9.

Abigail konnte hören, wie sie alle anfingen zu kichern, als sie die Treppe hinunterkam. Ihre Tante sagte etwas und dann wurde ein feierlicher Singsang angestimmt. Ihre Schwestern hatten sich eindeutig zu einem Ritual zusammengetan, und nicht eine von ihnen hatte sie zu diesem Spaß hinzugerufen. Verärgert stapfte sie ins Wohnzimmer.

Hunderte von Kerzen flackerten und warfen tanzende Schatten auf die Wände. Ihre Schwestern und ihre Tante bildeten einen Kreis mitten auf dem Fußboden, wo sieben rote Kerzen aufgestellt waren, eine vor jeder von ihnen. Abigail schnappte nach Luft. »Oh nein! Was tut ihr da?« Sie trat einen Schritt näher und stellte zu ihrem Entsetzen fest, dass in der Mitte des Kreises ein rotes Spitzenhöschen lag. »Wehe, das gehört mir!« Es sah aus wie ihres. Es sah sogar exakt so aus wie ihres. »Das würdet ihr nicht wagen!«

Die Frauen blickten auf. Sie strahlten von einem Ohr zum anderen und konnten sich vor Lachen nicht mehr halten, als sie Abigails entrüstete Miene sahen.

»Ich weiß, dass ihr mir keine Unterwäsche aus meiner Kommode stehlen würdet.«

»Natürlich nicht«, sagte Hannah selbstgerecht. »Wir würden dein Zimmer nie auch nur betreten.«

Abigail stemmte die Arme in die Hüften und sah sie finster an. »Ich habe dieses Höschen nie getragen. Gekauft habe ich es schon vor Monaten, als ich mir vorgenommen habe, über Aleksandr wegzukommen, aber dann habe ich entschieden, ich sei noch nicht so weit. Ihr könnt also nicht behaupten, ihr hättet dieses Höschen im Wäschekorb gefunden.«

»Wir sind so gut wie fertig.« Hannah hielt ihre Finger hoch und wandte sich wieder dem Kreis zu. Sechs der sieben roten Kerzen brannten. Nur die Kerze, die vor Hannah stand, fehlte noch. Die Frauen stimmten feierlich den Text des Rituals an.

 

Knallrote Spitze entfesselt Gelüste
Lockt den prachtvollen Deckhengst an herrliche Brüste

 

Lüsterne Liebe auf Boden und Stuhl
Auf dem Tisch und darunter im sündigen Pfuhl

 

Das Feuer verschlingt, lässt die Sinne entflammen
In der Glut des Verlangens ruft er deinen Namen

 

Als sich ihre Stimmen in harmonischen Akkorden miteinander verbanden, zündete Hannah die letzte rote Kerze an, sodass jetzt um das Spitzenhöschen herum sieben Flammen brannten.

Abigail schlug sich einen Moment lang die Hände vors Gesicht. »Ich kann es einfach nicht glauben. Das darf doch nicht wahr sein.« Sie sah ihre jüngste Schwester finster an. »Die anderen kann ich ja noch verstehen – vor allem Hannah und Joley und sogar Tante Carol –, aber du, Elle?«

Elle strahlte sie an. Sie wirkte alles andere als reumütig. »Du brauchst das Höschen ja nicht anzuziehen, Abbey, aber es kann doch nicht schaden, wenn du es für alle Fälle bereitliegen hast.«

Hannah schloss das Zeremoniell damit ab, dass sie um das rote Höschen eine Schriftrolle wickelte, auf der die Worte und die entsprechenden Symbole des Rituals standen. Dann versiegelte sie das Blatt mit einem Tropfen Wachs von jeder roten Kerze. »Bitte sehr, Abbey«, sagte sie strahlend. »Denk nur daran, sehr vorsichtig zu sein, wenn du es anziehst. Dann kann nämlich so gut wie alles passieren.«

Abigail verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken. »Ihr werdet alle noch ganz großen Ärger kriegen. Ich habe vor, mich zu rächen. So geht das doch wirklich nicht! Wie kommt ihr überhaupt an mein brandneues Höschen, wenn ich es sogar vor mir selbst versteckt habe?«

Hannah zuckte die Achseln. »Es kam die Treppe heruntergeschwebt und ist mitten in unserem Kreis gelandet.«

Abigail sah Joley finster an. »Du! Du hast mich verraten, du heimtückische Hexe. Das hast du mit deinem magischen Gesang getan. So etwas ist ungeheuer gefährlich«, sagte sie und deutete auf Hannahs ausgestreckte Hand, »und erst recht, weil ich heute Abend mit ihm ausgehen werde.«

Hannah ließ ihren Arm sinken, obwohl sie das Spitzenhöschen immer noch in der Hand hielt. Das fröhliche Funkeln in ihren Augen erlosch. »Was soll das heißen, du gehst heute Abend mit ihm aus? Mit ihm? Aleksandr? Dem Mistkerl, der dich zum Weinen gebracht hat? Etwa mit ihm? Das Zeremoniell war für den Fall gedacht, dass du mit einem anderen Mann ein Rendezvous hast. Aber bestimmt nicht für ihn.«

»Es ist nicht direkt ein Rendezvous«, verbesserte sich Abbey. »Er braucht mich heute Abend. Ich soll mit ihm ins Caspar Inn gehen.«

»Ach, wirklich? Tanzen macht immer Spaß.« Joley zog die Augenbrauen hoch und sah Hannah an. »Ich hätte große Lust, heute Abend tanzen zu gehen. Was ist mit dir?«

»Ihr könnt nicht dort hingehen«, sagte Abigail. »Keine von euch. Es könnte gefährlich werden. Joley, auf dich ist bereits geschossen worden und du warst gezwungen, durch eine Felsröhre unter Wasser in eine Höhle zu schwimmen.«

»Ich bin genau derselben Meinung wie Tante Carol. Erinnerungen sind etwas Tolles. Ich werde Fotos von der Bucht machen, und diese Erfahrung in Form von einem Eintrag in mein Tagebuch festhalten«, sagte Joley und zwinkerte ihrer Tante zu. »Ich sagte dir ja schon, dass ich vorhabe, ein Sammelalbum anzulegen.«

»Ich verbiete euch allen, das Caspar Inn aufzusuchen.«

»Sie spielen wirklich gute Musik dort«, hob Sarah hervor.

