genau nach Monsalvat. Die letzte Messung ergab, daß wir ungefähr mit der doppelten Geschwindigkeit eines gewöhnlichen Spsom-Schiffes laufen. Hören Sie denn nicht, wie das Schiff aufstöhnt unter diesem Druck? Sehen Sie nicht auf den Bildschirmen, wie es stampft und rollt? Machen Sie die Augen auf, und hören Sie genau hin!“

Meure wandte dem Ler-Mädchen den Rücken zu und sah zu den Schirmen hinüber: Die leichte Bewegung, mit der der Sternenhimmel auf den Bildschirmen hin und her, vor und zurück geschwungen war, hatte einem wilden, regellosen Tanz Platz gemacht. Hin und wieder ließen unvorhersehbare Stöße das Schiff erzittern. Nach einem solchen Stoß war das Bild auf dem Schirm für eine Weile verschwommen, es schien, daß die Aufnahmegeräte nicht mehr einwandfrei arbeiteten. Da war noch etwas, das Meure stark beeindruckte: Der Raum selbst war jetzt nicht mehr klar und leer. Trübe Schwaden zogen in zerrissenen Fetzen an den technischen Entsprechungen von Bullaugen vorbei. Gleichzeitig horchte Meure in das Schiff hinein und vernahm die eigentümlichen Laute, die er schon zuvor bemerkt hatte; jetzt allerdings hörte er aus ihnen das heraus, was sie wirklich vermittelten: das protestierende Aufheulen der Spsom-Legierungen. Er wandte sich wieder Flerdistar zu.

Sie sagte: „Im Innern des Schiffs wirkt sich das kaum aus, denn das System, das hier auf dem Schiff die künstliche Schwerkraft schafft, überträgt keine Bewegungen von außen nach innen. Darum spüren wir nichts davon. Aber wir werden es noch spüren. Nach meiner Schätzung wird es heute nacht beginnen. Das System verbraucht sich zunehmend, die wellenähnlichen Bewegungen draußen beanspruchen es zu stark.“

Meure lauschte ihren Worten und nahm ihren erschreckenden Inhalt in sich auf. Irgendwie jedoch verursachten sie in seinem Innern keine Gefühlsregung. Sie waren in großer Gefahr, Spielball in einem ungewöhnlichen Sturm, in einer zyklischen Verwandlung der interstellaren Materie. Offensichtlich konnten sie aus eigener Kraft nicht freikommen, und das Schiff wurde langsam in Stücke gerissen und auf Monsalvat zugeschleudert … Er verstand, daß dies die Wahrheit war, aber er fürchtete sie nicht. Er sagte: „Dann sind die Spsomi also alle dort drin.“ Dabei zeigte er auf die Brücke, deren Tür verschlossen war.

„Ja, mehr weiß ich auch nicht. Shchifr wird wegen seiner außerordentlichen Erfahrung als Schiffsführer sehr geschätzt, und die Ffstretsha ist für ungewöhnliche Beanspruchungen nach den Normen der Spsom-Raumfahrtbehörde gebaut worden, wenn ihr äußeres Erscheinungsbild Ihnen und mir auch komisch vorkommen mag.“

Obwohl keiner von ihnen den geringsten Laut gehört hatte, erschien in diesem Moment Vdhitz in der Tür der Offiziersmesse. Der Spsom hatte sich in ein anderes Wesen verwandelt: Das feine, kurze Fell war von breiten, feuchten Bahnen des Schweißes durchzogen, und die Augen schienen sich nicht mehr auf einen festen Punkt einstellen zu können. Die Ohren hingen entmutigt schlaff herab. Dennoch grüßte er Flerdistar höflich.

Nachdem sie seinen Gruß erwidert hatte, begann Vdhitz sofort hastig in seiner eigenen Sprache auf sie einzureden. Eine scheinbar endlose Kette von klickenden, zischenden und spuckenden Lauten. Ohne eine Antwort abzuwarten, huschte er zur Brücke zurück und war verschwunden.

Flerdistar saß eine Weile ganz still und starrte in den Raum hinaus, in Gedanken versunken. Übersetzte sie? Sie stieß sich mit dem Stuhl vom Tisch ab; der Stuhl lief in einer Führung dicht über dem Boden des Zimmers. Sie erhob sich, und dann sprach sie ohne innere Anteilnahme, als würde sie einen gelernten Text rezitieren: „Wir stehen folgender Situation gegenüber: Die Ffstretsha ist am Ende. Alle direkten Kontrollprojektionen sind fort, aufgebraucht, weggerissen. Raum-Anker wurden am Heck ausgeworfen und einer am Bug, dies soll der Stabilisierung dienen. Immerhin haben sich die äußeren Bedingungen nicht weiter verschlechtert; bisher sind wir nicht in Stücke zerbrochen, und vielleicht bleiben wir auch weiterhin heil. Wir nähern uns dem System, zu dem Monsalvat gehört, mit großer Geschwindigkeit. Zum Glück jedoch befindet sich der Planet gerade jenseits des zentralen Doppelsterns, darum ist damit zu rechnen, daß die Turbulenzen innerhalb des Systems den Kräften im Raum entgegenwirken und uns so wieder auf eine annehmbare Anfluggeschwindigkeit bringen werden. Shchifr glaubt, daß er das Schiff einigermaßen in einem Stück herunterbringen wird, aber das ist auch alles. Es scheint, daß das Schiff … zerstört ist. Einen großen Teil des Gesagten habe ich nicht verstanden. Wir haben nur einen Landeanflug zur Verfügung. Wenn wir auf Unterlicht gehen, werden wir Luft verlieren. Sie haben ein Notsignal abgesetzt, das von der Thlecsne aufgenommen und verstärkt wurde. Beantwortet wurde es von einem Schiff namens Ilini Visk. Dieses wird Monsalvat ansteuern, nachdem es seine Fracht abgesetzt hat und für die extremen Beanspruchungen einige Umbauten vorgenommen hat. Die Ilini Visk ist ein kleineres Schiff, aber sehr raumtüchtig. Immerhin werden sie einen Versuch unternehmen.“

