11.

Aleksandr drängte sich zwischen die Drake-Schwestern und Prakenskij, obwohl Abigail ihn mit einer Hand zurückhalten wollte. Er hatte keine Ahnung, was hier gerade vorgefallen war, doch die Spannung hatte beträchtlich zugenommen. Joley hielt ihre Hand, als hätte sie sich verletzt.

»Rück von Hannah ab«, beharrte Abigail und zog an Aleksandr. »Geh ihr aus dem Weg. Hannah braucht freie Bahn.«

Die Menge schien um sie herum zu brodeln und ständig in Bewegung zu sein. Laute Musik schallte von der Bühne, und Tänzer wanden sich wild, doch niemand rührte Prakenskij an, und niemand kam in die Nähe der Drakes.

»Ich weiß nur eines«, antwortete Aleksandr, »und das ist, dass sich keine von euch auf einen Kampf mit diesem Mann einlassen will. Setzt euch wieder hin. Alle miteinander. Abbey, komm mit mir. Da wir Nikitin ohnehin unsere Aufwartung machen müssen, können wir es ebenso gut jetzt gleich tun.«

Prakenskij drehte sich nicht zu den Frauen um. Er begab sich ohne weitere Zwischenfälle an den Tisch seines Chefs und beugte sich hinunter, um mit ihm zu flüstern.

Abigail hielt Aleksandrs Arm mit aller Kraft umklammert, weil sie verhindern wollte, dass er dem Russen nachlief, während die Drake-Schwestern lange, bestürzte Blicke miteinander austauschten.

»Wie hat er das angestellt?«, fragte Joley Hannah.

»Tante Carol?«, fragte Hannah.

»Ich weiß es nicht, Mädchen, aber das verheißt nichts Gutes. Ich finde, wir sollten uns so schnell wie möglich auf den Heimweg machen und die Bücher befragen. Ich weiß von Gerüchten, wonach es Männer gibt, die die gleichen Gaben haben wie wir, aber ich bin bisher noch niemand anderem begegnet, der unsere Gaben besaß.« Carol legte ihren Kopf zurück und blickte zu Aleksandr auf. »Was wissen Sie über ihn?«

Abigail kam ihm zu Hilfe. »Wir reden später darüber, wenn wir zu Hause sind, Tante Carol.«

»Selbstverständlich, meine Liebe. Im Schutze des Hauses. Ich werde anscheinend alt, wenn mir ein solcher Fehler unterläuft. Verzeih mir.«

»Das ist doch albern, Tante Carol. Wir waren alle im ersten Moment erschüttert. Keine von uns hat es jemals erlebt, dass unsere Magie von einem Mann zurückgeschleudert worden ist.« Libby legte ihrer Tante einen Arm um die Schultern und wandte sich an Joley. Sie streckte eine Hand nach ihr aus. »Tut es sehr weh?«

Hannah stieß ihre Hand zur Seite, bevor sie Joley berühren konnte. »Nicht hier. Gebt ihm bloß nichts in die Hand, was er gegen uns verwenden kann. Wir sollten jetzt gehen. Abigail, du solltest mitkommen. Hier bist du nicht unbedingt sicher.«

»Er wird ihr nichts tun«, beteuerte Aleksandr den Schwestern. »An meiner Seite ist sie in Sicherheit.« Er nahm eine Bewegung wahr, als Hannah Joley einen Rippenstoß versetzte.

Joley sah ihm in die Augen. »Ich kann dir nur raten, gut auf sie aufzupassen.«

Abigail warf sich ihr Haar über die Schulter. »Mir wird nichts passieren. Ich mache mir eher Sorgen um Joley. Prakenskij ist doch nicht dicht genug an dich herangekommen, um dir einen persönlichen Gegenstand abzunehmen, oder?«

»Ich bezweifle es. Lasst uns von hier verschwinden. Meine Handfläche schmerzt teuflisch, und ich weiß, dass ich die Selbstbeherrschung verlieren und ihm eine Ohrfeige geben werde, wenn er noch einmal mit einer Bitte seines Marionettenspielers an mich herantritt. So ein überheblicher und arroganter Mistkerl. «

»Geh voraus, Sasha. Ich bin wirklich sehr daran interessiert, Mr. Nikitins Bekanntschaft zu machen.« Abigails Stimme klang erbost.

Aleksandr nahm sein Glas vom Tisch und bahnte sich einen Weg durch die Menge zu Nikitins Runde. Er hielt Abigail fest an der Hand. Die Drake-Schwestern, ihre Tante und deren Freundinnen folgten ihnen und winkten auf dem Weg zur Tür Bekannten zu. Als Joley an der Trennwand vorbeikam, hinter der Nikitin und die Männer saßen, die er um sich geschart hatte, streckte Prakenskij einen Arm aus und griff nach ihrer verletzten Hand. Sein Daumen glitt kurz über ihre Handfläche und ließ ihre Hand dann ebenso schnell, wie er sie genommen hatte, wieder los. In dem Moment, als er Joley berührte, knisterte und zischte die Luft um die beiden herum. Auf Aleksandrs Armen stellten sich die Haare auf.

Joley zögerte für einen Sekundenbruchteil, und ihre Blicke waren stürmisch, doch Hannah und die anderen Schwestern drängten sich um sie herum und schoben sie weiter, obwohl sie deutlich erkennen konnten, dass sie es ihm heimzahlen wollte.

Aleksandr ignorierte diese Nebenhandlung, da er nicht noch zusätzliche Unklarheiten schaffen wollte. Er musste sich darauf konzentrieren, möglichst viele Informationen an sich zu bringen. Die Drakes kannten sich mit Magie gut aus. Auf dem Gebiet waren sie die Experten, nicht er. »Wie klein die Welt doch ist, Sergej. Man weiß nie, wo man Bekannte trifft.« Er schüttelte dem Mann die Hand und drehte sich zu Abbey um. »Das ist Abigail Drake.«

»Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, Miss Drake.« Nikitin nickte ihr zu, als erweise er ihr eine große Ehre. »Möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen?«

»Ich möchte nicht stören«, sagte Aleksandr. »Ich wollte Sie nur kurz begrüßen.«

Nikitin bedeutete zwei Männern in seiner Gesellschaft aufzustehen, und einen der beiden Stühle zog er für Abigail zurück. »Ich bestehe darauf, Aleksandr. Wir sind fern der Heimat, und es ist schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen.« Er rückte näher zu Abigail. »Joley Drake ist Ihre Schwester? Sie hat eine wunderbare Stimme. Ich habe kaum jemals eine bessere gehört.«

»Danke. Ich bin sehr stolz auf sie. Ich denke ganz bestimmt daran, meiner Schwester dieses wunderbare Kompliment auszurichten. « Ihre Finger verschlangen sich enger mit Aleksandrs Fingern.

