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„Das Wort des Magus ist zunächst immer eine Lüge. Denn es ist ein schöpferisches Wort. Was für ein Sinn bestünde darin, es auszusprechen, wenn es nur ein tatsächlich existierendes Faktum beschriebe? Die Aufgabe des Magus besteht darin, dieses Wort, den Ausdruck seines Willens, wahr werden zu lassen. Dies ist die außerordentlichste Arbeit, die der Geist zu leisten vermag.“

A.C.

 

Seine Reise zum Meer im Westen begann der Große Fluß, der Yast, im Osten des Kontinents; in einer Hügelkette, die das Land Incana von seinem östlichen Nachbarn Intance trennte. Diese Hügelkette war Incanas natürliche östliche Grenze.

Alle anderen Grenzen wurden von dem Fluß gebildet, denn er umströmte das Land in einem weiten Bogen: Von der Quelle zielte sein Lauf zunächst nach Westen, schwenkte dann nach Süden, kehrte zurück nach Osten, bevor er dann endgültig seinem Delta im Süden entgegeneilte. Sein Bett trennte die Landmasse des Kontinents Kepture in zwei Teile. Wenn man die Daten von Monsalvat mit denen anderer bekannter Planeten verglich, dann war die Gesamtoberfläche der Kontinente keineswegs bemerkenswert. Kepture bildete da keine Ausnahme, und auch der Yast stellte keine Rekorde auf. Aber er war der größte Fluß des Planeten, und die Wechsel in seiner Wasserführung erfüllten die Klesh, die an seinen Ufern wohnten, mit Schrecken.

Meure erinnerte sich noch dunkel daran, wie sie den Fluß überquert hatten. Eine weite schwarze Fläche war unter ihnen zu sehen gewesen; erst als sie über die zerklüfteten Hänge von Incana flogen, hatte sich ein Blick nach unten wieder gelohnt, bot sich dem Auge wieder ein anderer Anblick als diese endlose Leere.

Jetzt befanden sie sich auf einem Boot in der Mitte des Stroms, und bei Tag war der Fluß dem Auge des Betrachters kaum angenehmer als in der Nacht. Die flachen Ufer konnte man hinter dichten Dunstwolken nur erahnen, und voraus erstreckte sich die Oberfläche des Flusses scheinbar endlos, bis sie eins wurde mit dem Horizont. Die Bootsleute, Mischlinge unbestimmbarer Herkunft, ließen das niedrige Boot mit der Strömung treiben; so glitt es still dahin über die glatte Wasseroberfläche, die von keiner Welle gekräuselt wurde. Das Wasser war dunkel, trüb und für das Auge undurchdringlich. Hin und wieder stiegen kleine Blasen auf; flache Strudel bildeten sich und vergingen wieder, ohne erkennbare Ursache. Süßlicher Leichenduft hing über dem Fluß, und niemals blinkte das Wasser unter einem Sonnenstrahl auf. Es war ein Fluß des Totenreiches.

 

Niemand hatte sie an ihrer Flucht aus Incana gehindert. Fünf Tage lang waren sie durch die leeren, unbewohnten Täler gezogen, an Hügeln und Bergen vorbei, von denen jeder eine größere oder kleinere Dzoz auf seinem Gipfel trug. In allen flackerte das Spiel der Spiegeltelegraphen wie wahnsinnig, aber niemand verfolgte sie oder versuchte, sie aufzuhalten. In Sichtweite einer großen Festung hatten sie schließlich den Fluß erreicht, aber das Volk, welches das Flußufer bewohnte, beachtete die Festung kaum; ihr Einfluß schien sich nicht bis hierher zu erstrecken.

Es kostete unverschämt viel, den großen Fluß zu überqueren, weil, wie die Bootsleute sagten, die ganze Strecke hindurch gerudert werden müsse. Selten ging ein Wind, den man zum Segeln nutzen konnte. Flußabwärts könne man sie umsonst mitnehmen, hieß es, und man würde sie auch an einer geeigneten Stelle am Ufer Omburs an Land setzen. Eine Barke war zum Ablegen bereit, und sie beeilten sich, sie zu besteigen, nachdem Clellendol und Rerdistar der Mannschaft ein paar Schmuckstücke überreicht hatten, die sie unter ihrem Gewand hervorzauberten. Es gelang Morgin, den Männern einige Laibe altbackenes Brot abzuschwatzen; ohne Sackdiener und Wendel war sein Einfluß als Mittler nicht sehr groß.

Tenguft gegenüber hielten die Bootsleute respektvollen Abstand, ansonsten hielt sich ihre Furcht vor einem einzelnen Haydar in Grenzen. Vor einer Gruppe wären sie wahrscheinlich heulend ins Wasser geflohen, aber einer allein? Sollte sie ruhig mitfahren, solange sie sie in Ruhe ließ. Auf dem Großen Fluß war den Bootsleuten schon mancherlei begegnet.

 

Die Doppelsonne schien dunstverhangen; wahrscheinlich würde es bald regnen, meinte Tenguft. Meure saß auf einem Holzstapel und starrte in das träge Wasser des Stroms. Auf der anderen Seite der Barke hockte das Haydar-Mädchen, hatte die Hände um ein Knie gefaltet, das Kinn darauf gestützt und blickte in die Ferne. Seit den Ereignissen in der Festung mieden die anderen Meures Nähe, auch wenn Cretus sich nicht mehr gerührt hatte.

Flerdistar und Clellendol nahmen neben ihm auf dem Stapel Platz. Das Ler-Mädchen brach zuerst das Schweigen: „Hast du noch einmal Kontakt zu ihm gehabt?“ (Seit einiger Zeit redeten alle Mitglieder der Gruppe sich mit der vertraulicheren Du-Form an. Die gemeinsamen Erlebnisse hatten alle Standesunterschiede dahinschmelzen lassen.)

