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Elsie Brand verkündete: »Ihr Klient ist wieder da.«

»Belder?«

»Ja.«

»Der Mann tötet mir noch den letzten Nerv! Er kann doch nicht ständig in meinem Büro herumgeistern. Gestern habe ich erst meinen Vorschlag gemacht. Kurz darauf ist Belder schon hier aufgekreuzt, um sich zu erkundigen, wie es gelaufen ist. Dann kam er wieder — zum Teufel mit ihm. Na, ich werde jetzt mal Fraktur mit ihm reden.«

Bertha schob den Drehstuhl zurück, riß die Tür zum Vorzimmer auf. »Morgen«, grüßte sie ohne besondere Freundlichkeit.

Belder sprang auf. »Guten Morgen, Mrs. Cool. Ich muß Sie sprechen. Ich...«

»Nun hören Sie mal gut zu, junger Mann«, unterbrach ihn Bertha ungerührt. »Wir haben ein Ei gelegt. Das brüte ich jetzt aus. Wenn Sie sich nun mit draufsetzen, schlüpft das Küken auch nicht eher aus.«

»Das verstehe ich schon«, meinte Belder, »aber...«

»Ach, erzählen Sie mir doch nichts«, sagte Bertha ärgerlich. »Sie sind genau wie neun von zehn meiner Klienten. Sie kommen her, weil Sie Sorgen haben, und hoffen, ich könnte Ihnen helfen. Dann gehen Sie nach Hause, lassen sich noch ein paar Sorgen dazu einfallen, kommen wieder und wollen alles noch einmal durch die Mühle drehen. Wenn Sie sich beim Arzt ein Rezept verschreiben lassen, hocken Sie ja auch nicht im Wartezimmer herum, bis das Medikament anfängt zu wirken. Meine Zeit ist kostbar. Ich habe...«

»Aber es hat sich etwas Neues ergeben«, unterbrach Belder.

»Was sagen Sie da?«

»Ich muß Sie sprechen, weil ein neuer Gesichtspunkt aufgetaucht ist.«

»Ein neuer...«

»Ja.«

»Was denn für einer?«

»Ärger!«

»Noch mehr Ärger?«

»Allerdings.«

Bertha gab die Tür frei. »Das ist was anderes. Kommen Sie rein.« Belder fing sofort an, in seiner Rocktasche herumzukramen. Er zog einen zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn Bertha. »Sehen Sie sich das mal an.«

»Was ist denn das?«

»Ein Brief.«

»An Sie?«

»An meine Frau.«

Bertha hielt den Brief zwischen ihren kurzen gedrungenen Fingern und sah Belder aufmerksam an.

»Woher ist der Wisch gekommen?«

»Ich habe ihn im Eßzimmer auf dem Fußboden gefunden.«

»Wann?«

»Vor einer knappen halben Stunde.«

»Und weshalb die ganze Aufregung?«

»Das werden Sie verstehen, wenn Sie ihn gelesen haben.«

»Sie haben ihn gelesen?«

»Selbstverständlich.«

»Obgleich er an Ihre Frau gerichtet war?«

»Seien Sie nicht albern. Wo gibt’s denn — außer im Kino — einen Ehemann, der einen Brief nicht aufmacht, den er unter diesen Umständen findet? Vielleicht geben es manche Männer nicht zu, aber tun würden es alle.«

»Er ist mit der Post gekommen?« fragte Bertha.

»Ja.«

»Wo ist der Umschlag?«

»Ich weiß nicht. Den habe ich nicht gefunden.«

»Woher wissen Sie dann, daß er mit der Post gekommen ist?«

»Lesen Sie ihn, Sie werden dann schon verstehen.«

Nach kurzem Zögern faltete Bertha den Briefbogen auseinander. Der Text war mit der Maschine geschrieben und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

»Meine liebe Mrs. Belder!

Vielleicht sollte ich Ihnen diesen Brief nicht schreiben, aber ich habe mich nun einmal dazu entschlossen. Wenn ich zum Essen gehe, werde ich ihn entweder in den Briefkasten werfen oder in meinen Mülleimer. Im Augenblick schreibe ich eigentlich nur, weil ich mir etwas vom Herzen reden will. Wahrscheinlich werden Sie nie erfahren, weshalb ich mich so für Sie interessiere. Sie müssen mir blind vertrauen, Mrs. Belder. Sie kennen mich nicht. Aber ich will Ihr Bestes.

