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18.
Die Fledermäuse füllten den Schuppen durch ihre schiere Anzahl, flogen hoch ins Gebälk und ließen ihre Flügel gegen die beiden Killer schlagen, die auf den Dachsparren saßen. Chad Kingman ließ seine Waffe fallen, um das vermoderte Holz zu packen, und er schwankte bedrohlich, als die kleinen pelzigen Körper gegen seine Brust und sein Gesicht stießen. Der Russe wehrte den Angriff der Fledermäuse ab, indem er blind mit den Händen herumfuchtelte, um sie zu vertreiben. Sein Arm prallte gegen Chad und schlug ihn vom Balken auf den Lehmboden hinunter. Chad prallte hart auf, und die Luft wurde restlos aus seiner Lunge gepresst.
Über ihnen beugte sich Jonas durch einen besonders großen Spalt und stieß seine Waffe fest gegen den Hals des Russen. »Lass deine Waffe fallen«, befahl er. »Hier spricht der Sheriff. Du bist verhaftet.«
Aleksandr benutzte sein Messer, um die Stricke zu zerschneiden, mit denen Mason Fredrickson gefesselt war. Der Mann war so lange gefesselt gewesen, dass seine Arme und Beine bleischwer waren. Er wollte sich bewegen, konnte Chad aber nur einen finsteren Blick zuwerfen. Aleksandr zog das Dichtungsband mit einer schnellen Bewegung von seinem Mund. Mason jaulte auf und starrte seinen langjährigen Freund wutentbrannt an.
Chad wollte sich auf die Waffe stürzen, die keinen halben Meter von ihm entfernt lag. »Das täte ich an deiner Stelle nicht.« Jackson Deveau stand in der Türöffnung und hatte sein Gewehr auf Chad gerichtet. Er kam näher und trat die Waffe aus dem Weg; dabei warf er einen Blick auf Aleksandr, der den Arm zurückgezogen hatte und sein Messer in Bereitschaft hielt. »Das war keine kluge Idee, Kingman.«
Chad saß auf dem Boden und fluchte, als Jackson ihm Handschellen anlegte und ihn dann sorgfältig nach Waffen abtastete, während Jonas auf dieselbe Art mit dem Russen verfuhr.
Eine leichte Brise wehte durch den Schuppen und nahm die Fledermäuse mit sich hinaus. Nur die Männer blieben zurück. Aleksandr zog die Stirn in Falten, denn ihm war nicht wohl dabei zumute, mit welcher Leichtigkeit sie Fredrickson gerettet hatten. Er erkannte den Russen nicht, aber als der Mann aus dem Dachgebälk stieg, humpelte er. Jonas untersuchte die Wade des Mannes und fand einen enormen blauen Flecken. »Das sieht übel aus. Wie ist das denn passiert?«
Der Mann murmelte etwas Unverständliches.
»Diese Verletzung hat dir nicht zufällig eine Frau zugefügt? Mit ihrem kleinen Teleskopstock, den sie sonst gegen Haie einsetzt? «
Aleksandr sah sich den Russen genauer an. »Du musst Chernyshev sein.«
Der Mann wirkte bestürzt und wandte das Gesicht ab. Jonas und Jackson stießen Chad und Chernyshev in Handschellen zum Wagen.
»Moment!«, protestierte Mason, dessen Stimme heiser vor Kummer war. »Die haben auf eine Frau geschossen, Sylvia Fredrickson, meine Exfrau. Ich habe sie schreien hören, und ich habe auch gehört, wie sie Prakenskij angefleht hat. Ihre Stimme klang schrecklich verängstigt, und dann wurde ein Schuss abgegeben. Die beiden müssen wissen, was aus ihr geworden ist.«
Aleksandr tätschelte unbeholfen die Schulter des Mannes. »Sie konnte entkommen. Sie ist im Haus der Drakes. Sie ist zu ihnen gegangen, um Hilfe für Sie zu holen.«
Im ersten Moment schimmerten Tränen in Masons Augen, aber er blinzelte schnell dagegen an. »Sind Sie ganz sicher, dass ihr nichts fehlt? Die Drakes konnte sie noch nie leiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie zu ihnen gegangen ist.«
»Ich glaube, für sie hat in diesem Moment nur noch Ihre Rettung gezählt. Sie war sicher, dass diese Männer Sie töten werden, und die Drakes sind mächtige Frauen. Vermutlich hat sie sich gesagt, die Chancen für Ihr Überleben stünden dort am besten. Sie war sehr tapfer.«
Mason zog den Kopf ein, aber Aleksandr sah in seinen Augen, dass ihm ein Licht aufging. »Ja, das kann man wohl sagen, nicht wahr?«
Aleksandr half Mason Fredrickson dabei, sich aufzusetzen. »Haben die Männer Sie in irgendeiner Form verletzt?« Er fühlte sich immer noch unbehaglich. Nichts an diesem Zwischenfall erschien ihm richtig.
»Chernyshev hat mich ein bisschen gepiesackt. Chad ist mir nicht nahe gekommen.« Mason leckte seine trockenen Lippen. »Sie haben nicht zufällig Wasser dabei? Nachdem der andere Russe fortgegangen ist, wollte mir keiner mehr etwas zu trinken geben.«
»Prakenskij?« Aleksandr bemühte sich, seine Frage beiläufig klingen zu lassen.