»Wenigstens von dir hätte ich Hilfe erwartet«, jammerte Abigail. »Was habt ihr bloß alle? Mit euch stimmt doch etwas nicht. Es könnte wirklich sehr gefährlich werden.«

»Und genau deshalb sollten wir alle dort sein«, sagte Joley. »Aleksandr der Große hat nicht gut genug auf dich aufgepasst, und deshalb kommen wir alle mit, um dafür zu sorgen, dass jemand auf dich aufpasst.«

»Schließlich gehen wir doch öfters dort tanzen«, fügte Kate hinzu. »Für uns ist das ganz normal. Die Leute erwarten es regelrecht von uns. Matt wird seinem Bruder Danny wahrscheinlich vorschlagen, dass er Trudy Garret mitnimmt. Die beiden sind verlobt. Ich habe ganz vergessen, euch das alles zu erzählen. Sie wird allerdings einen Babysitter für Davy finden müssen, das ist ihr kleiner Sohn, aber wenn ich sie jetzt gleich anrufe, kann sie sicher mitkommen.«

»Je mehr wir sind, desto fröhlicher wird es zugehen«, sagte Joley. »Was ist mit dir, Tante Carol? Meinst du nicht, einige der Damen von deinem Club der Roten Hüte hätten auch Lust mitzukommen?«

»Das klingt verlockend, meine Liebe. Und Reginald könnte ich auch fragen, ob er mitkommt«, sagte Carol.

»Reginald?« Die Drake-Schwestern tauschten fragende Blicke aus.

»Ich glaube, ihr nennt ihn den ollen Mars«, sagte Carol mit einer gewissen Schärfe in ihrer Stimme.

Das Schweigen zog sich in die Länge und wurde drückender. Die Kerzen flackerten. Die Schwestern sahen Sarah an. Sie räusperte sich. »Tante Carol, meine Süße. Du spielst doch nicht etwa mit dem Gedanken, dich für den ollen … äh … Mr. Mars zu interessieren, oder?«

»Und warum nicht? Er ist eine ganz beachtliche Erscheinung, und in seiner Jugend hatte er einen herrlichen Sinn für Humor. Ich habe ihn an seinem Obststand getroffen, und wir haben eine Stunde lang miteinander geplaudert. Er war recht charmant und hat sich sehr gefreut, mich zu sehen.

»Aber Tante Carol«, protestierte Kate.

»Er hat außerordentlich großes Interesse an meiner Arbeit gezeigt und einen Termin für einen Workshop mit mir vereinbart, den ich in seinem Haus veranstalten werde. Er lädt die Damen vom Club der Roten Hüte ein, und wir werden mehrere Seiten für ihre Alben zusammenstellen.«

»Ich wusste gar nicht, dass er irgendwo ein Zuhause hat«, sagte Joley.

Carol schlug ihr eine zusammengerollte Zeitung auf den Kopf. »Das finde ich gar nicht komisch, junge Frau. Reginald ist ein wunderbarer Mann, und sein Haus ist ganz reizend.«

»Soll das etwa heißen, der olle Mars wird Leute zu sich nach Hause einladen und gemeinsam mit ihnen ein Sammelalbum anlegen?«, fragte Abigail ungläubig.

»Ich begreife nicht, warum ihr euch alle so albern benehmt«, sagte Carol. »Ich bin schon vor Jahren mit ihm ausgegangen, noch vor Jefferson. Ich habe ihm das Herz gebrochen, obwohl das gar nicht meine Absicht war. Die Entscheidung, bei welchem von beiden ich bleibe, war ziemlich schwierig. Ich war mit beiden verlobt, aber als meine Mutter dahinterkam, musste ich natürlich eine Wahl treffen. Ich habe tagelang geweint.«

Abigail ließ sich neben Hannah auf den Boden sinken. »Du bist tatsächlich regelmäßig mit ihm ausgegangen?«

»Und hast um ihn geweint?«, fragte Joley.

»Mir wird schwindlig«, sagte Hannah.

Abigail nahm Hannah das rote Höschen in der Schriftrolle ab. »Vielleicht sollten wir es besser dir geben, Tante Carol.«

Joley umklammerte ihr Bein. »Abbey! Sei still! Tante Carol, du kannst unmöglich mit diesem Mann schlafen. Das ist mein Ernst. Er hat Probleme mit seiner Aggression. Er könnte dich ermorden und deine Leiche ins Meer werfen.«

»Er wirft sogar mit Obst nach Leuten«, bestätigte Sarah.

»Das macht ihn noch lange nicht zum Serienmörder«, sagte Carol.

»Moment mal.« Libby hob eine Hand. »Du warst mit beiden verlobt? Zur gleichen Zeit?«

Carol seufzte und strich ihr Haar glatt. »Schon gut, ich weiß ja selbst, dass das nicht richtig war. Ich hätte es nicht tun dürfen, aber sie waren beide so wunderbar. Zwei starke, gut aussehende Männer, die mir zu Füßen gelegen haben. Ich konnte keinem von beiden widerstehen.«

»Tante Carol.« Libby wählte ihre Worte sorgsam. »Hast du noch mehr Workshops geplant?«

»Tja, also, Inez möchte, dass bei ihr ein Kurs stattfindet, und Donna natürlich auch. Ich habe bei Irene reingeschaut, um sie zu begrüßen, und Drew hatte Interesse daran, ein eigenes kleines Album anzulegen, und daher habe ich ihm meine Hilfe zugesagt. Und Frank Warner bin ich auch über den Weg gelaufen.« Sie blickte in die Gesichter ihrer Nichten auf. »Es war reiner Zufall. Er ist mir auf dem Bürgersteig entgegengekommen, und das war auch gut so. Ich bin nämlich gerade in einen Spalt zwischen den Steinen getreten und wäre fast hingefallen. Ich habe mir den Knöchel verknackst, aber zum Glück hat er einen Sturz verhindert und mir dann geholfen, ins Sidewalk Café zu humpeln. Wir haben Kaffee getrunken und miteinander geplaudert.«

»Jonas hat dir doch gesagt, dass du dich von ihm fernhalten sollst«, sagte Sarah vorwurfsvoll.

