8.

Du brauchst mir nicht zu helfen«, sagte Abigail, während sie zusah, wie Aleksandr ihr Kajak über den groben Sand trug. »Ich kann das nämlich ohne weiteres selbst tun. Wahrscheinlich würde ich mich dabei sogar viel geschickter anstellen als du.«

»Ich käme gar nicht auf den Gedanken, dich derart zu beleidigen«, sagte Aleksandr. »Wo willst du es ins Wasser lassen?«

»Die beste Stelle ist dort drüben.« Sie deutete auf einen langen Sandstrand nicht weit von der Stelle entfernt, wo er sein Kajak bereits abgeladen hatte. »Die Brandung ist mäßig, und wir werden kaum Schwierigkeiten haben, zu den Felsen zu gelangen. Wir wollen zwischen den Felsen paddeln, wo es etwas ruhiger ist und wir die Formationen entlang der Küste genauer betrachten können. Ich kenne etliche Höhlen und kleine Grotten, in denen man ein Boot verstecken kann. Allerdings müsste es von einem Profi gesteuert werden, und das Wasser müsste ziemlich ruhig sein, was in jener Nacht der Fall war. Mit den Kajaks sollten wir sie problemlos erreichen können.« Sie wusste, dass es ihm Spaß machte, mit Wildwasserkajaks auf Flüssen zu paddeln, aber sie bezweifelte, dass er mit einem Seekajak im Meer Übung hatte. An der Pazifikküste konnte die See ziemlich rau sein.

»Du bist der Boss.«

Abigail sah ihn finster an. Sie verspürte das kindliche Verlangen, ihm ans Schienbein zu treten, als er mit dem Kajak auf seiner Schulter neben ihr herlief und mit keinem Anzeichen zu erkennen gab, dass die Form oder das Gewicht des Kajaks eine Last darstellte.

Die Boote glitten so problemlos ins Wasser, wie sie es vorhergesagt hatte. An der Mendocino-Küste war die See meistens rau und schlug enorme Wellen, und daher empfand Abigail es als einen Glücksfall, zwischen den Felsen paddeln zu können, wo das Wasser im Moment ruhiger war.

»Heute ist ein schöner Tag«, bemerkte Aleksandr. Auch sie war schön, aber er würde nicht den Fehler machen, es ihr zu sagen. Die Sonne schien auf ihr Haar und tauchte dessen Röte in einen strahlenden Glanz. Ihre Haut sah zart aus, und er schloss seine Hand fester um das Paddel, damit er sie nicht ausstreckte und Abigail anfasste. Er verzehrte sich danach, sie zu berühren. Ihretwegen konnte er oft nicht schlafen und lief dann umher, blickte zu den Sternen auf und fragte sich, wo auf Erden sie wohl war. Jetzt war sie bei ihm, und doch hätte immer noch ein Weltmeer zwischen ihnen liegen können.

Sie kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. »Warum sprichst du nicht mit Jonas über das, was du hier tust? Er versteht etwas von seiner Arbeit.«

»In dem Punkt gebe ich dir recht. Er versteht etwas davon, und es ist nicht zu übersehen, dass er dir und deinen Schwestern viel bedeutet. Er hat aber bereits alle Hände voll damit zu tun, Danilovs Tod zu untersuchen.« Er wollte nicht über Jonas Harrington reden und über Danilov schon gar nicht, verflucht noch mal. Kalte Wut wogte in seinen Eingeweiden auf. Er war fünfzehn Minuten zu spät gekommen, um Andre Danilov zu retten. Die Schnellstraße war schmal und kurvig, und ein Wagen war vor ihm auf die Straße eingebogen und hatte ihn aufgehalten. Als er ihn endlich überholen konnte und den Yachthafen erreichte, war Danilov tot. Manchmal schien es ihm, als würde er ständig einem Mörder hinterherjagen, und jedes Mal, wenn er sich umdrehte, stolperte er über die Opfer. Danilov war ein guter Mann gewesen, ein guter Agent, und Aleksandr würde erst heimkehren, wenn er seine eigene Form von Justiz geübt hatte.

»Tust du das nicht gerade auch?« Abigail tauchte ihr Paddel ins Wasser ein, und ihr Kajak glitt über das funkelnde Meer.

»Beides ist untrennbar miteinander verknüpft.« Aleksandr hielt mühelos mit ihrem Tempo Schritt. »Danilov war ein Geheimagent, der sich mit der Verschiebung von Kunstwerken befasst hat, und er ist umgebracht worden. Ich würde behaupten, das steht in einem direkten Zusammenhang mit meiner Ermittlung, und dazu kommt noch der Umstand, dass ich für ihn verantwortlich war. Ich werde den Schurken finden, der ihn auf dem Gewissen hat.«

Abbey sah ihm ins Gesicht. Seine Stimme war unverändert und drückte weder Wut noch Zorn aus, doch er hatte diese Worte mit tiefer Überzeugung geäußert. »Du bist nicht nur Polizist, stimmt’s, Sasha?«

Er warf einen Seitenblick auf sie, als er sein Paddel zu einem kräftigen Schlag ins Wasser tauchte und sein Kajak weit vorausschoss. »Stell keine Fragen, wenn du die Antwort nicht hören willst, Abbey«, riet er ihr. Er hätte wissen müssen, dass er ihr gegenüber zu viel von sich preisgab. Sie schnappte jede kleinste Nuance auf. Eine Wahrheitssucherin. Schon allein ihre Stimme konnte bei einem Mann den Wunsch wachrufen, jede einzelne seiner Sünden zu beichten … und er hatte weiß Gott viele auf sich geladen.

Nach den Vorfällen in Russland und aufgrund der Rolle, die er dabei gespielt hatte, fürchtete Abigail ihn. Er konnte es in ihren Augen sehen, in den Schatten, die dort lauerten. Es war ihm verhasst, die Schuld daran zu tragen, dass diese Schatten vorhanden waren, aber er konnte nichts daran ändern, wer er war und was er war. Er konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, und er konnte nicht auslöschen, was ein großer Teil seines Charakters war.