Mason nickte. »Genau, so hieß er. Der hat den ganzen Laden geschmissen. Chernyshev wollte mich auf der Stelle umbringen. Ich bin in die Seitenstraße hinter der Galerie gegangen, und dort draußen waren sie, mit Chad. Ich dachte, sie wollten ihn ausrauben, und deshalb habe ich mich eingemischt, um ihm zu helfen. Ich habe gehört, dass Chad gesagt hat, er wolle hunderttausend Dollar dafür haben, dass er die Bombe transportiert. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass mir Chernyshev eine Waffe an den Kopf presst und mich an Ort und Stelle umlegen will. Chad sagt kein Wort dazu, aber dieser Prakenskij taucht aus dem Nichts auf und hält die beiden davon ab. Er sagt, sie könnten mich gebrauchen. Chernyshev hat angefangen, sich mit ihm zu streiten, aber er hat schnell aufgegeben. Ich konnte sehen, dass sie sich vor ihm gefürchtet haben.«
»Hat Prakenskij Ihnen etwas angetan?«
»Nein, er hat mir Wasser und Essen gegeben, und als Chernyshev sich über irgendetwas geärgert hat und zu mir kam und mich getreten hat, hat Prakenskij zu ihm gesagt, wenn er das noch einmal täte, würde er ja sehen, was passiert. Er hat es ganz leise und ohne jede Betonung gesagt, aber Chernyshev hat teuflische Angst bekommen. Danach hat er mich nicht mehr angerührt.«
»Dann wollen wir Sie jetzt mal auf die Füße stellen. Halten Sie sich einfach an mir fest, damit wir sehen, ob Sie auf den Beinen stehen können.«
Mason biss die Zähne zusammen. »Mann, das tut teuflisch weh. Es fühlt sich an wie tausend Wespenstiche.«
Aleksandr half ihm hoch und hielt ihn fest, als Fredrickson taumelte und ihm der Schweiß ausbrach. »Wohin ist Prakenskij gegangen?«
»Ich weiß es nicht. Er hat zu Chad und dem Russen gesagt, sie sollten hier auf Sie warten und sich mit ihm treffen, nachdem sie mit Ihnen fertig sind.«
»Was genau hat er gesagt?«
Jonas kam zurück und stützte Mason auf der linken Seite. »Kannst du laufen?«
Aleksandr blieb stehen. »Ich muss wirklich wissen, was Prakenskij gesagt hat. Es ist wichtig.« Er sah Jonas in die Augen. »Ich glaube, das Ganze ist ein Hinhaltemanöver. Damit wir in eine ganz bestimmte Richtung schauen, während sie sich in eine ganz andere begeben. Prakenskij wusste, dass ich niemals darauf reinfallen würde. Ob mit dir oder ohne dich, es war ganz ausgeschlossen, dass ich mich von reinen Amateuren übertölpeln lasse. Er hat uns hierher geschickt, damit wir ihm nicht im Weg sind. Und das heißt, dass sie die Lieferung heute Nacht ins Land bringen.«
Fredrickson schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Sie wollten Chad für den Transport der Bombe haben.«
Jonas sah Aleksandr in die Augen und nahm Fredricksons Arm. Er führte ihn zum Wagen, damit er sich bequem hinsetzen und auf die Deputies warten konnte.
Als er zurückkam, räusperte sich Aleksandr. »Ich hatte befürchtet, sie könnten versuchen, eine schmutzige Bombe ins Land zu bringen. Sie bräuchte nicht viel größer zu sein als ein gewöhnlicher Reisekoffer.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Wir haben überall im ganzen Land jede Form von verrottetem radioaktivem Abfallmaterial herumliegen. Ich könnte dir Geschichten über Depots erzählen, die du mir niemals glauben würdest. Höchstwahrscheinlich ist Nikitin in den Schmuggel mit diesen Materialien verwickelt, wenn er nicht sogar eine Schlüsselposition einnimmt. Es fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, aber ich habe die Gerüchte gehört. Er ist sehr gewalttätig, und es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Uranschmuggler tückisch sind.«
Er sah Jonas an. »Vor nicht allzu langer Zeit hat der zuständige Abgeordnete eine Warnung herausgegeben, in der es hieß, schmutzige Bomben und biologische Substanzen, die aus spaltbarem Material und radioaktiven Isotopen hergestellt werden, würden die wahrscheinlichsten Waffen sein, die Terroristen an sich zu bringen versuchen. Er wusste genau, wovon er sprach. Wir hatten schon seit einer Weile Informationen, wonach Terroristen versucht haben, den Atommüll zu erwerben. Unsere Kraftwerke und die nuklearen und biologischen Institute in Russland sind anfällig, genau wie hier in den Vereinigten Staaten. Der besagte Abgeordnete arbeitet seit geraumer Zeit an einer Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen.«
Jonas fluchte tonlos. »Weshalb sollten sie das Zeug ausgerechnet hierher bringen? Warum nicht nach Florida oder nach Südkalifornien?«
»Weil so schnell kein Verdacht auf diese Gegend fiele und sie hier schon eine brauchbare Route hatten. Ihr Pech war nur, dass einem Fischer etwas aufgefallen ist und er Interpol verständigt hat und dass wir unsere Ermittlung intensiver betrieben haben.« Aleksandr atmete langsam aus. »Sie müssen ihr Treffen mit dem Frachter heute Nacht haben. Chernyshev und Kingman sind Bauernopfer. Höchstwahrscheinlich ist Prakenskij davon ausgegangen, dass sie nicht mit dem Leben davonkommen.«
Jonas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Die anderen Deputies sind hier, um die Gefangenen abzutransportieren, und wir werden ihnen Fredrickson auch mitgeben, denn wir sollten Jackson bei uns haben.«
»Eure Küstenwache wird den Fall übernehmen wollen. Du wirst sie benachrichtigen und eine Liste mit den Namen der Frachtschiffe durchgeben müssen, die wir überwacht haben«, sagte Aleksandr. »Falls sich einer dieser Frachter hier in der Gegend aufhält, dann ist das euer Schiff. Der Frachter wird die Bombe entweder in das Fischerboot abladen oder sie direkt an die Männer übergeben, die das Rennboot benutzen.« In dem Moment, in dem die Worte über seine Lippen kamen, riss er abrupt den Kopf hoch.
Jonas sah ihn fragend an, doch Aleksandr warf einen Blick auf die Deputies und die Gefangenen und schüttelte den Kopf.
Aleksandr wartete ungeduldig, bis der Sheriff und sein Deputy die Gefangenen in ein anderes Fahrzeug verfrachtet und der Küstenwache ihren Verdacht mitgeteilt hatten. Er nannte ihnen die Namen von etlichen Frachtschiffen, die Interpol als diejenigen bekannt waren, die von Schmugglern oder Terroristen benutzt wurden und sich hier in dieser Gegend aufhalten könnten. Ein zweiter Dienstwagen vom Büro des Sheriffs nahm ihnen Mason Fredrickson ab. Jonas sagte dem Fahrer, er solle Fredrickson direkt zu den Drakes bringen und nicht etwa zu einem Arzt. Der Mann schien es wesentlich eiliger zu haben, seine Exfrau zu sehen, um die er sich Sorgen machte.