Meure musterte sie eine Weile nachdenklich, bevor er antwortete: „Nein, ich habe nichts mehr von ihm gehört. Er ist noch da, das spüre ich, aber er hält sich zurück. Es scheint sehr anstrengend für ihn zu sein, die Kontrolle über mich zu übernehmen.“

Sie nickte verständnisvoll: „Ich denke, dies ist ein Erlebnis, das sich nicht in Worte fassen läßt.“

Ein Lächeln huschte über Meures Gesicht. Ihre unermüdliche Ernsthaftigkeit amüsierte ihn. „Ja, das kann man wohl sagen. Dafür reicht der normale Wortschatz nicht aus … Es ist sonderbar; da er von außen zu mir kam, ist er für mich unsichtbar … das heißt, ich fühle wohl, daß er da ist, aber seine Gedanken und seine Erinnerungen sind mir verschlossen. Er kann in mir lesen wie in einem Buch. Ich weiß genau, was er zuletzt durchforscht hat, wo er gewesen ist, denn diese Erinnerungen sind irgendwie verändert, als ob sie jemand neu geordnet hätte. Ich glaube, nach einiger Zeit könnte er sich ganz in mich verwandeln, aber das ist sicher nicht seine Absicht.“

Clellendol griff diese Überlegung auf und ergänzte sie: „Das würde aber bedeuten, daß Cretus dich so genau nachahmen könnte, daß wir den Unterschied nicht bemerken würden.“

„Das stimmt. Aber das liegt nicht in seinem Wesen. Wie ich schon sagte: Er will sich gar nicht in mich verwandeln.“

Clellendol sagte: „Könntest du dich in ihn verwandeln?“

„Auch das ist nicht möglich. Dann würde ich ihn völlig unterdrücken; das befürchtet er, und deshalb hält er sich vor mir verborgen. Er forscht unaufhörlich.“

„Wonach forscht er?“

„Nach allem, was wir über das Universum wissen. Davon hatte er bisher keine Vorstellung. Er will auch herausbekommen, wie lange sein … Exil gedauert hat.“

„Weiß er es? Weißt du es?“

„Zweimal nein. Ich weiß nur, daß es eine sehr lange Zeit war und daß sich das Wesen der Klesh inzwischen kaum geändert hat.“

Sie nickte zustimmend: „Ja, das stimmt. Es hätte mir schon früher auffallen müssen, aber es ist so offensichtlich, daß man es leicht übersieht. Dies ist ein sehr statisches Volk. Es hat weder technische noch politische Fortschritte gemacht.“

„Dazu kommt diese auffällige Häufung von Omen und Wahrsagern“, ergänzte Clellendol. „Überall stößt man auf sie, und sie scheinen besser zu funktionieren, als ich es sonst erlebt habe …

Morgin hat mir erzählt, daß es überall so zugeht. Es gibt viele verschiedene Methoden, aber das Prinzip ist immer das gleiche: Es wird ein Orakel befragt, und tatsächlich erfolgt immer eine Antwort. Mit den Wendeln ist das allerdings anders, sie dienen den Mittlern als Mittel der Wahrnehmung und der Verständigung.“

Flerdistar sagte: „Mir scheint, daß wir auf zwei neue Phänomene gestoßen sind, die unsere Aufmerksamkeit verdienen. Dabei dürfen wir natürlich nicht unsere beiden Hauptanliegen vernachlässigen: eine Antwort auf die alte Frage zu finden und den Planeten gesund wieder zu verlassen.“

Meure starrte sie ungläubig an: „Du hast tatsächlich beides noch nicht aufgegeben?“

„Wie könnte ich es vergessen. Clellendol hat allerdings das Benehmen der Spsomi nicht gefallen.“

„Die Spsomi sind von Natur aus Fleischfresser“, erklärte Clellendol, „und darum gehen sie auch auf Jagd. In ihrer natürlichen Umgebung jedoch stellen sie nur kleinen Beutetieren nach. Schon von ihrem Körperbau her können sie es mit größeren Beutetieren nicht aufnehmen. Hinzu kommt, daß sie außerordentlich neugierig sind – stärker als die Menschen – und daß sie besondere Erlebnisse suchen. Darum ergibt es keinen Sinn, daß sie bei den Haydars zurückgeblieben sind, während wir in eine Welt aufregender Abenteuer hinauszogen. Außerdem haben sie den Vfzyekhr mit uns ziehen lassen … Wir wissen nicht genau, welche Beziehung zwischen diesen beiden Rassen besteht, aber wir wissen, daß ein Spsom einen Vfzyekhr einfach nicht allein ziehen läßt. Flerdistar versteht es, die Vergangenheit zu lesen, und sie riecht, daß hier etwas nicht stimmt; ich verstehe mich besser auf die Gegenwart, doch ich habe das gleiche Gefühl. Die Spsomi wollen unbedingt in der Nähe der Absturzstelle bleiben.“

Flerdistar fuhr fort: „Das kann nur bedeuten, daß früher oder später ein Spsom-Schiff hierherkommen wird. Und was die andere Frage betrifft, deren Antwort wir hier finden wollten … Nun, ich habe sie keineswegs vergessen.“

Meure starrte das Mädchen mit aufgerissenen Augen an: „Nach allem, was wir hier gesehen haben? Wie kannst du da noch auf eine Antwort hoffen?“

„Auch Geheimnisse lassen eine Spur zurück. Es ist uns schon lange klar, daß die Geschehnisse nicht wirklich so waren, wie sie die Geschichte für uns, die heute Lebenden, aufbereitet hat. Wie sich die Dinge in Wirklichkeit abgespielt haben, wissen wir nicht. Ich habe schon auf dem Schiff zu dir gesagt, daß sich die Wurzeln des Problems bis hierher verfolgen lassen. Wir wissen, daß die wahre Antwort einmal hier zu finden war, und wir wissen ferner, daß historische Wahrheiten wie diese ihre Spuren zurücklassen. Die Spuren dieser Wahrheit lassen sich aus der Sprache und den Gesten eben jener Menschen herauslesen, die sie zu verbergen trachten; ganz gleich, ob sie es bewußt oder unbewußt tun. Ich kann dir versichern, daß ich als Deuterin der Vergangenheit die Nähe dieser Antwort ebenso deutlich spüren kann, wie du die Gegenwart Cretus’ spürst. Sie ist einfach da!“ Sie unterstrich ihre Worte, indem sie mit einer weiten Geste über das Boot und die trägen, bleiernen Wasser des breiten Stromes wies. „Sie ist ganz nahe, wenn ich sie doch nur sehen könnte!“

Meure fragte: „Welches unserer Probleme wird sich deiner Meinung nach als erstes lösen?“

Clellendol antwortete: „Etwas auf dieser Welt scheint alle Veränderungen zu unterdrücken. Die Veränderung der Menschen unterliegt gewissen Gesetzmäßigkeiten; das gilt für alle bewohnten Welten, die wir kennen. Wenn diese Veränderungen nicht eintreten, dann muß man nach den Ursachen suchen, die dies verhindern. Diese Sache beunruhigt mich sehr, denn alles deutet darauf hin, daß hier eine Kraft am Werke ist, die den ganzen Planeten beeinflußt. Es könnte eine Naturgegebenheit sein; in diesem Fall sollten wir uns auf keinen Fall einmischen. Aber es kann auch einem bewußten Willen unterliegen, dann hätten wir es mit einer äußerst fremden Wesenheit zu tun. Einiges spricht für die letzte Möglichkeit: das Fehlen von Veränderungen, der Erfolg der Orakel, die Isolation des Planeten durch die schwierigen Raumbedingungen, die den Kontakt mit anderen Welten verhindern. Aber es geht mir wie dir und der Liy Flerdistar: Ich habe mein Problem erkannt, doch ich bin weit davon entfernt, es zu lösen.“