»Seien Sie doch bitte so nett, sie zu bitten, dass sie mir diesen Schnitzer verzeiht. Prakenskij hat mir berichtet, sie sei verärgert gewesen, weil ich sie in die Zwangslage gebracht habe, singen zu müssen. Ich konnte nicht verstehen, wieso eine großartige Sängerin gezwungen sein sollte, den Gesang einer weitaus weniger Begabten über sich ergehen zu lassen. Mich hat gewundert, dass sie nicht schon eher jemand aufgefordert hat zu singen. Das Publikum hätte jubeln und ihrem großartigen Talent huldigen sollen.«

»Sie kommt gern hierher, um sich zu entspannen«, sagte Abigail mit einem gepressten Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Es gibt nur ganz wenige Orte, wo sie das noch kann.«

Sie riskierte einen Blick auf Prakenskij. Aleksandr hielt Sergej Nikitin für den gefährlicheren von den beiden Russen, aber sie wusste, dass er sich irrte. Prakenskij umgab Brutalität, Hinterlist und Tod wie eine zweite Haut. Er ließ sich keinerlei Gefühlsregung ansehen und tat so, als sei es nie zu dem Zwischenfall mit Joley gekommen. Doch sein Blick war auf die gleiche Weise unstet wie Aleksandrs. Er nahm jede Kleinigkeit wahr, die sich im Raum tat. Keinen Moment lang verlor er den Überblick über die Menge oder über die Gespräche, wogegen Nikitin restlos von sich selbst eingenommen war. Und Prakenskij hatte seine eigenen Pläne. Er war Nikitin nicht so treu ergeben, wie sein Boss es sich einbildete. Er ließ es ihm gegenüber an Loyalität fehlen, und er fürchtete sich auch nicht im Geringsten vor dem Mann.

Aleksandr rieb warnend mit seinem Daumen ihren Handrücken, und sie schenkte Nikitin ein weiteres Lächeln. »Aber Sie wissen ja sicher, wie das ist.«

»Ja, natürlich. Das leuchtet mir vollkommen ein. Ich hatte gehört, dass sie manchmal hierher kommt. Deshalb war meine Wahl auf diese Bar gefallen, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie nicht gern singen würde.«

»Ach wirklich? Sie wird sich sehr geschmeichelt fühlen.« Abigail neigte den Kopf und stützte ihr Kinn auf eine Hand, als sie sich etwas weiter zu ihm vorbeugte. »Darf ich fragen, von wem Sie erfahren haben, dass sie gern hierher kommt? Wir dachten nämlich, ihr Geheimnis würde streng gehütet.«

Aleksandr lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nikitin interessierte sich vor allem dafür, mit Abigail über Joley zu reden, und daher konnte er in aller Ruhe den Raum und Prakenskij im Auge behalten. Nikitin hatte schon fast vergessen, dass er überhaupt da war. Der Mann hatte seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Abigail gerichtet, und jetzt ging Aleksandr auf, dass Nikitin nicht einmal den kleinen Schlagabtausch zwischen Joley und Prakenskij bemerkt hatte. Das passte nicht zu seiner Einschätzung von Nikitin. Der Mann galt als Hai, nicht als Elritze.

Abigail war ein Naturtalent, wenn es darum ging, ein Gespräch zu führen; ihre Stimme hatte genau die richtige Tonlage, und ihre Augen waren vor Interesse weit aufgerissen. Er widerstand dem Drang, ihren Künsten durch einen Kuss auf ihre Hand Anerkennung zu zollen. Stattdessen wandte er seine Aufmerksamkeit den beiden Männern zu, die aufgestanden waren, um Aleksandr und Abigail die Chance zu geben, sich mit Nikitin zu unterhalten.

»Es ist nicht schwierig, Informationen über Ihre Schwester zu bekommen. Sie ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Einer meiner Freunde kennt eine Einheimische und hat sie nach ihr gefragt.«

Abigails Finger bohrten sich in Aleksandrs Handfläche, doch sie hielt weiterhin krampfhaft an ihrem Lächeln fest, als sie sich in der Bar umsah und Sylvia Fredrickson suchte. Sie stand in einer Ecke in der Nähe und unterhielt sich angeregt mit mehreren Männern, darunter auch Chad Kingman, Ned Farmer und Lance Parker. Ihre Hand lag auf Chads Arm, und sie war an Lance gelehnt und schmiegte sich so eng an ihn, dass man fast hätte meinen können, sie würde sich jeden Moment an ihm reiben. Gelegentlich legte sie ihre Hand auf Ned Farmers Oberschenkel.

Abigail konnte spüren, dass eine gewaltige Wut in ihr aufstieg, und es kostete sie große Mühe, das Glas in Sylvias Hand nicht mit einer kleinen Geste auszuschütten. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die allgemein gültigen Gesetze und warf in der Hoffnung, dass es genügte, um eine Reaktion hervorzurufen, einen Blick auf die Tür, bevor sie den Russen wieder anlächelte. »Es freut mich sehr, dass Ihnen Joleys Stimme so gut gefällt. Wir finden sie einfach unglaublich.«

»Ich würde sie wirklich gern kennen lernen.« Nikitin hob sein leeres Glas, und augenblicklich sprang einer seiner Männer auf, um ihm einen Drink zu besorgen. »Halten Sie es für möglich, eine solche Begegnung zu arrangieren? Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür. Und ich erweise mich für jede Gefälligkeit erkenntlich. «

Einen entsetzlichen Moment lang wollte sich Abbey auf einen Tauschhandel einlassen und ein Treffen mit ihrer Schwester arrangieren, wenn er im Gegenzug den Killer zurückrief, der auf Aleksandr angesetzt worden war. Dieser Drang brach aus heiterem Himmel über sie herein und traf sie heftig. Die Wände des Raums schienen in Bewegung zu geraten und sie beinah zu zerquetschen. Sie bekam kaum noch Luft und sah vor ihren Augen Worte vorbeischweben, groteske Schlagzeilen, die in Leuchtbuchstaben aufblitzten. Der Drang zu sprechen war so stark, dass sie sich fest auf die Unterlippe biss, weil sie hoffte, der Schmerz würde ihr helfen, wieder zu sich zu kommen.

