4

 

„Ich habe einmal die Horoskope einer Anzahl von Mördern untersucht, um herauszufinden, wie die Planetenkonstellationen das Temperament beeinflussen. Zu meinem Erstaunen war es nicht die heimliche, explodierende Energie des Uranus, auch nicht die böswillige, heimtückische Selbstsucht des Saturn oder die unbeherrschte Raserei des Mars; es war der kühl kalkulierende Intellekt des Merkur, auf dessen Hintergrund das Verbrechen gedieh. Dann machte ich eine außergewöhnliche Entdeckung: Die Horoskope der Opfer waren fast identisch mit denen ihrer Mörder. Sie hatten ihr Schicksal selbst gesucht.“

A. C.

 

Lange Zeit war in der warmen Dunkelheit der Koje kein Wort gefallen. Worte schienen nicht notwendig zu sein. Aber nachdem eine unmeßbar lange Zeit verstrichen war, konnte Meure etwas von dem, das in ihm war, nicht länger zurückhalten, und er sagte einfach: „Es gibt Worte, die ich schon zuvor sagen wollte, denn ich will sie nicht vergessen.“

Dann war es wieder eine Zeitlang still, zu hören waren nur ihre Atemzüge und ein gelegentliches Rascheln der Decken. Aber schließlich antwortete Audiart, ebenso schlicht: „Ich bin gekommen, um zu vergessen.“ Und dann: „Um etwas abzuwerfen, wegzuwischen, frei zu werden von … Aber ich muß einsehen, daß das Abwischen der Spuren dessen, was geschehen ist, nur neue Spuren schafft; und nichts wird so werden, wie ich es wünschte, nur neue Veränderungen werden entstehen.“

„Ich habe mich verändert.“

„Ich nicht weniger.“ Doch sie wandte sich von ihm ab und hüllte sich tiefer in die Decken, so als wolle sie nun schlafen. Meure lag still, lauschte, wartete, erinnerte sich. Er ließ seine Sinne wieder zu seiner Umgebung zurückkehren, brachte sich die Ffstretsha wieder ins Bewußtsein. Dämmriges Licht beleuchtete die Koje, wurde von der Decke reflektiert. Es kam von der kleinen Lampe über der Kochstelle. Ihm fiel wieder ein, daß er die Schiebetür hatte schließen wollen, dabei jedoch gestört worden war. Sein Körper war von Schweiß klebrig, und warme nackte Haut berührte die seine. Jetzt spürte er auch die Bewegungen des Schiffes wieder: Es schwankte von einer Seite auf die andere, gedämpft zwar und sacht, aber der nachlassende Schwerkraftsimulator ließ jetzt doch viel davon ahnen, welchen Kräften das Schiff tatsächlich ausgesetzt war. Das Schiff drehte sich um alle Achsen, manchmal nur um die Längsachse, manchmal aber auch um alle gleichzeitig. Die Bewegungen schienen nur vom Zufall gesteuert zu sein, kamen völlig unvorhersehbar. Jetzt wurde das Schiff ruhiger und lag schließlich fast völlig still. Dann setzte, ohne Vorwarnung, eine rasende Vorwärtsbewegung ein. Meures Innerohrsystem ließ ihn spüren, daß das Schiff immer schneller wurde, als ob es von hinten geschoben würde. Gleichzeitig stieg sein Bug immer mehr an, dann folgten ein ohrenbetäubendes Kreischen und mehrere Stöße. Aus der Gegend der Kochstelle kam ein zischendes Geräusch, und die Lichter gingen aus. Nicht plötzlich, sie erloschen vielmehr langsam. Ein rotes Lämpchen beleuchtete die Decke der Koje, und aus einem verborgenen Lautsprecher erklang ein regelmäßig unterbrochener Piepton, der sich fortlaufend mit einer Bandansage in Spsom-Sprache abwechselte. Die Schiebetür setzte sich in Bewegung. Meure richtete sich etwas auf, um sie aufzuhalten. Endlich war er aus seiner Lethargie erwacht und erkannte, was geschah. Er mußte über Audiart hinweggreifen, die ebenfalls versuchte, sich zu bewegen. Er spürte eine prickelnde Taubheit in den Fingerspitzen, und als er der Tür noch näher kam, gab es eine flammende Energieentladung. Er zuckte zurück und rieb seine Finger an der Kojenwand. An mehreren Stellen im Rahmenwerk des Schiffes waren klickend-metallische Laute zu hören, so als ob Schlösser einrasteten. Sie waren eingeschlossen.

Sie preßten sich eng aneinander. Lähmender Druck lastete auf ihren Gliedern, und dann gab es plötzlich überhaupt kein Gefühl mehr, und einen Augenblick später gab es gar nichts mehr. Es gab kein Versinken, kein Hinüberdämmern, wie wenn man in Schlaf oder Bewußtlosigkeit sinkt. Die Zeit war angehalten. Meure war gerade im Begriff zu sagen: „Ich de…

 

STOP

 

…nke, es ist eine Art Schutzfeld.“ Da setzte die Zeit wieder ein, die Tür sprang auf, und aus Lautsprechern im ganzen Schiff erklang ein Gong, der von einer Spsomstimme unterbrochen wurde, die in regelmäßigen Abständen immer das gleiche Wort wiederholte, etwas, das wie ‚Vv-h’t’ klang. Die Tür zu ihrer Gemeinschaftskabine flog auf, und von draußen drang verwirrter Lärm zu ihnen herein. Clellendols Stimme drang klar durch die Konfusion. „Hoch! Hoch! Sofort raus aus dem Schiff!“