Sowie sie allein im Wagen saßen, wandte sich Jonas an Aleksandr. »Warum willst du, dass die Küstenwache die Schmuggelware ohne uns abfängt? Die werden diese Männer niemals aufhalten können.«
»Genau deshalb. Ich glaube, es ist schon zu spät. Es gibt zu viele Namen und zu viele Orte draußen auf dem Meer, wo sie sich aufhalten könnten. Trotz aller Technologie wüsste ich nicht, wie sie sie rechtzeitig finden sollten. Als Abigail und ich uns einige Höhlen in der näheren Umgebung angesehen haben, hat sie mir von einer erzählt, die benutzt werden könnte, um dort ein Rennboot zu verstecken. Sie hat ausdrücklich hervorgehoben, dass die Höhle nach Süden geöffnet ist und die Küstenwache sie im Vorbeifahren nicht sehen kann. Sie hat gesagt, der kleine Strand könnte auf dem Landweg erreicht werden, aber ein Hausmeister würde jeden Fremden von der Benutzung dieses Landwegs abhalten. Anscheinend ist ihm jedoch kürzlich ein Unfall zugestoßen.«
Jonas und Jackson zuckten verwirrt die Achseln. »Es gibt hunderte von kleinen Buchten an diesem Küstenabschnitt.«
»Irgendwo in der Nähe von Elk.«
»Sie sprach doch nicht etwa von Cuffey’s Cove, oder?«, fragte Jackson. »Ein paar Camper benutzen den Strand. Dort wären sie nicht ungestört.«
»Cuffey’s Cove hat sie erwähnt, aber das war nicht der Ort. Es ist eine Bucht im Norden von Elk, die nicht öffentlich zugänglich ist.«
Jonas trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Warte mal einen Moment. Ich weiß, was sie meinte.« Er sah Jackson wieder an. »Erinnerst du dich noch daran, wie vor ein paar Jahren ein Grauwal ans Ufer gespült wurde?«
Jackson nickte. »Die Leute kamen von überall her und sind über ein privates Grundstück gelaufen; sie haben Zäune eingerissen, um den toten Wal zu sehen.«
»Das war eine üble Geschichte«, stimmte Jonas ihm zu. »Ich wette, das ist die Bucht, von der Abbey gesprochen hat. Der Hausmeister hat die Leute mit unserer Hilfe vertrieben. Es ist ein wunderschönes Stück Land, aber es ist in Privatbesitz. Abigail hat recht. Dort könnten sie mühelos ein kleines Zodiac verstecken. « Er zog ein Handy heraus. »Ich werde mir das schnell noch mal von Abbey bestätigen lassen und den Schwestern Bescheid geben, wohin wir gehen. Wenn sie sich wegen Prakenskij solche Sorgen machen, möchte ich, dass sie sich bereithalten, um uns zu helfen.«
»Abigail besitzt keine telepathischen Fähigkeiten«, sagte Aleksandr. »Woher sollen sie wissen, wenn wir Hilfe brauchen?«
Jonas zuckte die Achseln, und ein mattes Lächeln spielte auf seinem Gesicht. »Wenn es um die Drakes geht, stellt man besser keine Fragen. Ich sagte es dir doch schon, was man dort sieht und hört, muss man einfach akzeptieren. Und wenn Abbey keine telepathischen Fähigkeiten besitzt, dann sind sie bei ein oder zwei von den anderen umso stärker ausgeprägt. «
»Na, prima.« Aleksandr seufzte. »Lasst uns sehen, dass wir die Höhle erreichen. Schon allein das Reden über die Drakes verwirrt mich restlos.«
Jonas lachte leise. »Das liegt daran, dass sie verwirrend sind.«
»Dann ruf sie an und bring es hinter dich.«
»Wir sind hier an der Küste, Aleksandr. Es gibt in dieser Gegend nur wenige Orte, an denen ein Handy tatsächlich funktioniert. «
Aleksandr bewunderte den Jonas’ Fahrstil, als dieser die Kurven und Kehren der Schnellstraße, die noch dazu ständig auf und ab führte, im höchstmöglichen Tempo und dennoch sicher bewältigte. Es passte ihm überhaupt nicht, sich darauf zu verlassen, dass die Küstenwache die Schmuggelware abzufangen versuchte, aber in Wahrheit glaubte er nicht, dass sie es rechtzeitig schaffen würden. Prakenskijs Hinhaltetaktik hatte sich bestens bewährt. Sie waren gezwungen gewesen, sich dem Schuppen langsam zu nähern, um die Sicherheit der Beteiligten zu gewährleisten. Der ganze Plan war zu dem Zweck ersonnen worden, sie so viel Zeit wie möglich zu kosten.
Jonas warf ihm im Rückspiegel einen Blick zu. »Sprich deine Gedanken laut aus.«
Aleksandr zuckte die Achseln. »Ich habe mehr Fragen als Antworten. «
»Dann lass sie uns hören.«
»Mir leuchtet es immer noch nicht ein.« Aleksandr lehnte seinen Kopf an die Rücklehne und versuchte, alles außer diesem Rätsel aus seinen Gedanken zu vertreiben. »Prakenskij hat sowohl Chad Kingman als auch Chernyshev vorsätzlich geopfert. Warum? Nur um Zeit zu gewinnen? Was wäre gewesen, wenn Sylvia nicht zur Polizei gegangen wäre? Was wäre gewesen, wenn sie nicht zu den Drakes gegangen wäre? Abbey sagt, er ist wie die Drake-Schwestern in der Lage, Magie einzusetzen. Ist es möglich, dass er Sylvia suggeriert hat, zu den Drakes zu gehen? Ist es ihm mit diesem Mittel gelungen, seine List erfolgreich auszuführen?«
Etwas nagte in seinem Hinterkopf, und plötzlich beugte er sich auf dem Sitz vor. »Warum zum Teufel arbeitet Prakenskij so hart daran, eine schmutzige Bombe in die Vereinigten Staaten zu bringen? Soweit ich weiß, verabscheut er Terroristen. Nikitin handelt mit den Terroristen, aber Prakenskij hat er zu seinem persönlichen Schutz um sich. Alle fürchten Prakenskij. Vor allem die Terroristen. Es heißt, Nikitin sorge dafür, Prakenskij möglichst weit von ihnen fernzuhalten.«
»Wenn Nikitin ihn trotzdem für sich arbeiten lässt, muss er wertvoll für ihn sein«, sagte Jonas versonnen.