»Hätte ich ihn etwa abweisen sollen, nachdem er so nett zu mir war?« Carol wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. »Auf jeden Fall hat sich alles ganz hervorragend ergeben. Reginald kam vorbei und hat uns zusammen gesehen, und das hat garantiert seine Aufmerksamkeit geweckt, und Frank hat mich zu sich nach Hause eingeladen, damit ich mir seine Sammlung ansehe.«

»Und weshalb hat er das getan?«, fragte Kate argwöhnisch. »Er hat nie eine von uns eingeladen, um ihr seine Sammlung zu zeigen.«

»Tja, meine Liebe, er wusste schließlich, dass ich sein Interesse teile. Ich habe ihm erzählt, Fotografie sei mein Hobby, und ich habe ihn gefragt, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich an seiner Sammlung übe. Es ist nämlich viel schwieriger, als man allgemein annimmt, tolle Aufnahmen von Kunstwerken zu machen. Ich habe ihm erzählt, ich würde ihm die Fotografien in ein Album kleben und die Negative gleich daneben. Er war äußerst entgegenkommend.«

»Hör mal, Tante Carol«, sagte Hannah, »du glaubst, du seist vor Jonas sicher, weil du seine Lieblingstante bist, aber selbst das wird ihn nicht aufhalten. Er wird dir eine grässliche Szene machen. Er wird dich schimpfen und alles tun, damit du dich schuldbewusst fühlst.«

Carol lächelte heiter und gelassen. »Das ist ganz ausgeschlossen. Schuldgefühle zählen zu den Dingen, die ich mir nur in den seltensten Fällen gestatte. Ein sehr anstrengendes Gefühl, das für nichts gut ist. Manche Menschen lassen sich regelrecht gehen und suhlen sich in ihren Schuldgefühlen. Ich ziehe es vor, nach vorn zu blicken und mein Leben zu leben. Jonas kann schimpfen, so viel er will, aber es ist nun mal so, dass ich gerade erst angefangen habe, alte Bekanntschaften in Sea Haven wieder aufzufrischen, und Frank gefällt mir recht gut.«

Joley hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts davon hören. Jedes Mal, wenn wir nach Hause kommen, müssen wir uns auf seinen dämlichen Partys blicken lassen. Ich glaube sogar, er veranstaltet sie nur dann, wenn wir nach Hause kommen, damit er sich mit unserer Berühmtheit schmücken kann. Ich verabscheue diese Partys. Wir müssen uns in Schale werfen und uns unter Massen von Leuten mischen, die wir nicht kennen und denen wir nie mehr begegnen werden.«

»Deine Ausdrucksweise ist grauenhaft, Joley. Und in deiner Branche solltest du es gewohnt sein, dich mit Fremden abzugeben«, schalt Carol sie aus. »Außerdem ist es zum Wohl der Gemeinde, und das gehört sich auch für eine Drake.«

Joley lächelte schelmisch. »Also gut, wenn du dich unbedingt mit dem Mann einlassen willst, von mir aus. Wenn er die Türen seines piekfeinen Hauses für den Workshop öffnet, schaue ich dann auch mal rein und sehe zu, ob es mir gelingt, ein wenig rumzuspionieren.«

»Das wirst du unter gar keinen Umständen tun!«, sagten Carol und Sarah gleichzeitig.

»Wie kommt es eigentlich, dass alle anderen Schnüffler spielen und ihren Spaß haben dürfen, nur ich nicht? Vielleicht sollte ich dieses rote Höschen an mich nehmen. Abbey braucht es ohnehin nicht.« Sie schnalzte mit den Fingern und streckte ihre Hand aus.

»Finger weg, Schwester!« Abbey stellte fest, dass sie schon wieder lachen konnte. So war es nun mal in ihrer Familie. Wenn sie alle zusammen waren, gelang es ihren Schwestern selbst dann, wenn sie sich ganz besonders mies fühlte, sie zum Lachen zu bringen. »Da wir gerade von roten Höschen reden, Tante Carol, dieser Zauberspruch kann aus keinem Buch mit Zauberformeln stammen. Er ist viel zu albern. Woher stammt er dann?«

Carol fiel in das Gelächter ein, bis ihr Blick auf Hannah fiel. »Ich wette, du probierst ständig etwas Neues aus, stimmt’s, meine Liebe?«

Hannah hob beide Hände. »Diesmal bin ich absolut unschuldig. Ich war es nicht.«

»Nein, du warst es nicht. Es war deine Tante Blythe. Sie besitzt dieselbe Gabe wie du, und eines Abends kam eine unserer liebsten Freundinnen in Tränen aufgelöst zu uns. Versteht ihr, sie hatte ein schweres Leben. Sie hat für ihren Vater gesorgt, der sehr krank war, und sie hatte schon seit einer ganzen Weile kein zärtliches Rendezvous mehr gehabt. Seit Jahren, um genau zu sein. Daher wollten wir sie zum Lachen bringen und ihrem Selbstbewusstsein auf die Sprünge helfen. Und so hat sich Blythe das Zeremoniell mit dem roten Höschen einfallen lassen. Wir haben natürlich alle hysterisch gekichert und unsere Freundin zum Lachen gebracht. Alles in allem war es ein gelungener Abend.«

»Aber der Zauber funktioniert.«

»Natürlich tut er das. Hannah weiß sehr gut, dass sie sich etwas total Albernes ausdenken kann, und es wirkt trotzdem. Frauen brauchen manchmal mehr Selbstbewusstsein. Es gibt viele Leute, die einen Talisman mit sich herumtragen und sich einbilden, er brächte ihnen Glück, und das ist dasselbe wie mit diesem albernen Ritual: Unsere Freundin und jede andere Frau, die dieses Ritual anwendet, fühlt sich durch ihr gestärktes Selbstbewusstsein schön und zuversichtlich. Und jedes Mal, wenn man das rote Spitzenhöschen anzieht, erinnert man sich wieder an das Zeremoniell und muss unwillkürlich lachen. Dadurch leuchtet man von innen heraus und auch das wirkt attraktiv. All das stärkt das Selbstvertrauen einer Frau.«

»Bravo, Tante Blythe!«, sagte Joley.