Mit fliegenden Bewegungen suchten Meure und Audiart ihre Kleidung zusammen, die achtlos verstreut umherlag. Während sie sich noch mühten, sie anzulegen, war überall das Klappen von Schrank- und Kabinentüren zu hören, dann war es still. Jetzt konnten sie hören, welche Geräusche das Schiff machte. Diese Töne wurden kaum durch die Luft, sondern durch das Material des Schiffes selbst übertragen. Ein langanhaltendes Stöhnen erscholl, von gelegentlichem Knacken und Reißen übertönt. Aus der Ferne hörte man hin und wieder das Zischen ausströmenden Gases. Sie verschwendeten keine Zeit mehr darauf, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen, sondern stürzten durch die Küche in den Gemeinschaftsraum, dessen Beleuchtung noch arbeitete, aber schon flackerte. Das Schiff verlagerte sein Gewicht in einer gleitenden, fließenden Bewegung, und dies wurde von erneutem Ächzen und Reißen des Materials begleitet. Sie balancierten vorsichtig über den schwankenden Boden der Kabine hinaus auf den Gang, dessen Beleuchtung bereits erloschen war.

An einer Biegung des Korridors wartete Clellendol auf sie, der nervös nach allen Seiten Ausschau hielt. „Vorwärts! Vorwärts!“ drängte er. „Sie warten schon am Ausstieg auf uns. Wir sind heil auf Monsalvat heruntergekommen und haben wohl unverschämtes Glück gehabt. Aber die Ffstretsha bricht zusammen, und wir müssen schnell nach draußen. Dieser Vdhitz wollte es mir erklären, aber ich habe ihn nicht verstanden.“

Die drei hasteten durch den Hauptgang, der sich beständig weiter zur Seite neigte, und gelangten schließlich zum Ausstieg, wo die restlichen Mannschaftsmitglieder und Passagiere auf sie warteten: zwei Ler – Dreve Halander und Ingraine Deffy –, zwei Spsomi – Captain Shchifr und Vdhitz – und der einzige überlebende Sklave, dieses kleine pelzige Wesen vom Planeten Vfzyekhr. Vdhitz sah besorgt nach draußen, sein Körper hing halb aus der Luke. Ohne sich umzusehen, machte er den übrigen ein Zeichen mit seiner freien Hand, dann stieß er sich ab und landete draußen auf dem Boden. Shchifr musterte die Überlebenden mit einem kurzen Blick, deutete auf die Luke und trat dann zur Seite, um sie vorbeizulassen. Meure befand sich am Ende der Reihe und konnte kaum etwas von der Umgebung des Schiffes sehen. Es schien ihm, daß das Schiff etwas nach vorn geneigt lag, so daß die Luke gegen den Boden gerichtet war und nicht geradeaus, wie es eigentlich hätte sein sollen. Draußen war alles in ein eigenartiges rötliches Licht getaucht, dessen Quelle Meure nicht ausmachen konnte, und er fragte Audiart: „Wie spät ist es?“

Sie drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu ihm um. „Wie spät soll es schon sein? Irgendwann nach Mitternacht. Genau die richtige Zeit für eine Notlandung. Los jetzt! Wir sind da, das ist alles, was zählt.“

Audiart kam nach Clellendol zur Luke und griff ungeschickt nach den Haltegriffen, dann schwang sie sich hinaus. Von Shchifr heftig vorwärts geschoben, folgte ihr Meure auf den Boden von Monsalvat.

Meure fühlte sich benommen und verwirrt. Am liebsten hätte er sich gleich hier niedergelassen, im beruhigenden Schatten des Rumpfes der Ffstretsha, unter dem Gewirr des absurden Röhrensystems. Shchifr war inzwischen ebenfalls aus der Luke gesprungen, holte hastig einige Gegenstände unter seiner Weste hervor und warf sie durch den Ausstieg ins Schiff. Im Innern war es völlig finster. Draußen beleuchtete ein verdecktes, schwaches Licht die Szene. Verfilzte, drahtige Vegetation bedeckte den Boden unter seinen Füßen, das Schiff mußte sie bei seiner Landung niedergedrückt haben. Er hörte Stimmen und sah eine Bewegung auf der anderen Seite des Röhrennetzes. Clellendols Stimme drang an sein Ohr und drängte ihn, zu laufen. Er rannte in ihre Richtung. Dabei schlüpfte er unter einer pendelnden Rohrleitung hindurch, deren Farbe völlig verbrannt war und deren geborstene Enden wie lebende Wesen hin und her schwangen. Schließlich sah er die Gruppe vor sich, die vom Schiff wegrannte. Meure folgte ihr, versuchte aufzuholen. Shchifr überholte ihn mühelos in dem hüpfenden, aber kraftvollen Laufstil der Spsomi.

Shchifr trieb sie weiter, und sie legten gemeinsam auf leicht ansteigendem Boden noch eine beträchtliche Entfernung zurück. Niemand sah sich um. Meure spürte, daß sich um sie herum, in der Luft über ihnen, etwas bewegte, aber er konnte nicht anhalten, um sich zu vergewissern.

Schließlich erreichten sie eine kleine felsige Erhebung, wo sie zum Stehen kamen. Meure ging zu Audiart, die auf einem Felsbrocken saß; die Knie hatte sie vor die Brust gezogen und mit den Armen umschlungen; reglos starrte sie zum Schiff zurück. Nein, am Schiff vorbei, in den Morgen.

Er warf sich neben sie auf den Boden und blickte in die gleiche Richtung. Im Osten erhob sich die Sonne Monsalvats zu einem neuen Tag. Das war der Doppelstern namens Btirme.