Meure hatte einen Einwand: „Bei den Menschen meiner Heimat habe ich auch keine Veränderungen bemerkt; und ihr müßt bedenken, daß ich von einem Kolonialplaneten stamme, der durch das Neuland-Programm allerlei Veränderungen ausgesetzt war.“

Clellendol erwiderte: „Tankred ist ein Pionierplanet. Er wurde erst vor ein paar Generationen urbar gemacht und wird zur Zeit immer noch erschlossen, das weiß ich. Aber was sagst du zu der Tatsache, daß die Menschen für jede Welt, die sie neu besiedeln, drei alte Planeten verlassen? Dort siedeln sich dann Ler an oder fremde Rassen, und manchmal – das ist gar nicht so selten – veröden sie wieder. Das heißt doch, daß es Veränderungen gibt, und zwar in einem gewaltigen Ausmaß. Ihr Menschen versucht, alles besonders gut zu machen, aber es zahlt sich für euch nicht aus.“

Meure lachte: „So ist es richtig – aber benehmen wir uns, wie ihr es tut, ist es euch auch wieder nicht recht. Vielleicht sollten wir doch alles anders machen?!“

„Jetzt kommen wir zu einer Diskussion über das Wesen der Vernunft!“ rief Flerdistar aus.

Meure gab keine Antwort, sein Körper verkrampfte sich, und er starrte mit schief gelegtem Kopf in die Landschaft hinaus. Sein durchdringender Blick stand in einem befremdlichen Gegensatz zu dem freundlichen, lockeren Benehmen, das ihm sonst zu eigen war. Dann schüttelte er sich und nahm seine gewohnte Haltung wieder ein. Doch er schwieg noch eine Weile, und es schien, daß er auf etwas lauschte.

Endlich sagte er: „Ja, ihr habt schon recht. Das alles ist ja längst kein Geheimnis mehr. Wir haben das Zweite Volk und seine Lebensart lange beneidet. Euer Fortschritt ist beständiger und unterliegt nicht den erschreckenden Schwankungen, die lange Zeit die Geschichte der Menschen bestimmt haben. Auch war uns die ganze Zeit bewußt, daß ihr auf die Menschen herabblicktet, daß ihr uns für rüde, primitiv, unbeherrscht und verschwenderisch hieltet. Also sind wir nach und nach zur Ruhe gekommen, sind beständiger geworden und haben es gelernt, uns mit den kleinen Dingen in unserer Nähe zufriedenzugeben. Ich dachte immer, es sei der beste Weg …“

Clellendol sagte: „Die interplanetare Zivilisation ist ganz allgemein bedroht. Der Drang nach fernen Welten ist verschwunden. Darum wurde ja auch das Kolonialisierungsprogramm eingerichtet … Aber es hat den Verfall nicht aufgehalten, sondern ihn nur verlangsamt. Was getan wurde, war eben noch nicht genug.“

Flerdistar unterbrach ihn: „War das eben Cretus?“

„Ja, er hat uns zugehört. Er hat mir eine Botschaft vermittelt, die ich an euch weitergeben soll. Ihr könnt sie den Problemen, die uns Sorge bereiten, noch hinzufügen: Clellendol, du hast von einer Wesenheit geredet, die Veränderungen auf dieser Welt unterdrückt und sie gleichzeitig isoliert. Denk einmal darüber nach, daß uns eine Kette von Ereignissen aus dem Weltraum direkt zu Cretus geführt hat …“

„Hat Cretus das gesagt?“

„Ja, und auch er hat seine Befürchtungen. Deswegen hält er sich verborgen. Er sagt, ich schirme ihn ab. Wovor, will er mir nicht verraten. Er teilte mir auch mit, daß seine Schwierigkeiten in seinem ersten Leben begannen, als er die wahre Natur dessen, was Monsalvat beherbergt, zu erkennen begann.“ Meure hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: „Seine Vermutungen gefallen mir gar nicht; wenn sie zutreffen, dann ist hier bisher nichts aus Zufall geschehen. Was aber der Grund für alles sein mag, weiß keiner, er ebenfalls nicht.“

Flerdistar fragte: „Was soll das sein, ‚das Monsalvat beherbergt’.“

„Ich weiß es nicht. Er weiß es auch nicht, aber ich fühle, daß er mehr darüber erfahren hat, als wir womöglich wissen möchten. Auf Morgenröte war dieses Unbekannte nicht, als die Klesh vor Urzeiten erschaffen wurden, und es ist nicht mit ihnen hierhergekommen. Es scheint, daß sie es hier erweckt haben; von Morgenröte stammt es jedenfalls nicht.“

„Wie kann Cretus Morgenröte gesehen haben? Das ist ganz unmöglich. Er ist schließlich kein Original. Morgin hat mir von ihm erzählt, und es ist eine historische Tatsache, daß er erst nach der Namensgebung der Länder in Erscheinung getreten ist.“

„Er hat diese Welt gesehen! Dieses Ding, mit dem er den Übertritt in mich bewerkstelligte – mit ihm kann er ferne Orte und andere Zeiten sehen … Damit hat er bis zur Erstehung der Klesh zurückgeschaut.“

„Dann kann er auch die Frage beantworten, wegen der wir gekommen sind.“ Der Triumph in Flerdistars Stimme war unüberhörbar.

Meure lächelte: „Vielleicht, aber solange gewisse andere Probleme nicht gelöst sind, wird er dir genauso mißtrauisch gegenübertreten wie Monsalvat.“

Flerdistar nahm eine stolze Haltung ein. „Cretus und du, ihr könnt euch beide nicht vorstellen, mit welcher Ausdauer wir auf die Beantwortung jener Frage warten können.“

Meure erhob sich und sah auf Flerdistar und Clellendol hinab. Sie waren sich nicht sicher, wer nun zu ihnen sprach, denn dies waren seine Worte: „Und ihr könnt euch nicht vorstellen, welche Taten Cretus bereits vollbracht hat. Herr über Incana war er und über ganz Kepture, aufgestiegen aus dem Staub der Straße. Er wird euch zu begegnen wissen. Fordert nichts von ihm, auf daß er nicht mehr von euch fordere, als Gegengabe. Laßt Cretus in Frieden, er kann Kräfte freisetzen, von denen wir keine Vorstellung haben und die wir nie beherrschen könnten!“

Hitzig rief Clellendol aus: „Er ist ein Sterblicher. Schneide ihn, und er wird bluten, schlage ihn, und er wird Schmerzen fühlen. Und wenn es zum Schlimmsten kommt, dann kann er auch getötet werden.“

Meures Stimme war von eisiger Sicherheit: „Es wäre ein schlimmer Fehler, wenn einer von euch glaubte, das könnte ihm gelingen.“ Dann entspannte er sich und sagte fast entschuldigend: „Versucht nicht, ihn zu etwas zu zwingen, zu dem er noch nicht bereit ist. Laßt ihn in Ruhe. Er weiß genau, wie er zu handeln hat.“

Meure wandte sich ab, kletterte den Stapel hinunter und ging zur Bordwand an der rechten Seite. Dort blieb er schweigend stehen und blickte hinaus über die bleierne Wasserfläche.