»Das wird ja immer besser, nicht wahr? Warum um alles in der Welt hast du dich überhaupt jemals mit mir eingelassen? Ich glaube, du weißt selbst nicht, wer du bist.«

»Ich kenne mich selbst sehr gut, Abbey, und ich denke gar nicht daran, mich für Entscheidungen zu entschuldigen, die ich getroffen habe. Ich habe mir die Wahl nicht leicht gemacht, und ich hatte gute Gründe für meine Entscheidungen.« Er hatte sich geschworen, sich nicht zu verteidigen, aber er hatte ihre Reaktion auf das, was vorgefallen war, unterschätzt. Mit ihrer hartnäckigen Weigerung, ihm eine Chance zu geben und sich seine Erklärungen anzuhören, hatte sie ihn überrumpelt. In Russland war sie immer so sanft und mitfühlend gewesen, ihre Liebe zu ihm so grenzenlos und unerschütterlich. Jetzt wusste er nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Sie konnte stur sein und auch aufbrausend, aber er war nicht darauf gefasst gewesen, eine Tigerin einfangen zu müssen.

»Wusstest du von mir? Als ich vor vier Jahren nach Moskau kam, wusstest du da schon von meinen Schwestern und von mir?« Es erschien ihr lächerlich, dass jemand in Russland von den Drake-Schwestern gehört haben könnte, aber ihr Herz schlug viel zu heftig, und sie war sicher, dass sie recht hatte.

Eine Möwe schrie über ihren Köpfen. Trotz ihrer dunklen Brille blendete sie die Sonne auf dem Wasser, als sie versuchte, etwas in seiner Miene zu lesen. Das Kajak schnitt sich durch die sanfte Dünung, als sie schweigsam paddelte. Die Meeresoberfläche wies Ähnlichkeit mit grünem Glas auf und direkt darunter konnte sie vereinzelte Stränge Tang sehen. Sie blinzelte mehrfach schnell hintereinander, während sich das Paddel durch das Wasser schnitt. »Du wusstest von mir, stimmt’s? Es war keine zufällige Begegnung.«

Aleksandr hörte sich fluchen. In seinem Kopf rasselte er jeden einzelnen Fluch herunter, den er kannte. Sie begrub die Chancen für eine gemeinsame Zukunft so wirkungsvoll, als hätte sie eine Waffe hervorgezogen und ihm eine Kugel ins Herz geschossen. Er konnte Abigail nicht belügen, aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie ihm nie verzeihen. »Meinst du nicht, du hättest schon genug in der Hand, um mich zu verdammen, ohne jetzt auch noch davon anzufangen, wie alles begonnen hat? Es hat begonnen. Ich habe mich in dich verliebt.« Alles, was er zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, war die Wahrheit. Und nur die Wahrheit konnte die Kluft zwischen ihnen für alle Zeiten schließen.

Sie paddelten schnell und schweigend an etlichen Sandstränden vorbei und erreichten eine längere Strecke, wo die Wellen an Größe und an Kraft zunahmen. Hier waren keine Felsen, deren Schutz sie hätten nutzen können, und Abigail gab ihm ein Zeichen, sich weiter vom Ufer zu entfernen, um die größeren Wellen zu meiden, die sich überschlugen.

Als sie in der ruhigeren Dünung einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hatten, warf Abigail einen Blick auf ihn. Es tat ihr weh, ihm ins Gesicht zu sehen. Sie liebte ihn so sehr, dass ihr Inneres schmerzte. »Für mich war wichtig, dass du Abigail Drake wolltest, nur mich als Frau, ohne Magie und ohne jede Gabe. Mich. Das war mir viel wichtiger, als du wissen kannst. Soll ich dir etwa glauben, dass du dich in mich verliebt hast, wenn alles andere gelogen war?«

»Frage mich danach«, provozierte er sie. »Deine Gabe besteht darin, die Wahrheit zu suchen und sie zu finden. Frage mich, ob ich dich liebe.«

Sie wandte ihr Gesicht von ihm ab und sah starr vor sich hin, als sie an dem Abschnitt des Strandes vorüberglitten, vor dem es bedauerlicherweise keine Felsen gab. Sie wollten sich dicht am Ufer halten, doch das war bei dieser rauen See ausgeschlossen, und daher paddelten sie in Sichtweite des Ufers weiter.

Im Allgemeinen machte es Abigail Spaß, mit einem Kajak an der Küste entlangzupaddeln, denn so konnte sie die vom Wasser ausgehöhlten Felsen aus der Nähe sehen und an Stellen gelangen, die für ihr Boot mit dem Außenbordmotor unerreichbar waren. Sich mit reiner Körperkraft zügig durch das Wasser zu bewegen verlieh ihr ein Gefühl von ungeheurer Freiheit. Aber im Moment fühlte sie sich auf undefinierbare Weise bedroht. Aleksandr war alles andere als versöhnlich gestimmt. Sie hatte sogar das Gefühl, dass er wütend auf sie war.

»Du wirst mich nicht fragen, stimmt’s?« Am liebsten hätte er sie an sich gerissen und sie geschüttelt, um sie zur Vernunft zu bringen. Gemeinsam konnten sie viel erreichen. Sie passten gut zusammen. Es war ihm immer so vorgekommen, als stimmte in seinem Leben etwas nicht, bevor er Abigail begegnet war. Er hatte sich nie vollständig gefühlt, hatte nie ein Zuhause oder eine Familie gehabt. Nie hatte es jemanden gegeben, zu dem er heimkehren konnte. Zum Teufel, er hatte sich nie darauf gefreut, nach Hause zu kommen. All das war durch Abigail schlagartig anders geworden, und er konnte sich nicht mehr mit der Leere abfinden, die er vorher gekannt hatte. Sie hatte sein Leben mit Lachen und Liebe erfüllt. Sie fand seine empfindlichen Stellen, eine Zärtlichkeit und Sanftmut, von der er nie gewusst hatte, dass er sie besaß.

»Nein.«

»Für einen Feigling habe ich dich nie gehalten, Abbey.« Er wusste, dass die Wachsamkeit in ihren Augen seine Schuld war. Konnte sie das, was er getan hatte, immer noch quälen, wenn sie ihn nicht mehr liebte? Er klammerte sich an diese Hoffnung. Seine einzige Hoffnung. Sie litt, und er musste froh sein, dass sie überhaupt noch etwas für ihn empfand.