Nur ein einziges Mal in ihrem Leben war ihr so etwas bisher passiert. Sie und Joley hatten Experimente mit einem Zauber angestellt, um andere zu beeinflussen, und dazu hatten sie einen stetigen Energiefluss benutzt, der nach hinten losging. Plötzlich begriff sie, was hier geschah. Sie lehnte sich zurück, schlug ihre Hände zusammen und wedelte die Luft um sich herum wieder in Prakenskijs Richtung, eine unverhohlene Herausforderung. Ihr Zorn hatte jetzt Oberhand gewonnen, und wenn er Krieg wollte, war sie jederzeit bereit, sich auf einen Kampf mit ihm einzulassen. Er hatte Geheimnisse. Das sagte ihr seine Aura, und die waren bei ihr nicht sicher. Er besaß Macht, aber gegen Magie war er ebenso wenig immun wie sie.

Einer der beiden Männer, die Aleksandr beobachtete, beugte sich über die Trennwand und sagte etwas zu Chad Kingman. Er reichte ihm ein Feuerzeug, und Kingman nickte und ließ es in seine Tasche gleiten. Während er die beiden beobachtete, spürte Aleksandr, dass sich die Luft um sie herum statisch auflud. Abigails Augen glitzerten, als sie Prakenskij ansah. Da er plötzlich fürchtete, was sie tun könnte, nahm er wieder ihre Hand und drückte sie fest. Sie schenkte ihm keinerlei Beachtung.

»Vielleicht sollten wir eine Runde ›Wahrheit oder Pflicht‹ spielen«, sagte sie zu Prakenskij. »Das ist ein wunderbares Spiel, und es macht großen Spaß. Was meinen Sie dazu?«

Sorge flackerte in Prakenskijs Augen auf und erlosch sogleich wieder. Sein Gesicht erstarrte zu einer steinernen Maske. Er deutete eine Verbeugung an und sagte zu Abigail: »Amerikanische Spiele sind nicht nach meinem Geschmack. Aleksandr, sagtest du nicht, ihr beide müsstet demnächst gehen?« Sein Tonfall war liebenswürdig und verriet nicht das Geringste.

Aleksandr packte die Gelegenheit beim Schopf, da er nicht begriff, was sich zwischen Prakenskij und Abigail abspielte, und auf keinen Fall ihr Leben in Gefahr bringen wollte. Er erhob sich und zog Abbey mit sich hoch, sodass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als ebenfalls aufzustehen. »Danke, Ilja.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich habe Abbeys Schwestern versprochen, dass wir rechtzeitig nach Hause kommen.«

»Mr. Nikitin«, sagte Abigail und reichte ihm ihre Hand, »es war mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich werde Joley Ihre Komplimente ausrichten.« Sie ließ Prakenskij keinen Moment aus den Augen.

»Ich werde noch ein paar Tage in der Gegend sein und hoffe, dass sich ein Treffen einrichten lässt.«

»Ich werde Joley Bescheid geben.« Sie ließ sich von Aleksandr zum Ausgang führen. Als sie darauf zugingen, flog die Tür auf und Mason Fredrickson kam herein. Abigail schaute sich rechtzeitig um und sah, dass Sylvia entsetzt zusammenzuckte. Auf ihrer linken Gesichtshälfte hatte sich ein Ausschlag in Form einer leuchtend roten Hand gebildet, und sie sah aus, als hätte sie gerade eine schallende Ohrfeige bekommen. Abbey warf noch einmal einen Blick auf Prakenskij. Er lächelte matt und hob eine Hand zum Abschied.

»Was zum Teufel hat sich da drinnen abgespielt?«, fragte Aleksandr, als sie die Rampe zum Parkplatz hinuntereilten. Ehe sie etwas darauf erwidern konnte, stieß er sie hinter die hohen Sträucher, schlang seine Arme um sie und senkte den Kopf, bis seine Lippen dicht über ihren waren. »Er ist hier draußen.«

»Wer ist hier draußen?«

»Chad Kingman, einer der Männer, auf die du mich aufmerksam gemacht hast. Er hat sich von einem von Nikitins Leuten ein Feuerzeug geborgt und ist rausgegangen, um zu rauchen. Ich will nicht mit dir in den Wagen steigen, bevor er wieder reingegangen ist.«

»Wenn du glaubst, dass ich wie ein Teenager im Gebüsch mit dir schmuse, dann irrst du dich«, sagte Abigail. »Obwohl ich zugeben muss, dass die Vorstellung etwas für sich hat. Aber noch lieber wäre ich für ein paar Minuten Hannah. Dann könnte ich Prakenskij eine kleine Lektion erteilen.«

»Was hat Prakenskij Joley getan? Ihr wart von einem Moment zum anderen alle in Kampfbereitschaft.« Er zog sie enger an sich, bis ihre Körper von Kopf bis Fuß aneinander geschmiegt waren, und dann ließ er seine Hände über ihre Wirbelsäule nach unten gleiten. »Soweit ich das gesehen habe, hat er sie nicht einmal angerührt.«

»Er hat sie nicht angerührt. Es hat kein Körperkontakt stattgefunden. Er ist wie wir. Er besitzt Kräfte, Magie, Gaben, wie auch immer du es nennen willst.«

Das gab ihm zu denken. Er sah sie an, ohne wirklich zu begreifen, was sie ihm damit sagen wollte. »Prakenskij? Du meinst, er braucht nur das Wort Wahrheit zu sagen und jeder offenbart ihm seine Geheimnisse?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er besitzt nicht exakt meine Gabe, eher die von Hannah oder Joley. Vielleicht sogar Elles. Ich kann nur hoffen, dass es nicht Elles Gabe ist. Das wäre nämlich schlimm.«

»Warum?«

»Elle kann alles, was wir können. Sie muss sämtliche Gaben in sich tragen, um sie an die nächste Generation weiterzugeben. Ich habe gesehen, wie er Joleys Handfläche berührt hat, als sie zur Tür hinausgegangen ist. Ich habe keine Ahnung, ob er ihr den Schmerz genommen hat, aber wenn es sich so verhält, dann macht ihn das eindeutig zu einem sehr mächtigen Gegner, denn das hieße, dass er mehr als nur eine Gabe besitzt. «

Aleksandr drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite, um Chad Kingman im Auge zu behalten. Der Mann trat einen Zigarettenstummel unter seinem Schuh aus, sah sich um und schlenderte die Rampe zur umlaufenden Veranda wieder hinauf. Er ging aber nicht in die Bar, sondern beugte sich über das Geländer und blickte zu den Sternen auf.