„Jetzt ist mir klar, worauf es dieser Cretus abgesehen hat“, flüsterte Flerdistar Clellendol zu. „Ahnst du es auch?“

Ebenso leise antwortete ihr Clellendol: „Dies alles scheint nur den einen Sinn zu haben, Cretus den Weg ins All zu ebnen. Wer oder was dahintersteckt, kann ich noch nicht sagen, aber es darf auf keinen Fall geschehen. Er ist ein einzigartiges Phänomen: ein Meister der Ströme der Geschichte.“

„Genauso ist es. Und alles spricht dafür, daß er es nicht nur versteht, auf diesen Strömen zu schwimmen, sondern daß er sie lenken und vielleicht sogar erschaffen kann. Das Barbarentum der Klesh war seine Schule. Die Menschen würden ihm durch Blut und Eisen folgen.“

„Es wäre eine Lösung für ihr Problem.“

„Vielleicht, aber es würde neue Probleme schaffen. Dieser Cretus ist ein Umstürzler, und wir brauchen keine Umstürzler. Wir haben gelernt, ohne sie auszukommen. Ich stimme dir zu: Cretus darf diese Welt nicht verlassen. Aber bevor es soweit kommt, müssen wir ihm noch seine Geheimnisse entreißen. So soll es sein!“

Clellendol wandte sein Gesicht ab, und weder in seiner Gestik{18} noch in seiner Miene spiegelten sich seine Worte wider, als er sagte: „Zha’ armeshero!“ Dies drückte eine Zustimmung aus, an der es nichts zu deuteln gab{19}. Clellendol würde alles gegen Cretus ins Feld führen, was er im Neunten Haus der Diebe erworben hatte.

Wie eine schwere Last legte sich Cretus’ Gegenwart auf Meures Schultern, seine Augen schmerzten, dann wurde es dunkel vor ihnen. Dies spürte auch Cretus, denn er nahm alle Dinge durch die Augen und Nerven Meures wahr, und er fühlte tief in seinem Innern eine Zuneigung, ein warmes Gefühl für diesen Menschen, der eine Last zu tragen hatte, die er nicht erwartet und um die er nicht gebeten hatte. Eine Last, die er dennoch so tapfer auf sich nahm, wie seine Fähigkeiten das eben zuließen. Der körperlose Eindringling suchte nach einer neuen Form der Verständigung mit seinem Gastgeber, so, als ob sie unabhängige Einzelwesen wären.

Diese Sprache (falls man sie überhaupt als Sprache bezeichnen konnte) ließ sich schneller übermitteln als eine Sprache, die sich in Worte kleiden muß, denn sie bestand aus reinen Gedanken. So wie einst nur Gedanken in den Köpfen der Menschen waren, bevor sie die Wörter erfanden, die die Gedanken symbolisieren und übermitteln sollten. Aber gleichzeitig gab es auch eine Ähnlichkeit mit der gesprochenen Sprache, denn die Gedanken waren gerichtet und in eine Form gebracht, sie begnügten sich nicht mit der gefühlsbetonten Bildhaftigkeit des Unbewußten. Vieles behielt Cretus allerdings für sich.

Zunächst sprach er von den Nöten der Klesh, aber er hielt sich nicht lange damit auf, auch nicht mit der Geschichte der Klesh und der brutalen Ausmerzung der Schwachen, die ein Bestandteil der Zucht war, die einst die reinen Rassen hervorbrachte. Er erzählte ihm auch, was die Klesh über die Zeit davor sagten, über jene Tage, in denen ihre Vorfahren noch gewöhnliche Menschen, Männer und Frauen waren: „Das ist alles vergessen und unbekannt, denn es führt kein Weg zurück in die Zeit vor dem Anfang. Davon wissen wir nichts, darum kümmert es uns nicht.“

Als man sie von den Kriegern befreit hatte und sie auf die großen Schiffe warteten, die sie vom Planeten Morgenröte zu ihrem fernen Heim bringen sollten, da kamen sie alle zusammen, in ihren mannigfaltigen Körperfarben und Erscheinungsformen, und sie redeten miteinander und sagten: „Wir waren Sklaven ohne Hoffnung auf Erlösung, denn wir waren Sklaven um der Sklaverei willen, nicht etwa wegen unserer Arbeitskraft oder aus einem anderen Grund. Von Freiheit wagten wir nicht mehr zu träumen. Jetzt sind wir frei. Und wir sind reinblütig. Wenn es auch stimmt, daß es nicht unserem freien Willen entsprang, daß wir nun reinblütig sind, so wollen wir doch alles daransetzen, daß wir reinblütig bleiben, denn es waren unsere gemischtblütigen Vorfahren, die schwach waren und sich von den verbrecherischen Kriegern versklaven ließen. Und sie waren Wachs in ihren Händen. So ließen sie sich in Ketten legen. Darum soll sich ein jeder von uns nur mit seiner eigenen Art vermischen. So soll es sein, bis zum Ende aller Tage!“ Darauf schworen alle einen machtvollen Eid, und sie schworen ferner, sie wollten es nie wieder zulassen, daß ein Klesh, und sei es der geringste unter ihnen, eine solche Schmach erleide, wie sie ihnen von den Kriegern zugefügt worden war.

Dann brachte man sie zu dem Planeten, den die Menschen Monsalvat nannten. Bald hatten sie es gelernt, ihn Aceldama zu nennen – den Ort, wo man die Fremden begräbt; diesen Ausdruck hatten sie den erschreckten und verunsicherten Verwaltern abgelauscht. Diese kamen, um sie anzuleiten; sie meinten es gut mit ihnen, aber sie scheiterten und brachten nicht mehr Gutes, als wenn sie böse Verwalter gewesen wären.

Manche Klesh-Linien blühten dort auf, während andere verkümmerten und vergingen. Am wichtigsten wären für sie gute Lehrer gewesen; aber die Ler hatten Angst vor ihnen, sie fürchteten, daß sie sich an ihnen für die Untaten der Krieger rächen würden. Aber auch die Menschen, die von den Sternen kamen, fürchteten sich vor ihnen, wurden von ihrem barbarischen Verhalten abgestoßen. Der Graben der Verständnislosigkeit wurde immer breiter zwischen ihnen, schließlich gab es überhaupt keine Kontakte mehr. So waren die Klesh ganz auf sich selbst gestellt, und sie sahen der langen Nacht entgegen.