»Prakenskij hat Quellen, an die kein anderer herankommt.« Sowie er die Worte laut ausgesprochen hatte, drängte sich ein weiterer Gedanke, der ihm nicht aus dem Kopf gegangen war, in den Vordergrund. »Kann es sein, dass er uns Kingman und Chernyshev absichtlich überlassen hat?«
»Weshalb sollte er das tun?«
»Ich bin ihm gleich zu Anfang bei den Drakes begegnet. Ich glaubte, er sei dort, um Abigail zu töten oder darauf zu warten, dass ich dort auftauche, aber er hat es bestritten. Und er hat auch bestritten, dass er Danilov getötet hat. Prakenskij mag zwar vieles sein, aber ein Lügner ist er nicht.«
Jonas schnaubte. »Die Überzeugung, dass ein Killer kein Lügner ist, kann einem leicht das Leben kosten. Weshalb sollte er dir die Wahrheit sagen? Was für einen anderen Beweggrund könnte er dafür gehabt haben, sich auf dem Grundstück der Drakes aufzuhalten, wenn er nicht das Haus auskundschaften wollte und es darauf abgesehen hatte, dich oder eine der Frauen zu töten?« Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass ein Killer in der Nähe der Drake-Familie herumlungerte, und sein Missmut zeigte sich deutlich in seinem wütenden Fauchen.
»Carol hat zu einem bestimmten Zeitpunkt Fotos von den Schwestern gemacht, und sie behauptet, durch eines der Fenster Licht gesehen zu haben. Nehmen wir mal an, eine andere Person, wie zum Beispiel Leonid Ignatev, hätte vor, Abigail zu töten, und Prakenskij hat auf sie aufgepasst. So etwas sähe ihm ähnlich.«
»Weshalb sollte Ignatev Abbey töten wollen?« Jonas’ unterdrückte Wut wurde deutlich stärker.
»Um Abigail aus Russland rauszukriegen, bevor ihr etwas Ernstes zustoßen konnte, musste ich Ignatev zu Fall bringen. Er hätte sie umgebracht. Er hat sie von seinen Männern schlagen lassen, um zu erreichen, dass sie mich verrät. Ich habe seine Ermittlungsbeamten erledigt und so viel stichhaltiges Beweismaterial gegen ihn vorgelegt, dass er gezwungen war fortzulaufen, weil ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt worden ist. Er hat einen Killer auf mich angesetzt, und ich bin sicher, dass er sein Bestes tun wird, um Abbey zu töten. Und das nur, um an mich heranzukommen.«
»Wie gedenkst du ihn daran zu hindern?«
»Du bist der Sheriff. Ich halte es für keine besonders gute Idee, das mit dir zu besprechen«, sagte Aleksandr. »Insbesondere, da ich wirklich die Absicht habe, dich um einen Job anzuhauen, wenn Abbey und ich verheiratet sind.«
»Sieh bloß zu, dass du ganze Arbeit leistest«, sagte Jonas.
»Ich mache keine halben Sachen.« Aleksandr sah die Küste vorbeifliegen, während sie in einem ganz beachtlichen Tempo über die Schnellstraße sausten. Die Dünung war kräftig, und hohe Wellen schlugen gegen die Klippen; sie trugen weiße Schaumkronen und ließen die Gischt hoch aufsprühen, wenn das Wasser auf die Felsformationen traf.
»Weshalb sollte Prakenskij Abigail beschützen?«, fragte Jackson.
Es war einer der ersten Sätze, die Aleksandr ihn äußern hörte. Offenbar war er ein eher wortkarger Mann. »Das ist eine gute Frage. Ich weiß selbst nicht genau, woran ich bei ihm bin. Wir sind miteinander aufgewachsen und gemeinsam ausgebildet worden. Er hat hinterher eine andere Richtung eingeschlagen als ich. Seitdem sind wir uns ein paarmal begegnet und aneinander geraten, und anschließend haben wir beide unsere Wunden geleckt.«
»Würde er dich beschützen?«, fragte Jonas.
Aleksandrs erster Impuls bestand darin, es zu verneinen, aber wer wusste schon wirklich, was in Ilja Prakenskijs Kopf vorging? Oft tat er das Unerwartete. Stets waren heldenhafte Gerüchte über ihn in Umlauf. In manchen Gegenden von Russland war er nahezu eine Legende, und sein Name wurde nicht laut ausgesprochen, sondern immer nur im Flüsterton genannt. »Ich weiß es nicht? Weshalb sollte er das tun? Einmal hat er auf mich geschossen, und ein anderes Mal ist er mit dem Messer auf mich losgegangen und hat mich für ein paar Monate außer Gefecht gesetzt.«
»Ist er gut genug, um dich zu verwunden, ohne dir ernsthafte Schäden zuzufügen?«, fragte Jonas.