»Lass mich das mal kurz klarstellen. Du behauptest also, dass Ilja Prakenskij, den ich von Kind an kenne, dieselbe Form von Magie zur Verfügung steht wie dir und deinen Schwestern. «

»Er muss diese Gaben von Geburt an besessen haben, Sasha. Was weißt du über seine Herkunft? Hast du jemals erlebt, dass er etwas getan hat, was andere Leute nicht tun? Etwas, was dir seltsam vorkam? Hat er dir als Kind erzählt, er sei anders als die anderen?«

Aleksandr versuchte sich daran zu erinnern, wie Ilja Prakenskij früher gewesen war, in den Zeiten, bevor sich ihre Wege getrennt hatten. »Er war verschlossen, und er war ein Einzelgänger, aber das galt für uns alle. Er war schnell und stark und einer der Klassenbesten, und daher haben wir gewissermaßen miteinander gewetteifert, aber wir waren Freunde. Er hat mir einmal erzählt, er hätte Brüder, aber die Kinder seien alle in verschiedenen Heimen untergebracht worden. Ich habe keine Ahnung, ob er seine Brüder jemals wiedergefunden und Kontakt zu ihnen aufgenommen hat oder nicht.«

Aleksandr murmelte eine Warnung, als er sah, dass der Russe, der Chad das Feuerzeug gegeben hatte, auf die Veranda trat. Der Mann schaute sich um, stieß beide Hände tief in seine Taschen und kam näher an Chad heran. Chad rückte vom Geländer ab, als der Russe sich neben ihn stellte.

»Nett, dass du mir dein Feuerzeug geliehen hast, Mann«, sagte Chad und gab ihm einen Gegenstand zurück.

Der Russe zuckte die Achseln und nahm entgegen, was er ihm hinhielt, doch er verbarg es in seiner Hand, als er sich abwandte und schleunigst zum Eingang der Bar zurückkehrte. Chad begab sich zu einem Wagen, der auf dem Parkplatz stand. In dem Moment, bevor Chad hinter dem Lenkrad Platz nahm, sah Aleksandr, wie ein Streichholz angezündet wurde. Die Glut einer Zigarette leuchtete kurz auf und dann fuhr der Wagen vom Parkplatz.

»Das war eine sehr schlampige Übergabe«, sagte Aleksandr verblüfft. Er hauchte einen schnellen Kuss auf Abigails Lippen und kam hinter dem Gebüsch hervor. »Weshalb sollte Prakenskij mich ausgerechnet in einem Moment aus der Bar vertreiben, in dem ich zwangsläufig Zeuge einer Übergabe werde?« Er schüttelte den Kopf, während er Abigail die Wagentür aufhielt. »Das leuchtet mir nicht ein. Ilja wusste doch, dass ich es sehen würde.«

»Vielleicht war es ihm wichtiger, mich auf der Stelle loszuwerden, und hat daher in Kauf genommen, dass du Chad beobachtest«, sagte Abigail. »Er hat ein kleines Machtspiel mit mir betrieben und versucht, mich dazu zu bringen, dass ich mich auf einen Handel mit Nikitin einlasse – ich arrangiere ein Treffen mit Joley und er zieht den Killer zurück, den er auf dich angesetzt hat. Es hat mich große Mühe gekostet, gegen diesen Impuls anzukämpfen.«

»Und du glaubst, Prakenskij hat diesen Impuls bei dir ausgelöst? «

»Ich weiß, dass er es war. Er konnte nicht riskieren, sich meinen Fähigkeiten auszusetzen. Dazu hat er zu viele Geheimnisse, unter anderem auch, dass er nicht gerade angetan von seinem Boss ist. Er arbeitet nicht für Nikitin. Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt fähig ist, für jemand anderen als sich selbst zu arbeiten. Seine Aura ist sehr gefährlich und gewalttätig. Der Tod war ihm sehr nah und umgibt ihn.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Deine Aura ist seiner sehr ähnlich.«

»Man muss einen Menschen nicht mögen, um für ihn zu arbeiten. « Aleksandr wendete den Wagen am Ende der Straße und stieß rückwärts hinter einen Schuppen, bevor er die Scheinwerfer ausschaltete, um zu warten. »Er würde nicht wollen, dass Nikitin erfährt, was er von ihm hält, aber wäre das für ihn Grund genug, ihren einheimischen Kontaktmann zu verraten?« Er unterbrach sich einen Moment lang und sah Abigail finster an. »Und meine Aura, was auch immer das sein mag, hat garantiert keine Ähnlichkeit mit seiner.«

Sie lächelte ihn kurz an. »Wenn er sehr starke Gefühle hätte, welcher Art auch immer, dann könnte sie deiner durchaus ähnlich sein. Ich hatte den Eindruck, dass er den Mann verabscheut. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Prakenskij eine echte Bedrohung für Sergej Nikitin darstellt.«

»Wie konntest du ihm all das anmerken?«

»Er hat seine spezielle Kraft heute Abend mehrfach benutzt. Er setzt sie auch ein, wenn er sich einen Weg durch die Menge bahnt. Das stellt er jedoch so subtil an, dass ich es nicht gleich gemerkt habe. Er ist sehr stark und sehr diszipliniert. Aber solche Kräfte hinterlassen unverwechselbare Fingerabdrücke. Wenn meine Schwestern ihre Magie einsetzen, dann weiß ich es, und ich weiß auch, welche meiner Schwestern am Werk war. Der Einsatz von Magie macht denjenigen, der sie verwendet, in einem gewissen Maße verwundbar.«

