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10.
Harrington«, begrüßte ihn Aleksandr mit ausdrucksloser
Miene, als er durch die Haustür eintrat und Jonas zwang, ihm auszuweichen. »Ist Abbey fertig?«
»Ja, ich bin so weit«, sagte Abigail hastig und versuchte, um Jonas herumzuschlüpfen, der ihr den Weg verstellte. Sie tauschte einen Blick mit Hannah aus und verdrehte die Augen. Mussten sich Männer denn immer derart aufspielen?
Aleksandr streckte einen Arm um Jonas herum aus und nahm ihre Hand. »Du siehst wunderschön aus, bauschki-bau.« Seine Handfläche glitt über ihr Haar, als er sie eng an sich zog.
Sein Akzent war sehr ausgeprägt, und Abigail fühlte sich sofort schuldbewusst, weil sie Jonas von Aleksandrs enormer Sprachbegabung erzählt hatte. Sie spürte, wie seine Finger sich mit ihren verschlangen und seine Körperwärme sie einhüllte, und sie nahm auch seine Muskelkraft wahr, als er sie unter seine Schulter zog. All das war ihr so vertraut. Er roch sogar so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, sauber und maskulin und viel zu sexy für ihren Geschmack.
Sein Körper rieb sich bei jeder Bewegung an ihrem, als wollte er sie beschützen, während sie in die Nachtluft hinaustraten. In der Ferne rauschte das Meer, und sie konnte das Salz in der Luft riechen. Der Himmel war klar, und die Sterne funkelten. Eine Nacht von vollendeter Schönheit, genau das, was sie brauchte.
»Du versuchst dich von mir zu lösen, Abbey.« Seine Stimme war gesenkt, und seine Lippen schmiegten sich an ihr Ohr. »Sag mir, was dir nicht behagt.«
Sie beschrieb mit der Hand ihre Umgebung. »Das hier. Du. Ich. Ich fühle mich in deiner Gegenwart immer so hilflos und verloren, Sasha.«
Er zog ihre Hand an seinen Mund. »Doch nicht in meiner Gegenwart. Solange ich bei dir bin, wirst du niemals hilflos und verloren sein, Abbey.«
Ihre Haut prickelte dort, wo seine Lippen ihre Knöchel berührten. Mit einem Akt nahezu übermenschlicher Disziplin gelang es Abigail, ihm ihre Hand zu entziehen. »Wie kommst du mit deiner Ermittlung voran?«
Er schwieg einen Moment, dann seufzte er resigniert. »Es tut sich etwas. Ich habe ein paar Hinweise. Die Halskette scheint auf den ersten Blick echt zu sein, aber wir haben sie natürlich an die größten Experten weitergeleitet.« Er hielt ihr die Beifahrertür seines Wagens auf.
»Wir?« Sie neigte den Kopf zurück und zögerte einen Moment, bevor sie auf den Sitz glitt. »Hast du noch mehr Leute, die mit dir zusammenarbeiten?«
»Das war nichts weiter als eine Redewendung.«
»Wirklich?« Er schloss die Wagentür, und Abigail hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Diese Empfindung verstärkte sich, als er auf der Fahrerseite einstieg. Seine Schultern berührten sie fast. Er hatte große Hände, und die Finger auf dem Lenkrad erinnerten sie an zu viele andere Dinge. Sie wandte den Kopf von ihm ab und sah aus dem Fenster hinaus. Warum dachte sie an seine Berührungen und an seine Küsse und auch daran, wie er schmeckte und sich anfühlte, statt an seinen Verrat und an seine Lügen? Sie atmete tief ein, sog seinen Geruch in sich ein und nahm ihn in ihren Körper auf. Dann aber hielt sie augenblicklich die Luft an und versuchte, seinen Duft und jede Berührung zu vermeiden. Und sie bemühte sich, nicht wahrzunehmen, dass ihre Hände zitterten und ihr Magen sich voller Erwartung verkrampfte.
Als das Fahrzeug auf die Schnellstraße einbog, nahm Aleksandr wieder ihre Hand und verflocht seine Finger mit ihren. »Du atmest nicht. Wenn du weiterhin die Luft anhältst, werde ich dich von Mund zu Mund beatmen müssen, und wohin das führt, weißt du ja.«
Seine Stimme war so leise und sinnlich, dass sie vibrierend durch ihren ganzen Körper zu hallen schien. Der Gedanke an seinen Mund auf ihrem war gefährlich. Sie erinnerte sich noch daran, wie er sie das erste Mal geküsst hatte. Es war ihr vorgekommen wie ein Brandzeichen, als hätte er ihr einen Teil ihrer selbst geraubt und für immer sein Mal hinterlassen. »Wahrscheinlich würde ich ohnmächtig«, gelang es ihr, mit einem schwachen Lächeln zu sagen. »Und wohin würde das führen?«
»In meine Arme. Dahin, wo du in Sicherheit bist.«
Abigail ließ zu, dass sich das Schweigen zwischen ihnen einige Minuten in die Länge zog. Bei dem Gedanken daran, in seinen Armen zu liegen, wurde ihr schwindlig. Sie schwebte tatsächlich in Gefahr. »Was soll ich heute Abend tun?«
Er presste ihre Hand auf seinen Oberschenkel und hielt sie dort fest. Sie konnte die Form und die Kraft seiner Muskeln durch den dünnen Stoff seiner Hose fühlen. »Deinen Spaß haben, sonst gar nichts. Nikitin mag Musik, und das Caspar Inn hat eine gute Liveband zu bieten. Daher steht zu vermuten, dass er sich dort aufhalten wird. Er wird mich natürlich erkennen, und er wird in Begleitung seiner Leibwächter dort erscheinen, und daher werden wir alle ganz friedlich sein. Ich will sehen, mit wem er redet und wen er bei sich hat. Und anschließend werde ich ihm folgen. Sie müssen sich irgendwo in einem Haus versteckt halten. Ein Hotel wäre ihnen viel zu riskant. Das Haus dürfte ein Mittelsmann für sie gemietet haben.«
»Meine Familie wird wahrscheinlich auch dort auftauchen«, warnte sie ihn. Die Temperatur im Wagen schien zu steigen. Zumindest schoss Glut durch ihren Arm in ihr Gesicht.