»Ehrlich gesagt, Sasha, es interessiert mich nicht im Geringsten, ob du dir einbildest, mich zu lieben oder nicht. Die Form von Liebe, die du geben kannst, ist nicht das, wonach ich suche, also kannst du es ebenso gut gleich bleiben lassen.« Abigails Hand schloss sich so fest um das Paddel, dass ihre Knöchel weiß wurden. Sie bebte vor Wut, und wären sie nicht gerade Mördern auf den Fersen gewesen, dann wäre sie auf der Stelle umgekehrt. Aber diejenigen, nach denen sie suchten, hatten nicht nur seinen Freund ermordet, sondern auch Gene beinah getötet und außerdem einen Mordanschlag auf sie selber verübt.

Das Kajak glitt durch die flache Weite des Ozeans, und Abigail richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Küste. Als sie die Landspitze umrundeten, konnte sie in der Ferne einen kleinen Strand erkennen, wo eine Gruppe von Frauen, die meisten in weiten, wogenden Röcken und purpurnen Blusen, barfuß über den Sand rannten. Der Wind trug ihr Gelächter zu ihr, ein helles, fröhliches Geräusch, das sie innerlich wärmte.

»Siehst du diese Frauen, Abbey?«

»Man kann sie beim besten Willen nicht übersehen.« Die roten Hüte, die auf und ab hüpften, entlockten ihr ein Lächeln, und sie kniff die Augen zusammen und versuchte, ihre Tante unter den anderen Frauen zu erkennen.

»Die wissen, wie man das Beste aus seinem Leben macht. Sie nehmen aktiv daran teil und finden immer Wege, um glücklich zu sein. Du willst gewaltsam an Dingen festhalten, die dann für alle Zeiten zwischen uns stehen werden. Warum?« Er drehte seinen Kopf zu ihr um und schien sie mit seinen stählernen Augen zu durchbohren. »Sag mir, warum du dich aktiv gegen unser Glück sperrst und es uns verweigerst.«

»Ich bin mit dir hier rausgefahren, um dir dabei zu helfen, deine Verbrecher zu finden, Sasha, und nicht, um mich auf eine philosophische Debatte einzulassen. Hast du dir eingebildet, nach allem, was passiert ist, brauchst du bloß in mein Schlafzimmer einzusteigen, und ich schmelze in deinen Armen dahin? « Sie wandte ihren Blick wieder den Frauen zu, die durch die Wellen rannten und über den weißen Schaum sprangen. Sie machten einen glücklichen Eindruck und schienen sich blendend zu amüsieren. Der Anblick versetzte ihrem Herzen einen unerwarteten Stich. Carol hatte schon immer gewusst, wie man seinen Spaß hatte. Wie man liebte und verzieh und das Leben in vollen Zügen genoss. Sie blieb ihren eigenen Prinzipien treu und scherte sich nicht darum, was andere dachten.

»Vielleicht ist es das, was mit mir nicht stimmt«, sagte Abigail versonnen. »Vielleicht habe ich meine eigenen Prinzipien vergessen. «

Er streckte eine Hand aus und hielt ihr Kajak fest. »Siehst du etwas in den Felsen dort über dem Strand, nicht weit von den Bäumen, die dicht nebeneinanderstehen?«

Abigail kniff die Augen zusammen und sah die windgepeitschten Bäume an. »Ich kann nichts Genaues erkennen. Hat sich dort etwas bewegt?«

»Möglicherweise. Deine Tante ist unter diesen Frauen am Strand, nicht wahr?«

Abigail ließ ihre Blicke ausgiebig über die felsigen Klippen streifen und achtete dabei besonders auf die Bäume und Sträucher direkt über dem Strand, wo die Frauen Treibholz aufschichteten. Es stand zu befürchten, dass sie ein Feuer anzünden würden, obwohl es gesetzlich verboten war. Der Schauer, der sie manchmal in Verbindung mit ihren Schwestern überlief, blieb aus, und ihre Tante tanzte freudig und schwenkte ihre Arme anmutig durch die Luft. Gewiss würde Carol deutlich wahrnehmen, wenn sie in Gefahr wäre.

Abigail zog ihr Fernglas aus ihrem Gepäck und sah sich noch einmal genau um. Die Frauen bildeten einen lockeren Kreis um das Treibholz, und wie zu erwarten war, züngelten bereits kleine Flammen zwischen den Holzscheiten. Eine der Frauen, und das war eindeutig ihre Tante Carol, trat aus dem Kreis hinaus, um mit der Kamera eine Aufnahme zu machen. Abigail richtete ihre Aufmerksamkeit ein zweites Mal auf die Klippe über dem Strand.

»Jetzt sehe ich sie«, sagte Abigail erleichtert. »Ja, das sind zwei von den Jungen, die hier wohnen, und die beiden anderen sind ihre Freunde aus Fort Bragg. Sie spionieren den Frauen nach. Ihretwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Tante Carol wird sie sich vornehmen.«

»Glaubst du, sie weiß, dass sie da sind?«, fragte er, als er ihr Kajak losließ.

»Natürlich weiß sie es. Tante Carol ist wie Sarah. Sie ›weiß‹ Dinge, das ist für sie ganz selbstverständlich. Die Jungen hoffen wahrscheinlich, dass sie irgendeinen Hexenzauber veranstaltet, den sie filmen und all ihren Freunden vorführen können. Wer weiß, vielleicht tut sie es sogar, um ihnen eine Freude zu machen. Sehr wahrscheinlich wird Inez Nelson, das ist die Frau, der das Lebensmittelgeschäft in Sea Haven gehört, ihnen ein paar Ohrfeigen verpassen, wenn sie sie entdeckt.«

»Ich mag deine Tante.« Er schwieg einen Moment lang. »Und deine Schwester Joley mag ich auch.«

Sie wollte nicht, dass er ihre Familie mochte. »Jetzt mach schon, lass uns die nächste Landspitze umrunden. Dann kommen wieder Felsen, und wir können uns dichter am Ufer halten.«

Abigail übernahm die Führung und paddelte kräftig, um den Strand hinter sich zu lassen. Carol wusste bestimmt, dass sie hier draußen auf dem Meer waren und sie beobachteten, wie die neugierigen Teenager, die sich über ihnen versteckt hatten. Sie wollte nicht, dass Carol glaubte, sie spionierte ihr nach.