Die beiden Sterne, die dort am östlichen Himmel standen, hatten beide ziemlich genau die gleiche Größe. Sie standen sehr eng beieinander, vielleicht einen Durchmesser weit voneinander entfernt. Beide leuchteten in einer braun-orangenen Farbe, und sie schienen ihre Position zueinander kaum merklich zu verändern. Die Sonne (oder sollte man sagen, die Sonnen, dachte er) erfüllte den Morgenhimmel mit Farbe, trennte den Tag von der Nacht, deren Farbe sich in ein unglaubliches Indigoblau verwandelt hatte, und färbte die Wolken, die in der unsagbar klaren Luft vorüberzogen, rot und orange. Beide Sonnen umgab ein schimmernd strahlender Hof, der jedoch verging, während sie zusahen und das Tageslicht heller wurde.

Das Schiff lag zur Seite geneigt in einer kleinen Senke in der nach Osten abfallenden Ebene. An manchen Stellen war es noch erleuchtet, aber es schien immer weiter dem Boden entgegenzusinken, so als ob sein inneres Rahmensystem keine Lust mehr hätte, das Ganze aufrechtzuhalten. Ja, das war es: Das Schiff entspannte sich, sank in sich zusammen wie eine überreife, exotische Frucht.

Als Meure sich nach allen Seiten umsah, konnte er etwas von dem entdecken, das ihm dieses allgemeine Gefühl von Bewegung vermittelt hatte, als er vom Schiff fortlief. Durch den Morgenhimmel stürzten und glitten bizarre Wesen. Sie waren von so fremdartiger Gestalt, daß Meure zunächst glaubte, seine Wahrnehmung sei gestört. Von jenseits des Schiffes kamen Menschen gelaufen, die wie irre auf das Schiff zustürmten. Es mußten Menschen sein; auch auf die große Entfernung konnte man ihre Gestalt und Haltung einigermaßen erkennen. Wie Menschen hasteten sie über die verfilzte, grasähnliche Vegetation, die im ersten Tageslicht blau erschien.

Die Fremden umzingelten das Schiff. Meure sah jetzt, daß sie recht klein und schmal gebaut waren; die meisten trugen lange Messer oder kurze Speere. Sie benahmen sich wie Wilde, liefen heftig gestikulierend durcheinander, schlugen mit der Hand gegen die Bordwand oder mühten sich, ein Stück von dem Röhrennetz abzureißen. Die Szene wirkte lächerlich, so als ob Ameisen ein Landfahrzeug angriffen. Meure spürte neben sich eine Bewegung, an seine Nase drang ein Duft wie von warmem Gebäck.

Vdhitz sagte gedämpft: „Etwas Neujes, wirrt die darunten ieber-raszchen. Tshchiff’r hat die Mazschine auf Zelbstieberladunck eingestellt, bevor er ginck. Fliegt allesz in die Luft, heh, heh, heh!“

Audiart hatte die Worte des Spsom mitangehört und war schon auf den Füßen, um hinunterzueilen, doch Meure ergriff sie am Arm, und hinter einem Felsen kam Flerdistar hervor und trat ihr in den Weg. Sie sagte ruhig: „Versuche nicht, es zu verhindern. Du wirst sterben und kannst es doch nicht aufhalten. Die Spsomi lassen es nicht zu, daß Fremde ein gestrandetes Schiff erbeuten, und hier auf Monsalvat schon gar nicht. So lauten Shchifrs Befehle, und die muß er ausführen. Das wird seine letzte Handlung als Raumkapitän sein.“

Audiart ließ sich wieder nieder, aber sie sagte: „Das da unten sind doch Menschen.“

Der Tag zog jetzt schnell herauf, die Morgendämmerung war einem rosigen Schein gewichen. Die Menge unten beim Schiff war ständig angewachsen. Einige schienen zumindest mißtrauisch zu sein und drängten die anderen, sich zurückzuziehen. Diese Vorsicht erwies sich als angebracht, denn ein Stück des Schiffes glühte hell auf und schlug dann schmelzend auf den Boden. Die Menge zog sich weiter zurück, und bis zu Meure herauf erklangen ihre Stimmen, erzürnte, empörte Laute. Sie hielten nun einen respektvollen Abstand zum Schiff, aber sie beobachteten es weiter intensiv, umkreisten es und bedrohten es mit ihren Waffen.

Flerdistar beobachtete dies alles, dann sagte sie: „Wir können ihnen nicht helfen. Wir glauben, daß es Menschen sind, aber wir wissen es nicht. Hier auf Monsalvat hat das Wort ‚Mensch’ viele Bedeutungen.“ Sie wich dem Blick Audiarts aus, die sie unverwandt angestarrt hatte.

Einige in der Menge hatten jetzt wieder Mut gefaßt und wagten kleine Vorstöße gegen das Schiff. Es sah aus, als hielten sie das Schiff für ein lebendes Wesen, das sie mit ihrer Kühnheit erschrecken wollten. Vielleicht wußten sie aber auch, daß die Ffstretsha tot war und nicht mehr auf den Wellen des Raumozeans tanzen konnte, vielleicht wollten sie einfach ihre Kameraden beeindrucken, deren Zahl sich ständig erhöhte, da hinter einer Bodenwelle im Osten immer neue Gruppen auftauchten.

Als eine Weile nichts Außergewöhnliches geschehen war, wurden manche noch kühner in ihren Aktionen. Obwohl das eine Ende des Schiffes immer noch rot glühte, wagte sich einer bis zum Einstieg vor, sah sich noch einmal zögernd um und schwang sich dann hinein. Ein zweiter folgte ihm, da er nicht wollte, daß man ihn für weniger mutig oder entschlossen hielt, aber er wartete am Eingang. Die Menge zog ihren Kreis jetzt wieder enger um das Schiff. Felsbrocken prasselten gegen die Bordwand.

