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Roger F. Drumson, Seniorpartner der Anwaltskanzlei Drumson, Holbret & Drumson, las den letzten Satz der Anklageschrift, dann sah er über seine Brille hinweg Bertha Cool an. »Sie sollten also, wie ich diesem Schriftstück entnehme, feststellen, von wem die anonymen Briefe stammten. Sie hatten hinreichenden Grund zu der Annahme, daß die Briefe von der Klägerin geschrieben worden waren?«

»Ja.«

»Gut. Sehr gut. Wie kamen Sie zu dieser Annahme?«

»Ich wußte, daß die Briefe von einer ausgezeichneten Stenotypistin auf einer Reiseschreibmaschine getippt worden waren. Ich wußte, daß Imogene Dearborne auf der gleichen Schreibmaschine eine Notiz an ihren Chef geschrieben hatte.«

»Woher wußten Sie das?«

»Ich habe die Schrifttypen verglichen.«

»Nein, nein. Woher wußten Sie, daß sie diese Notiz auf derselben Maschine getippt hatte?«

»Sie hat es zugegeben.«

»Unter Zeugen?«

»Ja.«

»Bevor Sie Ihre Beschuldigung aussprachen?«

»Selbstverständlich.«

Drumson strahlte Bertha an. »Das war sehr gescheit von Ihnen, Mrs. Cool. Sie haben also demnach Ihre Feststellung in gutem Glauben gemacht.«

»Ja, ganz recht.«

»Ausgezeichnet.«

Drumson nahm das Studium der Anklageschrift wieder auf, runzelte die Stirn, sah Bertha vorwurfsvoll an. »Haben Sie sie eine >fiese Vorzimmerkrähe< genannt, Mrs. Cool?«

»Ja.«

»Das ist schlecht.«

»Warum?«

»Weil dadurch Böswilligkeit impliziert wird.«

»Wieso?«

Drumson lächelte väterlich und ein bißchen herablassend. »Sehen Sie, Mrs. Cool, das Gesetz sichert Personen, die in gutem Glauben ohne Böswilligkeit handeln, in einem gewissen Rahmen Straffreiheit zu. Anders ausgedrückt: Gewisse Aussagen sind in der Sicht des Gesetzgebers >vertrauliche Mitteilungen<. Dazu aber muß der Beklagte nachweisen, daß die Aussage in gutem Glauben und ohne Böswilligkeit erfolgte. Sie sind Privatdetektivin und hatten von Everett Belder unter anderem den Auftrag erhalten, den Absender gewisser Briefe zu ermitteln. Sie hatten hinreichenden Grund zu der Annahme, daß es sich bei dem Briefschreiber um seine Sekretärin handelte. Das war ein Irrtum, aber ein Irrtum, der jedem unterlaufen kann.«

Bertha nickte nachdrücklich.

»Es handelte sich also um eine vertrauliche Mitteilung«, fuhr Drumson fort, »unter der Voraussetzung, daß keine Böswilligkeit im Spiel war, Mrs. Cool.«

»Selbstverständlich. Persönlich hatte ich ja gar nichts gegen das Mädchen.«

»Weshalb haben Sie sie dann als >fiese Vorzimmerkrähe< bezeichnet?«

»Ach, das sagt man eben so...«

Drumson schüttelte nachsichtig tadelnd den Kopf und schnalzte mit der Zunge.

»Sie kann mich doch nicht verklagen, nur weil ich eine ganz überzeugende Schlußfolgerung gezogen habe, oder?«

»Das kommt darauf an, Mrs. Cool. Sie müssen zumindest nachweisen, daß Sie ausreichendes Beweismaterial hatten. Sie sagten, die wahre Schuldige sei eine gewisse Sally Brentner gewesen?«

»Ja.«

»Wie haben Sie das festgestellt?«

»Die Polizei hat es festgestellt«, gab Bertha unwillig zu.

»Wie denn?«

»Aus dem zweiten Brief ging hervor, daß die Briefschreiberin wußte, was sich in Belders Büro abgespielt hatte. Die Kriminalpolizei kam zu dem Schluß, daß jemand vom gegenüberliegenden Haus aus das Büro beobachtet haben mußte. Es gab dort nur ein oder zwei Büros, die für diesen Zweck in Frage kamen. Der ungefähre Zeitpunkt war auch bekannt. Es stellte sich heraus, daß sie um diese Zeit in einem Zahnarztstuhl gesessen und direkt in Belders Büro geguckt hatte.«

Drumson runzelte die Stirn. »Weshalb sind Sie nicht selber auf diese naheliegende Lösung gekommen, Mrs. Cool?«

»Ich hielt es für unnötig, dieser Version nachzugehen«, sagte Bertha.