»Hannah, kannst du das wirklich?«, fragte Abbey. »Zaubersprüche erfinden?«

Hannah zuckte die Achseln und sah Joley an, und beide brachen in Gelächter aus. »Das tun wir doch ständig, aber manchmal gehen sie nach hinten los.« Hannah versetzte Abbey einen Rippenstoß. »Um wie viel Uhr musst du fertig sein für dein wichtiges Rendezvous? Es wird schon spät.«

»Es ist kein Rendezvous«, beharrte Abbey. »Ich helfe ihm nur bei seiner Arbeit.«

»Holt er dich ab oder fährst du mit deinem eigenen Wagen hin?«, fragte Sarah.

»Himmel noch mal, er holt mich ab, aber es soll so aussehen, als hätten wir ein Rendezvous. Genau darum geht es doch.«

»Bist du ganz sicher, dass du das tun willst?«, fragte Kate. »Ich weiß doch, dass du seine Gesellschaft kaum erträgst.«

»Ich ertrage es kaum, an ihn zu denken, aber genau das tue ich die ganze Zeit«, gab Abigail zu. »Also helfe ich ihm lieber und sorge dafür, dass er nicht umgebracht wird und möglichst schnell wieder aus Sea Haven verschwindet. Ins Caspar Inn bin ich schon immer gern gegangen. Dort kenne ich jeden, und ich werde bestimmt meinen Spaß haben.« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Jetzt sollte ich mich besser fertig machen. Und ihr hört auf mit diesen blödsinnigen Zeremoniellen.«

Hannah streckte ihre Hand aus. »Ich schließe dieses Höschen für dich ein, bis er längst über alle Berge ist.«

»Nein, das wirst du nicht tun. Und ich rate euch dringend davon ab, andere Dinge, die mir gehören, durchs Haus schweben zu lassen«, warnte Abigail ihre Schwestern.

»Jonas kommt gerade die Auffahrt hinauf«, kündigte Sarah an.

»Ich will nicht mit ihm reden«, sagte Abigail hastig. »Er hat mehrere Nachrichten für mich hinterlassen, und ich habe ihm nichts zu sagen.«

»Ich mache die Tür nicht auf«, sagte Hannah. »Das muss eine von euch tun.«

»Abbey«, protestierte Sarah, »es ist Jonas. Du kannst ihn nicht einfach ignorieren.«

»Ich ignoriere ihn nicht wirklich, ich bin nur sehr beschäftigt. Das ist ein großer Unterschied.« Sie raste die Treppe hinauf, als Carol die Haustür öffnete. Ihre Schwestern sahen ihr bestürzt nach.

 

Abigail saß lange Zeit in ein Badelaken gehüllt auf der Kante ihres Betts, nachdem sie geduscht hatte. Langsam brach sie das Siegel der Schriftrolle. Der Zauber brauchte nicht zwangsläufig zu wirken und sie sagte sich, sie wollte sich einfach nur schön fühlen. Sie hatte es dringend nötig, sich schön zu fühlen. Ihr war der Gedanke unerträglich, sich gemeinsam mit Aleksandr in einem Raum voller Frauen aufzuhalten und sich vorzukommen wie die unscheinbare Abigail Drake.

Das Caspar Inn war kein Nobelschuppen, und es war nicht nötig, sich elegant anzuziehen, aber sie wollte feminin und attraktiv wirken. Das Entscheidende war, dass sie dort tolle Musik spielten und dass getanzt wurde. Viele Einwohner aus den umliegenden Küstenorten besuchten die Bar und trafen sich dort. Sie seufzte leise, als sie ihre Finger über die rote Spitze gleiten ließ. Es war ja schließlich nicht so, als hätten sie und Aleksandr dort oder irgendwo anders ein Zimmer gemietet.

»He!« Hannah streckte ihren Kopf zur Tür herein. »Möchtest du Gesellschaft?«

Abigail nickte und wartete, bis Hannah die Tür fest hinter sich geschlossen hatte. »Jonas ist immer noch unten, stimmt’s?«

»Oh ja«, gestand Hannah. »Sarah und Kate haben ihn abgelenkt, indem sie ihm Tante Carol zum Fraß vorgeworfen haben. Sie macht ihre Sache recht gut, aber wenn er sie nicht dazu bringen kann, alles zu tun, was er sagt, wird Jonas es an mir auslassen. Ich kriege immer alles ab, wenn er wütend auf eine von euch ist. Anscheinend bin ich diejenige, die sich am wenigsten gegen ihn wehren kann, und deshalb wollte ich mich hier oben bei dir verstecken.« Sie sah das rote Spitzenhöschen neugierig an. »Was tust du da?«

»Ich weiß es nicht. Ich sitze da. Und versuche zu entscheiden, ob ich brav sein werde und Bluejeans und ein langweiliges Top anziehe oder ob ich mich in rote Spitze und ein Kleid hülle. Soll ich das brave oder das böse Mädchen sein?«

»Wonach ist dir zumute?«

»Ich möchte böse sein. Sehr, sehr böse. Ich will, dass er mich ansieht und wünscht, er hätte mich niemals aufgegeben. Ich will, dass er von mir träumt und sich an jede einzelne unserer Berührungen erinnert.«

»Du willst ihn foltern?«

»Unbedingt. Ich will ihn lange und ausgiebig foltern«, gestand Abigail.

»Eine Folter kann ein zweischneidiges Schwert sein, Abbey«, warnte Hannah. »Bist du ganz sicher, dass du dieses Risiko eingehen willst? Was ist, wenn du dich von neuem in ihn verliebst? «

Abigail sah sich um, als könnten die Wände Ohren haben. Sie senkte ihre Stimme. »Ich habe mich nie entliebt. Ich bin so sehr in ihn verliebt, dass es mich krank macht, aber das werde ich ihm gegenüber nie wieder zugeben.«

»Du solltest unter allen Umständen das Höschen und dieses knallenge schwarze Top mit einem roten Spitzen-BH darunter anziehen. Das bauchfreie, meine ich, denn du hast einen tollen Bauch. Das kommt bestimmt daher, weil du so viel schwimmst.« Hannah griff nach der Bürste. »Trag dein Haar offen. Das tust du sonst nie, und wahrscheinlich ist er es gewohnt, dass du es aufsteckst. Du hast wunderbares Haar.«

»Ich sollte das alles nicht tun«, sagte Abigail ausweichend.