Um die Landspitze herum erhoben sich etliche Felsen aus dem Wasser. Aleksandr und Abigail setzten ihre Kajaks schnittig über die stärkere Dünung und richteten es geschickt so ein, dass sie näher an Land kamen. Die kleine Grotte sah vielversprechend aus. Gelegentlich brach sich eine große Welle über den Felsbrocken, doch das Wasser war viel ruhiger, als sie näher zum Ufer paddelten.

Steinige Klippen ragten aus dem Ozean auf. Das Gelände wirkte trostlos und rau, im Lauf der Jahrhunderte vom Wasser geformt und ausgehöhlt. Ein langer Finger aus Stein ragte ins Meer hinaus, als wollte er sie anlocken, und als in den ersten Gesteinsbrocken keine Höhlen zu sehen waren, paddelten sie zu den größeren Felsformationen.

»Hier ist eine, Sasha«, sagte Abigail und bewegte sich langsam auf den dunkleren Eingang zu. »Sie ist klein, eher eine Grotte als eine richtige Höhle. Ich glaube nicht, dass man sich hier wirklich verstecken könnte.« Am Fuß des Felsens bildeten sich weiße Schaumkronen, und ein Teil des Schaums sprühte in die Luft auf.

Er rang darum, ein Gesprächsthema zu finden, das die Anspannung zwischen ihnen abschwächte und ihnen einen Ansatzpunkt gab. »Was für eine wilde, stürmische Küste. Traumhaft schön und wildromantisch, Abbey. Kein Wunder, dass du diese Gegend liebst.«

»Ja, das stimmt. Ich fand immer, ich hätte Glück gehabt, ausgerechnet hier aufzuwachsen.« Im ruhigen Wasser paddelte es sich viel leichter, und Abbey deutete auf das Ufer, wo ein Strand glitzerte und funkelte, wohin man auch sah. »Das ist der Glasstrand mitten in Fort Bragg. Er ist absolut einzigartig und besitzt seine ganz eigene Schönheit. Dort gibt es Tonnen von glatt geschliffenem Glas, und die Leute kommen hierher, um genau die Farben zu finden, die sie haben wollen.«

»Wie kann es einen Glasstrand geben?«

»Ursprünglich war hier eine Müllkippe. Jahrelang hat das Meer auf das Glas eingehämmert und es geformt und abgeschliffen, bis die Scherben wie wunderschöne Steine aus Glas ausgesehen haben.« Abigail wies auf die riesigen Felsformationen, die am Ufer entlang aufragten. »Ich bezweifle, dass wir hier etwas finden, und überhaupt läge jedes Versteck zu dicht an einem beliebten, gut besuchten Strand.«

Sie paddelten durch viele weitere Felsformationen, die an der Küste entlang verstreut lagen, bis ihre Arme ermatteten. Alles, was sie fanden, waren seichte Rinnen und mehrere Höhlen, aber nichts, wo man ein Boot verstecken konnte. Die Kajaks passten nicht in die schmalen Öffnungen, und Abigail war sicher, dass sie noch zu nah am Ufer waren und die Schmuggler es niemals riskieren würden, gesehen zu werden. Sie umrundeten die nächste Landspitze und gelangten zu einer Bucht. Der ganze Strand war Privatbesitz.

Abigail begann sofort, um die Felsen herum zu manövrieren, um sicherzugehen, dass nirgends ein Boot verborgen sein konnte. »Ich glaube nicht, dass es hier Höhlen gibt, Sasha. Zumindest sind mir nie welche aufgefallen, und ich bin schon oft mit dem Kajak an dieser Küste entlanggefahren.«

»Du bist erschöpft.«

Abigail konnte spüren, wie seine Stimme ihre Haut liebkoste. Sie schien durch ihre Poren zu sickern und sich um ihr Herz zu schlingen. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Aleksandr seine eigene Magie besaß, denn sie konnte nicht verhindern, dass sie jedes Mal, wenn sie seine Stimme hörte, auf ihn reagierte. »Ein bisschen. Ich war schon längere Zeit nicht mehr mit dem Kajak draußen und bin nicht mehr in Form. Was ist mit dir?« Er wirkte nicht ermattet, sondern erweckte vielmehr den Eindruck, als kostete er diese Unternehmung aus. Die Gischt sprühte um seine Beine auf, doch sie konnte sehen, wie sich die kräftige Muskulatur seines Rückens und seiner Arme bewegte, während er das Kajak durch das Wasser trieb.

»Du hast gesagt, du hättest Prinzipien, Abbey. Stimmt das?« Die Frage schien aus heiterem Himmel zu kommen und sie suchte krampfhaft nach einem Motiv, das dahinterstecken könnte. Er wusste ganz genau, dass sie einen Ehrenkodex hatte, an den sie sich so weit wie möglich hielt. Was auch immer der Grund für seine Frage sein mochte, sie wollte nicht darauf eingehen.

Eine sanfte Brise fand sie zwischen den Felsen, glitt über Abigail und streifte ihre Wange, sodass sie ihn fast nicht gehört hätte. Es waren gar nicht einmal so sehr die Worte, sondern eher, wie er sie gesagt hatte. Diese Stimme hatte sie noch aus Moskau in Erinnerung, als sie ihn geliebt hatte. Als sie alles für ihn getan hätte. Als er ihr das Gefühl gegeben hatte, sie sei die einzige Frau in seiner Welt. Und etwas ganz Besonderes, unvorstellbar einzigartig. Sie wusste zwar, dass sie besser beraten war, wenn sie den Mund hielt, doch sie hob trotzdem ihr Kinn und schöpfte Trost aus der Brise. »Ich weiß, dass ich einen klaren Standpunkt habe, was sich mit meiner Ehre vereinbaren lässt. Was ist mit dir? Hast du Prinzipien, Sasha?«

»Allerdings. Und ich lebe danach, Abbey.« Sein Blick glitt über sie. »Das weißt du doch selbst. Ich werde niemals von einem Pfad abkommen, wenn ich weiß, dass es der richtige ist.«

»Und es war richtig, mich für deine Karriere zu opfern?« Warum konnte sie keine Ruhe geben? Sie hörte, wie sie sich innerlich anschrie, sie solle den Mund halten, aber sie wollte ihn verletzen, und dabei verletzte sie immer nur sich selbst.