»Sie haben also den Hinweis der Kriminalpolizei mit voller Absicht unbeachtet gelassen?«

»Mit voller Absicht — na, das kann man auch nicht direkt sagen.«

»Sie sind also gar nicht auf die Lösung gekommen?«

»Hm«, machte Bertha. »Ich...« Sie verstummte.

»Offenheit dem Rechtsberater gegenüber ist erste Klientenpflicht, Mrs. Cool«, mahnte Drumson.

»Sergeant Sellers will ja immer unbedingt seinen Kopf durchsetzen«, platzte Bertha heraus. »Da hab’ ich ihm gesagt, diese Faxen wären ganz unnötig.«

»Meine liebe Mrs. Cool«, sagte Drumson in ungläubigem Entsetzen, »soll das heißen, daß die Kriminalpolizei Ihnen diese wirklich verblüffend einleuchtende Lösung vorschlug und daß Sie sich nicht nur weigerten, diesem Gedanken nachzugehen, sondern daß Sie die Polizei davon abbringen wollten, entsprechende Schritte zu unternehmen, und daß Sie dann diese Beschuldigung gegen Imogene Dearborne vorbrachten?«

»Wenn Sie das jetzt so sagen, hört es sich ziemlich niederträchtig an«, räumte Bertha kleinlaut ein.

»Das ist schlecht, Mrs. Cool. Sehr schlecht.«

»Warum?«

»Weil Ihr Verhalten Böswilligkeit impliziert und daher keine Möglichkeit einer Straffreiheit mehr besteht.«

»Sie reden wie der Anwalt der Gegenpartei.«

Drumson lächelte. »Wenn der Anwalt der Gegenpartei erst mal richtig loslegt, sagen Sie so etwas nicht mehr! Zurück zu dem beanstandeten Ausdruck... Wie sagten Sie doch gleich: eine fiese Vorzimmerkrähe... Können Sie mir erklären, Mrs. Cool, wie Sie auf diesen Ausdruck kommen?«

Bertha wurde rot. »Diese heuchlerische, glattzüngige, kriecherische Schnepfe kann sich noch freuen, daß ich nicht noch viel mehr...«

»Mrs. Cool!« donnerte Drumson.

Bertha verstummte.

»Mrs. Cool, der Fall hängt an der Frage der Böswilligkeit. Wenn Sie den Prozeß gewinnen wollen, müssen Sie beweisen, daß Sie der Klägerin gegenüber keinerlei feindliche Gefühle hegten. In Zukunft werden Sie von der Klägerin als einer sehr ehrenwerten jungen Dame mit untadeligem Ruf sprechen. Sonst wird es nämlich ein sehr teurer Spaß für Sie. Haben wir uns verstanden?«

»Aber ich denke, ich soll Ihnen die Wahrheit sagen?«

»Im Gespräch mit mir, im Gespräch mit Bekannten, ja, selbst beim Denken dürfen Sie diese junge Dame nur mit solchen Bezeichnungen belegen, die Sie auch in aller Öffentlichkeit wiederholen könnten. Etwaige abfällige Ausdrücke rutschen Ihnen sonst unbewußt im ungeeignetsten Augenblick heraus. Jetzt sprechen Sie mir nach: Die Klägerin ist eine sehr ehrenwerte junge Dame.«

Bertha Cool sagte mit offensichtlicher Überwindung: »Der Teufel soll sie holen. Sie ist eine sehr ehrenwerte junge Dame.«