Er zuckte die Achseln. »Das wird den Eindruck verstärken, dass wir zum Spaß miteinander ausgehen.«
»Besteht Gefahr für meine Schwestern?«
»Nikitin würde niemals in der Öffentlichkeit Ärger machen. Er hält die Illusion aufrecht, ein ehrlicher und anständiger Geschäftsmann zu sein.«
»Aleksandr, glaubst du, dieser Nikitin ist verantwortlich dafür, dass ein Killer auf dich angesetzt worden ist? Glaubst du, er wird einen weiteren Versuch unternehmen?« Es war ihr unmöglich, die Sorge aus ihrer Stimme fernzuhalten, und daher probierte sie es gar nicht erst.
»Nicht, wenn so viele Leute dabei sind. Und außerdem ist Nikitin nichts weiter als ein Mittelsmann. Er nimmt das Geld entgegen und trifft die Vereinbarungen, aber er würde sich niemals selbst die Hände schmutzig machen. Er sieht sich tatsächlich als Geschäftsmann an und nicht als Verbrecher.« Er lächelte matt. »In meinem Land liegen diese Dinge manchmal sehr dicht beieinander.«
»Diese Dinge liegen auch in allen anderen Ländern manchmal dicht beieinander.« Sie stellte fest, dass sie sich allmählich entspannte, und das war gar keine gute Idee, wenn sie darauf achten musste, sich einen undurchlässigen Panzer zu bewahren. Er hatte das Aftershave aufgetragen, das sie so sehr liebte; es roch markant und verführerisch.
»Leonid Ignatev steckt hinter dem Mordauftrag. Wenn es mir nicht gelingt, ihn zu fassen, werde ich mir für den Rest meines Lebens über die Schulter blicken. Aber das wusste ich schon länger, Abbey. Es ist nichts Neues. Er hat schon andere auf mich angesetzt, aber sie haben mich verfehlt und ich sie nicht.« Er zuckte die Achseln. »So spielt das Leben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, eben nicht. So kann man nicht leben. Früher oder später wird dir jemand auflauern, und du wirst nicht darauf vorbereitet sein.«
Seine Zähne blitzten auf, als er lächelte. »Ich dachte, wenn ich in den Vereinigten Staaten einen Kunstraub untersuche, wäre ich eine Zeit lang in Sicherheit, aber es sieht ganz so aus, als sei ich in ein Hornissennest geraten.«
»Es scheint so. Ich glaube nicht an Zufälle. Wenn hier gestohlene Kunstgegenstände aus Russland auftauchen, dann müssen diese Männer in irgendeiner Form etwas damit zu tun haben, meinst du nicht auch?«
Er nickte, als er von der Hauptstraße auf die Zufahrt zum Caspar Inn abbog. »Ich glaube auch nicht an Zufälle, Abbey. So oder so gelangt nicht viel aus Russland heraus, ohne dass Nikitin früher oder später davon erfährt. Und dann will er seinen Anteil haben.«
»Aleksandr.« Abbey wartete, bis er den Wagen auf dem Parkplatz neben dem Gasthaus geparkt hatte. »Du kannst akzentfrei reden, und doch tust du es nicht. Warum?«
»Weil es von mir erwartet wird, bauschki-bau, und ich würde doch nicht aus dem Rahmen fallen wollen.«
»Nein, natürlich nicht.« Sie seufzte leise. »Warum nennst du mich bauschki-bau? Wo hast du das aufgeschnappt?«
Zum ersten Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, wirkte Aleksandr beinah verletzbar, falls so etwas überhaupt denkbar war. »Das ist ein Kosewort. Es lässt sich nicht übersetzen.«
»Das weiß ich, aber woher stammt es? Warum benutzt du diesen Ausdruck?«
Er drehte sich zu ihr um und schien den gesamten Raum im Innern des Wagens einzunehmen. Seine Finger schlossen sich um ihre. »Das ist wirklich eine alberne Geschichte, Abbey.«
»Erzähl sie mir trotzdem.«
Er fuhr sich mit seiner freien Hand durch das Haar, eine weitere nervöse Geste. Aleksandr Volstov, der Mann mit Nerven wie Stahl. Jetzt war sie wirklich gespannt. Sie hielt seinen Blick fest.
»Es ist lächerlich, Abbey, nichts weiter als ein alberner Name. « Als sie ihn hartnäckig ansah, ohne den Blick abzuwenden, versuchte er, lässig die Achseln zu zucken. »In dem Heim, in dem ich aufgewachsen bin, gab es eine Frau, die wirklich nett zu uns war. Abends oder wenn einer der kleineren Jungen Schmerzen hatte oder sich gefürchtet hat, hat sie uns ein Schlaflied vorgesungen. Manchmal hat sie dann diesen speziellen Ausdruck benutzt.«
»Und das ist das Wiegenlied, mit dem du mich immer in den Schlaf gesungen hast.« Sie hatte einen Kloß in der Kehle. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, wie unterschiedlich sie aufgewachsen waren. Er war ein kleiner Junge in einem Heim mit vielen anderen kleinen Jungen gewesen. Keine Eltern, die sie verhätschelten, und kein Haus, das mit Liebe und Gelächter erfüllt war. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. »Ich liebe dieses Lied.«
Erleichterung blitzte in seinen Augen auf. »Ich auch, aber ich weiß, dass es zu diesen Überbleibseln aus der Kindheit gehört, die wir alle abzuschütteln versuchen.«
»Das macht dich menschlich, Sasha. Ich glaube, du unternimmst große Anstrengungen, um nichts zu empfinden. Das ist wirklich nicht gut für dich.«
»Manchmal ist es notwendig, um zu überleben.«
Es tat ihr in der Seele weh. Sein Leben war so anders als ihres und doch auch sehr ähnlich. »Ich fände es seltsam, wenn du recht hättest.«
»In welchem Punkt?«
»Damit, dass wir beide zusammen sein sollten.« Fast hätte sie sich eine Hand auf den Mund geschlagen, aber die Worte waren ihr herausgerutscht, bevor sie sie zurückhalten konnte. Das rote Höschen musste aus ihr gesprochen haben. Jedenfalls konnte sie ihm einfach nicht so nahe sein, ohne seinen Atem auf ihrer Haut zu spüren und sich nach seinem Körper in ihrem zu verzehren.