»Nein. Doch nicht für meine Karriere. Niemals. Für die Leben der anderen Kinder, die dieses Ungeheuer ermordet hätte. Ich wollte mein Glück oder deines nicht mit den Leben von Kindern erkaufen.« Er sprach mit ruhiger Stimme, doch seine Augen waren tiefblau und aufgewühlt. »Ich kann nichts daran ändern, wer ich bin, Abbey. Ich kann die Dinge, die ich in meinem Leben getan habe, nicht ungeschehen machen. Ich kann dir nur sagen, dass ich dich liebe und mein Leben mit dir verbringen möchte.«

Sie wandte ihren Blick von ihm ab, von seiner tiefen Überzeugung, von seinem Mangel an Reue. Abigail schluckte mehrfach, bis sie sicher sein konnte, dass sie ihre Stimme wieder vollständig unter Kontrolle hatte. »Das ist die letzte Landspitze vor Noyo Harbor. Wenn wir nicht finden, was du suchst, werden wir an einem anderen Tag einen weiteren Versuch unternehmen müssen und vom Hafen aus an der Küste entlang weiter nach Süden paddeln.«

»Glaubst du wirklich, ich hätte die falsche Entscheidung getroffen? «

Sie hörte auf zu paddeln und verstellte umständlich ihren Sitz. Als sie aufblickte, sah sie ihm bewusst in die Augen. »Ich will wissen, ob du von meiner Gabe wusstest, bevor wir uns persönlich begegnet sind.«

»Ja, ich wusste davon.«

Der Schmerz traf sie aus heiterem Himmel und überrumpelte sie. Sie konnte sich tief in ihrem Innern gequält aufschreien hören, wo kein anderer ihren Schrei vernahm. Sie sagte sich, dass sie diese Antwort erwartet hatte, aber das linderte den erbarmungslosen, stechenden Schmerz nicht. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie war, alles, was sie jemals sein wollte. Sie hatte so viel von dem gegeben, was sie war, dass nichts von ihr übrig gewesen war, als er sie achtlos fortgeworfen hatte.

Abigail strengte sich nach Kräften an, damit er nicht merkte, dass er sie wieder einmal tief getroffen hatte. Sie verbot sich sogar, weitere Fragen zu stellen. Sie wollte das volle Ausmaß seines Verrats gar nicht erst ergründen, aber sie war schon immer stur gewesen und hatte ihren Stolz gehabt. »Und als ich dich fotografiert habe, war das nichts weiter als ein zusätzlicher Bonus? Eine Möglichkeit, mich anzusprechen, damit du mich ausnutzen kannst?«

»Ja.«

Abigail wandte sich von ihm ab und glitt mit sicheren Paddelschlägen durch das Wasser in die Bucht. Die Schreie in ihrem Innern wurden immer lauter, bis sie wie Galle in ihre Kehle aufstiegen und ihre Ohren dröhnen und ihre Schläfen pochen ließen. Der Schmerz saß so tief, dass sie keine Worte hatte, um es ihm zu sagen … oder irgendjemand anderem. Sie wollte nichts empfinden. Nie wieder.

Sie hielt ihr Gesicht abgewandt, als sie die Küste nach Ausbuchtungen und dunkleren Bereichen absuchte, die einen Hinweis auf Öffnungen im Fels gegeben hätten. Tränen verschleierten ihre Sicht, doch sie schüttelte den Kopf, damit der Wind sie fortwehte. Aleksandr brauchte nicht zu wissen, dass sie vor ihm nie jemanden geliebt hatte. Und auch nicht nach ihm. Oder auch nur, dass es in seiner Macht stand, ihr wehzutun.

Abigail entdeckte mehrere Höhlen in der Nähe der Landspitze. »Wir haben das große Los gezogen.« Sie presste die Worte mühsam durch ihre zusammengeschnürte Kehle.

»Halte dich hinter mir, Abbey.«

»Weshalb? Um mich zu beschützen?« Sie zog eine Augenbraue hoch, hielt ihr Gesicht jedoch weiterhin abgewandt. »Ich glaube, dafür ist es etwas zu spät, Sasha.«

»Keine Diskussion. Ich übernehme die Führung, und du bleibst hinter mir zurück.« Sie konnte Härte in seiner Stimme hören. Und einen Anflug von Zorn.

Aleksandr besaß eine ungeheure Selbstbeherrschung. Wenn er sich seine Wut anmerken ließ, bedeutete das, dass sie ganz eindeutig einen wunden Punkt berührt hatte. Sie fiel zurück und überließ ihm die Führung. Falls tatsächlich jemand auf der Lauer lag, musste Aleksandr an die Gefahr denken und durfte sich nicht von seiner Wut auf sie ablenken lassen. Oder vielleicht auch auf sich selbst. Sie ließ ihm Raum zum Manövrieren, bevor sie ihm zur ersten Höhle folgte.

Die Höhle war groß genug, um hineinzupaddeln, und genau das tat Aleksandr ohne jedes Zaudern. Er sah sich die hohen Wände und das geräumige Versteck ganz genau an. Hier konnte ein Boot ohne weiteres hineingesteuert und den Blicken entzogen werden. Da die Kammer so geräumig war, hallte und dröhnte es, wenn die Wellen gegen die Felswand schlugen, und in der Höhle waren die Wogen extrem stürmisch. Er verließ sich darauf, dass Abigail draußen blieb und ihn warnen würde, wenn sich noch höhere Wellen, die ihm gefährlich werden könnten, der Höhle näherten. Er versuchte, Indizien zu finden, irgendeinen kleinsten Hinweis darauf, dass hier das Rennboot versteckt worden war, während die Küstenwache danach gesucht hatte, aber kein Anzeichen ließ darauf schließen. Durch einen Spalt in einer Seite fiel Licht, und das bedeutete, dass es einen weiteren Eingang zu einer ganzen Reihe von Höhlen geben könnte.