Doch in dieser Nacht waren sie nicht allein, so vermuteten sie von Anfang an. Monsalvat war eine alte Welt, dafür gab es eine Vielzahl von geologischen Beweisen. Die Sternenmenschen hatten sie entdeckt, und die Klesh hatten keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln, denn sie beherrschten ja schließlich sogar den Weltraum; wie konnten sie sich irren? Doch nirgendwo fand man bearbeitete Gegenstände, nirgendwo Ruinen oder irgendein Anzeichen, daß je denkende Wesen ihren Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatten. Die ewig dahinfließende Zeit war auch hier zu einem schweigenden Stillstand gekommen.

Ursprüngliche Lebensformen gab es nur wenige, und nichts an ihnen deutete auf eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte hin. Diese Welt war so alt, daß die ersten Forscher behaupteten, es müsse hier schon blühende Pflanzen gegeben haben, bevor das irdische Sonnensystem entstand. Und sie fanden niemanden.

Aber in der Luft war etwas, da war eine Bewegung, die man nur manchmal aus den Augenwinkeln erhaschen konnte, die sich der bewußten Wahrnehmung entzog. Irrlichter huschten durch den nächtlichen Wald. Wahrsager und Omendeuter hatten unbestreitbare Erfolge. Die Welt war erfüllt von der dumpfen, brütenden Anwesenheit von etwas Unbestimmbarem, das fühlte jeder, der hier lebte, auch wenn niemand sagen konnte, welche Gestalt es hatte. Es war älter als der Mensch, älter als die Dunkelheit, vielleicht älter als die Zeit … Es schien die Klesh nicht zu bemerken, und sie gaben vor, es nicht zu bemerken. Und man konnte es auch für eine Weile vergessen, aber man verlor nie ganz das Gefühl, daß es einen beobachtete. In Augenblicken höchster Erregung verstärkte sich diese Ahnung. So kam es, daß vor jeder großen Schlacht, wenn die Hörner erschollen und die blanken Klingen in der Sonne blitzten, die Männer ihre Schwerter gegen den Himmel hoben und den unsichtbaren Namenlosen grüßten, bevor die Kampfeslust sie übermannte und sie sich ihrem tödlichen Tun hingaben.

 

Die Klesh hatten sehr früh erkannt, daß die Zlat von ihnen allen am weitesten vorausschauen konnten, so räumten sie ihnen einen besonderen Platz in ihrer Gesellschaft ein. Sie wurden die Begleiter und Berater der Häuptlinge und Prinzen. Dadurch wurde diese Rasse jedoch vielfach zersplittert, und ihre jeweiligen Dienstherren hatten immer nur das Wohl ihres eigenen Stammes im Sinn. Da es für jeden Zlat eine weite und gefahrvolle Reise bedeutete, wenn er sich einen Ehegemahl suchen wollte, nahm ihre Zahl ständig ab. Viele hatten keine Nachkommen, und andere vermischten sich mit fremden Klesh-Rassen, so daß sie immer seltener wurden. Es soll nicht verschwiegen werden, daß einige Zlat schlechten Rat erteilten und üble Taten ersonnen, zu jener Zeit, als es mit ihrer Rasse zu Ende ging. Wie dem auch sei, sie verschwanden jedenfalls von dieser Welt, und mit ihnen gerieten ihre Geheimnisse in Vergessenheit. Bis auf einige wenige an vergessenen Orten gab es den Rada Zlat nicht mehr.

An diesen entlegenen Plätzen hielten sie sich nur wenig länger. Auch diese letzten Zlats wurden zu einsamen Wanderern, die als Wahrsager und Omendeuter umherzogen. Sie vermischten sich mit Mischlingen und Ausgestoßenen, und das war das endgültige Ende ihrer Rasse.

Eine Generation nach diesem angenommenen Ende wurde ein Junge geboren, der allem Anschein nach ein reinblütiger Zlat war. Ein grausames Schicksal prägte seine ersten Jahre: Sehr bald machte ihn einer der zahllosen Stammeskriege zu einem Waisen. Eine alte Frau nahm sich seiner an; sie behauptete, ebenfalls ein Zlat zu sein, und sie besaß einen dieser Apparate, der ihnen ihre Weitsicht verlieh: den Skazenach{20}, ein Drahtgespinst, durch das sein Benutzer ferne Länder und Zeiten sehen konnte. Die Anleitung hierzu konnte er aus den alten Epen und Sagen lesen, die zum Stammesgut der Zlats gehörten.

Die Alte ließ sich mit dem Jungen in den Yast-Sümpfen beim Mündungsdelta nieder; eine Fleischräucherei sicherte ihnen ein bescheidenes Auskommen, und gelegentlich verdiente die alte Frau etwas hinzu, indem sie vorüberziehenden Nomaden aus dem Ombur-Hochland die Zukunft vorhersagte. In der frühen Jugend war der Junge schwach und kränklich, und es gab wenig, wozu man ihn im Zeltlager der Nomaden anstellen konnte. Hin und wieder betätigte er sich als Wasserträger; nach dieser Tätigkeit erhielt er seinen Namen: Sano Hanzlator. Der regionale Dialekt jener Gegend war eigentlich verstümmelte Singlesprache, und die Bedeutung seines Namens war etwa folgende: „Wasserjunge Letzter Zlat.“{21}

Nach einer Weile legte sich die alte Frau zum Sterben nieder, und sie unterwies den Jungen in der Benutzung des Skazenachs. Nur ihm vertraute sie diese Geheimnisse an, und er mußte schwören, daß er sie bewahren würde, denn der Geschichtenerzähler war von allen Orakeln das mächtigste, und seinem Besitzer wurde von jedermann nachgestellt, damit er ihm die Zukunft deute.

Als der Junge zum Mann herangereift war, hatte er seine Schwächlichkeit abgestreift. Als kräftiger, drahtiger Bursche verließ er die Lager der Nomaden und machte sich auf nach Norden, nach Yastian, der riesigen Stadt. Sie war ein gewaltiger Schmelztiegel, in dem sich alle Rassen vermischten. Haß und Abscheu schwebten in der Luft, und ihr Geruch war stärker als der Gestank der Sümpfe. Straßenräuber und Dirnen lungerten ebenso in den Gassen herum wie zerlumpte Bettler und Edelleute, Weise und Narren, Reiche und Gebildete, Arme und Dumme. Prinzen sah man und fette Höflinge. Verbrechen wurden in der Nacht und am hellen Tag verübt; ein Leben zählte weniger als nichts.