»Das bewegt sich so weit außerhalb meines Erfahrungshorizonts, dass ich kaum noch mitkomme.« Aleksandr nahm ihre linke Hand und streichelte ihre Finger, auch den, an dem sein Ring hätte stecken sollen. »Ich versuche mich an Ilja zu erinnern, als er noch ein Kind war. Im Rückblick könnte es durchaus zu der einen oder anderen eigentümlichen Begebenheit gekommen sein. Ich habe mich einmal mit ihm unterhalten, und sein Getränk stand mehr als einen Meter vor ihm auf dem Tisch. Ich drehte mich kurz um, und als ich ihn wieder angesehen habe, hielt er das Glas in der Hand. Ich weiß das, weil ich schon damals hart daran gearbeitet habe, Kleinigkeiten wahrzunehmen. Das machte mir Spaß, und auf diese Fähigkeit hielt ich mir auch einiges zugute. Ich wusste, dass das Glas auf dem Tisch gestanden hatte, und ich kam nicht dahinter, wie es in seine Hand gelangt war.« Er zog ihre Hand an seine Lippen und ließ sie zart über die Knöchel gleiten, während seine Zunge ihre Haut kostete. »Und es ist ganz ausgeschlossen, dass du dich besonders gut darauf verstehst, die Aura von Menschen zu deuten, denn meine enthält alle Farben des Regenbogens, wogegen Prakenskijs Aura pechschwarz ist.«

Abigail brach in schallendes Gelächter aus. »Von Auren hast du nicht die geringste Ahnung. Dir könnte man sogar einreden, schwarz sei gut und regenbogenfarben sei schlecht.« Sie zog an ihrer Hand, doch Aleksandr weigerte sich, sie loszulassen. »Ich bin hier diejenige, der es schwerfällt, zu glauben, Prakenskij könnte tatsächlich die Fähigkeit besitzen, derart starke Magie zu verwenden. Abgesehen von meiner Familie ist mir noch nie jemand begegnet, der von Geburt an dieselben Kräfte besessen hat wie wir. Vermutlich war es ziemlich arrogant, zu glauben, wir seien die Einzigen.«

»Sein Kaffee war immer heiß. Er ist nie abgekühlt.« Aleksandr grinste sie plötzlich an. »Wir haben häufig Exkursionen unternommen. Sie sollten dazu dienen, dass wir lernen, jemanden zu beschatten, ohne selbst gesehen zu werden. Einmal mussten wir unter den Augen unserer Ausbilder mit einer Kontaktperson eine Übergabe oder eine Begegnung inszenieren, ohne dass die Ausbilder etwas davon bemerkten.«

»Wie sollte das gehen, wenn sie euch beobachteten?«

»Genau darum ging es bei dieser Übung. Wir sollten lernen, uns so geschickt anzustellen, dass wir jemandem etwas zustecken oder jemanden verfolgen können, ohne ertappt zu werden, und obwohl derjenige weiß, dass er beschattet werden könnte. Ganz gleich, wie lange die Überwachung gedauert hat oder wie kalt die Nacht war – Iljas Kaffee blieb immer heiß, wenn wir gemeinsame Übungen absolviert haben. Ich habe mich damals schon gefragt, wie er das anstellt.«

»Ich weiß, dass du ihn aufgrund seiner Fähigkeiten als Agent mit einer gründlichen Schulung für gefährlich hältst, Sasha, aber der springende Punkt ist, dass er mit seinen Kräften die unglaublichsten Dinge bewerkstelligen kann, und das macht ihn viel gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Er kann unbemerkt ein- und ausgehen, wo er will, indem er Suggestivkräfte benutzt, damit diejenigen, vor denen er verborgen bleiben will, in die andere Richtung schauen. Das heißt noch lange nicht, dass es bei jedem funktioniert, und manchmal ist schon allein der Einsatz von Magie gefährlich, aber er versteht seine Kräfte meisterlich zu nutzen. Das kann ich bereits daran erkennen, wie subtil er vorgeht.«

»Was hat er mit Joley gemacht?«

Abigail seufzte. »Wenn wir wütend sind, sind wir alle nicht frei von dummen, kindlichen Rachegelüsten. Das ist immer noch besser, als aufzubrausen und unsere Selbstbeherrschung zu verlieren. Joley hatte vor, ihn auf dem Rückweg zu seinem Tisch stolpern zu lassen, aber er hat gespürt, wie ihre Magie ihm einen Stoß versetzt, und er hat es ihr mit einem magischen Kräfteschub heimgezahlt. In dem Fall wendet sich die Energie gegen denjenigen, der sie eingesetzt hat. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, glaube ich, dass er den Stoß etwas fester zurückgeworfen hat, als er beabsichtigt hatte, und sie hat sich die Hand verletzt. Wir haben Libby nicht erlaubt, sie anzufassen, weil er sonst Libbys ›Fingerabdrücke‹ deutlich wahrgenommen hätte.«

»Du glaubst also nicht, dass er Joley ernstlich verletzen wollte? « Aleksandr beugte sich vor und sah aus dem Fenster. »Da sind sie. Sie sind mit zwei Autos da. Ich werde trotzdem noch ein Weilchen warten, weil ich vermute, dass sie zusätzlich eine Nachhut haben.«

»Wie meinst du das?«

»Manchmal wartet ein dritter Wagen, um zu sehen, ob die Hauptperson – in dem Fall Nikitin – verfolgt wird. Ilja fährt den zweiten Wagen.« Er rührte sich nicht, als die beiden Wagen vom Parkplatz fuhren. »Es ist immer ein Glücksspiel, auf einen dritten Wagen zu warten, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Ilja, falls er derjenige ist, der für Nikitins Sicherheit verantwortlich ist, diese Vorkehrung nicht trifft, wenn er weiß, dass ich hier bin.«

»Ihr seid gemeinsam ausgebildet worden, Sasha. Er muss also wissen, dass du abwartest, bevor du die Verfolgung aufnimmst. Falls ein dritter Wagen beteiligt ist und dieser dritte Wagen dich zu dem Haus führt, das sie gemietet haben, dann lässt er bewusst zu, dass du sie findest. Und dann solltest du dir Sorgen machen, ob sie dich nicht in eine Falle locken, vor allem, wenn du glaubst, dass Nikitin der Mittelsmann von Leonid Ignatev ist.«

»Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass Ignatev den Killer auf mich angesetzt hat und Nikitin ihm den Mann vermittelt hat.«