Wasser war über die Felsformationen geströmt und hatte auf sie eingeschlagen und im Lauf der Jahrhunderte die Löcher vergrößert und die Wände geglättet und abgeschliffen. Aleksandr paddelte in der Höhle herum und versuchte, die Lichtquelle zu finden, doch er musste enttäuscht feststellen, dass der Spalt selbst für ein Kajak zu schmal war. Einem Rennboot wäre es nicht besser ergangen. Von der Höhle aus führte also kein Weg weiter.

Er sah Abigail an und schüttelte den Kopf. Sie bemühte sich, ihn und das Meer zu beobachten und gleichzeitig die Klippen in der Nähe und die benachbarte Höhle im Auge zu behalten, da es nicht ausgeschlossen war, dass ein Scharfschütze im Verborgenen seinen Posten bezogen hatte und seinerseits sie beobachtete. Aleksandr trieb das Kajak kräftig am Felsen entlang zur nächsten Höhle, von der er sich sofort mehr versprach. Die Kammer war ziemlich groß und hätte ebenfalls mühelos ein Rennboot verbergen können. Das Wasser war hier wesentlich ruhiger, aber auch viel seichter.

»Ich paddele hinein, Abigail. Das Wasser ist nur etwa einen Meter tief, aber die Höhle führt sehr weit in den Fels hinein und es sieht so aus, als könnte man dort mehr finden, als ich von hier aus erkennen kann. In dieser Höhle ist das Wasser viel ruhiger, und ich möchte nicht, dass du ungeschützt hier draußen bleibst. Oben in den Felsen könnte sich jemand verbergen, und ich will nicht, dass wieder auf dich geschossen wird.«

Abigail war auch nicht besonders scharf darauf, eine kaum zu verfehlende Zielscheibe abzugeben, und daher folgte sie ihm in die große Kammer und paddelte bis zur fernen Rückwand, wo Wellen in einen kleineren Tunnel krachten.

»Wir könnten es schaffen, durch den Tunnel zu kommen«, sagte Aleksandr. »Was meinst du?«

»Ich bezweifle, dass jemand mit einem Rennboot in diesen Tunnel fahren würde.« Sie schaute so weit wie möglich hinein. »Es sieht so aus, als machte der Tunnel eine Biegung nach links und würde dann etwas schmaler. Wir könnten es schaffen, aber ich glaube nicht, dass sie es mit dem Rennboot riskiert hätten. Ich glaube, da diese Höhle nah am Hafen ist, haben sie sich höchstwahrscheinlich hier versteckt, als die Küstenwache nach ihnen gesucht hat. Hätten sie sich gezwungen gesehen, das Boot zurückzulassen, dann hätten sie mit Taucherausrüstung ans Ufer gelangen können.«

»Wenn dieser Tunnel bis zu der anderen Höhle führt, haben sie einen praktischen Fluchtweg«, argumentierte er.

»Sehen wir uns erst mal genauer um, bevor wir es versuchen«, schlug Abigail vor. »Wenn wir den kleinsten Hinweis darauf finden, dass sie den Tunnel benutzt haben könnten, sehen wir weiter.«

Sie paddelte in der Höhle umher und schaute ins Wasser, während er die Felswände und die wenigen Vorsprünge nach Indizien absuchte, die darauf hinweisen könnten, dass die Männer, die Danilov erschossen hatten, hier gewesen waren. Wenn sie die Höhle schon einmal benutzt hatten, standen die Aussichten gut, dass sie wieder hierher kommen würden, und dann würde Aleksandr sie bereits erwarten.

»Drüben bei der Seelöwenbucht gibt es auch Höhlen«, sagte Abigail. »Ist es nicht wahrscheinlicher, dass sie einen Ort in der Nähe der Mühle und der Schmugglerroute regelmäßig benutzt haben? Sie brauchten doch ein dauerhaftes Versteck für das Boot, wenn es nicht benutzt wurde.«

»Nicht zwangsläufig.«

Abigail drehte sich abrupt um und starrte ihn an. »Auf wen machst du Jagd, Sasha? Sind es wirklich Kunsträuber? Oder hast du Jonas reinen Blödsinn aufgetischt?«

»Mein Land hat, was den Kunstraub betrifft, eine der höchsten Quoten weltweit«, sagte er.

»Das ist keine Antwort.«

»Du hast die Halskette gesehen. Sie ist echt.«

Abigail nahm das leichte Flattern in ihrer Magengrube wahr, das sich immer dann einstellte, um sie zu warnen, wenn sie nur einen Teil der Wahrheit zu hören bekam. Dieses Flattern hatte sie vor vier Jahren wahrgenommen und nicht schnell genug darauf reagiert. »Aleksandr, setz Jonas nicht auf eine falsche Fährte an. Das hat er nicht verdient.«

»Es ist sein Job, herauszufinden, wer Danilov getötet hat. Der Mord ist in seinem Zuständigkeitsbereich begangen worden, und ich bin sicher, dass er seine Aufgabe ernst nimmt. Das passt zu einem Mann von seiner Sorte. Meine Aufgabe ist es, den Abfluss zu verschließen, durch den Kunstwerke aus unserem Land hinausgelangen, und möglichst viele der bisher entwendeten wieder ins Land zurückzubringen.«

»Warum paddeln wir dann in Kajaks auf dem Meer herum und suchen dieses Rennboot?«

Er sah sie an, und seine Augen funkelten so hart wie Diamanten. »Zufällig gehört das nun mal zu meiner Ermittlung.«

Abigail erschauerte. Er hatte sich innerhalb der letzten vier Jahre verändert. Aleksandr hatte schon immer etwas an sich gehabt, was sich ihr entzog, eine Seite, an die sie nie ganz herankam, aber dieser Zug schien sich mit der Zeit ausgeprägt zu haben. Jonas hatte sie vor Aleksandr gewarnt, und Jonas war ein hervorragender Menschenkenner.