»Ich habe recht.«
Ein kleines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Das bildest du dir immer ein. Und jetzt lass uns reingehen, bevor ich mich in noch größere Schwierigkeiten bringe.« Sie öffnete eilig die Beifahrertür und schlüpfte in die kühle Nachtluft hinaus, ehe er sie zurückhalten konnte.
Auch er stieg sofort aus und sein Blick glitt wie üblich über den Parkplatz, das Gebäude und die Straße. Sorgsam und mit peinlicher Genauigkeit. Er nahm jede Kleinigkeit wahr. Prägte sich den Lageplan bis ins Detail ein. Aleksandr schlang einen Arm um Abigail und zog sie hinter einem der vielen großen Sträucher an die Wand. Sein Körper presste sich an ihren, und seine Schultern schirmten sie gegen das Licht von der Veranda ab. Er hielt ihre Handgelenke zu beiden Seiten ihres Kopfs an der Wand fest.
Sie wirkte klein und leicht, und ihre sanften Rundungen waren eng an seine Brust geschmiegt. Erinnerungen stiegen in ihm auf. Die Wärme ihrer Haut, die sich wie Satin anfühlte. Ihr Haar, das wie ein seidiger Wasserfall über ihre Schultern fiel. Wie sie sich anfühlte und wie sie schmeckte. Ihr Mund, der seine Sinne verlockte, sich nach ihr zu verzehren. Ihr Körper, der sich in einem vollendeten Rhythmus unter seinem bewegte.
Er war an die Grenzen seiner Selbstdisziplin gestoßen. Zu viele Monate hatte er ohne ihr Lachen verbracht. Zu viele Nächte ohne den Trost ihres weichen Körpers. Er konnte nicht warten, bis er sie überzeugt hatte. Er wusste, dass er sie nicht hätte drängen dürfen, doch es war zu spät. Mit einem leisen Stöhnen neigte er den Kopf zu ihr.
Ihre Lippen waren kühl und zart und schienen unter seinem Mund zu schmelzen. Er neckte ihren Mund mit seiner Zunge und ließ sie über die Ränder ihrer Lippen gleiten, um sie zu verlocken, sich für ihn zu öffnen. Sein Verlangen war glühend und unbezähmbar. Es schlug ihm seine Krallen in die Eingeweide und breitete sich immer tiefer nach unten aus, raste mit unersättlicher Gier durch seine Adern und ließ seinen Körper in einem unerträglichen Schmerz erstarren.
Er küsste sie wieder und immer wieder und konnte einfach nicht genug von ihr bekommen, sich nicht von ihr losreißen.
Sein Körper stieß sich aggressiv gegen ihren, und er zog sie in seine Arme und riss sie fest an sich. Er war ausgehungert nach ihr. Er bebte vor Verlangen. Und er verspürte den grimmigen Drang, sie für alle Zeiten einfach nur in seinen Armen zu halten.
»Ich will, dass die Zeit stehen bleibt, Abbey. Ich will, dass alle anderen fortgehen und uns beide miteinander allein lassen.« Er flüsterte die Worte in ihr Ohr, ehe sein Mund wieder zu ihren Lippen zurückkehrte. Feuer und Honig, eine Verbindung, der er noch nie hatte widerstehen können. Sie stellte seine ganze Welt auf den Kopf und gab ihm das Gefühl, alles zu haben, was er sich wünschte. Als sei alles, was er tat, lohnend. »Wie machst du das bloß?«, murmelte er und führte ihr Haar an seine Lippen. »Wie bringst du es fertig, dass ich jede Kontrolle verliere, wo sich doch mein ganzes Leben darum dreht, stets die Kontrolle zu behalten?«
»Sag nichts. Küss mich.« Abigail schlang ihm die Arme um den Hals und bewegte ihren Mund auf seinen Lippen, winzige aufreizende Küsse, die dazu gedacht waren, ihn verrückt zu machen. »Noch mal, Sasha. Küss mich noch einmal.«
Ihre Stimme stahl sich an seiner Wachsamkeit vorbei und geradewegs in sein Herz. Der Teufel sollte sie holen für ihre Fähigkeit, ihn in die Knie zu zwingen. Er war immer ein starker Mann gewesen, der auf sich allein gestellt zurechtkam … bis er ihr begegnet war. Jetzt fühlte er sich unvollständig, wenn nicht sogar hilflos und verloren. Er hatte sich nie einsam gefühlt, ja nicht einmal die Bedeutung des Wortes wirklich gekannt, bis sie aus seinem Leben verschwunden war.
Er küsste sie mit jeder Faser seines Wesens, mit jeder Gefühlsregung in seinem Herzen. Wut und Lust, aber in erster Linie Liebe, all das vermischte sich so gründlich, dass er seine Empfindungen nicht mehr voneinander trennen konnte. Abigail Drake hatte seine Seele berührt und war dann aus seinem Leben verschwunden.
»Ach, du meine Güte«, sagte Inez Nelson. »Schaut bloß nicht hin, meine Damen. Diesen jungen Leuten heute fehlt jegliches Anstandsgefühl.«
Abigail wich zurück und versuchte, sich flach an die Wand zu pressen. Sie blickte zu Aleksandr auf und war bemüht, sich kleiner zu machen, in der Hoffnung, dass niemand sie erkennen würde. Die Bemerkung, die Inez von sich gegeben hatte, löste einen Chor von Gelächter und vielstimmiges Kichern aus.
»Abbey! Das Zeremoniell hat gewirkt!«, rief Carol fröhlich und winkte ihr zu.