„Wie lange wird es bis zu unserer … Rettung dauern?“

„Irgendwann morgen wird Monsalvat in Sicht kommen; bis wir die Ilini Visk erblicken, kann leicht ein Jahr vergehen.“

„Das verstehe ich nicht. Wenn sie ein Notsignal beantworten, dann können sie doch nicht so weit entfernt sein.“

„Die Übertragungssysteme der Spsomi haben eine außerordentliche Reichweite; die Ilini Visk ist tatsächlich sehr weit von uns entfernt. Einige andere sind näher dran, aber keines ist für einen Anflug auf Monsalvat geeignet. Nun denn!“ Ihr Verhalten veränderte sich ohne Vorwarnung, es wurde sehr bestimmend. „Gehen Sie nach unten, und bereiten Sie sich vor. Suchen Sie alles zusammen, was wir mitnehmen könnten. Wir müssen dort überleben, bis unsere Rettung eingeleitet werden kann.“

Sie schickte sich an, die Messe zu verlassen, und Meure hielt sie nicht auf. Nun, da der Tisch nicht mehr zwischen ihnen war, sah er auch jenen Teil ihrer Kleidung, den der Tisch bisher verdeckt hatte. Flerdistar trug die Dhwef-Meth-Stel{7}-Kombination, eine besondere Kleidung, die gewöhnlich nicht in Gegenwart von Menschen getragen wurde. Die lang herabfallenden Streifen des Dhwef schwangen um die Beine des Mädchens, als es hinauseilte.

Meure verließ langsam die Offiziersmesse, stieg die Leiter hinab und ging durch den Korridor zu ihrem Zimmertrakt. In seinem Kopf war noch der Nachhall der Worte des Mädchens über das Schicksal der Ffstretsha, und in seine Ohren drang das Stöhnen und Klagen des Schiffs. Hin und wieder spürte er ein leichtes Schwanken, wie von einem schwachen Erdbeben, tatsächlich, jetzt konnte man es also auch spüren. Tief in seinem Innern beschäftigten ihn auch noch der Traum und die Deutung, die Flerdistar dem gegeben hatte. Besessenheit! Er schüttelte den Kopf. Es sei nicht genau das, hatte sie gesagt, aber doch etwas Ähnliches, vielleicht Versteckteres. Das Schiff wurde plötzlich heftig zur Seite gerissen, Meure mußte sich festhalten, um auf den Beinen zu bleiben.

 

Niemand war im Gemeinschaftsraum. Offenbar war Flerdistar schon hindurchgegangen und hatte sich nicht aufgehalten. Alle Lichter waren bis auf ein Minimum gedämpft, die Kabinentüren waren sämtlich geschlossen. Meure wandte sich nach rechts und betrat die Kabine der vier Menschen. Alles schien ruhig, zumindest für den Augenblick.

Er stieg die schmale Leiter zu seiner Koje hinauf und schlüpfte hinein. Er fragte sich, ob Flerdistar wohl wollte, daß er sie nun alle sofort aufweckte. Er entschied, daß das nicht ihr Wille war, und lauschte. Hier klangen die Geräusche des Schiffes viel gedämpfter als draußen im Gang. Von der anderen Seite des Schiffes spürte er keine Bewegung und hörte er keinen Laut. Er verfiel in düsteres Nachdenken. Ein so sorgfältig gebautes Schiff wie die Ffstretsha verfügte doch sicher über irgendeine Art von Alarmsystem – Signale, Hörner, Summer –, um Passagiere aufzuwecken. Schließlich hatten die Spsomi ja auch ein Gehör. Morgen, hatte sie gesagt. Bis dahin war noch Zeit genug. Meure streifte seine Kleidung ab und drehte die Lichter aus.

Er drehte sich zur Wand und zog die Decken hoch. Ein unruhiger Schlaf wartete auf ihn. Dann erinnerte sich Meure, daß er die Schiebetür zur seiner Koje offengelassen hatte. Das Schiff schwankte wieder. Er wollte die Tür schließen, denn er wünschte nicht, hinaus auf den Boden geschleudert zu werden. Doch als er nach dem Griff suchte, erschien die Silhouette eines Körpers mit abgerundeten Formen in der Öffnung. Der Besucher schlüpfte zu ihm in die Koje und schob die Tür zu. Meure wollte etwas sagen, aber er spürte, wie sich ein Finger über seine Lippen legte. Er konnte noch ein wenig von seiner Umgebung erkennen, da in einer Nische in der Wand noch ein paar Kontrollämpchen glühten. Es reichte gerade aus, um in dem nächtlichen Besucher Audiart zu erkennen. Er erhob sich auf den Ellenbogen und wollte sich ganz aufrichten, aber sie schob die Decken zurück und schlüpfte zu ihm hinein, bevor er seine Bewegung ausführen konnte. Meure deckte das Mädchen zu und ließ einen Arm auf seinem Körper ruhen. Audiarts Nase berührte leicht die seine, und ihr duftendes Haar streifte sein Gesicht. Sie sagte, leiser noch als ein Flüstern: „Kein Wort, das ist alles, worum ich bitte.“ Meure bedeutete ihr durch ein Nicken, daß er verstanden hatte; er spürte ihre kühle Haut an seinem Körper und die Wärme, die sich darunter verbarg. Er wußte, was er zu tun hatte. Es gab keine Zweifel mehr. Überhaupt keine.