Doch Sano war bei den Nomaden durch eine harte Schule gegangen, er verstand es, sein Orakel zu nutzen, und die alte Frau hatte ihn Lesen und Schreiben gelehrt. Darum hielt er sich recht gut in der Stadt; er verdiente sein Brot als Schreiber an der Palastmauer, wo er für andere Bittbriefe abfaßte.

Der Junge Sano überlebte nicht nur, er brachte es sogar zu einem gewissen Wohlstand, denn er verstand es, das wenige, das er besaß, zusammenzuhalten. Während er älter wurde, gewann er eine tiefe Einsicht in das Leben der Stadt und ihrer Bewohner. Er stellte fest, daß es ein einziges Geheimnis gab, das zu wissen sich wirklich lohnte: Die Gesellschaft bestand nicht aus Besitzenden und Besitzlosen, sondern aus Erkennenden und Handelnden. Und es war so, daß die Handelnden unfähig zur Erkenntnis waren und die Erkennenden unfähig zur Handlung. Dies war das große Geheimnis, diese Trennung galt für Menschen und Klesh. Ihm wurde noch eine zweite Erkenntnis zuteil: Die Klesh würden nie Fortschritte machen, wenn sie nicht begriffen, daß sie zusammenarbeiten mußten. Sie mußten lernen, einander zu ergänzen, anstatt ewig danach zu trachten, den anderen zu übertreffen. Der Stolz auf seinen Rada, den ein jeder empfand, war nur ein weiterer Schritt in diese Sackgasse, denn so kulminierten die Rachegefühle, weil jeder jedes Verbrechen, das an einem Mitglied seines Stammes verübt wurde, rächen wollte, auch wenn die Tat in dunkler Vergangenheit verübt wurde.

Dies alles hatte Sano erkannt, und er widmete sein ganzes Leben seinen Studien und Träumen. Bald beherrschte er seinen Skazenach meisterlich, und er betrachtete durch ihn ferne Länder und vergangene Zeiten. Aus dem Volk der Klesh wollte er ein großes Volk machen, dies war sein Ziel. Und das konnte nicht geschehen, indem man all ihre Stämme vermischte – das hätten sie ohnehin nicht zugelassen. Es ging vielmehr darum, ein System zu ersinnen, in dem sich alle Stämme zu einem ineinandergreifenden Gefüge ergänzten.

Unterhalb der Palastmauer der Stadt Yastian gab es einen Platz, den die Redner aufsuchten, wenn sie zum Volk sprechen wollten. Dorthin begab sich Sano, um seine Botschaft vorzutragen. Doch als er seine Rede beendet hatte, machten sich viele seiner Zuhörer über ihn lustig. Sie riefen: „Hört, hört! Sano der Schreiber will uns von uns selbst befreien. Das wollen wir erleben!“ Da verließ er die Plattform und sagte: „Das werdet ihr! Und ich werde dann nicht mehr Wasserjunge Letzter Zlat heißen, sondern ich werde vor euch treten als Inkarnation des Cretus, des schrecklichen Kriegers der alten Zeit{22}, aber ein Schreiber werde ich bleiben bis zum Ende meiner Tage.“ Der Mob buhte und warf mit Steinen nach ihm.

Sano, der sich nun Cretus nannte, verließ die Stadt am Delta und zog nach Westen in das Land Ombur, wo seine Worte mehr Zustimmung fanden. Aber auch hier gelang es ihm nicht, die Menschen zum Handeln zu bewegen. So machte er sich über den Großen Fluß gen Norden auf, nach Incana. Hier endlich hörte man ihm nicht nur zu, sondern war auch bereit, seine Worte in Taten umzusetzen. Sein großer Plan begann Gestalt anzunehmen. Dies ging nicht ohne Kämpfe und Kriege ab, aber sein Reich wuchs ständig, und bald erzitterten alle Länder vor dieser neuerstandenen Macht, deren Stärke nur durch Zauberei zu erklären war. Doch diese Macht bedurfte keiner Hexerei; zum erstenmal in der Geschichte Monsalvats wurden hier unterschiedliche Veranlagungen zu einem schlagkräftigen Ganzen zusammengefaßt. Schließlich befehligte Cretus eine gewaltige, buntgemischte Armee, und er begann den langen Marsch durch Kepture.

Doch jetzt muß von etwas die Rede sein, das auch zur Geschichte von Cretus dem Schreiber gehört. (Bei diesem Teil der Geschichte hatte Meure das deutliche Gefühl, daß Cretus ihm nicht alles sagte, sondern etwas zurückhielt; nicht damit es um jeden Preis ein Geheimnis bleibe, sondern um Meure vor etwas zu schützen, dem sich auch Cretus nicht offen zu stellen wagte.) Zwanzig Monsalvat-Jahre hatte Cretus bereits daran gearbeitet, sein gewaltiges Vorhaben zu verwirklichen. Während dieser Zeit hatte er ständig sein Orakel befragt, und immer hatte es ihm gute Dienste geleistet. Aber als Kepture schon fast ganz geeint war, der Krieg seinem Ende entgegenging und sogar Yastian am Delta die Waffen streckte, wurde Cretus allmählich klar, daß das Orakel sich zu verändern begann.

Auch in seiner Umgebung änderte sich manches. Berater, Schönredner und Höflinge umschwärmten ihn. Er wußte, daß dies ganz natürlich war, stellte sich darauf ein und sah zu, daß er nicht von seinem eingeschlagenen Kurs abgebracht wurde. Die Vereinigung des großen Imperiums schritt neuerdings ein wenig langsamer voran. Manchmal schien es ihm, als würden all die Männer, die ihn umgaben, von jemandem gesteuert, der hinter der Bühne verborgen blieb. Mit der Zeit wurde dieses Gefühl immer deutlicher, gleichzeitig machte er eine weitere, bittere Erfahrung: Jetzt, da er Herr des vereinigten Kepture war, waren die anderen Kontinente in weite Ferne gerückt, wurden sogar ständig unerreichbarer. Die Landung in Chengurune war immer wieder aufgeschoben worden. Jetzt würde man sie bereits am Ufer erwarten, um die erste Übersee-Invasion in der Geschichte des Planeten zurückzuschlagen.

Etwas anderes beunruhigte ihn noch mehr. Sein eigenes Orakel war unzuverlässig geworden. Oft war es kaum zu entziffern, so als werde es von außen gestört. Es zeigte Bilder, die verschwommen und undeutlich waren, und er begann ihnen zu mißtrauen, denn der Weg, den sie ihm wiesen, führte immer nur zu Kampf, Krieg und Blutvergießen. Darum befragte er es auf eine andere, geheime Art, die sein Stamm selten anwendete, und es sagte ihm, er solle in es hineingehen – der Weg war ihm bekannt –, um dort Ruhe zu finden, bis man ihn wieder rief.