Röte stieg über Abigails Hals in ihre Wangen auf. Sie wandte den Blick nicht von Aleksandr ab, obwohl ihr klar war, dass sie schuldbewusst wirken musste. »Das kann man wohl sagen, Tante Carol«, erwiderte sie und erstarrte vor Entsetzen, als sie hörte, wie getuschelt wurde und dann von neuem alle im Chor lachten. Das konnte nur bedeuten, dass ihre Tante ganz genau erklärt hatte, worum es sich bei diesem Zeremoniell drehte.
»Was für ein Zeremoniell?«, fragte Aleksandr. »Sei froh, dass du nichts davon weißt«, sagte Abigail. »Müssen wir unbedingt in diese Bar gehen? Du machst dir keine Vorstellung davon, wie anzüglich diese Damen sein können.«
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht zurück. »Ich glaube, ich möchte alles über dieses Zeremoniell hören, das dir solche Sorgen bereitet. Komm schon, lass uns reingehen, bevor die Dinge wirklich außer Kontrolle geraten.«
Abigail war sich seiner glühenden Handfläche, die sie durch den dünnen Stoff ihres Tops fühlte, außerordentlich deutlich bewusst, als sie die Rampe zu der Veranda hinaufstiegen, die sich auf allen Seiten um das Haus zog und zum Eingang der Bar führte. Ihre Lippen waren von seinen Küssen geschwollen, ihre zarte Haut von seinen Bartstoppeln gereizt, die seit dem Vormittag nachgewachsen waren. Ihr Körper brannte und sämtliche Nervenenden prickelten. Das Zeremoniell mit dem roten Höschen war mörderisch, und sie hatte vor, ihre Reaktion auf ihn voll und ganz darauf zu schieben. Wenn sie keine Verantwortung trug, konnte sie sich so schlecht benehmen, wie sie wollte. Und sie hatte große Lust, sich sehr schlecht zu benehmen.
Wie in einem Traum trat sie durch die Tür und begrüßte unzählige bekannte Gesichter, winkte alten Freunden zu und umarmte einige der älteren Frauen mit lächelnder Miene. Doch währenddessen schlich sich unerbittlich Furcht in ihre Seele und erstickte die Lust. Mit Lust konnte sie leben, mit seinen Küssen und seinem Körper ebenso. Aber während sie sich mit Aleksandr einen Weg durch die Menge bahnte, begriff sie, dass sie am Rande eines immensen Abgrunds stand. Ein falscher Schritt und sie würde für alle Zeiten verloren sein.
Sie hatte nie aufgehört, Aleksandr Volstov zu lieben. Nie. Nicht einmal dann, als sie ihn gehasst hatte und so wütend gewesen war, dass sie Nacht für Nacht mit geballten Fäusten in ihrem Bett wach gelegen und sich endlose Foltern für ihn ausgedacht hatte. Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie ihn küssen würde, sowie sie mit ihm allein war, dass sie die Glut in seinem Blick sehen und die Hitze seiner Haut fühlen wollte. Sie hatte sich eingebildet, sie sei so wütend, dass sie sich in diese Wut einhüllen könnte wie in einen Panzer, der sie schützte, aber gegen ihren Willen wogte ihre Liebe zu ihm auf und erschreckte sie zu Tode.
»Stimmt etwas nicht?« Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und beschützte sie mit seinem größeren Körper vor dem Gedränge, während sie auf die kleineren, intimeren Tische am hinteren Ende des Raums zugingen.
Es war ganz ausgeschlossen, sich nicht daran zu erinnern, wie er es angestellt hatte, mit solchen Kleinigkeiten stets dafür zu sorgen, dass sie sich sicher fühlte – und geliebt. Abigail wandte ihr Gesicht von ihm ab und hätte am liebsten geweint, als sie von Erinnerungen an all das bestürmt wurde, was sie verloren hatte.
»Abbey.« Er legte einen Arm um ihre Taille. »Sag mir, was los ist.«
»Ich habe viel zu große Angst davor, dich wieder zu lieben, Sasha.« Sie legte das Geständnis mit leiser Stimme ab. Ihre Kehle war so fest zugeschnürt, dass sie fast erstickte. »Ich kann es mir nicht leisten, dich ein zweites Mal zu verlieren. Und ich kann es mir auch nicht leisten, mich selbst ein zweites Mal zu verlieren. So stark bin ich nicht.« Der Schmerz war so groß, dass sie keine Worte fand, um zu beschreiben, was in ihr vorging.
Aleksandr zog sie enger an sich und bewegte sich mit ihr auf die Tanzfläche, wo er sie ganz selbstverständlich in seinen Armen halten konnte. Er achtete darauf, mit ihr im Schatten zu bleiben. Die Tränen, die in ihren Augen schimmerten, taten ihm weh. Sie passte sich seinem Körper so perfekt an, als sei sie für ihn gemacht, und sie bewegten sich beide im selben Rhythmus, während ihr Gesicht an seiner Schulter begraben war.
»Lass die Vergangenheit hinter dir, bauschki-bau. Du musst dich davon lösen oder wir werden beide als Verlierer daraus hervorgehen. Mein Leben ist besser, wenn du einen Platz darin hast. Und auch dein Leben ist besser, wenn du mir einen Platz darin einräumst.« Sein Kinn schmiegte sich auf ihren Kopf, während seine Arme sie eng umschlungen hielten. »Wenn du mir auch nur ein kleines bisschen entgegenkommst, Abbey, dann können wir es schaffen.«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Wenn sie den Sprung von der Klippe nicht wagte und ihm entgegenkam, war er für sie verloren.