»Das hängt davon ab, was du unter ernsthaften Schäden verstehst. Prächtig habe ich mich nicht gerade gefühlt, nachdem er auf mich geschossen hatte.« Aber er hatte genau gewusst, dass Prakenskij sich entschieden hatte, ihn nicht zu töten. Prakenskij verfehlte sein Ziel einfach nicht. Er traf ausnahmslos exakt das, was er treffen wollte. Hätte er ihn umbringen wollen, dann wäre Aleksandr auf der Stelle tot gewesen. »Er hat mich absichtlich verfehlt.«
»Und Sie haben ihn absichtlich verfehlt«, sagte Jackson. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Aleksandr war bewusst, dass Jonas ihn im Rückspiegel ansah. Er hatte nicht die Antworten, die sie haben wollten. Etwas tief in seinem Innern brachte ihn dazu, Prakenskij zu verschonen. Vielleicht war es aber auch falsch verstandene Loyalität. Oder möglicherweise lag es sogar an Prakenskijs Magie. Es machte ihm immer noch große Mühe, diese Tatsache zu schlucken. Konnte Prakenskij auch ihn manipuliert haben? Schließlich war er vollkommen sicher, dass der Mann Sylvia manipuliert hatte.
Er fluchte. »Ich weiß es nicht. Es passt einfach nicht zu ihm. Es verträgt sich nicht mit all den Dingen, die ich über Prakenskij weiß. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich mit Terroristen einließe. Über ihn sind Geschichten im Umlauf, von denen ich weiß, dass sie nicht wahr sind, aber viele andere sind wahr und manche noch schlimmer als alles, was berichtet wird. Nikitin hat ihn mal zu einem Treffen mit einer Gruppe von Terroristen geschickt, von denen man annahm, dass sie Bomben an Bahnstrecken platzierten. Personenzüge in die Luft zu sprengen, ist eine Taktik, die eingesetzt wird, um einer politischen Haltung Ausdruck zu verleihen. Das war in den frühen Zeiten, als Nikitin Prakenskij noch nicht allzu gut kannte und keine Ahnung hatte, wie er zu Terroristen steht. Sämtliche Terroristen waren bewaffnet, alle waren gründlich geschult und kampferprobt. Ich habe Fotografien von dem Schauplatz gesehen, nachdem er dort war. Sie waren alle tot, und keiner von ihnen war einen leichten Tod gestorben. Er selber war ohne einen Kratzer davongekommen.«
»Es ist ein Wunder, dass Nikitin ihn nicht hat umlegen lassen«, sagte Jonas.
»Der Meinung war ich damals auch. Ich war besorgt um ihn.« Aleksandr rieb seine Bartstoppeln. Er atmete langsam aus und wägte ab, wie viel er sagen sollte. Abigail vertraute Jonas vorbehaltlos, und es war offensichtlich, dass Jonas Jackson traute. »Ich habe von der Bildung einer Antiterroreinheit munkeln gehört. Von einigen Ländern heißt es, dass sie sich daran beteiligen. Die Informationen werden in einer einzigen Zentrale zusammengetragen« – er zögerte wieder – »die große Ähnlichkeit mit Interpol hat, und sowie entschieden wird, dass sie eine terroristische Zelle gefunden haben, wird ein Exekutionskommando hingeschickt. Die Mitglieder des Teams sind absolut anonym; sie erscheinen unauffällig dort und sind gleich darauf wieder verschwunden. Sie töten jeden, den sie vor Ort antreffen. Soweit ich das verstanden habe, sind sie deshalb absolut anonym, damit sie unerkannt vorgehen können, da die Terroristen sonst mit Sicherheit Jagd auf ihre Angehörigen machen würden.«
Jonas sah ihn mit matten, kalten Augen an. »Wie kommen sie an Informationen, wenn sie nicht wenigstens einen Gefangenen nehmen?«
Aleksandr zuckte die Achseln und gab den ausdruckslosen Blick zurück.
»Verdammt noch mal. Du weißt viel mehr, als du bereit bist zuzugeben.«
»Ich sage es euch doch: Es besteht die Möglichkeit, dass eine solche Einheit existieren könnte, und Ilja Prakenskij könnte dazugehören. Als ich diese Fotografien gesehen habe, ist mir aufgegangen, dass Prakenskij für eine solche internationale Truppe ein ideales Mitglied wäre.«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, das schließlich von Jonas gebrochen wurde. »Und daraus folgt, dass er, falls er zu dieser internationalen Truppe gehört und in deren Auftrag hier ist, verdeckt arbeiten muss. Das ist es doch, worauf du hinauswillst, oder? Du hast diesen Verdacht schon seit einiger Zeit, aber du weißt es nicht mit Sicherheit.«
»Nein, ich weiß es eben nicht. Und falls ich mich irre und er tatsächlich Nikitins Leibwächter ist, dann habe ich mir bereits mehrere Gelegenheiten entgehen lassen, ihn zu töten.«
»Und falls er eine terroristische Zelle verfolgt und sein Job ihn hierher geführt hat, dann heißt das, dass mein Bezirk ein gewaltiges Problem hat.« Jonas schlug mit der Handfläche aufs Lenkrad. »Und wenn er ein Undercoveragent ist, dann hat er mir Chernyshev überlassen, weil er herausgefunden hat, dass Chernyshev Danilov ermordet hat. Chad Kingman war für ihn bedeutungslos.«
»Und er hat uns abgelenkt, damit wir ihm nicht im Weg sind.«
»Hat er Unterstützung?«, fragte Jackson.