„Ist das die ganze Geschichte?“

„Nein, nicht die ganze; nichts ist jemals vollständig. Aber es ist fast alles. Als ich zurückkam, hatte meine Welt sich sehr verändert. Wie ein anderer Planet erschien sie mir, aber ich erkannte sie doch wieder, mein Monsalvat/Aceldama. Eine lange Zeit mußte vergangen sein; das Imperium war untergegangen, und fast nichts war von ihm geblieben. Zwischen den Stämmen herrschte ein seltsames Gleichgewicht, eine Ruhe, so, als sei mein Krieg der letzte große Kampf gewesen, den diese Welt erlebt hatte. Was mochte in all diesen Jahrhunderten geschehen sein? Für mich waren sie nur ein Augenzwinkern, dann wurde ich zu dir.“

„Glaubst du, daß man vorher schon mal versucht hat, den Übertritt herbeizuführen?“

„Ja. Aber wie wir Klesh uns abzuschirmen vermögen, das weiß niemand, der selbst kein Klesh ist. Der Übertritt konnte einfach nicht gelingen, da wir einander zu stark hassen. Alle unsere Gefühle sind zu stark. Darum hat es einen Menschen von einer anderen Welt zu mir gebracht, damit …“

„… du wieder alles in Unruhe versetzt.“

„Laß mich mit den alten Worten antworten: Tasi mapravemo zha’. Mit höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit. Damit ich versuche, das Imperium von neuem zu errichten, damit wieder Kampf ist, wo jetzt Ruhe herrscht. Deshalb verberge ich mich vor ihm. Es hat mir die Rückkehr ermöglicht, dabei hat es mir gleichzeitig ein Versteck geboten, das ich einst nicht hatte. Du allerdings kannst dich nicht verstecken, darum werde ich dir helfen, so gut es geht.“ (An dieser Stelle brach der Gedankenstrom einen Moment lang ab. Er schien über etwas nachzudenken, von dem Meure nichts wußte.) „… Ja, es will den Kampf, das ist gewiß. Dieses eine weiß ich, denn ich habe zurückgeschaut durch den Skazenach, bis zum Anfang und darüber hinaus. Ha! Bis hinter den Anfang! Ich kenne das Geheimnis der Ler und weiß, wie albern es ist. Narren waren sie. Die Heilige Zermille, unsere heilige Frau von Monsalvat, die Beschützerin der Schwachen, die Helferin der Waffenlosen – auf einem Planeten, dessen Volk Gerechtigkeit mit Rache verwechselte und den Unterschied zwischen beiden vergaß. Und doch kannten wir immer die Wahrheit, und sie gingen in die Irre. Wenn wir aber in dieser Frage recht haben, dann frage ich mich, ob es nicht noch viele Dinge auf diesem Planeten gibt, über die nur wir die Wahrheit wissen. So wie über dieses Etwas. Es ist nah, und ich weiß doch, daß es fern ist …“ (Sein Gedanke verblaßte, es war, als würde er zu sich selber sprechen.) „… Wenn es Kampf will, dann soll es diesen selber spüren; doch ich muß es finden, bevor es mich gefunden hat.“

Was ist es, dieses ‚es’?“

„Ich glaube, es kann uns fast genauso schlecht wahrnehmen, wie wir es wahrnehmen können. Aber es kann weittragende Ereignisse bewirken, Strömungen unter den Leuten verursachen. Seine Reichweite ist fast unendlich, aber Feinarbeit fällt ihm schwer, die läßt es andere ausführen. Es beeinflußt sie durch die Orakel.“

„Das klingt, als würdest du von einem Gott sprechen.“

„Wir reden hier nicht über Religion … Ich weiß nicht einmal, ob es lebt, jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem wir etwas als Lebewesen bezeichnen – wie ein menschliches Wesen, ein Tier oder eine Pflanze.“

„Aber du sagtest, daß es über eine Wahrnehmung verfügt: das heißt doch, daß es lebt? Und außerdem bewirkt es Geschehnisse …“

„Viele Dinge können etwas wahrnehmen, und auch das Unbelebte kann etwas verursachen. Manche eurer Maschinen haben einen bewußten Willen, aber sie sind dennoch Maschinen. Als ich sie zum letztenmal betrachtet habe, waren sie jedenfalls keine Lebewesen … Einmal habe ich durch Raum und Zeit hinausgesehen, und ich beobachtete einen jungen Mann, der in der Nacht in einem Turm saß und Verse verfaßte. Es spielt keine Rolle, wo und wann das war, wie also sein Verhältnis zu dir und mir und dem verfluchten Monsalvat war. Einiges sprach er laut vor sich hin und arbeitete daran, bis es den richtigen Klang hatte. Seine Worte waren fremd und ungewöhnlich, aber ich habe sie verstanden und nicht vergessen: ‚Die Sprache, ein Phänomen der Chemie, mit Atomen, Molekülen und komplexen Verbindungen, kann in einer geeigneten Umgebung und unter Zusatz der nötigen Reizstoffe zu einer schöpferischen Struktur werden, die aus eigener Kraft Lebensformen hervorbringt. Laute werden zu Wörtern, zu Ideen, die Gestalt annehmen. Wir denkenden Wesen leben zu einer Zeit, die man nur als Vorstufe des eigentlichen Lebens bezeichnen kann; unvorstellbar sind uns die Lebensformen der Zukunft, deren Nährboden wir sind. Es wird eine Zeit kommen, in der wunderschöne, brennende Tiger durch die nächtlichen Wälder unseres Geistes schleichen werden.’ Was denkst du darüber? Hm? Daß unsere Gedanken eine lebende Gestalt annehmen können? Darum sollst du nicht vorschnell eine Linie zwischen dem Belebten und dem Unbelebten ziehen … Das Leben kann viele Formen annehmen. Körpergröße, Zeitgefühl und Wahrnehmung, alles ist veränderlich. Ich bin Cretus, und du hältst mich für einen Barbaren, aber ich weiß, daß für ein Wesen, das nur Radiowellen wahrnimmt, die Menschen unsichtbar sind, Geister, die es bekanntlich gar nicht gibt. So ist es doch?“

„Du bist ein Barbar. Wo hast du dies alles gelernt?“

„Ich bin vielleicht ein Barbar, mein Junge, aber ich war ein Kaiser. Ein Kaiser kann alles tun, wozu er Lust hat. Er kann sich mit Drogen betäuben, er kann sich in den Betten der Edelhuren herumtreiben …“

„Er kann sich der Völlerei hingeben, um keine Sünde auszulassen.“

„Gut erkannt. Fahre fort, wie du begonnen hast. Alle wichtigen Gedanken sind endlose Ketten, aber man muß sie so weit verfolgen, wie es geht. Darin liegt die Meisterschaft.“

„Drogen, Frauen, Trinken, Essen: all dies sind sinnliche Genüsse, alles nur Variationen eines Themas.