Aus dem relativ unbeschädigten Ende des Schiffes erklang jetzt eine Sirene. Die kurzen Töne kamen in regelmäßigen Abständen, in unverändertem Rhythmus. Dann gab es eine kurze Pause, und die Heultöne setzten von neuem ein. Dann brach das Signal wieder ab und begann von vorn. Etwas änderte sich jedoch … nach jeder Pause gab es einen Heulton weniger. Als er das System erkannt hatte, begann Meure mitzuzählen: sieben, Pause, sechs, Pause, fünf, Pause, vier, Pause – merkten diese Narren denn nicht, was mit dem Schiff geschah? Dies war ein Countdown, eine Warnung. Drei – endlich schienen einige in der Menge zu spüren, daß etwas faul war, und viele zogen sich zurück. Zwei. Die Gestalt beim Eingang des Schiffes rief etwas ins Innere hinein. Pause. Eins. Der andere tauchte im Gang auf, wild mit den Armen rudernd. Hinter ihm im Gang wurde es taghell, und der Körper, der sich eben noch schwarz gegen dieses Licht abgezeichnet hatte, verwandelte sich in einen formlosen Fleck. Die Menge stürzte nach allen Seiten davon, und die Ffstretsha erhob sich noch einmal, wurde zu einer strahlenden Blüte, zu einer Halbkugel aus tausend weißen Lichtstrahlen, die plötzlich am Himmel standen. Dann erst zerriß das Geräusch der Explosion die Luft. Ein Bersten, wie es Monsalvat noch nie zuvor vernommen hatte. Wo eben die Lichtstrahlen gewesen waren, schwebte jetzt Staub, rosig eingefärbt von den Sonnen des Planeten. Ein Hagel von kleinen Splittern prasselte auf die Felsen nieder. Meure sah, daß der größte Teil der Menschenmenge niedergestreckt worden war. Ein riesiger, regelmäßiger Kreis mit einem leeren Zentrum dort, wo die Ffstretsha gewesen war. Am äußeren Rand dieses Kreises jedoch begannen viele sich wieder zu regen, sich aufzurappeln und ihre Körper abzutasten, wobei sie laut nacheinander riefen.

Was Explosionen anging, so war diese eigentlich nicht weltbewegend gewesen, und sie hatte sich auch nicht außergewöhnlich zerstörerisch ausgewirkt. Das Schiff allerdings hatte sie völlig ausgelöscht.

Nichts war übriggeblieben als ein kleiner Krater, der übersät war mit einer Fülle unidentifizierbarer Trümmer, von denen manche noch glühten, die Mehrzahl aber bereits erloschen war. Die Detonationswolke hatte sich schon fast völlig aufgelöst.

Während die Menge unten begann, ihre Verwundeten zu versorgen, fielen Meure die fliegenden Wesen wieder ein, und er sah nach oben. Er erinnerte sich, daß er unmittelbar vor der Explosion keine Bewegung mehr von ihnen wahrgenommen hatte. Doch jetzt sah er sie wieder auf schnellen, ungeregelten Bahnen durch den Himmel stürmen, die sie kaum zu kontrollieren schienen. Die Wesen schossen und taumelten durcheinander und konnten einen Zusammenstoß oft erst im letzten Moment durch gewagte Manöver vermeiden. Wegen der enormen Geschwindigkeit, mit der sie ihre verwirrenden Flugbahnen durch sein Gesichtsfeld zogen, hatte Meure Schwierigkeiten, sie genau zu beobachten.

Dann versuchte Meure den Bewegungen eines einzelnen Tieres zu folgen. Er entschied sich für eines, das gerade in einem weiten Bogen wieder der Menge der anderen zustrebte. Erst jetzt, da er dieses eine Tier sorgfältig mit Blicken verfolgte, bekam er einen ersten Eindruck von seiner unglaublichen Gestalt. Die Größe ließ sich schwer ermitteln, da Meure nicht wußte, in welcher Höhe die Wesen kreisten, aber sie waren wahrscheinlich deutlich größer als ein Mensch. Die Kreatur, die er beobachtete, war lang und schmal gebaut und hatte ein Paar schlanker, kleiner Flügel, die sehr nahe am vorderen Ende des Tieres aus dem Körper ragten. Ein gutes Stück von diesen entfernt hatte das Wesen an seinem anderen Ende ein weiteres Flügelpaar, das etwa doppelt so groß war wie das andere. Alle Flügel waren schlank und verjüngten sich zu einer Spitze, auf der jeweils ein horniges Hautbüschel wuchs. Die Flügel schienen teilweise starr zu sein, teilweise waren sie aber auch elastisch. Hier schien eine Haut über ein Knochengerüst gespannt zu sein. Das vordere Paar schlug nach vorn, während das hintere zurückschwang. Dies geschah jedoch nicht genau gleichzeitig, sondern etwas versetzt, wobei die vorderen Flügel ihre Bewegung immer zuerst ausführten. Der Körper zwischen den Flügeln war ebenfalls sehr schmal. An seiner schlanksten Stelle – am Anfang des letzten Rumpfdrittels, unmittelbar vor dem Ansatz des großen Flügelpaares – trug auch der Körper zwei dieser unbestimmbaren Büschel. Am vorderen Ende hatte die Kreatur nichts, das man als Kopf hätte bezeichnen können. Der Rumpf des Tieres verjüngte sich hier einfach zu einer leicht nach unten deutenden Spitze. An diesem spitz zulaufenden Vorderteil waren ein paar Flecken zu sehen, aber Meure konnte nicht erkennen, ob es sich um Sinnesorgane handelte.