»Und Ilja Prakenskij arbeitet für Nikitin. Du hast gesagt, er steht in dem Ruf, ein Killer zu sein.« Abigail seufzte. »Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass Respekt oder sogar Bewunderung in deiner Stimme mitschwingt, wenn du über ihn sprichst.«

»Ich hatte nur wenige Freunde in meiner Kindheit, Abbey.«

Diese schlichte Aussage ging ihr zu Herzen. Wie er das immer wieder schaffte, dieser verfluchte Kerl. Es war ganz ausgeschlossen, zielstrebig an ihren Vorsätzen festzuhalten, wenn er sie tief in ihrem Innersten traf. Sie rieb sich die Schläfen, um ihre einsetzenden Kopfschmerzen zu lindern. »Er ist kein Freund, wenn er versucht, dich zu töten. Du musst auf mich hören, Aleksandr. Wenn er so starke magische Kräfte besitzt, wie ich den Verdacht habe, dann ist er dir gegenüber gewaltig im Vorteil.«

»Wir haben schon mehrfach gegeneinander gekämpft. Ich habe Narben davongetragen. Er hat Narben davongetragen. Wenn er mir haushoch überlegen wäre, warum hätte er seine Kräfte dann nicht gegen mich eingesetzt? Wir haben mit Fäusten und mit Messern gegeneinander gekämpft und sogar mehrfach aufeinander geschossen.«

»Es fällt mir schwer, zu glauben, dass du auf ihn geschossen und ihn nicht getroffen hast.«

»Ich habe ihn getroffen.« Er schaltete den Motor an. »Da ist er, der dritte Wagen.«

»Du hast ihn aber nicht getötet, Sasha. Und das könnte jeder beliebige Barbesucher sein, der nach Hause fährt. Es ist nicht zwangsläufig einer der Russen.«

»Für diese Dinge habe ich ein Gespür. Es ist die Nachhut.«

»Du hast ihn nicht getötet«, wiederholte sie. »Hat er Magie eingesetzt, um deine Schüsse abzufälschen, oder …« Sie unterbrach sich und musterte sein abgewandtes Gesicht. »Du hast ihn absichtlich verwundet und nicht getötet, stimmt’s?«

Er murmelte tonlos einen russischen Fluch vor sich hin. »So sehe ich diese Dinge nicht. Ich war nicht hinter ihm her. Es war nicht mein Auftrag, ihn zu erledigen. Es war nichts Persönliches, und es war auch nichts Geschäftliches. Wir sind einander in die Quere gekommen, sonst gar nichts.« Er zuckte die Achseln. »Das kommt vor. Aber ich habe ihn verletzt. Wenn er tatsächlich die gleichen Fähigkeiten besäße wie du und deine Schwestern, wäre mir das dann gelungen?«

»Wenn er meine oder Libbys Gabe besäße, dann ja. Meiner Meinung nach wäre es bei Hannah schwieriger als bei uns allen, sie zu verletzen, es sei denn, jemand würde sie überrumpeln und sich gänzlich unerwartet auf sie stürzen.«

»Warum nicht Elle?«

»Hannahs Kräfte sind auf ein oder zwei Gebieten sehr konzentriert. Elle trägt alle Elemente in sich und ist daher nicht ganz so stark. Hannah setzt ihre Gaben außerdem täglich ein und arbeitet daran, sie zu stärken. Sie gäbe einen mächtigen Gegner ab. Auch Libby setzt ihre Kräfte häufig ein, aber ich bin nicht sicher, ob sie mit ihrer Gabe in der Lage wäre, jemandem zu schaden.«

»Du glaubst, Prakenskij ist wie Elle?«

»Er hat Anzeichen erkennen lassen, die darauf hinweisen, dass er eine enorme Kontrolle über mehrere Gaben hat, nicht nur über eine. Ich kann einiges, das gilt für uns alle, aber wir sind nicht auf allen Gebieten wirklich gut.«

»Ich vermute, ich sollte jetzt nicht die kühne Hypothese wagen, dass er ein Mann und daher vielleicht stärker ist.«

»Nicht, wenn du die nächsten fünf Minuten überleben willst.«

»Das dachte ich mir schon.« Er lächelte verschmitzt. »Ich käme im Traum nicht auf diesen Gedanken.«

»Das ist auch gut so.« Sie packte seinen Arm, als er von der Schnellstraße auf eine Seitenstraße abbiegen wollte, um dem dritten Wagen zu folgen. »Warte! Nimm nicht diese Abfahrt. Fahr weiter. In dieser Straße sind keine Häuser zu vermieten. Sie macht einen Bogen und führt wieder auf die Schnellstraße zurück. Am besten fährst du zu der Klippe dort oben und parkst.« Sie deutete in die Richtung. »Von dort aus sollten wir sehen können, ob sie nach Süden weiterfahren oder wenden und in Richtung Norden zurückfahren.«

Ohne jedes Zögern tat Aleksandr, was sie gesagt hatte. Er war weit hinter dem Wagen zurückgeblieben und konnte daher sicher sein, dass ihn der Fahrer auf der Schnellstraße trotz des geringen Verkehrsaufkommens nicht entdecken würde. Jetzt schaltete er die Scheinwerfer aus. »Kanntest du einen oder mehrere der Männer, die mit Nikitin zusammen waren? Könnten die Männer darunter gewesen sein, die Danilov umgebracht haben? «

Abigail zog die Stirn in Falten. »Nein. Zumal ich einen der Männer mit meinem Teleskopstock verletzt habe. Wenn ich ihm keinen Knochen gebrochen habe, dann habe ich ihm eine sensationelle Prellung verpasst, und er wird tagelang humpeln. Die Schlagkraft ist enorm. Wenn man einem Hai einen Fausthieb versetzt, dann ist das nämlich nicht allzu wirksam, und daher benutze ich eine kleine Druckluftkonstruktion, die wirklich eine Wucht ist. Wenn du jemanden humpeln siehst, solltest du ihn überprüfen.«

Aleksandr trommelte mit den Fingern auf das Armaturenbrett. »Wonach suchen wir eigentlich? Wir wissen, dass jemand mit einem Frachter Kunstwerke aus Russland hierher bringt und sie in Küstennähe einem Fischerboot übergibt. Die Aussichten, dass sie über Warners Galerie geschmuggelt werden, stehen ziemlich gut. Entweder Warner ist sich dessen bewusst oder er ist es nicht, aber es ist so oder so eine großartige Route. Er transportiert laufend Waren in die Stadt und das Risiko, dass jemand eine seiner Kisten öffnen würde, ist sehr gering.«