»Ich bin müde, moi prekrasnij. Seit dem Tag, an dem sie dich fortgeholt haben, habe ich keine Ruhe mehr gefunden. Erinnerst du dich noch daran, wie es war, als wir zusammen waren? Dein Körper von meinem umschlungen und du in meinen Armen, während du eingeschlafen bist? Anfangs glaubte ich nicht, dass ich es fertig brächte, jemanden in meinem Bett schlafen zu lassen. Ich traue niemandem, aber bei dir hat es sich ganz von selbst ergeben. Du hast zu mir gehört. In dem Moment, in dem ich dich in meinen Armen hatte, habe ich Frieden gefunden. Erinnerst du dich noch an das Gefühl, Abbey?«
Seine geflüsterten Worte glitten in sie hinein, verharrten dort in der Schwebe und streiften die zerbrechlichen Schranken, die sie zwischen sich und ihm zu errichten versuchte. Die Musik war getragen und verträumt, ein sanfter Blues, der gut zu ihrer melancholischen Stimmung passte. Sie konnte die Gegenwart ihrer Schwestern spüren und wusste, dass sie eingetroffen waren und sich große Sorgen machten, weil sie die Intensität ihrer Gefühle wahrnahmen. Sie schlang ihre Arme um Aleksandrs Hals und bemühte sich, ihrem Vertrauen zu ihm, das sie verloren hatte, nicht nachzuweinen. Er hatte nicht nur ihren Glauben an ihn erschüttert, sondern auch ihren Glauben an sich selbst und an ihre Magie. Die Vergangenheit wollte ihren Griff nicht lockern, und weder ihre Liebe zu ihm noch die Erinnerungen an seinen Verrat wollten von ihr abfallen.
»Ich erinnere mich noch gut daran.« Die Worte, die sie an seinen Hals hauchte, kamen erstickt aus ihr heraus. »Kannst du meinen Schmerz fühlen, Sasha? Er sitzt so tief, dass er nicht aus mir herauskann, und er wird für alle Zeiten in meinem Innern eingesperrt sein.«
Er presste sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ja. Mir geht es genauso.« Sein Gesicht war in ihrem seidigen Haar begraben, als er weiterhin mit ihr im Schatten blieb und sie eng an sich drückte. Auch sein Schmerz war so stark, dass er keine Worte fand, um ihm Ausdruck zu verleihen. Er hatte nie einen anderen Menschen gebraucht, bis Abigail Liebe und Freude in seine trostlose Welt gebracht hatte. Die Pflichterfüllung war sein Leben gewesen und in diesem kärglichen Dasein hatte es Brutalität, Falschheit, Hinterlist und sogar Verrat gegeben. In Abigail war er auf einen gänzlich unerwarteten Schatz gestoßen. Das Wissen, dass er für ihrer beider Qualen verantwortlich war, schmerzte ihn teuflisch. »Es tut mir so leid, Abbey.«
Sie reagierte nicht darauf, und er hatte so leise gesprochen, dass er nicht sicher sein konnte, ob sie seine Worte überhaupt gehört hatte. Er beugte sich über sie und legte seine Lippen an ihr Ohr. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« Er konnte sich nicht erinnern, diese Worte jemals zu einem anderen Menschen gesagt zu haben. Sie jemals ernst gemeint zu haben. Und jetzt wusste er, dass er sie wieder und immer wieder aussprechen würde, bis er das, was er kaputtgemacht hatte, wieder in Ordnung gebracht hatte. Er streifte ihr Ohr mit seinen Lippen. »Es tut mir leid, Abbey. Es tut mir so leid.«
»Ich habe dich gehört.« Ihre Finger schlangen sich um seinen Nacken und streichelten ihn. »Ich habe dich gehört.«
Lichter flackerten, als die letzten Töne des Songs verklangen und Aleksandr Abbey zu den kleineren Tischen am hinteren Ende des Raums führte. Er zog sie an sich und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen. Er selber schaute sich den Raum an und nahm unauffällig und ohne jede Eile eine gründliche Einschätzung vor; er prägte sich den genauen Standort der Möbelstücke, die Lage der Ausgänge und insbesondere sämtliche Gesichter ein. Am Tresen saßen etliche Fischer. Am anderen Ende des Tresen, nahe am Eingang, stand eine größere Gruppe von Einheimischen zusammen und lachte. Paare hielten Händchen, manche im Stehen, andere saßen. Abigails Schwestern saßen gemeinsam an einem Tisch gleich neben dem, an dem sich Carol mit ihren Freundinnen versammelt hatte. Aleksandr wählte bewusst den kleinen Tisch zwischen Abigails Verwandten und Bekannten. Er nahm den Stuhl, von dem aus er den Eingang im Auge hatte, und zog ihren Stuhl zu sich herum, damit sie neben ihm saß und nicht ihm gegenüber.
»Siehst du die Männer an dem Tisch hinter der niedrigen Trennwand?« Er zog ihre Hand an seinen Mund, knabberte an ihren Knöcheln und lächelte sie dabei an. »Schau unauffällig hin und sag mir, ob du einen von ihnen kennst, Abbey.«
Sie hatte längst vergessen, weshalb sie hierher gekommen waren. Abigail legte ihren Kopf an seine Schulter und sah sich um. Die Gäste kamen vorwiegend aus den Kleinstädten in der Nähe, und sie kannte sie nicht alle beim Namen, doch die Gesichter waren ihr bekannt. Sie nickte denen, mit denen sie Blickkontakt aufnahm, zu und lächelte sie an. Die meisten jüngeren Männer starrten Joley und Hannah ganz unverhohlen an. Ein paar Fremde standen an der Bar, scharten sich um die Tanzfläche und hatten in kleinen Gruppen ein paar Tische besetzt. Hinter der niedrigen Trennwand saß eine größere Gruppe von Männern zusammen, die nicht den Eindruck machten, als gefiele ihnen die Musik.
»Sie passen nicht in diesen Rahmen«, sagte sie.
»Nein, und Prakenskij ärgert sich wahrscheinlich grün darüber. « Eine enorme Genugtuung war aus Aleksandrs Stimme herauszuhören. Er öffnete Abigails Hand und drückte ihr einen Kuss mitten auf die Handfläche. »Er spielt gern das Chamäleon, das von keinem bemerkt wird.«
»Prakenskij? Der Mann, von dem du gesagt hast, er sei …«
Er lutschte an einem ihrer Finger und lenkte sie damit ab. Ihr Blick hob sich abrupt zu seinem Gesicht. Sie wirkte argwöhnisch. Gespannt. Interessiert. Er lächelte sie an. »Du schmeckst gut.«
»Du solltest dich besser auf deine Arbeit konzentrieren. Welcher von ihnen ist Prakenskij?«
»Er lehnt mit einer Hand in der Tasche an der Wand und hat deutlich wahrgenommen, dass ich mich im selben Raum aufhalte wie er. Ich werde rübergehen und Nikitin begrüßen müssen. Es könnte mir als schlechtes Benehmen angekreidet werden, wenn ich das nicht täte.« Er sah ihr fest ins Gesicht und bot das Bild eines Mannes, der nur Augen für seine bezaubernde Freundin hat.