Als das Tier seinen großen Bogen vollendet hatte, stoppte es die Bewegung seiner Vorderflügel und faltete sie unter dem Vorderteil, das es gleichzeitig ein wenig anhob. Die hinteren Flügel schlugen jetzt heftiger und mit erhöhter Schlagfrequenz. Das Tier wurde deutlich schneller. Als es auf dem Weg nach Norden genau über Meures Kopf hinwegstrich, sah er, daß die hinteren Flügelkanten in einer parabolischen Kurve nach außen schwangen. Der Schwanz des Wesens war sehr klein. Die äußere Umrißlinie von Körper und Flügeln verlief von der Rumpfspitze zu den Flügelenden in einem glatten, konkaven Bogen. Die Hinterkante der großen Flügel jedoch beschrieb einen schwach konvexen Bogen. Dies alles verlieh der Gestalt des Tieres eine unglaublich bizarre Form. Diese Monstrosität hatte jedoch nichts Humorvolles oder auch nur Dekoratives an sich. Im Gegenteil, das Tier, das mit kraftvollen Flügelschlägen seine Bahn durch die klare Luft von Monsalvat zog, wirkte kraftvoll und entschlossen, gespannt und sehr gefährlich. Es stoppte jetzt kurz seine Flugbewegungen und schwebte leicht schaukelnd am Himmel, wobei es kleinere Kursveränderungen vornahm. Dies tat es mit Hilfe der Vorderflügel, die unter dem Bug zusammengefaltet als Ruder dienten. Während es sich weiter entfernte, verlor es an Höhe; es öffnete die Vorderflügel, um sich abzufangen, und setzte zu einem neuen Halbbogen von einhundertachtzig Grad an. Jetzt schlugen wieder beide Flügelpaare.

Die Fremden, die die Explosion überlebt hatten, schienen nun auch die Kreaturen zu bemerken, die über ihren Köpfen kreisten. Einige der Wesen waren schon recht tief herabgekommen und strichen flach über den Krater, den das Schiff hinterlassen hatte. Meure konnte nicht entscheiden, ob die Furcht vor den Flugwesen oder der Zorn über die Verluste bei der Explosion das Verhalten der Masse bestimmte; jedenfalls schien es, daß sie alle den Verstand verloren hatten; wie irre liefen sie durcheinander, deuteten zum Himmel empor und suchten mit der Energie von Rasenden nach irgend etwas.

Clellendol flüsterte: „Die suchen uns, darauf gehe ich jede Wette ein.“

Flerdistar sagte von der Seite: „Es macht mir nichts aus, diesem Mob zu begegnen. Du hast wahrscheinlich recht. Sie wissen, daß das Schiff zunächst kaum beschädigt war, daß es offenstand, und sie fanden dennoch keine Besatzung.“

Clellendol fügte hinzu: „Und daß ihnen jemand eine tickende Bombe hinterlassen hat. Nein, die Sache gefällt mir ganz und gar nicht.“

Meure bemerkte hoffnungsvoll: „Die Flugwesen lenken sie ab. Vielleicht übersehen sie uns.“

Das große Flugungeheuer, das Meure beobachtet hatte, hatte seinen Bogen beendet und flog nun – als ob es Meures Hoffnung bestätigen wollte – tief auf die Senke zu, in der sich die Menge versammelt hatte. Meure und die anderen konnten von ihrem erhöhten Standpunkt aus sehen, wie das Tier heranschwebte; die Wilden in der Senke konnten jedoch nur die Tiere sehen, die direkt über ihnen in der Luft waren. Das Flugwesen strich im äußersten Tiefflug auf die Bodensenke zu; die Gruppe auf dem Hügel sah es jetzt von oben, sah, wie es die Zahl seiner Flügelschläge noch einmal steigerte, nicht um an Höhe, sondern um an Fahrt zu gewinnen. Als es den Rand der Vertiefung erreicht hatte, stellte es den Flügelschlag ein und ging in einen rasenden Gleitflug über. Seine Bahn schien genau vorausberechnet zu sein, und seine Geschwindigkeit war so hoch, daß die Menschen in der Senke keine Zeit mehr für eine sinnvolle Reaktion hatten. Die Beobachter sahen wieder die paarweise gesetzten Flecken an der Vorderseite des Tieres, die vermutlich Augen waren, und eine weitere Öffnung, die tiefrot leuchtend pulsierte. Einen der flüchtenden Menschen schien ein Geräusch, ein Gefühl, vielleicht auch ein sechster Sinn gewarnt zu haben. Ein rascher Blick über seine Schulter sagte ihm, daß er das erwählte Opfer war. Er warf sich nach links, stürzte auf ein paar nahe Felsen zu.

Meure beobachtete hilflos die Szene. Aufrecht davonzulaufen war sicher sinnlos, denn das Flugwesen verringerte den Abstand zu seinem Opfer mit einer Geschwindigkeit, die mindestens zehnmal so hoch war wie die eines rennenden Menschen. Dies schien im letzten Moment auch der Mann zu begreifen, und er warf sich auf den Boden, während die vorderen Flügel schon über ihm waren. Die Kreatur änderte ein letztes Mal geringfügig den Kurs, sackte etwas durch über der Stelle, wo der Mann sich befand. Aus der schmälsten Stelle des Rumpfes schossen so etwas wie Krallen hervor. Dann ging sie in einen steilen Steigflug über, und die Flügel begannen wieder zu schlagen. Die Stelle auf dem Boden war leer.