»Wer hat die in Frage stehende Unterhaltung mit angehört?«

»Everett Belder und...«

»Einen Augenblick, bitte. Mr. Belder war Ihr Auftraggeber?«

»Mein Klient.«

»Verzeihung, Ihr Klient. Wer noch?«

»Sergeant Sellers.«

Drumson lächelte schon wieder. »Und die Klägerin natürlich. Sonst noch jemand?«

»Carlotta Goldring, Belders Schwägerin.«

»Ist sie auch Ihre Klientin?«

»Nein.«

»Was hatte sie dort zu suchen?«

»Keine Ahnung. Sie kam einfach hereinspaziert.«

»Sie haben also Ihre Beschuldigung vor Carlotta Goldring geäußert?«

»Ich weiß nicht, wieviel sie davon mitbekommen hat.«

»Konnten Sie nicht warten, bis diese Ihnen doch ganz fremde junge Dame das Büro verlassen hatte?«

»Nein, das konnte ich nicht. Und ich will Ihnen auch sagen, warum! Weil ich weiterkommen wollte. Ihr Anwälte habt bloß eure Paragraphen im Kopf. Wenn wir uns alle so langsam von Buchstaben zu Buchstaben hangeln wollten, wär’s traurig um uns bestellt!«

Drumson schüttelte den Kopf. »Ich muß Ihnen sagen, daß Sie da leider recht voreilig gehandelt haben. Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie über uns Anwälte oder die Justiz herziehen. Es wird sehr schwierig sein, die Verteidigung aufzubauen. Ich verlange zunächst einmal fünfhundert Dollar als Anzahlung. Das dürfte reichen, bis der Fall zur Verhandlung kommt. Dann können Sie eine weitere Zahlung leisten, Wenn wir die Sache nicht durch eine gütliche Regelung vorher...«

»Fünfhundert Dollar«, fiel ihm Bertha fassungslos ins Wort.

»Ganz recht, Mrs. Cool.«

»Sagen Sie mal, was denken Sie sich eigentlich? An dem ganzen Fall hab’ ich bisher lumpige fünfzig Dollar verdient.«

»Leider hat das damit nichts zu tun, Mrs. Cool.« Er tippte gewichtig mit dem Zeigefinger auf das Aktenbündel. »An der Tatsache, daß vor Gericht eine Schadensersatzklage auf hunderttausend Dollar gegen Sie anhängig ist, können wir nicht rütteln. Vielleicht — wohlgemerkt: vielleicht — können wir die Sache für Sie noch retten.«

Bertha stand auf und riß die Akten an sich.

»Sie sind verrückt! Von mir kriegen Sie keine fünfhundert Dollar.«

»Aber, liebe Mrs. Cool, wenn Sie innerhalb von zehn Tagen nach Zustellung der Anklageschrift nichts unternehmen...«

»Wie sagt man der Gegenseite, daß man das nicht gemacht hat, was in der Anklageschrift steht?«

»Man reicht eine Entgegnung ein.«

»Wieviel verlangen Sie für einen solchen Wisch?«

»Ich würde Ihnen nicht dazu raten, Mrs. Cool.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte an einigen Stellen der Anklageschrift den Eindruck, daß sie recht mehrdeutig war. Das Dokument ist ganz offensichtlich in Eile aufgesetzt worden, und ich glaube, daß wir mit einem Einspruch Erfolg haben könnten.«

»Was verstehen Sie unter einem Einspruch?«

»Einen weiteren Schriftsatz, der dem Gericht vorgelegt und in dem auf etwaige Formfehler in der Anklage hingewiesen wird.«

»Und was passiert dann?«

»Wenn man überzeugende Argumente hat vorbringen können, wird der Richter den Einspruch befürworten.«

»Hat man damit den Prozeß gewonnen?«

»Keinesfalls. Dann wird der Gegenpartei eine Frist von zehn Tagen zur Abänderung der Anklageschrift eingeräumt.«

»Ist die Anklageschrift dann besser?«

»Gewissermaßen ja — laienhaft ausgedrückt...«

»Dieses ganze Hin und Her kostet aber sicher Geld?«

»Natürlich muß ich für den Zeitaufwand entschädigt werden. Deshalb sagte ich Ihnen, daß die fünfhundert Dollar bis zur Verhandlung reichen würden und...«

»Weshalb soll ich einem Anwalt fünfhundert Dollar zahlen, nur damit er dem Anwalt der Gegenpartei sagt, wie die Anklageschrift verbessert werden kann?«

»Mrs. Cool, Sie versteifen sich darauf, den Fall mit Laienaugen anzusehen! Es liegt ein taktischer Vorteil darin, wenn einem Einspruch stattgegeben wird.«

»Wieso?«

»Man gewinnt Zeit.«

»Und was hat man davon?«

»Die Sache wird aufgeschoben.«

»Und was tut man mit der gewonnenen Zeit?«

Drumson versuchte sich wieder an seinem herablassenden Lächeln, aber es lag eine Spur Unsicherheit darin. Bertha Cool konnte auch den hartgesottensten Anwalt aus der Fassung bringen.

