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Beim Bahnhofsfriseur waren alle sieben Plätze besetzt, sechs weitere Kunden warteten noch, und nur drei Angestellte hasteten in dem engen Salon hin und her. »Wo ist der Boss?« fragte Bertha.

»Essen gegangen«, antwortete einer der Figaros. »Seit zwei Uhr versucht er wegzukommen, aber... Ach, da ist er ja wieder!«

Bertha wandte sich um, ohne die neugierigen Blicke der Kunden zu beachten, und drückte dem Chef ihre Karte in die Hand. »Wo können wir uns fünf Minuten in Ruhe unterhalten?« fragte sie.

Der Friseur warf einen Blick auf die Wartenden. »Ich hab’ keine Zeit! Wir sind unterbesetzt, und...«

»Nur fünf Minuten«, versprach Bertha. »Und es dürfte Ihnen lieber sein, wenn wir irgendwo reden könnten, wo nicht sämtliche Kunden zuhören.«

Der Mann war viel zu überarbeitet, um sich auf Argumente einzulassen. »Meinetwegen«, gab er klein bei. »Kommen Sie mit nach hinten.« Und mit erhobener Stimme, damit die Kunden vorn es hören konnten, fügte er hinzu: »Aber machen Sie’s kurz. Sie sehen ja, was für ein Betrieb hier herrscht.«

»Okay«, meinte Bertha.

Das Hinterzimmer war klein und trübe beleuchtet. An einem altmodischen Garderobenständer hingen drei Hüte. Der Friseur hängte seinen dazu.

»So — was wollen Sie also?« fragte er.

»Kennen Sie Everett Belder?«

»Ja. Er hat ein Büro im Rockaway Building. Ich bediene ihn seit Jahren.«

»War Belder am letzten Mittwoch bei Ihnen?«

»Letzten Mittwoch«, wiederholte der Friseur und runzelte die Stirn. »Ja, das stimmt. Es war Mittwoch. Er hat sich allerlei machen lassen — Haarschneiden, Maniküre, Gesichtsmassage. Das wird jetzt kaum mehr verlangt, die Leute haben ja nie Zeit für so was. Na, ich kann’s verstehen. Sie sehen ja, wie’s mir geht. Ich bekomme keine Leute, und...«

»Wie lange war er hier?« unterbrach Bertha.

Der Friseur zog Mantel und Jackett aus und hängte beides sorgfaltig über einen Bügel. »Alles in allem so an die anderthalb Stunden«, sagte er und fuhr mit dem rechten Arm in seinen weißen Kittel.

»Die genaue Zeit wissen Sie wohl nicht?« erkundigte sich Bertha.

»Doch. Mr. Belder wartet nämlich nicht gern. Er kommt immer, wenn nicht viel Betrieb ist, so gegen elf. Am Mittwoch kam er allerdings erst gegen halb zwölf. Es war neblig und windig. Er trug einen Mantel. Bald darauf kam aber die Sonne heraus, und wir sprachen davon, daß der Wind den Nebel wohl wegblasen würde. Als er ging, hatte er seinen Mantel vergessen. Da drüben am Garderobenständer hängt er. Ich habe ihn angerufen und ihm Bescheid gesagt. Er wollte ihn abholen. Sagen Sie mal — liegt was gegen ihn vor?«

»Nein«, sagte Bertha. »Ich will ihm nur helfen. Hat sich inzwischen schon irgend jemand nach ihm erkundigt?«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Das kann noch kommen«, sagte Bertha.

»Ach, jetzt erinnere ich mich auch. Da hat doch was in der Zeitung gestanden über ihn. Sein Dienstmädchen ist die Kellertreppe runtergefallen, nicht? Hat Ihr Besuch was damit zu tun?«

Dem Mann kamen offenbar zu spät alle möglichen Zweifel.

Bertha warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. »Was sollte wohl die Tatsache, daß Belders dienstbarer Geist die Kellertreppe heruntergetrudelt ist, damit zu tun haben, wann der Mann sich bei Ihnen die Haare hat schneiden lassen?«

Der Friseur knöpfte sich den Kittel zu. »Wahrscheinlich gar nichts. Ich meine nur so. Tja, also mehr kann ich Ihnen über Belders letzten Besuch hier nicht sagen.«

Bertha folgte ihm so lammfromm aus dem Hinterzimmer, daß Sellers sofort Verdacht geschöpft hätte.

»Wer war der nächste?« fragte der Friseur.

Bertha machte noch einmal kehrt. »Jetzt habe ich doch meine Handtasche vergessen.« Mit diesen Worten nahm sie wieder Kurs auf das Hinterzimmer.

Der Friseur warf ihr einen flüchtigen Blick zu, dann legte er seinem Kunden schwungvoll einen weißen Umhang um. »Schneiden?«

Bertha hatte somit reichlich Zeit. Sie ging zu Everett Belders Mantel und begann, sorgfältig alle Taschen zu durchsuchen.

In der linken Tasche fand sie ein Taschentuch und ein halb verbrauchtes Briefchen Streichhölzer. Aus der rechten Tasche zog sie ein paar Handschuhe und ein Brillenetui hervor.

Nichts ahnend öffnete sie es.

In dem Etui lag keine Brille, sondern eine herausnehmbare Goldbrücke mit zwei Zähnen.

Bertha griff nach ihrer Handtasche, die sie absichtlich auf dem kleinen Tisch hatte stehenlassen, verstaute das Brillenetui und spazierte hinaus.

»Guten Tag«, sagte der Chef mechanisch. »Beehren Sie uns bald wieder.«

»Worauf Sie sich verlassen können«, versprach Bertha.