Was ich zu sagen habe, wird Ihnen nicht gefallen, aber es ist besser, Sie wissen Bescheid, als noch länger den Kopf in den Sand zu stecken.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß Sie eine äußerst attraktive Hausangestellte haben — obgleich Hauspersonal knapp ist? Haben Sie sich schon einmal überlegt, weshalb Sally so bereitwillig weiter bei Ihnen arbeitet, obgleich sie anderswo ein höheres Gehalt bekommen könnte? Weshalb, glauben Sie, hat sie überhaupt bei Ihnen angefangen? Wissen Sie übrigens, daß sie eine ausgezeichnete Sekretärin ist? Vielleicht war Ihnen nicht bekannt, daß sie vor fünf Jahren im Sekretärinnen-College den ersten Preis in Maschineschreiben und Stenographie eingeheimst hat? Danach war sie als Propagandistin für Lebensmittel tätig — mit einem noch höheren Gehalt als im Büro. Und jetzt taucht diese sehr attraktive junge Dame in Ihrem Haus auf. Als Dienstmädchen!

Warum?

Gibt es vielleicht Gründe, die sie veranlassen, freiwillig grobe Hausarbeit zu verrichten?

Ich würde Ihnen raten, diese Fragen einmal an Sally zu richten, und zwar so, als wüßten Sie bereits die Antworten. Lassen Sie sich nicht anmerken, daß Sie Zweifel oder nur Mißtrauen hegen. Sagen Sie ihr einfach, sie sollte Ihnen alles gestehen.

Ich kann Ihnen eine hübsche Überraschung garantieren.

Und das, Mrs. Belder, wär’s für heute. Wenn aber alles nach Plan verläuft, kann ich Ihnen vielleicht später einige interessante Einzelheiten verraten.

Vielleicht rufe ich Sie sogar am Mittwochvormittag so gegen elf an, um zu fragen, ob Sie sich mit Sally unterhalten haben und sich mir anvertrauen wollen. Falls das Gespräch zustande gekommen ist und Sie Weiteres von mir hören wollen, sollten Sie Ihren Wagen vor dem Haus zu einer kleinen Spazierfahrt bereitstellen.

Zweifellos sind Sie überrascht, daß jemand sich so intensiv für Sie interessiert, der Ihnen völlig unbekannt ist. Aber für mich ist es sehr wichtig, wenn Sie mir Glauben schenken — auch wenn Sie mich noch nie gesehen haben.

Wenn Sie wüßten, was ich mit der Geschichte zu tun habe, würden Sie staunen. Vielleicht kann ich es Ihnen später einmal sagen. Ich habe schwerwiegende Gründe für mein Verhalten.«

Die Unterschrift lautete: »Jemand, der es gut mit Ihnen meint.«

Bertha warf über ihren Brillenrand hinweg Belder einen Blick zu. »Was ist Wahres an der Sache?«

»Mrs. Cool, ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist...«

»Die Schwüre heben Sie besser für Ihre Frau auf. Für mich zählen nur Fakten.«

»Ich sage Ihnen, Mrs. Cool, das ist eine heimtückische, lügnerische Unterstellung, eine...«

»Was meinen Sie eigentlich?« fragte Bertha harmlos.

»Daß das Dienstmädchen in mich verliebt sein soll oder ich in sie. Und daß sie die Stellung nur angenommen hat, um in meiner Nähe zu sein.«

»Hübsch?«

»Ja.«

»Haben Sie mit ihr über diesen Brief gesprochen?«

»Nein. Ich habe sie seitdem nicht gesehen.«

»Wieso nicht?«

»Sie ist nicht im Haus. Ich weiß nicht, wo sie steckt. Gestern abend war sie noch da. Jetzt ist sie verschwunden.«

»Weiß Ihre Frau, wo sie ist?«

»Ich habe sie noch nicht gefragt. Wir — wir haben getrennte Schlafzimmer, und sie schläft morgens meist lange. Ich hielt es für besser, erst mit Ihnen zu sprechen.«

»Wie heißt das Dienstmädchen?«

»Sally.«

»Und mit Nachnamen?«

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Mrs. Cool, Beggoner oder Bregner oder so ähnlich. Ich habe es mir die ganze Zeit schon überlegt, seit ich den Brief gelesen habe. Aber ich kann mich wirklich nicht genau erinnern.«

»Seit wann ist sie bei Ihnen?«

»Seit etwa zwei Monaten.«

»Kannten Sie sie schon vorher?«

»Natürlich nicht.«

»Was haben Sie getan, nachdem Sie den Brief gefunden haben?«

»Ich habe ihn gelesen, dann habe ich mich aus dem Eßzimmer geschlichen und bin direkt zum Zimmer des Mädchens gegangen.«