»Ich bezweifle es. Ich habe nie erlebt, dass er mit jemandem zusammenarbeitet. An dem Abend, als wir im Caspar Inn waren, wollte er, dass ich Abbey schleunigst aus der Bar fortbringe. Sie hat ihn zu einer Runde ›Wahrheit oder Pflicht‹ herausgefordert und ihm war äußerst unbehaglich zumute.« Aleksandr warf einen Blick aus dem Fenster. »Weit kann es nicht mehr sein. Wir müssen aufpassen, falls sie einen Wachposten aufgestellt haben.«
»Keine Sorge, ich kenne die Gegend«, sagte Jonas. »Nehmen wir mal an, dass du recht hast und Prakenskij zu einer hochkarätigen internationalen Antiterroreinheit gehört, was er natürlich nicht zugeben kann. Dann wäre er nicht draußen auf dem Meer und würde bei der Übergabe zusehen, oder?«
»Nein, ganz bestimmt nicht.« Aleksandrs Stimme klang grimmig. Sein Blick suchte bereits die höchsten Punkte über ihnen ab. »Er wird längst irgendwo hoch oben über dieser Höhle sitzen, mit einem Fernrohr und einem Gewehr, und er wird sie alle umlegen.«
Jonas fuhr den Wagen in ein dichtes Gestrüpp neben einer schmalen Seitenstraße. »Von hier aus gehen wir zu Fuß.«
»Ich schlage mich nach oben durch«, sagte Jackson. »Ihr werdet mir ein paar Minuten Vorsprung geben müssen, damit ich meinen Posten beziehen kann, vor allem, wenn ich damit rechnen muss, dass er dort draußen ist.«
»In meinem Land ist eine Messerklinge oft mit Gift überzogen, damit ein winziger Schnitt, und sei es auch nur ein oberflächlicher Kratzer, tödlich ist.« Sogar in der Deckung des Gestrüpps nahm Aleksandr eine kauernde Haltung ein und sprach mit gesenkter Stimme. »Prakenskij ist beim Angriff mit beiden Händen gleichermaßen geschickt. Ich habe selten jemanden erlebt, der genug Erfahrung gehabt hätte, um im Nahkampf eine Chance gegen ihn zu haben.«
»Ich habe nicht vor, Jagd auf ihn zu machen«, sagte Jackson, »sondern euch beide zu beschützen.«
»Falls Sie doch schießen müssen, sieht er das Mündungsfeuer und weiß genau, wo Sie sind.« Aleksandr wusste nicht, wie er dem Deputy bewusst machen sollte, wie gefährlich Prakenskij wirklich war. Jacksons Augen waren schwarz, matt, kalt und leer. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos und nichts, was der Interpolagent sagte, schien ihn aus der Fassung zu bringen. Aleksandr kannte diesen Blick nur zu gut. Wenn er in den Spiegel schaute, sahen ihn eben diese toten Augen an.
»Jackson weiß, was er tut.« Jonas reichte ihm ein Nachtfernglas. »Möglicherweise kannst du es gebrauchen.«
»Danke.«
»Ich werde sie mit grellem Licht anstrahlen, wenn sie alle ein gutes Stück weit vom Boot entfernt sind«, sagte Jonas und hielt einen Flutlichtscheinwerfer hoch. »Warte, bis ich ihnen gesagt habe, dass sie verhaftet sind.«
»Damit habe ich kein Problem.«
»Dann lass uns jetzt gehen«, sagte Jonas.
Jonas kannte die Gegend gut, und daher blieb Aleksandr hinter ihm und überließ ihm die Führung. Sie hielten sich im Schatten des Laubs und mieden den Mondschein, als sie sich auf dem unebenen Boden einen Weg zum Zaun bahnten. Nacheinander kletterten sie über den Stacheldraht, mit langsamen, flüssigen Bewegungen, um mit den übrigen Schatten zu verschmelzen, die ständig in Bewegung waren. Der Wind begleitete sie und zerzauste sanft die Sträucher, damit sie ständig in Bewegung waren und dazu beitrugen, das Auge eines Betrachters zu verwirren.
Jonas nahm eine gebückte Haltung ein, als der Boden anzusteigen begann. Er bewegte sich jetzt flinker, um schneller voranzukommen und seinen Posten zu beziehen. Aleksandr trennte sich von ihm und begab sich weiter nach links, als sie auf die andere Seite des kleinen Hügels gelangten und es bergab ging. Die Bucht, die sich zwischen zwei Klippen schmiegte, kam in Sicht. Windgepeitschte Zypressen bedeckten die Spitzen beider Klippen, doch ein Felsvorsprung ragte in Richtung Meer und schützte die Bucht vor neugierigen Blicken. Die Gegend war mit Bäumen und Sträuchern und wild wachsenden Blumen überzogen, die überall aus dem Boden schossen. Wellen schlugen auf den sandigen Uferstreifen, aus dem da und dort Felsen ragten. Krumme Gebilde aus Treibholz, die auf dem Sand verstreut lagen, nahmen finstere, unheimliche Umrisse an. Das Tosen des Meeres war laut und hallte durch die geschützte kleine Bucht. Gischt sprühte hoch an den Klippen auf.
Aleksandr kauerte sich hin und kroch so dicht wie möglich an den Rand der Sträucher, die ihm Deckung gaben. Dort standen zwei Felsbrocken dicht nebeneinander, und er nutzte sie zu seinem Vorteil und legte sich flach dahinter, denn die Lücke dazwischen bot ihm einen perfekten Ausblick auf die Bucht und das Meer. Die Vorstellung, dass Prakenskij mit einem Fernglas und einem Gewehr irgendwo über ihm auf der Lauer lag, ließ das allzu vertraute Jucken zwischen seinen Schulterblättern einsetzen. Er rührte sich nicht und machte auch nicht den Fehler, sich nach einer besseren Deckung umzusehen, sondern hielt seinen Blick fest aufs Meer gerichtet.
Die Minuten vergingen. Erst fünfzehn. Dann dreißig. Dann eine Stunde. Die Nachtluft strich kühl über seine Haut. Er warf wieder einen Blick auf seine Armbanduhr. Möglicherweise irrte er sich. Es konnte gut sein, dass sie in der falschen Bucht warteten. Oder dass es die falsche Nacht war, dass er die Zeichen vollständig falsch gedeutet hatte. Er blieb still liegen und war dankbar dafür, dass Jonas sich so professionell verhielt. Der Sheriff gab keinen Mucks von sich.
Der Wind wehte stärker und zerzauste sein Haar und die Gräser um ihn herum. Er hörte leisen Gesang, weibliche Stimmen, die von der Brise zu ihm getragen wurden. Die Worte waren unverständlich, aber die Klänge schlichen sich als Warnung in seinen Verstand ein. Mit einer langsamen und vorsichtigen Bewegung zog er seine Waffe aus dem Halfter und schob sie in die breite Lücke zwischen den beiden Felsbrocken. Sein Winkel zum Strand war günstig, und er konnte das Ufer fast vollständig einsehen.
Aleksandr spürte, wie der Wind sein Gesicht streifte, und er strengte sich an, über die langen Felszungen hinauszuschauen. Die Geräusche eines Motors übertönten das Meeresrauschen. Er atmete langsam aus und steckte seine Finger unter sein Hemd, um sie zu wärmen.