„Mach weiter!“

Wer an der Macht ist, sucht andere als nur sinnliche Genüsse … Aber das Prinzip bleibt immer das gleiche: Einige hätscheln ihr Amt, und andere genießen die Aufgaben, die mit ihm verbunden sind. Wieder andere konzentrieren sich auf die Manipulation der Macht, auf Strategien und Intrigen …“

„… erfreuen sich am Besitz, an Unterwürfigkeit und Schmeichelei. So kann man endlos fortfahren und redet doch ständig über die gleiche Sache. Die anderen erwarten von dir, daß du so bist, und sie treiben dich diesen Genüssen förmlich in die Arme. Es fiel mir nie leicht, diese Schlingen zu umgehen, denn die Verlockungen wirken ganz selbstverständlich und natürlich. Und als es mir gelang, mich diesem Schicksal zu entziehen, wurde der Druck, den meine Umgebung auf mich ausübte, unerträglich, so stark, daß mir klar wurde, daß … etwas von … außerhalb die Menschen in meiner Umgebung steuerte. Nicht so direkt wie ein Marionettenspieler seine Puppen, sondern sehr locker – es ließ sie einfach ihren natürlichen Anlagen folgen, aber nur in eine ganz bestimmte Richtung. Beinahe hätte es sich dabei zu erkennen gegeben, aber als es merkte, daß ich seinen Spuren folgte und ihm sehr nahe gekommen war, verbarg es sich wieder geschickt. Bald danach mußte ich feststellen, daß mir, in jener Zeit, kein Ausweg mehr blieb. Ich war am Ende. Da willigte ich in eine Art Waffenstillstand ein. Was konnte ich sonst tun …“

Plötzlich schwieg die innere Stimme, als habe sie mehr gesagt als sie wollte, dann fuhr sie fort: „Einiges weiß ich gewiß: Es ist kein Gott, denn seine Wahrnehmung ist beschränkt, und es macht Fehler. Es ist eine Lebensform und keine Maschine, wie seltsam es für uns auch aussehen mag. Und es ist ein Einzelwesen, es gibt keine weiteren Exemplare seiner Art. Es ist beständig, aber es vermehrt sich nicht, das läßt auf einen Groß-Organismus schließen. Aber das ist alles nicht so wichtig. Was zählt ist, daß es ein Einzelwesen und daß es unbeweglich ist, an seinen Standort gebunden.“

Aus den letzten Worten hatte Meure eine gewisse Schadenfreude herausgehört, und dies blieb Cretus nicht verborgen.

„Es stimmt schon! Es ist sehr groß, gewaltig, aber es ist auch äußerst verwundbar. Ich weiß, daß ich es töten kann, wenn ich es aufspüre, und genau das habe ich vor.“

„Und mich willst du als Köder benutzen?“

„Das stimmt nicht ganz. Denn wir sind ja jetzt eins. Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich unsere gemeinsame Heimat einer unnötigen Gefahr aussetze. Du mußt immer bedenken: Es ist schwer aufzuspüren, aber ich weiß, daß es sich nicht bewegen kann. Wenn es das könnte, hätte es diese Welt schon lange verlassen. Ein Kampf ließe sich woanders viel leichter anzetteln. Es ist hier angebunden.“

„Kam es hierher und sitzt es nun genauso in der Falle wie ihr Klesh?“

„Nein, warte, laß mich nachdenken. Wenn es von anderswo kam, dann ist das schon sehr lange her. Nein, es ist von Anfang an hier gewesen. Nach allem, was ich weiß, ist es hier entstanden.“

„Aber es kann andere hierherholen. Es hat mich geholt.“

„Und die Ler, unter Umständen, die … Ja, so ist es. Du bist die Vorhut. Dann sollen die verschiedenen Parteien folgen, die gemischtblütigen Menschen, die die Sterne bereisen, die Ler und diese fremde Rasse, mit deren Schiff ihr gekommen seid.“

Und du/ich, wir sollen diese Mischung zur Explosion bringen?“

„Ja, und es soll hier geschehen. Aber das muß ich verhindern. Es ist mir zwar gleichgültig, wenn die Außenweltler einander bekämpfen, aber ein solcher Krieg würde auch für die Klesh das sichere Ende bedeuten.“

„Auch bliebe der Kampf nicht auf Monsalvat begrenzt. Deshalb muß auch ich ihn verhindern!“

„Ja, das mußt du auch, wenn dir an deiner Heimat etwas liegt. Was anderswo geschieht, interessiert es nur insoweit, als es Monsalvat betrifft.“

„In der ganzen Geschichte hat es noch keinen großen interstellaren Krieg gegeben. Ein paar kleine Konflikte zwar, aber nichts, was das Leben eines ganzen Planeten oder einer Rasse bedroht hätte.“

„Dann haben wir ja ein gemeinsames Interesse, und du wirst mir helfen, dieses Ding zu erledigen?“

„Uns bleibt ohnehin keine andere Wahl, denn es wird nicht zulassen, daß du Monsalvat verläßt, und auch die Ler werden es verhindern. Ich fürchte mich selbst vor dem, das du tun könntest, dort draußen, wenn es dir gelänge, von Monsalvat zu entkommen.“

„Du willst mich also hier gefangenhalten? Aus diesem Grunde willst du freiwillig auf dieser tödlichen Welt bleiben? Dann wirst du meine Hilfe aber bitter nötig haben, um hier zu überleben. Bis jetzt standest du unter dem Schutz dieser fremden Macht, aber was sie anstrebte, ist nun erreicht, und ich glaube kaum, daß sie dich weiter so beschützen wird, wie sie es bisher getan hat. Seit wir aus Cucany heraus sind, ist alles sehr glattgelaufen. Laß dich davon nicht täuschen.“

„Du hast mir nicht gesagt, welches für dich die größte Verlockung war, als du noch über diesen Kontinent herrschtest!“

„Wozu mußt du wissen, ob es eine solche gab? … Und was damals noch alles geschah? Ich werde es dir nicht sagen. Diese Zeiten sind endgültig vorbei.“

Cretus zog sich überraschend zurück, ohne seinen Gedankengang zu beenden. Seine Gegenwart verblaßte, bald war er nicht mehr zu spüren. Seit sie aus der Festung geflohen waren, hatte sich Meure nicht mehr so frei gefühlt. Vielleicht schirmte sich Cretus so gut ab, weil er nachdenken wollte; Meure jedenfalls empfand eine tiefe Erleichterung. Aber es war ihm auch klar, daß er sich nie mehr von Cretus würde befreien können. Wie sollte man den Vorgang umkehren, der sie verbunden hatte? Würden sie es je lernen, miteinander auszukommen? Er sah keinen Ausweg.