»Das kann schon sein, aber vielleicht fühlst du dich hinterher besser. Und wenn er deine Gefühle verletzt, wird er ohnehin entweder in eine Kröte oder in eine Nacktschnecke verwandelt. Im Moment neige ich mehr zur Nacktschnecke.« Sie lachte leise. »Das Caspar Inn wird brechend voll sein. Bestimmt ist Sylvia Fredrickson da und flirtet wie verrückt. Gina Farley, du kennst sie von früher, sie leitet jetzt die Vorschule, und Patty Granger werden wahrscheinlich auch da sein. Die beiden tanzen schrecklich gern. Viele Frauen gehen dort zum Tanzen hin. Du musst dich unbedingt schön fühlen.« Sie betrachtete den natürlichen Fall von Abigails Haar, nachdem sie es gebürstet hatte. »Ist er der Typ, der andere Frauen anschaut, wenn er mit dir zusammen ist?«

Abigail lachte. »Du kennst mich doch. Ich würde ihm eins über den Schädel ziehen.«

»Du siehst wunderschön aus, Abbey, und in deiner schwarzen Jeans wirst du umwerfend aussehen. Zieh die an, die auf den Hüften besonders eng anliegt. Hast du eine Kette, die du um die Taille tragen kannst? Wenn nicht, dann kannst du eine ganz tolle von mir haben.«

»Die würde ich mir gern borgen«, sagte Abigail tapfer. Hannah war immer hochmodisch gekleidet, wohingegen Abigail dazu neigte, in ihre bequemsten Sachen zu schlüpfen. Wenn Hannah sagte, dass sie eine Kette um die Taille brauchte, dann würde sie eine Kette um die Taille tragen und dafür sorgen, dass Aleksandr Volstov bei ihrem Anblick glatt vom Stuhl fiel.

»Darf ich dir etwas sagen?«, fragte Hannah. »Es dreht sich allerdings um eine sehr persönliche Beobachtung.«

»Trau dich.« Abigail fühlte sich verwegen.

»Abbey, du bist nie der Typ Frau gewesen, der sich auf harte Kämpfe einlässt. Schon früher, als wir noch Kinder waren, hast du dich mit niemandem wirklich gestritten, nicht mit Mom und Dad, nicht mit uns und auch nicht mit deinen Freunden. Wenn dir etwas nicht gepasst hat, bist du gegangen. Buchstäblich weggegangen. Du knallst anderen Leuten die Tür vor der Nase zu.«

»Das ist mir bewusst.« Abbey sah auf ihre Hände hinunter, um Hannahs Blick auszuweichen. »Es ist reiner Selbsterhaltungstrieb, meine Strategie, um zu überleben.«

»Es geht nicht nur ums Überleben. Es ist deine Art zu kämpfen. Du weigerst dich, Kämpfe auszutragen, damit du nicht verlieren kannst. Du bist eine sehr starke Frau, und du fürchtest dich nicht. Du tust Dinge, die die meisten Menschen niemals täten. Du bist viel stärker als ich, aber du musst wissen, dass du dem anderen keine Chance lässt, wenn du diese Türen schließt. Jeder macht Fehler. Absolut jeder. Ich liebe dich sehr, und ich versuche dir lediglich zu sagen, dass du Aleksandr Volstov nicht in unser Haus einließest und ihm keinen Platz in unserem Leben einräumen würdest, wenn du nicht immer noch sehr starke Gefühle für ihn hättest. Du würdest Aleksandr gegenüber keinen Moment lang zugeben, dass du ihn liebst, und du kämest nie auch nur auf den Gedanken, dich für ihn schön zu machen.«

Hannah stellte einen Fuß in den Flur und bewegte ihre Hände anmutig durch die Luft. »Ich denke mir, wenn du so starke Gefühle für ihn hast, solltest du dich fragen, warum. Was er getan hat, war entsetzlich. Aber vielleicht stellt sich das auch nur für uns so dar. Ich habe keine Ahnung, wie es wäre, wenn wir in dem Aufruhr leben und arbeiten würden, zu dem es im Lauf der letzten Jahre in seinem Land gekommen ist. Du warst immer gut darin, ein Problem von allen Seiten zu beleuchten, Abbey, aber vielleicht bist du in diesem Fall zu dicht dran und dir fehlt die Distanz.«

Ihre Finger schnappten eine glitzernde Kette aus feinem Gold aus der Luft. »Die ist genau richtig für dich.«

»Ich weiß ehrlich nicht, was ich im Moment für Aleksandr empfinde«, gab Abigail zu, als Hannah die Kette auf ihre geöffnete Handfläche fallen ließ. »Ich habe diese Tür geschlossen. Sehr fest sogar. Ich habe darauf geachtet, ständig in Bewegung zu sein, damit er gar nicht erst eine Chance hat, mich einzuholen. Seine Briefe habe ich ungeöffnet zurückgehen lassen. Es gab nichts zu sagen. Ich kenne ihn nicht. Ich glaubte zwar, ihn zu kennen, aber das stimmt nicht. Ich kann einen Mann, den ich nicht kenne, nicht lieben, und ich kann ihm auch nicht vertrauen. «

»Du fühlst dich sehr stark zu ihm hingezogen«, sagte Hannah. »Und wenn er in deiner Nähe ist, vermischen sich eure Auren. Sie sind nicht voneinander abzugrenzen. Das Haus hat ihn eingelassen. Du behauptest, du hättest ihn ausgesperrt, aber du bist mit ihm Kajak gefahren und dafür bestand keinerlei Notwendigkeit. Und heute Abend gehst du mit ihm aus, und auch dafür gibt es keinen echten Grund. Was ich damit sagen will, ist, dass du keine Frau bist, die Dinge tut, die sie nicht tun will. Du willst mit ihm zusammen sein. Wenn du es nicht wolltest, Abbey, dann käme er niemals in deine Nähe. Du wärest draußen im Meer oder am Strand oder du würdest nach Australien oder Florida oder an einen der vielen Orte fliegen, an die du dich begibst, um mit deinen Delfinen zusammen zu sein. Du wärest nicht hier mit ihm.«