Eine kleine zerknitterte Serviette traf Abigails Kopf von der Seite. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Joley ihr Grimassen schnitt.
»Braucht sie Hilfe?«, fragte Aleksandr. »Hat sie vielleicht eine Art Anfall?«
Abigail tauchte die zusammengeknüllte Serviette in ihr Wasserglas und warf sie zurück. Sie hatte so akkurat gezielt, dass die nasse Serviette genau auf Joleys Wange klatschte. »Sie will mich warnen. Dabei geht sie etwa so subtil vor wie ein Nebelhorn.«
»Wovor will sie dich warnen?«
»Nicht wovor. Vor wem. Sylvia Fredrickson ist gerade eingetroffen. Die männermordende Sylvia. Sie ist hier eine Art Institution. Sie mag mich nicht besonders. Auf die Gründe möchte ich lieber nicht genauer eingehen. Es genügt wohl, wenn ich sage, dass mir mit meiner Magie versehentlich ein kleiner Fehler unterlaufen ist, der zum Ende ihrer Ehe geführt hat. Aber nicht nur ihre Ehe ist zerbrochen, sondern auch die ihres Geliebten. « Abigail seufzte.
Aleksandr konnte ihre Körpersprache mühelos deuten. Er hatte sein Leben lang daran gearbeitet, aus einem Gesichtsausdruck und einer Körperhaltung die kleinsten Details abzuleiten. Abigail war nicht wohl dabei zumute, sich mit dieser Frau in einem Raum aufzuhalten. Er warf einen Blick auf den Neuankömmling, eine Blondine mit einem tief ausgeschnittenen Top und üppigen Kurven, die das Dekolletee vorteilhaft zur Geltung brachten. Sie wirkte spröde, lachte zu laut und berührte jeden Mann, während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte.
Aleksandr schlang einen Arm um Abigail. »Sie tut mir leid. Sie ist verzweifelt. Verzweiflung bringt Menschen oft dazu, Dinge zu tun, derer sie sich schämen. Sie führt bestimmt kein leichtes Leben.«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Als sie Mason Fredrickson geheiratet hat, hatte ich gehofft, sie würde ruhiger werden. Mason ist ein anständiger Mann, und er hat sie wirklich geliebt und schien Verständnis dafür zu haben, dass sie das Bedürfnis hat, stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, aber auch ihn hat sie ständig betrogen. Bedauerlicherweise macht sie damit nicht nur sich selbst das Leben schwer, sondern auch allen in ihrer Umgebung.«
Die Band setzte zu einem schnelleren Rhythmus an und augenblicklich drängten sich auf der Tanzfläche lebhafte Tänzer. Aleksandr beobachtete, wie sich Carol den Drake-Schwestern anschloss, die in einem kleinen Kreis miteinander tanzten. Sein Blick fiel wieder auf die Russen, und seine Miene war finster, als sich seine Finger mit Abigails Fingern verflochten. »Mir gefällt gar nicht, wie Nikitin deine Schwester ansieht.«
Sein Kinn rieb sich auf ihrem Handrücken. Abigail empfand diese kleine Geste als sehr sinnlich. Sie nahm seine körperliche Anwesenheit so bewusst wahr, dass sie das Gefühl hatte, jeden seiner Atemzüge spüren zu können. Sie versuchte, unauffällig einen Blick auf Nikitin zu werfen und dabei so zu tun, als sähe sie sich gerade im ganzen Raum um. Währenddessen schmiegte sie sich an Aleksandr und wünschte, sie läge wieder in seinen Armen. Wünschte sich, sie könnte die Zeit zurückdrehen.
Nikitin starrte gebannt auf die Tanzfläche und hatte sich sogar auf seinem Stuhl vorgebeugt. Während sie ihn ansah, gab er jemandem an seinem Tisch ein Zeichen, ohne den Blick von den Tänzern abzuwenden, drückte dem Mann ein Bündel Scheine in die Hand und lehnte sich zurück, um weiterhin auf die Tanzfläche zu blicken. Abigail folgte seiner Blickrichtung und sah, dass seine Aufmerksamkeit Joley galt.
Ihre Schwester war eine wilde und hemmungslose Tänzerin. Als echte Musikerin verlor sie sich in den Rhythmen, ihre Augen strahlten vor Freude und mit den Bewegungen ihres Körpers lieferte sie eine Interpretation der Musik, die ungeheuer sexy war. Während sie sie beobachtete, kam ein Fremder auf Joley zu, stellte sich dicht hinter sie und versuchte, sie mit seinen Bewegungen zu einem noch aufreizenderen Tanz zu provozieren. In dem Moment, als sein Körper sie berührte, wirbelte Joley zu ihm herum und war schlagartig aus ihrer Begeisterung herausgerissen. An Abigails Seite spannte sich Aleksandr an und erhob sich halb von seinem Stuhl.
»Joley kommt allein zurecht«, beteuerte ihm Abigail. »Und die anderen sind auch noch da. Sie wird keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollen, wenn sie nichts weiter als ihren Spaß haben will. Sieh mal, da kommt der Geschäftsführer.« Sie wies mit dem Kinn auf einen Mann, der sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Joley kommt oft hierher, um sich zu entspannen und Musik zu hören. Er wird nicht zulassen, dass jemand ihr den Spaß verdirbt.«
In dem Moment tauchte Ilja Prakenskij aus dem Schatten auf, packte den Mann, der Joley belästigt hatte, und führte ihn von der Tanzfläche. Er tat es lautlos und ohne größere Umstände und ging dabei so geschwind vor, dass niemand etwas davon zu bemerken schien. Joley stand einen Moment lang da und sah hinter den beiden Männern her, die zur Tür hinausgingen. Dann zuckte sie die Achseln, strahlte den Geschäftsführer an und tanzte weiter.