Ohne jede Vorwarnung streckte Aleksandr einen Arm aus und zog ihr Kajak dicht neben seines. Jetzt saßen sie einander direkt gegenüber. »Hör auf, mich so anzuschauen. Deine Wut mag ich vielleicht verdient haben, aber das nicht.«

Ihr Herz machte wilde Sätze, und ihre Hand hob sich abwehrend. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

»Furcht.« Er schleuderte ihr das Wort ins Gesicht. »Du hast nie Grund gehabt, dich vor mir zu fürchten. Du siehst mich an, als könnte ich blitzschnell eine Waffe ziehen und dich erschießen. Das habe ich nicht verdient, und ich habe es verflucht satt, diesen Ausdruck auf deinem Gesicht zu sehen.«

Sie verkniff sich eine scharfe Erwiderung. Sie wollte sich mit ihm streiten, damit sie ihn auf Armeslänge von sich weghalten konnte, aber sein Benehmen war äußerst ungewöhnlich. Aleksandr stritt sich mit niemandem, und er ließ sich auch nicht auf Diskussionen ein. Das war nicht seine Art. Abigail stritt sich auch nicht gern, und die meiste Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatten sie sich entweder geliebt oder anderweitig vergnügt. Noch schlimmer als sein sonderbares Verhalten und der ungewöhnliche Zorn, der dicht unter der Oberfläche zu schwelen schien, war sein verletzter Blick. Sie wollte ihn nicht sehen. Er verdiente es nicht, dass sie seinen Schmerz sah oder gar darauf reagierte. Aber sie hatte ihn schlicht und einfach damit verletzt, dass sie sich ihre Furcht hatte anmerken ließ.

»Tut mir leid, Sasha.« Sie biss die Zähne zusammen, weil sie sich über die Worte ärgerte, die ihr herausgerutscht waren. »Vermutlich kennen wir beide einander wirklich nicht mehr besonders gut. Es ist viel Zeit vergangen. Ich habe einige traumatische Erlebnisse gehabt, und ich bin nicht mehr so stark wie früher. Vielleicht geht es dir genauso.«

Sie weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. Sie würde sich nicht von ihm hypnotisieren lassen. Sie würde ihm nicht glauben, und sie würde sich auch nicht von seiner starken Persönlichkeit oder seiner ungestümen Zielstrebigkeit blenden lassen. Sie musste sich darauf konzentrieren, womit sie leben konnte und womit nicht. Aleksandr Volstov war ein wunderschöner Traum gewesen, eine Ausgeburt ihrer Fantasie. Der Mann, der jetzt bei ihr war, war hart und unerbittlich und würde alles und jeden für seine Ziele opfern. So und nicht anders musste sie ihn sehen, denn sonst würde sie sich selbst wieder verlieren.

Abigail sah über den Rand ihres Kajaks und ließ ihren Blick über das Wasser gleiten. In der Höhle war es dunkler, und die Schatten erschwerten es, mit den Augen die Oberfläche zu durchdringen. Ein Loch in der Decke nicht weit von der Rückwand ließ etwas Sonnenschein auf das Wasser strömen. Sie paddelte langsam umher und hielt sich von Aleksandr fern. Sie bemühte sich, an nichts zu denken und nichts zu fühlen. Es gab so viele Ritzen und Spalten, und der Tang bewegte sich mit den Wellen und machte es nahezu unmöglich, etwas zu sehen.

»Was ist das?« Er deutete direkt links neben sie.

Abigail bewegte sich ein klein wenig von der Stelle. Der Tang verbarg und enthüllte abwechselnd einen Gegenstand, der in der Sonne glitzerte. »Ich kann es nicht erkennen.«

»Es ist etwas Schimmerndes. Es könnte Metall sein.«

Es stellte keine leichte Aufgabe dar, den Gegenstand an sich zu bringen. Hätten sie offene Kajaks gehabt, dann hätten sie herunterspringen und im Wasser fischen können. Aber mit den geschlossenen Kajaks war das schwieriger. »Willst du es haben?«, fragte sie.

»Ich hole es«, sagte er.

Abigail ignorierte ihn und beugte sich so weit wie möglich hinaus. Sie hielt ihr Paddel fest in einer Hand, während sie den anderen Arm nach dem Gegenstand ausstreckte, die Augen schloss und danach tauchte. Ihre Hand landete ungeschickt darauf und sie packte zu, als sie zur Rolle ansetzte und mit dem Ding in der Hand tropfnass wieder auftauchte.

»Angeberin«, murrte Aleksandr. »Was ist es?«

Sie öffnete die Faust. »Eine Armbanduhr.« Sie hielt ihm die Uhr hin. »Erkennst du sie?«

Aleksandr drehte sie in seinen Händen um. »Das war Danilovs Armbanduhr. Diese Schurken müssen sie ihm abgenommen haben, ehe sie ihn erschossen haben.«

»Tut mir leid, Sasha. Weshalb sollten sie ihm die Uhr abnehmen? «

»Wir tragen manchmal Vorrichtungen zur Positionsbestimmung. Danilov hatte dieses System in seiner Armbanduhr.«

»Woher hätten sie das wissen sollen?«

»Es könnte eine bloße Vermutung gewesen sein.«

Seine Stimme klang so fern, als sei er in Gedanken weit weg. Der enge Knoten in ihrem Innern geriet in Bewegung und löste sich. Und das war erschreckend, denn sie musste ihre Abwehr aufrechterhalten. Sein Kummer, seine Wut und all seine Gefühle nagten an ihr, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als daran, ihn zu trösten. Sie verabscheute ihre Einfühlsamkeit, die sie nie unter Kontrolle hatte.

»Was für ein Mensch war er?«

Aleksandr schwieg lange. Das Meer schlug dröhnend gegen die Felsen, während die Wellen endlos ein- und ausliefen. Er seufzte. »Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, Abbey. Ich hatte keinen privaten Umgang mit ihm. Ich wünschte, ich hätte mich über diesen Teil von mir hinwegsetzen können – der Junge, der vom Staat erzogen worden ist, um für den Staat zu arbeiten und niemals jemandem zu trauen –, aber das habe ich nur ein einziges Mal getan.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, ein Zeichen seiner Aufgewühltheit, das sie kaum jemals an ihm gesehen hatte. »Ich hätte mehr mit ihm reden sollen. Er hatte eine Familie, Menschen, die ihm nahe standen.« Aleksandr fluchte in seiner Muttersprache und wandte den Blick von ihr ab.