»Sie haben geklopft?«

»Ja.«

»Die Tür aufgemacht?«

»Ja.«

»Niemand da?«

»Nein. Aber sie hatte offensichtlich in ihrem Bett geschlafen.«

»Und dann?«

»Dann ging ich in die Küche, suchte im ganzen Haus. Ich habe sie nicht finden können.«

»Vielleicht ist heute ihr freier Tag?«

»Nein.«

»Glauben Sie, Sally weiß von dem Brief?«

»Das weiß ich nicht. Ich befürchte, meine Frau hat den Brief gelesen und ist, der Anregung des Schreibers folgend, schnurstracks zu ihr gegangen. Daraufhin hat Sally die Wut gepackt, und sie hat Knall und Fall gekündigt. Heutzutage braucht sich eine gute Hausangestellte so etwas nämlich nicht bieten zu lassen.«

»Wem sagen Sie das«, seufzte Bertha verständnisvoll.

»Was sollen wir nun tun?« fragte Belder. »Etwas muß geschehen.«

»Wieso eigentlich?«

»Um die Sache aus der Welt zu schaffen.«

»Vielleicht hat uns Sally das schon abgenommen. Nehmen wir an, Ihre Frau hat mit ihr gesprochen, festgestellt, daß es sich um ein Mißverständnis handelte, und...«

»Sie kennen mein Frau nicht«, meinte Belder. »Wenn sie erst einmal einen Verdacht geschöpft hat, bedarf es tagelanger Erklärungen, um sie wieder davon abzubringen. Erklärungen machen zunächst alles nur schlimmer. Erst wenn man sich tausendmal wiederholt hat, gibt sie langsam klein bei. Sie ist eine furchtbar argwöhnische Frau. Eine Kleinigkeit wie dieser Brief würde sie verrückt machen. Er wäre wochenlang unser einziges Gesprächsthema.«

»Selbst wenn Sally ginge?«

»Natürlich. Und wenn Sie mich fragen, ist sie schon fort.«

Bertha sah auf die Uhr. »Es ist jetzt nach zehn. Glauben Sie, sie wartet auf diesen Anruf?«

»Wahrscheinlich. Sie sagte mir gestern nachmittag, daß ich den Wagen bis elf haben könnte. Punkt elf müßte er aber wieder vor der Tür stehen, möglichst vollgetankt.«

»Und was für eine Rolle haben Sie mir zugedacht?«

»Sie sollen die Person ermitteln, die diesen Brief geschrieben hat.«

Bertha kniff die Augen zusammen. »Ich soll also massiv werden?«

»Ja.«

»Zurück zu dem Brief«, sagte Bertha. »Von wem könnte er Ihrer Meinung nach stammen?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Bertha machte eine unwillige Bewegung. Der Drehstuhl protestierte quietschend. »Angenommen, Ihre Schwiegermutter ist dieser Jemand, der es gut mit Ihrer Frau meint?«

In Belders Gesicht zuckte es. »Natürlich! Theresa Goldring! Wie blöd von mir! Darauf hätte ich sofort von selber kommen müssen. Sie kann mich nicht ausstehen. Na, ich muß sagen, daß sie sich für diesen Tiefschlag kaum einen besseren Zeitpunkt hätte aussuchen können. Wenn es ihr ausgerechnet jetzt gelingt, Mabel und mich auseinanderzubringen, bin ich geliefert.«

Bertha betrachtete stirnrunzelnd den Brief.

Belder fuhr fort: »Und Theresa wäre fein raus, wenn sie Mabel gegen mich aufwiegeln könnte. Es ist doch so, Mrs. Cool: Ich habe mein gesamtes Vermögen auf meine Frau übertragen. Ich habe auf meinen Eid genommen, daß es eine Schenkung war und sie allein darüber verfügungsberechtigt ist. Das ist gerichtlich besiegelt. Wenn sie sich jetzt von mir trennt und ihr ganzes Geld mitnimmt, gucke ich in den Mond.«

»Aber sie würde es wohl nicht ihrer Mutter in den Rachen werfen — oder?« fragte Bertha.

»Nicht alles. Aber...«

»Wie versteht sich eigentlich Ihre Frau mit Carlotta?« erkundigte sich Bertha. Sie spielte nachdenklich mit dem Briefbogen.