»Und selbst wenn seine Kisten geöffnet würden, wer wüsste dann schon, was er da vor sich hat? Er transportiert ständig Kunstwerke und Skulpturen«, sagte Abigail. »Ich würde keinen Unterschied erkennen.«

»Er ist einer der Besitzer des verdächtigen Fischerboots. Aber das gilt auch für Ned Farmer. Ich habe seinen Namen wiedererkannt, sowie du ihn genannt hast.«

Sie lächelte. »Du hattest schon immer ein unwahrscheinlich gutes Gedächtnis für Details. Ich lerne Menschen kennen und kann mich fünf Minuten später nicht mehr an ihren Namen erinnern. Wie machst du das eigentlich?«

Er zuckte die Achseln. »Zum Teil habe ich es mir antrainiert, aber Namen und Orte konnte ich mir schon immer gut merken. Ich kann auch einen Text lesen und ihn mir einprägen. Das kommt mir enorm zugute, wenn man mir Berge von Informationen vorsetzt, damit ich sie auf Querverbindungen überprüfe. « Er beugte sich vor, um aus dem Fenster zu schauen. »Da ist er. Siehst du die Scheinwerfer? Einer ist nicht ganz richtig eingestellt. Der Wagen fährt nach Süden.«

»Warte einen Moment. Die Straße ist ziemlich kurvenreich und gewunden, und wir sind über ihm. In den Kurven werden wir ihn immer wieder sehen.«

Er nickte zustimmend und wartete, bis der Wagen eine scharfe Kehre beschrieben hatte, ehe er wieder auf die Schnellstraße einbog. »Es wäre nützlich, zu wissen, ob Chad Kingman im Versand arbeitet.«

»Das weiß Jonas bestimmt. Und Inez Nelson. Sie weiß alles. Wenn du in ihr Lebensmittelgeschäft gehst, dich ein paar Minuten dort aufhältst und zuhörst, wirst du gleich merken, dass ihr jeder alles erzählt. Alle Einheimischen schätzen ihren Rat. Es ist nicht schwierig, das Gespräch in eine beliebige Bahn zu lenken, aber sie ist schlau, Sasha. Sehr schlau. Ihr kann man nichts vormachen. Täusche dich nicht in ihr. Wenn du glaubst, du kannst sie zum Besten halten, dann liegst du daneben.«

»Sie muss Warner und Ned Farmer kennen. Auch sie ist finanziell an dem Fischerboot beteiligt.«

»Komm bloß nicht auf den Gedanken, Inez könnte etwas Ungesetzliches tun. Sie ist in Sea Haven geboren und aufgewachsen. Ihr Mann war einfach wunderbar, und auch er ist hier geboren und groß geworden. Donald Nelson war ein angesehenes und einflussreiches Gemeindemitglied, und als er vor fünf Jahren gestorben ist, ist Inez in seine Fußstapfen getreten und hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Wachstum kleiner Betriebe zu fördern und bestimmten Ortsteilen zum Aufschwung zu verhelfen. Sie war die Antriebskraft hinter der kleinen Bücherei und dem Theater, und sogar den Park hat sie gesponsert. Es ist absolut ausgeschlossen, dass sie sich auf etwas Illegales einließe.«

»Du setzt solches Vertrauen in deine Mitmenschen, Abbey.«

Sie sah in sein ausdrucksloses Gesicht. Ganz gleich, was sie über Inez oder Frank oder irgendeinen anderen Mitbürger sagte, Aleksandr behielt es sich vor, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Was andere Menschen taten, schien ihn nie zu schockieren. Sie zuckte ein wenig verärgert die Achseln. »Wenn du Lust hast, kannst du sie ja überprüfen, aber damit verschwendest du deine Zeit.«

»Ich überprüfe jeden. Hast du gewusst, dass deine Tante Carol kürzlich mit Frank Warner Kaffee getrunken hat?«

»Ja, das habe ich gewusst. Macht sie das zur Verdächtigen? Um Himmels willen, sie ist gerade erst nach Sea Haven zurückgekommen. Verdächtigst du mich auch?«

»Sei nicht so überempfindlich, Abbey. Ich muss bei jeder Ermittlung gründlich vorgehen.«

»Und was ist mit deinem Freund Prakenskij? Glaubst du etwa nicht, dass er bis über beide Ohren in diese Geschichte verwickelt ist?«

»Nicht zwangsläufig. Nikitin ist natürlich nicht ohne Grund hier. Es könnte aber auch eine ganz einfache Erklärung für seine Anwesenheit geben, wie den Umstand, dass er Joleys Gesang bewundert und gehört hat, dass sie hier zu Hause ist. Vielleicht hat er gehofft, er würde ihr begegnen. Ich weiß, dass er ein großer Musikliebhaber ist, und er ist sehr überzeugt von sich selbst und von seinen Rechten. Er ist der Meinung, dass ihm Privilegien zustehen und dass er ein Anrecht auf Sonderbehandlung hat. Es könnte aber auch sein, dass Ignatev Nikitin auf mich angesetzt hat. Er hat Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass ich demnächst hier auftauchen werde. Daher ist er schon vor mir hergekommen und hat sich hier häuslich eingerichtet. Aber das ist in hohem Maße unwahrscheinlich.«

»Warum?«

»Weil es Nikitin gar nicht lieb wäre, in der Nähe zu sein, wenn der Killer zuschlägt. Er legt Wert darauf, anständig zu wirken.«

Abigail ließ ihren Kopf nach hinten sinken. Sie war plötzlich sehr müde, und die Kopfschmerzen, die sich schon den ganzen Abend angekündigt hatten, ließen ihre Schläfen schmerzhaft pochen. »Was enthältst du mir vor?«

»Ich glaube, Nikitin ist aus einem ganz anderen Grund hier, der überhaupt nichts mit dir oder mir zu tun hat. Ich glaube, es geht um etwas viel Schlimmeres.«

Abigail lief ein Schauer über den Rücken. »Schlimmer als der Versuch, dich zu töten? Was könnte denn noch schlimmer sein?«