»Was war das hier gerade?«, fragte Abigail. »Vor zwei Sekunden hat Prakenskij noch hinter Nikitin an der Wand gelehnt. Wie konnte er sich so schnell durch die Menge bewegen und warum ist er mir nicht aufgefallen?« Sie beugte ihren Kopf zurück, um zu Aleksandr aufzublicken. »Du bewegst dich auch so. Wie Prakenskij. Manchmal kann ich dich nicht einmal hören oder sehen, und doch bist du plötzlich am anderen Ende eines Raumes.«
Er grinste sie an. »Wir verschmelzen mit unserer Umgebung. Ich hoffe nur, dem übereifrigen jungen Mann ist nichts zugestoßen. Wenn er gerade dazu aufgelegt ist, kann es passieren, dass Prakenskij seiner Arbeit mit allzu großem Enthusiasmus nachgeht.« Er wies auf die Wand hinter Joley, und Abigail runzelte die Stirn, als sie sah, dass der Russe unbemerkt zurückgekehrt war.
»Das ist gespenstisch. Er sieht Joley überhaupt nicht an, aber es behagt mir trotzdem nicht, dass er in ihrer Nähe ist.«
»Er sieht sie. Er sieht alles.«
»Na toll.« Ihre Finger spannten sich fester um seine. »Wie hält man das eigentlich Tag und Nacht aus? Ich bin das reinste Nervenbündel, weil ich mir Sorgen um meine Familie und um dich mache und auch darum, was zum Teufel diese Leute aushecken. Der Mann, dem Nikitin Geld gegeben hat, ist nicht an die Bar gegangen, um Getränke zu besorgen. Er steht oben bei der Band.«
»Es ist gut möglich, dass Nikitin einen ganz bestimmten Musikwunsch hat und die Band bestechen will, den Song seiner Wahl zu spielen. Er gilt als echter Musikliebhaber, und das sähe ihm ähnlich. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Prakenskij hat meine Gegenwart zur Kenntnis genommen und mir bedeutet, dass sie in friedlicher Absicht hier sind.«
»Na großartig. Ansonsten hieße das, sie würden in die Schlacht ziehen?« Sie spielte mit ihrem Glas auf dem Tisch. »Wenigstens haben Tante Carol und die anderen Damen ihren Spaß.«
Als der Song endete, kehrten die Drake-Schwestern an ihren Tisch zurück. Joley folgte ihnen nicht, sondern ging auf Prakenskij zu. Abigail hielt den Atem an. Der Mann war nicht auffallend groß, doch er schien über ihrer Schwester aufzuragen und wirkte durchsetzungsfähig und enorm stark. Aber in erster Linie fiel auf, dass er von einer Aura der Gefahr umgeben war. Das würde ihren Schwestern nicht entgehen.
»Ich würde Ihnen gern ein Getränk spendieren«, sagte Joley, als sie ihn an ihren Tisch mitnahm. »Es war zwar nicht nötig, dass Sie mich gerettet haben, aber trotzdem war es sehr zuvorkommend. Ich danke Ihnen.«
»Sie sollten genauer darauf achten, was um Sie herum vorgeht«, sagte Prakenskij vorwurfsvoll. »Und wenn eine Frau in Ihrer Position durch ihren Tanzstil Aufmerksamkeit auf sich lenkt, dann ist das eine große Dummheit.«
»O Gott.« Abigail schlug sich die Hände vors Gesicht. Es war nicht gerade hilfreich, dass alle Frauen, die an Tante Carols Tisch saßen, seine Worte gehört hatten und in vollständigem Einverständnis nickten.
Joley warf ihren Kopf zurück und ließ ihr Haar in alle Richtungen fliegen. Ihre Augen sprühten Funken. »Ach wirklich? Wie reizend von Ihnen, dass sie mir unaufgefordert unerwünschte Ratschläge erteilen. Verpiss dich, Kumpel.«
»Er hatte ein Messer bei sich. Und K.-o.-Tropfen, um sie Frauen in ihre Getränke zu schütten.«
Joley hatte Prakenskij ihren Rücken zugewandt, doch seine Worte ließen sie aufhorchen. Sie drehte sich langsam wieder zu ihm um. »Wo ist er jetzt? Haben Sie seinen Namen in Erfahrung gebracht?«
»Kannten Sie diesen Mann?«
»Nein, aber manchmal bekomme ich Briefe …« Sie ließ ihren Satz abreißen. »Wo steckt er jetzt?«
»Ich habe ihm vorgeschlagen zu verschwinden, bevor jemand die Polizei holt. Sein Messer und die Tropfen habe ich konfisziert und weggeworfen. Was für Briefe?«
Joley winkte unwillig ab. »Wir hätten den Sheriff rufen und ihn verhaften lassen sollen.« Sie reckte ihr Kinn in die Luft. »Bei Männern wie dem ist es egal, wie man tanzt, sie tun ohnehin, was sie wollen. Das sind widerliche Perverse.«
»Das ist wahr, aber es entschuldigt noch lange nicht, dass Sie die Männer durch die Art, wie Sie tanzen, vorsätzlich in Versuchung führen.«
»Du gehst mir echt auf die Nerven.«
Die Sängerin der Band trat ans Mikrofon, als der Song geendet hatte. »Ich bin sicher, wenn wir sie alle ganz lieb darum bitten, könnten wir Joley Drake überreden, uns etwas vorzusingen.«
Der Geschäftsführer der Bar fuhr sich panisch mit der Handkante über die Kehle und bedeutete dem Bandmitglied, augenblicklich den Mund zu halten, doch er wurde ignoriert.