Das Zodiac tauchte auf, glitt schnell über die Wellen und hielt direkt auf den Strand zu. Aleksandr hob das Nachtfernrohr an sein Gesicht und richtete es auf das näher kommende Boot. An Bord waren vier Männer; zwei standen, zwei saßen. Er erkannte drei von den Männern, die AK-47er in den Armen hielten. Sie hatten im Caspar Inn an Nikitins Tisch gesessen. Der vierte Mann war ein Fremder. Er hielt etwas, was ein kleiner Koffer zu sein schien. Der Fahrer steuerte das Boot bis auf den Sand und ritt auf einer Welle so weit wie möglich ans Ufer. Zwei Männer sprangen heraus und zogen das Boot noch höher auf den Strand hinauf.
Die anderen sprangen ebenfalls ans Ufer und liefen eilig auf die Deckung zu, die ihnen das dichtere Gestrüpp bot. Aleksandr behielt den Mann mit dem Koffer im Auge. Er stieg als Letzter aus dem Boot und blieb hinter den drei anderen Männern zurück, die jetzt die AK-47er im Anschlag hatten, während sie sich auteilten und über den Sand zu dem unwegsameren Gebiet eilten. Offenbar beschützten sie den Mann mit dem Koffer.
Aleksandr wollte ihn mit reiner Willenskraft dazu bewegen, sich weiter von dem Boot zu entfernen. Er machte jedoch immer nur wenige Schritte und blieb dann stehen und sah sich nach allen Richtungen um. Die anderen sollten das Gestrüpp erreichen, bevor er die Sicherheit des Boots zu weit hinter sich ließ. Die drei Männer hatten die Deckung fast erreicht. Aleksandr fluchte lautlos in sich hinein. Jonas würde gezwungen sein, den Scheinwerfer auf sie zu richten, doch der Mann mit dem Koffer war noch zu dicht an dem Zodiac und könnte möglicherweise entkommen.
Der Wind drehte ein klein wenig. Er hörte das Stocken in den Stimmen der Frauen. Alarm. Das war die einzige Warnung, die er erhielt. Der Mann mit dem Koffer sackte in sich zusammen und blieb wenige Meter von dem Boot ausgestreckt auf dem Boden liegen. Der Koffer lag neben ihm im Sand. Durch das Nachtfernglas sah Aleksandr den Fleck, der sich wie ein Heiligenschein um seinen Kopf herum ausbreitete.
Schon während Jonas die anderen drei Männer mit dem Flutlichtscheinwerfer vorübergehend blendete, ging ein zweiter Mann lautlos zu Boden, dann der dritte. Der letzte Mann, der noch übrig war, warf sich mit einem Satz nach rechts, doch Aleksandr wusste, dass es bereits zu spät war. Jemand musste ein in Russland fabriziertes VSS-Vintorez-Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer und Unterschallpatronen benutzen. Die Reichweite von Unterschallpatronen war nicht annähernd so weit wie die Reichweite gewöhnlicher Munition; falls es sich bei dem Scharfschützen um Prakenskij handelte, musste er sich also auf dem Felsvorsprung direkt über ihnen verborgen halten.
Der Scharfschütze hatte vier Schüsse direkt hintereinander abgefeuert. Jetzt lagen vier Tote auf dem Sand. Kein Mündungsfeuer hatte seinen Standort verraten. Das Geräusch, das über das Wasser getragen wurde, war nicht das von Schüssen, sondern eher ein leises Rattern, das im Meeresrauschen und im Wind beinah unterging. Aleksandr hielt sein Fernglas weiterhin auf die vier Männer gerichtet, die auf dem Sand lagen, doch keiner von ihnen rührte sich. Vier Schüsse. Vier Tote.
Aleksandr konnte hören, dass Jonas einen Schwall von Flüchen ausstieß. »Was zum Teufel soll ich jetzt mit dieser Sauerei anfangen? Verdammt noch mal.« Er erhob die Stimme. »So was kann man in den Vereinigten Staaten nicht tun, du verdammter Kerl! Ich hätte die Schurken verhaftet. Sie haben das Beweismaterial bei sich. Jetzt werde ich dir die Morde anhängen müssen, falls ich etwas finde, was dich damit in Verbindung bringt.«
Nach diesem Ausbruch war es still. Jonas rührte sich nicht. Er hielt sich vom Licht fern und wartete offensichtlich auf ein Signal von Jackson. Das ließ jedoch lange auf sich warten. Der Deputy musste sich zu dem Felsvorsprung vorarbeiten, von dem die Schüsse gekommen waren. Aleksandr ging auf, dass sie Prakenskij Zeit gaben, zu entkommen, während sie warteten, dass die Luft rein war. Prakenskij musste sich lautlos einen Weg durch das Gestrüpp bahnen, Jackson ausweichen und gleichzeitig vermeiden, auf seiner Flucht eine Spur zu hinterlassen.
Es würde keine Indizien geben. Prakenskij hinterließ nie Spuren seiner Anwesenheit. Nur die Toten, die zurückblieben. Aleksandr war sicher, dass der Russe der Schütze war, aber er würde längst verschwunden und unauffindbar sein. Selbst dann, wenn Jonas Glück hatte und den Mann in die Finger bekam, würde er ihm nie etwas beweisen können. Das Gewehr würden sie auch nicht finden. Wahrscheinlich lag es längst im Meer. Nichts würde zurückbleiben, keine Spur. Das war Prakenskij. Das Phantom, das mehr Legende als Wirklichkeit zu sein schien.
Die Eule schrie. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Jonas fluchte von neuem. »Jackson kann ihn nicht finden. Wir haben keine Ahnung, ob er noch da ist. Ich gehe jetzt und untersuche die Leichen auf Lebenszeichen. Du lässt dich nicht blicken und erschießt den Mistkerl, falls er mich umlegt.«
Der Wind kam vom Meer angebraust. Aleksandr nahm die beruhigende Wirkung wahr. »Er ist längst fort.« Woher die Drake-Schwestern das wussten und wie sie ihm diese Information übermitteln konnten, hätte er nicht mit Sicherheit sagen können, aber für ihn stand ohne jeden Zweifel fest, dass Prakenskij mit der Nacht verschmolzen war.