»Meine liebe Mrs. Cool, betrachten Sie die Sache doch mal in aller Ruhe. Sie verstehen doch auch etwas von diesen Dingen. Sie...«

»Was tun Sie mit der gewonnenen Zeit?« unterbrach Bertha energisch.

»Man prüft den Fall noch einmal...«

»Und für diese Zeit muß ich blechen.«

»Schließlich muß ich ja auch leben...«

»Sie helfen mit meinem Geld dem gegnerischen Anwalt, seinen Fall besser aufzuzäumen, damit Sie Zeit gewinnen, um mir noch mehr Geld abknöpfen zu können. Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe. Verstehen Sie nicht genug von Ihrem Fach, um die Sache gleich verhandeln zu können?«

»Natürlich. Wenn ich...«

»Wozu dann die Trödelei? Wenn Sie nicht wissen, wie man so einen Fall anpackt, sagen Sie es gefälligst. Dann gehe ich eben ein Haus weiter...«

»Aber, meine liebe Mrs. Cool, Sie haben einfach...«

»Nennen Sie mich nicht ständig >meine liebe Mrs. Cool<. Ich will keinen Einspruch, wenn ich damit nur einen Aufschub erreiche, für den ich dann wieder zahlen darf. Ich will eine Entgegnung, mit der ich dieser fiesen Vorzimmerkrähe ordentlich die Meinung geigen kann.«

»Meine liebe Mrs. Cool! Bitte! Als Anwalt ersuche ich Sie, die Klägerin nicht mehr als fiese Vorzimmerkrähe zu bezeichnen.«

»Sie ist ein raffgieriges kleines Biest«, sagte Bertha ärgerlich. »Eine süßholzraspelnde scheinheilige Person.«

»Sie bringen sich selbst um alle Chancen, diesen Prozeß zu gewinnen, Mrs. Cool.«

»Sie wissen genausogut wie ich, daß sie ein Luder ist. Ich soll ihr wohl noch um den Hals fallen, weil sie mir einen Prozeß anhängt?«

»Sie ist übersensibel, und ihre Rechtsberater haben eine ungewöhnliche Situation ausgenutzt, um überhöhte Forderungen zu stellen. Das ändert nichts daran, daß die Klägerin eine sehr ehrenwerte junge Dame ist. Jedenfalls so lange die Klage läuft...«

Bertha holte tief Atem.

»Wieviel

»Nur für das Aufsetzen einer Entgegnung? Tja, wenn wir eine Vorbesprechung abhalten, um die Fakten zu klären und...«

»Wieviel

»Sagen wir: fünfundsiebzig Dollar.«

»Für eine lumpige Entgegnung? Ich wette, die Konkurrenz macht mir das für...«

»Aber wir müßten zuerst die Fakten mit Ihnen besprechen...«

»Quatsch«, fauchte Bertha, »ich will dieser — dieser ehrenwerten jungen Dame ja nur schwarz auf weiß beweisen, daß sie lügt wie gedruckt. Daß ich nicht an ihrer Entlassung schuld war und so weiter.«

»Unter diesen Umständen«, sagte Drumson zögernd, »könnte ich vielleicht auf fünfundzwanzig Dollar heruntergehen... Aber ich betone, Mrs. Cool, daß wir für den Fall dann keinerlei Verantwortung übernehmen. Sie müßten die von uns aufgesetzte Entgegnung unterschreiben und in propria persona erscheinen.«

»Was heißt das?« fragte Bertha mißtrauisch.

»Ein juristischer Ausdruck. Die Beklagte erscheint ohne Rechtsbeistand. Sie vertritt sich selbst.«

»Genau das will ich«, sagte Bertha. »Setzen Sie den Wisch auf. Bis Montag früh will ich ihn haben, damit die Sache überstanden ist.«

Sie stampfte hinaus.

Drumson sah ihr nach. Dann klingelte er seufzend nach seiner Sekretärin.