Abigail zog sich das Top über den Kopf. »Ich wünschte, du hättest recht, Hannah.« Sie zog ihr langes Haar aus dem Top und ließ es darüber fallen. »Ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen soll. Ich habe solche Angst, dass ich ihn kein zweites Mal überlebe.«

»Warum?« Hannah sah sich Abigails Ohrringe an, um ein passendes Paar zu finden. »Weißt du wenigstens, warum?«

Als sie in dem roten Spitzenhöschen und dem schwarzen Top dastand und sich ihre schwarze Jeans an die Brust presste, wirkte Abigail zerbrechlich und verletzbar. »Ich glaube nicht, dass Liebe so sein sollte, Hannah. Ich leide ständig. Ich denke unablässig an ihn. Ich habe mich ohne einen Mann immer vollständig gefühlt, aber irgendwie hat sich das durch ihn geändert, und jetzt sehe ich ihn an, diesen Mann, der für mich die ganze Welt bedeutet hat, und frage mich, ob ich ihn jemals wirklich gekannt habe. Er ist nicht das, wofür ich ihn gehalten habe.«

»Wofür hast du ihn gehalten?«

Abigail ließ sich auf ihr Bett sinken. »Worte wie sanft und zärtlich fallen mir zu ihm ein. Und heute sehe ich ihn an und denke skrupellos und erbarmungslos. Wie kann das sein?«

»Wir haben alle viele Seiten. Auch du. Das weißt du selbst. Warum achtest du immer so sorgsam darauf, dich in Schach zu halten? Weil du aufbrausend und durchaus zu Vergeltung in der Lage bist, wenn jemand dich geärgert hat. Deshalb gehst du fort. Du hast zu große Angst davor, was du andernfalls tun könntest.«

Abigail schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dasselbe. Ich dachte, es sei dasselbe, aber das stimmt nicht.«

Hannah seufzte. »Ich bin nicht sicher, wovon du sprichst, und deshalb kann ich dir nicht helfen. Würde er dir wehtun? Dich schlagen?«

»Nein! Um Himmels willen, nein! Er würde mir niemals wehtun, ganz gleich, wie wütend er ist. Nein.« Abigail schüttelte heftig den Kopf. »Aleksandr würde für mich eine Kugel abfangen.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Abigail wirkte schockiert. »Habe ich das wirklich gesagt? Es ist wahr, aber darüber hatte ich mir bisher noch gar keine Gedanken gemacht.«

Hannah tätschelte ihre Hand. »Wenn du das tief in deinem Herzen weißt, Abbey, dann habe ich den Verdacht, du weißt, wie sehr er dich liebt. Vielleicht bist du es euch beiden schuldig, ihm eine zweite Chance zu geben, um genau herauszufinden, was passiert ist und welche Beweggründe er hatte und ob du damit leben kannst.«

Abigail zog ihre Hose an. »Ich weiß nicht recht. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er hier ist. Es kommt mir vor wie ein Traum. Und er hat mir erzählt, dass er glaubt, ein Mann namens Leonid Ignatev hätte einen Killer auf ihn angesetzt. Ignatev hätte mich damals als Unterpfand benutzt, aber Aleksandr sei es gelungen, mich aus Russland deportieren zu lassen und ihm damit eine Niederlage zu verpassen.«

»Das klingt gar nicht gut«, sagte Hannah und ließ sich aufs Bett sinken. »Hast du Jonas etwas davon erzählt?«

»Wir können das Jonas nicht sagen. Er würde versuchen, Aleksandr ausweisen zu lassen, und das nur, damit er sich bloß nicht in unserer Nähe aufhält. Das weißt du genauso wie ich.« Sie rieb sich die Schläfen. »Ich sollte ihn unter gar keinen Umständen in eure Nähe lassen, aber ich kenne euch alle so gut. Es spielt überhaupt keine Rolle, was ich sage. Ihr werdet euch sowieso einmischen.«

Hannah lachte. »Du hast vollkommen recht, obwohl es mir Sorgen bereitet, dass Tante Carol bei Frank Warner Detektiv spielen will. Keine von uns kennt ihn sonderlich gut. Könnte er etwas mit dieser Geschichte zu tun haben?«

»Er ist ein guter Freund von Inez, und sie hat eine gute Menschenkenntnis. Ich weiß es nicht. Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als wiesen Kleinigkeiten auf ihn hin, aber ich denke gar nicht daran, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen«, sagte Abigail. Sie legte die Goldkette um ihre Taille. »Was meinst du?«

»Ich meine, dass du ihn um den Verstand bringen wirst«, sagte Hannah. »Wundere dich nicht, wenn sich heute Abend besonders viele Bewohner von Sea Haven im Caspar Inn einfinden. «

»Ich rechne damit, dass alle kommen. Tante Carol und ihre Freundinnen könnte man mit keinem Mittel von dort fernhalten. Und allein schon ihren Reginald zu sehen, könnte den Spaß wert sein.«

»Ich wünschte, ich hätte dieselbe Anziehungskraft auf Männer wie sie«, sagte Hannah wehmütig.

»Hannah!« Abigail zog ihre Schwester an sich. »Du ziehst Scharen von Männern an. Du machst nur nichts daraus.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, eben nicht. Mit mir will niemand ausgehen. Keiner lädt mich ein.«

»Willst du, dass sie dich einladen? Gibt es einen bestimmten Mann, der dich interessiert?«, fragte Abigail.

Hannah zuckte die Achseln. »Nein. Nicht wirklich. Ich wäre nur gern in der Lage, mich mit jemandem zu verabreden, wenn mir ein wirklich interessanter Mann über den Weg liefe.«

Abigail musterte das Gesicht ihrer Schwester, die vollendet geschnittenen Züge und den zarten Knochenbau. Hannah mit ihrer makellosen Haut und den riesigen Augen unter dichten Wimpern war eine echte Schönheit. »Dazu wird es schon noch kommen.«

Hannah lächelte flüchtig. »Du meinst, ich werde wie durch einen Zauber fähig sein zu reden, ohne zu stammeln?«

»Du kannst mit uns allen reden, ohne zu stammeln. Und manchmal auch mit Jonas. Wir helfen dir nicht immer, wenn er herkommt.«

»Jonas zählt nicht. Mit ihm muss ich reden können, um mich zu verteidigen. Und ich spreche nie über wichtige Dinge mit ihm.«

»Es wird dazu kommen, glaube mir.«

»Abigail!« Jonas’ Stimme drang dröhnend die Treppe hinauf.