Audiart unterdrückte ein Würgen und wandte sich ab. Die beiden Spsomi saßen wie versteinert da und schwiegen. Clellendol sagte atemlos: „Ich glaube nicht, daß wir fürchten müssen, daß das Opfer sehr gelitten hat. Allein durch den Anprall dürften die meisten seiner Knochen gebrochen sein. Falls diese Wesen ihrem Opfer nicht noch eine andere Art Schock versetzen.“

Meure sagte nichts. Er fragte sich, wie diese Flugwesen gebaut sein mochten, daß sie selbst diesen Anprall ohne jeden Schaden überstanden.

Das Wesen stieg in nördlicher Richtung immer höher. Ein paar andere Exemplare seiner Gattung unternahmen halbherzige Versuche, es zu verfolgen, stellten diese aber bald wieder ein und kreisten weiter über den Köpfen der Menge.

Die Menschen waren nun wachsam und vorsichtig geworden. Ihre wütend eifrige Suche hatten sie jedoch nicht aufgegeben. Sie nutzten jede Deckung, die sich ihnen bot, und schlossen sich zu kleinen Gruppen zusammen, die laut rufend Verbindung miteinander hielten. Diese Gruppen verteilten sich nun in der Umgebung des Schiffes, wobei einige Mitglieder ständig den Himmel beobachteten, die anderen den Boden untersuchten. Keine der Gruppen bewegte sich nach Osten.

Flerdistar bemerkte: „Jetzt suchen sie nach den Schiffsinsassen. Daß wir nicht nach Osten gelaufen sein können, wissen sie bereits, denn von dort sind sie ja selbst gekommen. Sie werden in ihrer Hektik all unsere Spuren in der Umgebung des Schiffes zertrampelt haben, aber weiter draußen werden sie sie bestimmt aufnehmen können.“

Zunächst schien die eifrige Suche den kleinen Leuten in der Senke, die zudem ständig vor neuen Angriffen der Flugwesen auf der Hut sein mußten, wenig einzubringen. Manche von ihnen kümmerten sich auch um die Verwundeten, halfen ihnen auf die Füße oder riefen zur Unterstützung Dritte herbei. Allmählich jedoch schienen ihre Bemühungen Erfolg zu haben. Die Senke wurde äußerst sorgfältig durchkämmt, und systematisch wurde ein mögliches Versteck nach dem anderen ausgeschlossen. Laut schallten die rauhen Kontaktrufe der Gruppen durch dieses natürliche Amphitheater: sie stimmten ihre Bemühungen aufeinander ab.

Ein besonders emsiges Wesen hatte etwas auf dem Boden gefunden, das es sehr zu faszinieren schien; andere wurden zur Beratung herbeigerufen. Weitere Menschen schlossen sich an, und es entbrannte eine hitzige Diskussion, die von heftigen Gesten begleitet wurde. Dann machten sie sich vorsichtig auf den Weg in Richtung auf die felsige Erhebung, wo sich die Überlebenden der Notlandung verbargen. Hin und wieder hob einer den Kopf, um die zurückzulegende Entfernung abzuschätzen. Die Menge in der Senke teilte sich auf, ein Teil folgte der vorrückenden Gruppe, die anderen setzten sich zurück nach Osten in Bewegung.

Meure sagte ruhig: „Ich glaube, sie wissen, daß wir hier oben sind.“

Halander bemerkte: „Ob wir nun kämpfen oder davonlaufen, ich weiß nicht, wie wir mit einer solchen Menge fertig werden sollen. Außerdem werden sie sicher noch Verstärkung erhalten, sobald sie auf uns gestoßen sind.“

Audiart flüsterte: „Wohin sollten wir auch flüchten? Wissen wir überhaupt, auf welchem Kontinent wir gelandet sind?“

Vdhitz wechselte ein paar Worte mit Shchifr, dann sagte er einen längeren Satz in seiner Sprache zu Flerdistar. Das Mädchen dachte einen Moment darüber nach, dann sagte es: „Wir befinden uns auf dem nordwestlichen Kontinent Kepture, und zwar irgendwo in seiner Mitte. Während des Landeanflugs konnten die Spsomi kaum etwas sehen … Vdhitz meint aber, daß er eine große Wasserfläche gesehen hat, die sich nach Süden erstreckte und größer als ein Binnensee war. Wenn das stimmt, sind wir im Westen von Kepture … Andererseits spielt es ohnehin keine Rolle, wohin wir gehen, denn wir werden wahrscheinlich nirgendwo auf freundliche Eingeborene stoßen. Wenn wir jedoch am Leben bleiben wollen, sollten wir zumindest diesen Ort sofort verlassen, meinen die Spsomi.“ Sie setzte ihre Worte sofort in die Tat um und begann durch die Felsen nach Westen zu klettern.

Unten hatten scharfe Augen ihre Bewegung bemerkt, und sofort erscholl wildes Geschrei. Clellendol riß das Mädchen zurück, aber es war natürlich zu spät. Meure konnte die Verfolger jetzt recht gut unterscheiden. Die ganze Gruppe bewegte sich nun in ihre Richtung. Als Meure seinen Blick über die Gefährten gleiten ließ, sah er, daß Vdhitz die Lefzen kräuselte und seine nadelspitzen Zähne entblößt waren. In der Hand trug er ein schmales Messer mit matter Klinge. Audiart erwiderte seinen Blick ruhig und ausdruckslos. Meures Hand tastete suchend über das Felsgeröll und entschied sich für einen spitzen Stein mit gezackten Kanten.