Jonas trat vorsichtig aus dem Gestrüpp. »Man sollte meinen, eine der Drakes könnte ihn ausfindig machen, falls er tatsächlich so ist wie sie. Sie scheinen es immer zu wissen, wenn eine von ihnen in Schwierigkeiten ist.« Er ging auf die erste Leiche zu. »Ich würde sagen, der Kerl ist tot. Ein Schuss ins linke Auge. In allen vier Fällen das gleiche Bild. Der Kerl macht seine Sache hervorragend.«
Er hob die Stimme. »Jackson, wir müssen den Schauplatz untersuchen. Hast du eine Kamera dabei? Wir müssen uns vorsehen. Ich will nicht in die Nähe dieser Bombe kommen.«
»Im Wagen. Handschuhe auch.« Jackson war noch über ihnen. »Es sind keine Spuren zu finden, Jonas. Der Kerl ist ein Geist.«
»Womit hat er geschossen?«
Aleksandr beantwortete ihm diese Frage. »Mit einem russischen Scharfschützengewehr. Wahrscheinlich ein VSS Vintorez SP-6 mit eingebautem Schalldämpfer und Unterschallpatronen. Für Sondereinsätze entworfen. Die neueren Kugeln können die meisten kugelsicheren Westen durchschlagen, die beim Militär zur Standardausrüstung gehören. Es hängt natürlich von der Entfernung ab.«
»Das hätte ich auch vermutet«, stimmte Jackson ihm zu.
»Ist das Prakenskijs bevorzugte Waffe?«, fragte Jonas barsch. »Wir werden verdammte Probleme haben, zu erklären, was hier vorgefallen ist. Er hätte die Finger davon lassen sollen, verdammt noch mal. Wir hatten die Lage unter Kontrolle.«
»Prakenskij hat keine Vorliebe für eine bestimmte Waffe. Und du hast absolut nichts gegen ihn in der Hand, und du wirst auch nichts in die Hand bekommen. Wenn du ihn zum Verhör vorlädst, wird er ein hieb- und stichfestes Alibi haben, und zwar bestimmt nicht von jemandem, dem du nicht traust. Es wird jemand wie Tante Carol sein. Wahrscheinlich suggeriert er dieser Person, dass sie die ganze Zeit über zusammen waren, und der Betreffende wird fest daran glauben.« Aleksandr zog sich in eine sitzende Haltung hoch, hielt die Waffe aber immer noch in den Händen. »Kein Wunder, dass man sich so viel über ihn erzählt.«
»Bevor wir irgendetwas anderes tun, sollten wir das Bombenräumkommando und das FBI verständigen«, sagte Jonas. Er lief um das Treibholz und die Leichen herum, um zu dem vierten Mann zu gelangen, neben dem er in die Hocke ging. Sorgsam achtete er darauf, keine Spuren zu verwischen und der Bombe nicht zu nahe zu kommen. »Das können wir getrost denen überlassen. Ich möchte eines Tages Kinder haben. Radioaktive Verseuchung finde ich überhaupt nicht komisch.«
Jonas warf einen Blick in Aleksandrs Richtung. »Erkennst du einen von diesen Männern?«
»Die drei mit den Aks-47ern haben für Nikitin gearbeitet. Sie haben im Caspar Inn an seinem Tisch gesessen. Der vierte Mann, aber das ist eine reine Vermutung, dürfte wahrscheinlich zu der Terroristengruppe gehören, die diese Bombe ins Land geschmuggelt haben wollte. Er sollte den Transport übernehmen. Sie wollten Kingman von Anfang an töten. Prakenskij hat ihn uns überlassen, weil er sich ausgerechnet hat, dass seine Chancen, mit dem Leben davonzukommen, bei uns fifty-fifty und bei Nikitin null wären.«
Jonas hatte sich neben den Koffer gekauert. »Chernyshev könnte Prakenskij bestimmt identifizieren.«
»Nicht als unseren Schützen«, sagte Aleksandr.
Jackson reichte Jonas Handschuhe und die Kamera, die er aus dem Wagen geholt hatte. »Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass Chernyshev jemanden identifiziert. Ich habe gerade einen Funkspruch erhalten. Der Einsatzleiter hat gesagt, jemand hätte Toms Wagen von der Straße gedrängt, bevor er die Gefangenen nach Ukiah bringen konnte. Der Deputy liegt im Krankenhaus, aber die beiden Gefangenen sind tot. Beide durch eine Kugel in die Kehle.«
Jonas fluchte wieder. »So viele Leichen haben wir sonst im ganzen Jahr nicht.« Er warf Aleksandr einen finsteren, argwöhnischen Blick zu. »Du scheinst nicht gerade schockiert zu sein.«
»Das ist richtig. Nikitin ist bekannt für seine Vorliebe, jeden umzubringen, der ihn verraten könnte. Kingman und Chernyshev hätten ihn identifizieren können. Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Du hättest mich warnen sollen. Viel hat nicht gefehlt, und ich hätte einen guten Deputy verloren. Tom ist auf alle Fälle verletzt.«
»Ich konnte nicht wissen, dass Nikitin so schnell zuschlagen würde.«
Jonas richtete sich auf und ging vorsichtig über den Sand, während er jede Leiche von allen Seiten fotografierte. »Es könnte Prakenskij gewesen sein.«
»Du weißt genau, dass er es nicht war.« Aleksandr breitete die Arme aus, um die gesamte Bucht zu umfassen. »Das hier ist Prakenskijs Werk. Wir haben die Bombe, und das ist das Einzige, was zählt.«
»Und ich habe einen Schwung Leichen am Hals«, murrte Jonas. »Wir werden die ganze Nacht und den größten Teil des morgigen Tages hier verbringen müssen, um den Tatort abzuriegeln und auf das FBI zu warten.«
»Ich besorge uns Kaffee«, sagte Jackson.