Hannah zuckte sichtlich zusammen. »Ich glaube, ich ziehe mich jetzt besser um und sehe, ob Joley heute Abend mit mir ausgehen mag.«

»Ihr habt allen Ernstes vor, ins Caspar Inn zu kommen?«, fragte Abigail.

»Das würde ich mir um keinen Preis entgehen lassen«, sagte Hannah.

»Wünsch mir Glück.« Abigail zwinkerte Hannah zu und erhob ihre Stimme. »Ich komme schon, Jonas. Es ist nicht nötig, dass du die Toten weckst.« Sie eilte die Treppe hinunter, um zu verhindern, dass er raufkam und Hannah über den Weg lief.

»Tut mir leid, Abbey.« Jonas fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und zerzauste es unwissentlich. »Ich habe ohnehin schon genug Sorgen, und ich glaube, Tante Carol bringt mich ins Grab. Falls die russische Mafia auch nur das Geringste mit Frank Warner zu tun hat, will ich ganz bestimmt nicht, dass sie dort mit ihrem Fotoapparat herumläuft.«

»Hast du heute schon etwas gegessen? Du siehst müde aus«, sagte Abbey. »Komm in die Küche, und ich bereite dir eine Mahlzeit zu, während wir uns unterhalten.«

»Danke, das ist nicht nötig. Ich kann mir später im Grillroom der Salt Bar etwas holen.«

»Mir macht das keine Mühe.« Sie ging in die Küche voraus und bedeutete ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. »Du kannst nicht auf alle gleichzeitig aufpassen, Jonas. Für die Entscheidungen, die wir treffen, ist jede einzelne von uns selbst verantwortlich. «

»Das weiß ich doch selbst, Abbey.« Jonas drehte mit dem Fuß einen Stuhl um und setzte sich rittlings darauf. Er beobachtete die lässige Handbewegung, mit der sie den Herd anzündete. »Ich habe Freunde in sämtlichen Kleinstädten an dieser Küste. Die Mafia ist nicht zimperlich. Wenn sie hier ist, dann will ich wissen, warum. Und ich will, dass sie von hier verschwindet, bevor noch mehr Menschen verletzt werden.«

»Hast du schon mit Marsha gesprochen? Wie geht es Gene?«

»Er liegt immer noch auf der Intensivstation. Ohne dich und deine Schwestern wäre er tot. Marsha lässt euch ganz lieb grüßen und sagt, sie gibt euch Bescheid, sowie Gene über den Berg ist.«

»Konntest du schon mit ihm reden?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Nein, er liegt noch im Koma. Die Ärzte sind nicht sicher, ob er sich an viel erinnern wird. Selbst wenn er wieder zu sich kommt, kann es sein, dass er von nichts mehr weiß.«

»Die arme Marsha. Die ganze Familie muss außer sich vor Sorge sein.« Abigail seufzte. »Man sollte meinen, gerade weil die Küstenorte so klein sind, kann es nicht besonders schwierig sein, eine Gruppe von Russen zu finden. Irgendjemand muss doch wissen, wo sie alle untergebracht sind, Jonas. Sie müssen sich in einem der Hotels oder Motels oder in einer der einfachen Pensionen einquartiert haben. Wenn du sie erst einmal gefunden hast, können alle sie im Auge behalten.« Abigail schlug Eier schaumig und goss die Mischung in eine Bratpfanne.

»So einfach ist es leider nicht. Ich habe Erkundigungen eingezogen, aber ich vermute, dass sie über eine dritte Person ein Privathaus gemietet haben und der Hausbesitzer gar nicht weiß, an wen er sein Haus vermietet hat.« Er deutete auf die Eier. »Mehr Käse. Ich mag ganz viel Käse.«

»Ich möchte, dass du noch genug Platz für das Gemüse hast. Du brauchst dringend nahrhafte und gesunde Kost.« Ihre Hände bewegten sich mit fliegender Eile über eine Vielfalt von Gemüsen, die sie in kleine Stücke hackte. »Wenn sie allerdings alle wie Aleksandr sind und akzentfreies Englisch sprechen …« Sie ließ ihren Satz abreißen.

»Er hat doch einen starken russischen Akzent.«

»Nur dann, wenn er es will. Ich habe im Nebenfach Fremdsprachen studiert, Jonas, und ich spreche sechs Sprachen recht gut, aber das ist gar nichts im Vergleich zu Aleksandr. Wenn er will, kann er Englisch mit einem typisch amerikanischen Akzent sprechen. Und je nachdem, wo er sich gerade aufhält, passt er sich den regionalen Dialekten so weit an, dass er überhaupt nicht auffällt. Er ist ein echtes Sprachgenie.«

»Warum spricht er dann mit einem russischen Akzent?«

Abigail drehte sich um, denn ihr war nicht entgangen, dass seine Stimme sich verändert hatte. Jonas saß nicht mehr in sich zusammengesunken da, sondern wirkte hellwach, und seine Augen waren hart wie Diamanten. »Ich weiß es nicht. Das ist eine gute Frage. Als wir in Russland waren, hat er auch mit Akzent gesprochen, aber ich habe ihn makelloses Englisch reden hören, das genauso klingt, als sei er aus dem Süden oder sogar ein geborener Kalifornier. Ich könnte den Unterschied jedenfalls nicht erkennen. Er hat gesagt, das hätte zu seiner Ausbildung gehört.«

»Darauf würde ich wetten.« Jonas sprang auf. »Habt ihr Kaffee im Haus?«

»Du weißt doch, dass wir keinen Kaffee trinken, Jonas. Was ist los mit dir?«

»Er ist ein Agent, das ist los mit mir. Wahrscheinlich ist er ein Spion.«

»Wir leben nicht im Kalten Krieg – haben wir überhaupt noch Spione?«

»Ich finde das überhaupt nicht komisch, Abigail. Wann begreifst du endlich, dass du diese Dinge ernst nehmen musst? Aleksandr Volstov ist ein unangenehmer Zeitgenosse, ganz gleich, unter welchem Blickwinkel man ihn betrachtet.«