»Recht gut. Nur ist es so, daß Carlotta seit einiger Zeit darüber grübelt, weshalb man ihr nichts von ihren Eltern erzählen will. Sie sagt, sie sei alt genug, um jetzt selber über ihr Leben zu bestimmen. Natürlich hat sie sich damit abgefunden, daß sie wahrscheinlich nie erfahren wird, wer ihr Vater ist. Aber sie hofft, ihre Mutter zu finden. Sie ist ein verwöhntes Balg, diese Carlotta.«

»Lebt denn ihre Mutter noch?«

»Ich glaube ja. Das ist doch der Haken. Soviel ich verstanden habe, hat die Mutter Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um ihre Tochter zu finden. Theresa ist vielleicht keine Intelligenzbestie, aber was sie einmal in Händen hat, verteidigt sie zäh und skrupellos. Sie macht dabei vor nichts halt. Sie wird dieser Frau Hindernisse in den Weg legen, wo sie nur kann.«

»Welcher Frau?«

»Carlottas Mutter.«

»Theresa Goldring weiß also, wo Carlottas Mutter sich aufhält?«

»Ja.«

»Wie hat sie denn das herausbekommen?«

»Das weiß ich nicht. Sie läßt sie beobachten, glaube ich. Theresa ist mit Vorsicht zu genießen, sage ich Ihnen!«

»Hat sie Geld?«

»Etwas. Aber ihr ist es nicht genug.«

»Woher hat sie’s?«

»Aus der Lebensversicherung, die ihr nach dem Tod ihres Mannes ausgezahlt worden ist.«

»Viel?«

»Etwa zwanzigtausend Dollar. Anstatt diese Summe vernünftig zu investieren und von den Zinsen zu leben, hat Theresa das Geld mit vollen Händen ausgegeben, hat sich geleistet, was sie wollte, sich gut angezogen und gepflegt. Sie bildet sich ein, daß sie auf Männer noch immer unwiderstehlich wirkt. Sie...«

»Wie alt?«

»Ungefähr achtundvierzig.«

»Viele Frauen erleben die leidenschaftlichsten Liebesabenteuer, wenn sie über vierzig sind«, sagte Bertha.

»Natürlich, Mrs. Cool«, sagte Belder hastig. »Aber das sind dann Frauen, die nicht versuchen, ihrer Umwelt eine Rolle vorzuspielen. Sie müßten Theresa kennen, um mich ganz zu verstehen. Mit ihren achtundvierzig Jahren redet sie sich ein, daß sie aussieht wie zweiunddreißig. Sie hat noch immer eine fabelhafte Figur, das will ich gern zugeben. Sie hält Diät und achtet auf ihr Gewicht, aber... Ach, genug davon. Mir wird ganz mies, wenn ich von ihr rede.«

»Tut mir leid, darauf muß ich es ankommen lassen«, meinte Bertha trocken. »Wir müssen feststellen, ob sie bei dem Brief ihre Hand im Spiel hatte. Auf jeden Fall müßte sie dann Helfershelfer gehabt haben.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wenn Ihre Frau angerufen wird, muß die Stimme der Anruf enden ihr fremd sein. Auch die Person, mit der sie sich trifft, muß ihr unbekannt sein. Eine Freundin würde einfach anrufen und sagen: >Tag, Mabel. Verrate nicht, daß du es von mir hast, aber dein Mann geht wieder mal fremd.< Und ihre eigene Mutter kann kaum mit verstellter Stimme anrufen und sagen: >Mrs. Belder, Sie kennen mich nicht, aber...< Verstehen Sie, was ich meine?«

»Ja, ich verstehe.«

»Daher hat Ihre Schwiegermutter einen Helfershelfer. Jemanden, der Ihre Frau nicht kennt. Diese Person wird sagen: >Mrs. Belder, ich habe diesen Brief geschrieben. Möchten Sie mit mir sprechen? Ich kann aus gewissen Gründen nicht zu Ihnen kommen, aber wir könnten uns treffen...< Und so weiter. Kapiert?«

»Kapiert.«

Bertha stand ächzend auf. »Tja, dann muß ich wohl Ihre Frau beschatten, feststellen, mit wem sie sich trifft, diese Person zu Mrs. Goldring verfolgen... Das kann ja gut werden!«

»Aber wenn das getan ist«, sagte Belder, »können wir zu meiner Frau gehen und ihr nachweisen, daß ihre eigene Mutter...«

»Seien Sie nicht albern«, unterbrach Bertha ihn grob. »Mrs. Goldring würde uns einfach als abgefeimte Lügner bezeichnen und ihre Tochter davon überzeugen, daß wir sie nur verleumden wollen. Nein, dann müssen wir direkt zu Mrs. Goldring gehen.«

Belder sagte zweifelnd: »Theresa ist ein harter Brocken.«

Bertha schob kampflustig das Kinn vor. »So? Ein harter Brocken? Dann sollten Sie mal sehen, wenn ich so richtig loslege!«