Abigail fluchte leise vor sich hin. »Das Caspar Inn ist einer der wenigen Zufluchtsorte, die Joley noch geblieben sind. Hier kann sie ihren Spaß haben, ohne Reporter von Revolverblättern oder durchgedrehte Fans fürchten zu müssen. Wenn sie hier sänge, würde das eine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie lenken. Und wenn sich erst einmal herumspricht, dass sie hier gesungen hat, dann wäre diese Bar für sie gestorben.«
»Jetzt wissen wir, warum Nikitin dem Mann Geld gegeben hat. Er hat die Band bestochen, Joley zu bitten, dass sie singt.« Aleksandr lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Das Interessante daran ist, dass Nikitin wusste, wen er bestechen muss – nämlich die Band und nicht die Geschäftsleitung. Er hat im Voraus gewusst, dass der Geschäftsführer das Geld nicht annehmen und sie unter Druck setzen würde. Woher hatte er die Information?«
Die Menge war jetzt außer Rand und Band. Die Leute stampften mit den Füßen und klatschten, um Joley dazu zu bewegen, dass sie auf die Bühne kam. Abigail sah den resignierten Gesichtsausdruck ihrer Schwester.
»Sie können immer noch Nein sagen«, sagte Prakenskij.
»Wie denn?«, fragte Joley und schluckte schwer. Sie holte tief Atem, ging an ihm vorbei und winkte der Menge lächelnd zu.
»Nikitin muss seine Informationen von einem Einheimischen beziehen, von jemandem, der solche Kleinigkeiten weiß. Diese Person müsste eure Familie kennen und wissen, welche Orte ihr gern aufsucht, wenn ihr ausgeht. Erkennst du jemanden an seinem Tisch? Oder jemanden, der in der Nähe steht, nah genug, um mit ihm zu reden?«
Die Band spielte einen Blues, und Joleys Stimme strömte in den Raum, kraftvoll, eindringlich und beschwörend. Ihr Gesang war voller Magie, Kraft und Leidenschaft und floss in die Zuhörer hinein, um sie mit sich fortzutragen.
Abigail ließ Nikitin nicht aus den Augen. Er starrte Joley mit verzückter Aufmerksamkeit an und sprach mit niemandem an seinem Tisch. Als einer in der Runde etwas sagen wollte, hob er eine Hand, um Stille zu gebieten. Als die Kellnerin an den Tisch kam, schickte er auch sie mit einer unwilligen Handbewegung fort.
»Ich glaube, er ist von ihr besessen«, sagte Abigail. »Sieh ihn dir an.«
»Nein, sieh dich in seiner Umgebung um. Du musst hinter das blicken, was offensichtlich ist. Wen siehst du, der dir bekannt vorkommt?«
»Tim Robbins, einen Fischer, den ich oft in Noyo Harbor sehe. Das ist der ältere Herr, der auf der anderen Seite der Trennwand links von Nikitin steht. Tim lebt mehr oder weniger auf seinem Boot. Er kommt manchmal hierher oder treibt sich in der Salt Bar herum.« Abigail sah sich die Gesichter in Nikitins Umgebung an. »Da haben wir Ned Farmer, das ist der Mann, der wirklich vornehm wirkt und auf Tims anderer Seite steht. Er ist Buchhalter und hat viel Geld und besitzt auch eine ganze Menge Land. Ich glaube, er hat Beteiligungen an einigen der kleineren Geschäfte in Fort Bragg und Sea Haven. Er ist schon seit Jahren hier und alle mögen ihn. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Ich bin mit ihnen zur Schule gegangen. Alle drei sind aus unserer Gegend fortgezogen, aber sie besuchen ihn oft.«
»Kommt er häufig hierher?«
»Hierher kommt jeder, Aleksandr. Ich habe ihn schon oft hier gesehen. Im Allgemeinen mit seiner Frau, aber manchmal auch allein.«
»Ist sie hier?«
Abigail sah sich um. »Im Moment sehe ich sie nirgends, aber das Gedränge scheint immer dichter zu werden.«
»Sonst noch jemand?«
»Noch zwei. Die jüngeren Männer, die Joley anstarren.«
»Alle starren Joley an.«
»Einer trägt ein blaues Hemd, der andere ein grünes. Der mit dem blauen Hemd ist Lance Parker, er ist Dachdecker. Der andere ist Chad Kingman, er arbeitet für Frank Warner.«
Joleys Gesang endete, und Beifallsstürme brachen los.
»Sie hat rückhaltlos alles gegeben«, sagte Aleksandr.
»Das ist ihre kleine Rache an der Band. Nachdem die Leute sie singen gehört haben, wird die Band nicht mehr halb so gut dastehen.«
Joley bahnte sich einen Weg durch die Menge zu ihrem Tisch, doch ehe sie sich setzen konnte, war Prakenskij an ihrer Seite. »Mr. Nikitin möchte gern Ihre Bekanntschaft machen. Er bittet Sie, sich ihm an seinem Tisch anzuschließen.«
Joley bedachte ihn mit einem unechten Lächeln. »Vielen Dank für die Einladung, aber ich glaube nicht, dass ich das möchte.«
»Mr. Nikitin ist kein Mann, dessen Wünsche man missachtet. «
»Dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren«, sagte Joley. »Ich weiß es gar nicht zu schätzen, dass er mich in die Zwangslage gebracht hat, vor den Leuten zu singen, wenn ich mit meiner Familie hier bin, um meinen Spaß zu haben. Jetzt laufen Sie schon zu Ihrem Herrn und Meister und richten Sie ihm meinen Dank aus, aber trotz allem lautet meine Antwort nein, danke.«
Aleksandrs Finger schlossen sich um Abigails Handgelenk, um zu verhindern, dass sie aufsprang und sich schützend vor ihre Schwester stellte. Prakenskij verzog keine Miene, sondern wandte sich ab und begab sich zu seinem Boss.
Joley wedelte hinter seinem Rücken mit der Hand und erzeugte einen kleinen Lufthauch, der bewirken sollte, dass Prakenskij stolperte. Stattdessen knisterte und knackte die Luft, und kleine Funken bildeten einen Bogen um ihre Handfläche. Sie jaulte auf und zog ihre Hand eng an sich.
Die Drakes erhoben sich augenblicklich mit schockierten Mienen und stießen Joley hinter sich, um Prakenskij nachzublicken.