Abigail ließ eine Hand voll Gemüse in die Eiermischung fallen. »Mir ist durchaus bewusst, woran ich mit Aleksandr bin. Er behauptet, Interpol hätte ihn hierher geschickt, Jonas. Ich habe dir einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, damit du gewarnt bist.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte Jonas zerknirscht: »Danke.«

»Gern geschehen.«

»Setz das Teewasser auf.« Er sah sich um. »Wo steckt Hannah eigentlich? Wo sind deine Schwestern? Sie sind plötzlich alle verschwunden.«

»Sie hat gefürchtet, du würdest gemein zu ihr sein.« Abigail lehnte sich mit einer Hüfte an die Anrichte und deutete mit dem Pfannenwender auf ihn. »Hast du sie wirklich als Kleiderständer bezeichnet?«

»Verflucht noch mal, Abbey, lass uns jetzt bloß nicht davon anfangen.«

»Du hast es getan, stimmt’s? Das war grausam von dir, Jonas. Warum tust du ihr das an? Glaubst du etwa, sie hätte keine Gefühle?«

»Sie weiß, wie schön sie ist, Abbey. Herrgott noch mal, das weiß jeder. Auf sämtlichen Zeitschriften rund um den Globus prangt sie auf dem Titelbild. Grausam wäre es dann, wenn es wahr wäre. Aber ich verletze ihre Gefühle doch nicht, wenn ich ihr sage, sie soll ein bisschen zunehmen.«

»Sie braucht nicht zuzunehmen, um schön zu sein, Jonas.«

»Nein, zunehmen muss sie um ihrer Gesundheit willen. Willst du im Ernst behaupten, dir sei nicht aufgefallen, wie blass und zerbrechlich sie in der letzten Zeit ist? Ein kräftiger Windstoß könnte sie umpusten. Sie lässt sich viel zu hart rannehmen. «

Abigail wendete das Omelette vorsichtig. »Das heißt also, dir ist aufgefallen, dass Hannah blass ist und zerbrechlich und untergewichtig wirkt, und das hat dich geärgert, weil du findest, sie arbeitet zu hart; und daraus ziehst du die Schlussfolgerung, ihr zu sagen, dass sie wie ein Kleiderständer aussieht?«

»Wenn du es so sagst, klingt es nicht besonders nett, aber so habe ich es nicht gesagt.«

»Oh doch, genau so klang es aber.« Abigail wedelte mit der Hand, und der Brotkasten öffnete sich. »Du bist ein Trottel, Jonas. Und ich dachte immer, dass du charmant mit Damen umgehst.«

»Ich habe sie in der letzten Zeit im Auge behalten, und ich habe nicht den Eindruck, dass es ihr gesundheitlich gut geht. Ich wollte Libby schon bitten, sich Hannah mal anzusehen, solange sie da ist, aber dann ist dieser Mord passiert, und hier war die Hölle los, und ich hatte noch keine Gelegenheit, Libby allein zu erwischen.«

»Hannah fehlt nichts.« Schon während sie es sagte, fragte sich Abigail, ob ihre Behauptung der Wahrheit entsprach. Wusste sie überhaupt, wie es Hannah ging? Seit sie nach Hause gekommen war, war sie derart in ihre eigenen Probleme verstrickt gewesen, dass sie keiner ihrer Schwestern allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Das berührte sie jetzt unangenehm. »Wir würden es spüren, wenn es ihr nicht gut ginge.«

»Wirklich? Sie verbirgt ihre Probleme vor anderen Menschen. Bis letztes Jahr Weihnachten wusste ich überhaupt nicht, dass sie Asthma hat. Dabei kenne ich sie schon mein Leben lang.«

Sie ließ das Omelette auf einen Teller gleiten, den sie ihm reichte. »Es gibt viele Dinge, die du nicht über Hannah weißt.«

»Das wird mir allmählich klar. Und ich glaube nicht, dass ich damit allein stehe. Inzwischen beobachte ich sie, wenn sie zu Hause ist. Sie tut ständig etwas für alle anderen. Und wer tut etwas für sie?« Jonas aß einen Bissen und lächelte Abigail verschmitzt an. »Du kannst ja kochen. Das wusste ich gar nicht.«

Abigail musste gegen ihren Willen lachen. »Erstaunlich, nicht wahr? Der reine Selbsterhaltungstrieb. An manchen Orten, die ich für meine Forschungen aufgesucht habe, gab es keine Schnellrestaurants und auch keine Imbissstände.«

»He, ihr beiden.« Hannah blieb in der Küchentür stehen und lehnte ihre schmale Hüfte an den Türrahmen.

Abigail betrachtete ihre Schwester und nahm zum ersten Mal Anzeichen von Erschöpfung wahr. Sie war dünner als sonst, obgleich Abbey zugeben musste, dass es keine Rolle zu spielen schien. Hannah war eine so umwerfende und exotische Erscheinung, dass nichts ihrer Schönheit etwas anhaben konnte. »Hast du Hunger? Ich koche gerade.«

»Danke, aber ich möchte nur eine Tasse Tee.« Hannah wedelte in Richtung Kessel, der daraufhin augenblicklich pfiff.

Jonas strahlte. »Einfach toll, wie du das machst.«

Hannah zog die Augenbrauen hoch. »Ich hätte nicht gedacht, dass du irgendetwas, was ich tue, toll findest.«

»Du hast dich in Schale geworfen. Wohin gehst du?«, fragte Jonas.

»Ich trage Jeans und ein sehr bequemes Hemd«, hob Hannah hervor. »Abbey ist hier diejenige, die sich fein gemacht hat.«

Jonas drehte sich zu ihr um. »Ist ja irre! Du siehst toll aus.«

»Wie nett von dir, dass du es bemerkt hast«, sagte Abbey sarkastisch.

»Sie hat eine Verabredung mit Aleksandr«, stellte Hannah in den Raum.

»Mich hat er nicht gefragt, wohin ich gehe.«

»Aber jetzt frage ich dich.« Jonas sah Abigail finster an.

»Jemand ist an der Tür«, sagte Hannah mit einem schadenfrohen Lächeln.

»Ihr beide bleibt, wo ihr seid, und ich mache die Tür auf«, sagte Jonas und marschierte durch das Haus, um die Tür aufzureißen.