Die Vorhut der Meute war schon sehr nahe. Gleichzeitig waren die Wesen viel ruhiger geworden. Sie wechselten keine lauten Rufe mehr, sondern verständigten sich nur hin und wieder durch einen kurzen zornigen Satz. Meure unterschied jetzt deutlich Einzelheiten bei dem vorrückenden Mob. Für ihn war es keine anonyme Masse mehr, sondern eine Ansammlung von unterscheidbaren Einzelwesen. Sie waren von kleiner Gestalt, und ihr Körperbau ähnelte dem der Ler, war jedoch knochiger. Ihre Haut war blaßbraun, jedoch von einer ungesunden Tönung, die im Widerspruch zu der klaren, rosigen Morgenluft zu stehen schien. Das Haar war glatt und strähnig und von brauner bis dunkelblonder Farbe. Ihre Gesichter fesselten seine Aufmerksamkeit am meisten, denn er sah, daß sie alle eine gespaltene Oberlippe hatten; bei einigen war diese Hasenscharte stark ausgeprägt, bei anderen weniger, aber niemand war frei davon. Die gesamte Erscheinung dieser Wesen war so sehr widersprüchlich und zwiespältig: Die gespaltene Oberlippe verlieh ihren Gesichtern etwas von der Harmlosigkeit von Kaninchen, und doch waren diese Gesichter nur von einem Ausdruck bewegt, nämlich von Wut und Haß. Sie kletterten den Hang mit besessenem Eifer empor, stießen kurze Sätze hervor und beobachteten einander ständig. Sie waren ein Volk, das es gewohnt war, gemeinsam vorzugehen, und zwar in großen Massen.

Ihre Kleidung schien aus den erstbesten Fetzen zu bestehen, die sie bei ihrem hastigen Aufbruch gefunden hatten. Manche trugen geflickte, weite Übermäntel, andere kaum mehr als einen großen Lappen, in den sie Löcher für Arme und Kopf geschlitzt hatten, vielleicht hatten sie auch einfach bereits vorhandene Löcher für ihre Zwecke ausgenutzt. Wieder andere trugen lange lederne Röcke, die aus einer weichen, fleckigen Haut geschnitten waren und von Stricken an ihrem Platz gehalten wurden. Sie hatten offensichtlich keine Anführer und auch keine natürliche Kampfordnung. Aber sie kamen immer näher. Jetzt waren sie nur noch ein paar Meter entfernt, und Meure war sich sicher, daß alle sie entdeckt hatten.

Clellendol hatte sich erhoben, war ein paar Schritte den Hang hinaufgestiegen und sah ihnen entgegen. In der Hand hielt er eine dünne Schlinge. Meure war ebenfalls aufgestanden, hielt seinen Felssplitter umklammert und dachte an gar nichts. Die beiden Spsomi hatten sich zu ihrer vollen Höhe aufgerichtet, beide hatten Messer in der Faust. Niemand bewegte sich. Kein Wort fiel.

Die ersten in der Menge, die sich den Felsabhang heraufarbeitete, hielten nun inne und musterten sorgfältig die Szene, die sich ihnen bot. Meure glaubte fast ihre Gedanken lesen zu können: Wie viele mögen sich noch in den Felsen versteckt halten? Ist der Ort für einen Angriff nicht zu schlecht geeignet? Über welche unbekannten Kräfte mögen die drei fremden Wesen verfügen? Wer von ihnen konnte schon wissen, wozu ein Spsom fähig war? Die vorderste Reihe der Menschen rückte vorsichtig langsam weiter vor. Wenn sie auch jetzt völlig still waren, ging von ihnen doch eine fremdartige Wildheit aus. Haßerfüllte Blicke aus vielen Augen trafen ihn. Meure dachte: Jetzt ist es soweit.

Im Rücken der Vorhut gab es ein Gedränge, da dort immer neue Wellen der erregten Wesen eintrafen. Diejenigen aber, die ganz vorn standen und abschätzend die Gruppe der Überlebenden einen nach dem anderen gemustert hatten, schienen nun durch diese hindurchzusehen, dann blickten sie einander an. Das wilde Leuchten in ihren Augen verglomm, wich Überraschung und Zweifel, dann unverhüllter Furcht und Entsetzen. Geflüsterte Botschaften huschten durch die Reihen, sehr leise, so als ob die Menschenmasse irgend etwas um keinen Preis aufschrecken wollte. Die Vorwärtsbewegung am Fuß des Hanges war zum Stillstand gekommen, und die Vorhut begann sich zögernd zurückzuziehen, wobei sie die Spitze des Felshügels nicht aus den Augen ließ. Langsam und äußerst vorsichtig setzte sich die ganze Menge rückwärts in Bewegung. Meure sah, daß sich sogar am anderen Ende der Senke die Menschen nach Osten davonmachten. Nicht in Panik oder in großer Hast, aber unter ständigem Umblicken.

Meure entspannte sich und atmete aus. Ihm fiel auf, daß er sich nicht erinnern konnte, wann er zuletzt geatmet hatte. Etwas hatte die Wesen zur Umkehr bewogen, aber er konnte sich nicht vorstellen, daß es der Anblick der Spsomi gewesen war. Sie sahen zwar fremdartig aus, aber es waren ja nur zwei, und sie waren eindeutig nur mit Messern bewaffnet. Er sah den Hang hinunter, der zurückweichenden Menge nach, die sich immer schneller zurückzog. Er warf Audiart einen Blick zu. Sie verhielt sich noch immer völlig reglos, ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Dann schien sie seinen Blick zu spüren und drehte den Kopf, um ihm zu begegnen. Beide wollten wissen, was diesen Mob zur Umkehr bewegt hatte, und sie sahen gemeinsam hangaufwärts.