»Viele Menschen zu töten.«

»Weshalb sollte Nikitin das tun wollen?«

Er schüttelte den Kopf und fuhr langsamer. Sie kamen dem dritten Wagen, der die Nachhut bildete, immer näher, und das war ihm gar nicht recht. Er blinkte und bog in eine Seitenstraße ab, schaltete die Lichter aus und wendete, um die Auffahrt wieder zu erreichen. »Ich sagte dir doch schon, dass Nikitin ein Geschäftsmann ist. Als solcher hat er keinen Grund, eine größere Gruppe von Menschen zu töten. In seiner Vorstellung vermittelt er lediglich Aufträge. Wir wissen, dass ein großer Teil der gestohlenen Kunstwerke, die Russland verlassen, an diese Küste gelangt. Das heißt, die Route wird schon seit einiger Zeit genutzt, und das weiß Nikitin höchstwahrscheinlich. Es ist anzunehmen, dass er etwas mit den Diebstählen zu tun hat.«

»Dann ist er also in den Kunstraub verwickelt.«

»Solange er Prozente kassieren kann, lehnt er sich zufrieden zurück. Weshalb hätte er Danilov wegen einer Schmugglerroute umbringen lassen sollen? Wenn eine Route zu heiß wird, dann legt man sie einfach still und sucht sich eine andere, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Das sollte niemanden das Leben kosten, es sei denn, es gibt einen Grund dafür, dass sie die Route nicht stilllegen können. Und das müsste ein sehr triftiger Grund sein. Es müsste um sehr viel Geld gehen, denn sonst würde es niemand riskieren, einen Interpolagenten zu töten, und schon gar nicht, wenn bekannt ist, dass ich hier bin.«

»Manche Kunstwerke sind Millionen wert.« Abigail legte ihre Finger auf sein Handgelenk und bedeutete ihm weiterzufahren.

Aleksandr befolgte ihren Vorschlag und setzte den Wagen wieder in Bewegung. »Kunst kann eine Menge Geld wert sein, aber der Verkauf ist nicht zeitgebunden. Weshalb sollten sie keine andere Route einschlagen? Sie könnten ihre Zusammenkünfte problemlos in San Francisco oder irgendwo sonst an dieser Küste einfädeln. Es würde ein Weilchen dauern, bis die neuen Regelungen getroffen sind, aber es ließe sich machen. Also bringen sie etwas ins Land, was auf dieser Route eingeschleust werden muss und auf keine andere Route ausweichen kann, weil bereits alle Vorbereitungen getroffen sind.«

»Wie zum Beispiel?«

»Nikitins Geschäft ist die Gewalt. Er hat Verbindungen zu einem Dutzend Terroristengruppen, und er würde von jeder einzelnen von ihnen Geld annehmen.«

»Ein paar hundert Meter von der Stelle, wo dein Partner getötet wurde, ist die Küstenwache stationiert. Wenn sie mit Terroristen in Verbindung stünden, würden sie dann nicht einen besseren Ort dafür wählen?« Abigail war entgeistert. »Wie kommst du darauf, einen solch kühnen Bogen zwischen Kunst und Terrorismus zu spannen? Ist das nicht ziemlich abwegig?«

»Weil ich Nikitin kenne und weil ich sicher bin, dass Prakenskij nichts von dem Anschlag auf Danilov gewusst hat. Es gibt nur ein oder zwei Dinge, für die Nikitin Ilja nicht einsetzen würde. In der Branche ist allgemein bekannt, dass er Terroristen verachtet. Er hält sie für Feiglinge. Nikitin macht Geschäfte mit ihnen, aber er wickelt sie nie über Prakenskij ab. Ich habe das Gerücht gehört, Nikitin hätte ihn einmal zu einem Treffen geschickt, und als die Polizei dort aufgetaucht ist, waren überall Sprengstoff und Waffen versteckt und etliche tote Terroristen lagen herum, aber von Prakenskij war keine Spur zu finden. Wie viel Wahres an der Geschichte ist, weiß ich nicht, aber wenn Nikitin Prakenskij nicht damit beauftragt hat, meinen Partner zu töten, dann hatte das, was Danilov in jener Nacht herausgefunden hat, mit Terrorismus zu tun.« Er bog wieder auf die Schnellstraße ein.

»Es kommt mir seltsam vor, dass Nikitin jemanden für sich arbeiten lassen sollte, der nicht bereit ist, alle seine Wünsche zu befolgen. Nikitin scheint mir ein in hohem Maße von sich selbst eingenommener Mann zu sein, der sehr gewalttätig ist und darauf besteht, dass man tut, was er sagt.«

»All das trifft auf ihn zu, Abbey.«

Er wirkte müde. Sie drehte den Kopf zu ihm um und sah ihn an. »Bringst du mich nach Hause?«

»Ich möchte, dass du mit mir kommst. Zu mir.« Er griff nach ihrer Hand, und sein Daumen, der über ihre Haut glitt, sandte ihr einen kleinen Schauer über den Rücken. »Ich habe ganz nah am Strand ein kleines Häuschen gemietet.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht tun.«

Er hielt ihre Hand fester, als hätte er Angst, sie könnte sich ihm entziehen. »Ich habe die Wahrheit gesagt, als ich dir erzählt habe, dass ich schon lange nicht mehr richtig schlafen kann. Ich stehe jede Nacht mehrmals auf. In manchen Nächten mache ich mir gar nicht erst die Mühe, ins Bett zu gehen. Ich laufe im Zimmer umher und spiele mit dem Gedanken, dich anzurufen, und ich überlege mir, was ich sagen würde, wenn du ans Telefon kämest. Manchmal schreibe ich dir Briefe, die ich gar nicht erst abschicke, weil ich weiß, dass du sie ohnehin nicht lesen wirst. Ich bin müde, bauschki-bau, und ich kann nicht schlafen, ohne dich in meinen Armen zu halten. Leg dich wenigstens zu mir. Ich schwöre dir, dass ich nichts tun werde, was du nicht willst.«

»Du weißt genau, was ich wollen werde, wenn ich allein mit dir im Bett bin. Ich konnte dir noch nie widerstehen, Sasha.«

»Ich bin dir gegenüber vollkommen ehrlich. Ich brauche dich, Abbey. Komm mit mir nach Hause.«