Das Blut in Meures Venen gefror zu Eis. Zwischen den Felsen hinter den Spsomi standen – völlig reglos – drei hochaufragende Gestalten. Sie trugen Kapuzenumhänge, die sie von Kopf bis Fuß einhüllten. Was für Körper sich unter den Gewändern verbergen mochten, konnte Meure nicht sagen, aber von den Gesichtern war immerhin so viel zu erkennen, daß man die Gestalten als Menschen identifizieren konnte. Alle drei hielten lange Speere; die Schneiden der schlanken Spitzen blitzten in der Sonne. Zwar lagen die Gesichter im Schatten der Kapuzen, aber was er davon sah, fand Meure furchterregender als die Gesichter, die er zuvor auf dem Hang erblickt hatte. Alle drei hatten ein schmales, hohlwangiges Antlitz, das von einer großen, scharfrückigen Nase beherrscht wurde. Dichte, haarige Brauen beschatteten tiefliegende Augen, die so dunkel waren wie die Finsternis selbst.

Zwei verharrten in derselben unbewegten Pose und blickten starr nach Osten mit einem ausdruckslosen Fernblick, den nichts in der Nähe zu interessieren schien. Der dritte ignorierte die gemischte Gruppe in den Felsen ebenfalls und glitt in fließenden Bewegungen um sie herum, um zu einer Stelle zu gelangen, von der aus er die Menge besser beobachten konnte, die sich eben anschickte, die Senke zu verlassen. Dann trat dieser dritte Neuankömmling ein paar Schritte auf den Hang hinaus, wo er noch einmal verharrte.

Meure sah genau hin. Nichts an der Gestalt ließ Schlüsse auf ihr Geschlecht zu, aber er stellte fest, daß er unbewußt „sie“ dachte. Vielleicht war es etwas in ihrer mühelos gleitenden Bewegung, vielleicht war es ihre Figur, die etwas leichter gebaut zu sein schien. Er konnte es nicht sagen. Die Gestalt hob jetzt ihren freien Arm und schüttelte die Falten des voluminösen Umhangs zurück; so enthüllte sie eine schmale Hand mit langen, schlanken Fingern, und diese führte sie an den Mund. Dann stieß sie einen langen, durchdringenden Schrei aus. Das schrille Heulen erschütterte Meure bis ins Mark und erfüllte ihn mit Furcht.

Unten in der Senke hörte die abrückende Menge den Schrei. Viele blickten über die Schultern zurück, aber niemand drehte sich um. Als der Ruf verhallt war, verfielen die meisten in einen raschen Trab, manche begannen zu rennen. Oben am Hang zuckte die Gestalt kurz mit den Schultern, wand sich kaum merklich, und ihr Umhang fiel zu Boden. Er enthüllte ein nacktes, schlankes Mädchen mit einem drahtigen, muskulösen Körper, dessen mattschimmernde Haut einen olivbraunen Ton hatte. Sein langes schwarzes Haar war zu einem festen Zopf geflochten und am Hinterkopf zu einer Rolle zusammengesteckt. Das Mädchen warf den Speer in die Luft und fing ihn im Laufen wieder auf. Sie eilte jetzt den Hang hinunter und ließ sich von ihrem eigenen Gewicht vorwärtsreißen. Schwerelos, wie in einem kontrollierten Fall, glitt sie hinab, in langen, genau bemessenen Sprüngen. Unten in der Senke befiel Entsetzen die flüchtende Menge. Haltlos stürmten die kleinen Wesen nun davon, so schnell sie ihre Beine trugen. Das Mädchen hatte jetzt ebenen Boden unter den Füßen und jagte mit raumgreifenden Schritten den Fliehenden nach, die nicht einmal halb so schnell waren wie es und die nur noch die Angst beherrschte. Meure, der alles beobachtete, wußte nicht, was das Mädchen vorhatte, aber es schien ihm, daß es die Kaninchen-Wesen hetzte, daß sie seine Jagdbeute waren.

Er tauschte Blicke mit dem Rest seiner Gruppe. Diese hatten ebenfalls die Szene in der Senke beobachtet, und jetzt wandten sie ihre Blicke ab, um die logische Vollendung nicht mit ansehen zu müssen. Gemeinsam sahen sie zu den Neuankömmlingen empor. Dort standen jetzt fünf Gestalten; es ließ sich nicht sagen, welche der Gestalten neu hinzugekommen waren. Eine lange Zeit maßen sich die beiden Gruppen mit den Blicken. Niemand rührte sich. Dann deutete eins der verhüllten Wesen mit der Hand zunächst auf sich und dann nach Westen, der Richtung, aus der sie offenbar gekommen waren. Die Bedeutung war klar. Man lud sie irgendwohin ein. Die Geste war nicht von einer Bewegung seiner Waffe begleitet, und es hatte sogar den Anschein, als würde sich der Anführer Mühe geben, seinen Speer ihrer Aufmerksamkeit zu entziehen.

Vdhitz zuckte auf fast menschliche Art seine Spsom-Schultern und schob sein Messer in die Scheide zurück. Shchifr tat es ihm gleich. Clellendol rollte seine Schlinge auf und sagte mit gedämpfter Stimme: „Glaubt hier jemand, daß wir eine andere Wahl haben?“ Es gab keine Antwort, und die anderen erhoben sich zögernd. „Ich sehe auch, daß sie recht gefährlich sind, aber ich ziehe sie und den unbekannten Westen denen vor, die von Osten kamen.“

Die Gestalt, die ihnen das Zeichen gegeben hatte, hatte Clellendols Worte offensichtlich nicht verstanden, aber sie schien das Verhalten der Gruppe richtig zu deuten. Ohne ein Wort nickte sie und wandte sich um nach Westen. Mit mühelosen, eleganten Schritten folgte sie einem fast unsichtbaren Pfad. Seine Gefährten traten zur Seite, um die Gruppe vorbeizulassen. Einer nach dem andern folgten sie ihrem finsteren Führer die Felsen hinab und hinaus in die wellige Ebene, die sich vor ihnen endlos nach Westen erstreckte.