Abigail dachte an all die Zeit zurück, die sie in seiner Gesellschaft verbracht hatte. Sie waren derart ineinander aufgegangen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass er sie nie seinen Freunden vorgestellt hatte. Mit Mitarbeitern hatte er sie häufig bekannt gemacht, aber nie mit Freunden. »Du bist fantastisch mit Joley umgegangen, Sasha. Du wusstest genau, was sie braucht, und du hast in jedem Moment exakt das Richtige gesagt. «

»Ich habe eine gründliche Schulung mitgemacht, Abbey. Ich durchschaue andere Menschen.«

»Warst du jemals wirklich in mich verliebt?« In dem Moment, als die Worte über ihre Lippen kamen, wollte sie sie zurücknehmen. Ihre Kehle war rau vor Schmerz, und das schlug sich in ihrer heiseren Stimme nieder.

Er fluchte erneut. »Wie kannst du mich das fragen?«

»Du hast mir gerade gesagt, dass unsere Begegnung kein Zufall war, sondern dass du schon von meinen Fähigkeiten wusstest, bevor du mir persönlich begegnet bist. Ich mag zwar naiv gewesen sein, Aleksandr, aber heute kann ich wieder klar denken. Du hast dieses Treffen mit mir eingefädelt, und dann hast du so getan, als seist du gern mit mir zusammen, damit ich dir bei deinem Fall helfe.«

»Verflucht noch mal, Abbey. Kinder sind gestorben. Soll ich mich etwa dafür entschuldigen, dass ich jedes erdenkliche Werkzeug benutzen wollte, das mir zur Verfügung stand? Ich habe mich gegen Vorschriften zur Wehr setzen müssen, gegen meine Vorgesetzten, gegen Eltern und gegen Behörden. Er hatte schon seit mehr als zwei Jahren Kinder getötet. Willst du wissen, wie meine Albträume damals ausgesehen haben?«

Einen Moment lang brannte seine Brust, und sein Magen verkrampfte sich und rebellierte. Er hätte sie am liebsten geschüttelt. Er wollte sie an einen Ort verschleppen, wo sie miteinander allein waren und sie nicht fortlaufen konnte und ihm zuhören musste. Es war ein dunkler, primitiver Trieb, und er schämte sich dessen ein wenig, aber er dachte gar nicht daran, sich für Dinge zu entschuldigen, die unvermeidlich gewesen waren. Schließlich war es nicht ihre Aufgabe gewesen, die kleinen Leichen zu untersuchen. Und sie war auch nicht diejenige gewesen, die den Eltern sagen musste, ihr Kind käme nicht mehr nach Hause, weil ein widerliches, perverses Ungeheuer sie an sich gebracht hatte. Und sie hatte auch nicht Tag und Nacht um Unterstützung gekämpft, während niemand wahrhaben wollte, was immer wieder passierte. Oder auch nur, dass so etwas passieren könnte.

Sie sah ihm ins Gesicht. Die Wut hatte seine Augen dunkelblau gefärbt und kleine weiße Linien um seine Mundwinkel herum gezeichnet. »Warum hast du mich nicht einfach nur darum gebeten, dir zu helfen?«

»Ich kannte dich nicht. Ich wusste nicht, was für ein Mensch du bist. Du kamst aus einem anderen Land, und du hast eine Gabe besessen, die ich nicht wirklich verstehen konnte. Wenn ich all das noch einmal tun müsste, dann würde ich dir von Anfang an die Wahrheit sagen, Abbey, aber selbst wenn ich dir nicht wahrheitsgemäß gesagt habe, dass ich bereits von deinen Fähigkeiten wusste, dann kannst du mir trotzdem glauben, dass meine Gefühle für dich echt waren und es noch heute sind. Du hast nicht nur mein Leben verändert, du hast mich verändert. Etwas in meinem Innern ist anders als früher. Ich dachte, ich könnte ohne dich leben, aber ich kann es nicht. Und es leuchtet mir auch überhaupt nicht ein, weshalb ich das tun sollte.«

»Aleksandr.« Sie versuchte ihm Einhalt zu gebieten, doch er schüttelte den Kopf.

»Nein, das hast du getan. Du hast es mir unmöglich gemacht, ohne dich zu leben. Die Arbeit spielt für mich nicht mehr die Rolle, die sie früher gespielt hat. Ich tue sie nach wie vor, routiniert und unbeteiligt, und ich führe meine Aufträge aus, aber es ist nicht mehr dasselbe. Ich war zielstrebig und hatte Schwung, und du hast mir beides genommen. Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht. Ich hatte weiß Gott genug Zeit, um darüber nachzudenken. Du bist zornig und du bist verletzt, und es ist dein gutes Recht, aber das ändert nichts an dem Umstand, dass wir beide zusammengehören. Ich bin nicht bereit, das, was wir hatten, einfach wegzuwerfen.«

Eine kräftige Welle barst dröhnend in der Höhle, und Wasser sprühte hoch. »Wir sollten lieber sehen, dass wir von hier verschwinden«, riet Abigail. Sie konnte nicht mit ihm reden. Wenn das, was er sagte, der Wahrheit entsprach, brach es ihr das Herz. Sie wollte nach Hause und sich von der Wärme und der Liebe ihrer Schwestern trösten lassen. »Wir haben noch den Rückweg zum Hafen vor uns, Sasha. Und es ist schon ziemlich spät. Wenigstens weißt du jetzt, dass sie sich in jener Nacht hier versteckt haben.«

»Aber hier haben sie das Boot nicht liegen. Wir müssen es finden.«

Abigail zog die Stirn in Falten und versuchte, sich in allen Einzelheiten an den Küstenabschnitt zu erinnern, den sie vom Wasser aus kannte. Sie schnalzte mit den Fingern. »Moment mal. Ich weiß nicht, warum ich nicht schon eher daran gedacht habe, aber es gibt eine Stelle südlich von hier. Sie ist ein gutes Stück weit entfernt, aber wenn ich ein Boot so verstecken wollte, dass keiner es findet, dann würde ich es dort versuchen. Es ist keine Höhle, Sasha, aber du siehst ja selbst, dass die Flut einläuft und wie rau die Wellen sein können. Im Vergleich zur übrigen Küste ist es hier noch ruhig. Es ist also gefährlich, ein Boot in einer Höhle zu verstecken, sogar für kurze Zeit. Ich würde wetten, sie haben sich hier versteckt und das Boot fortgebracht, sowie sie sich wieder in Sicherheit gefühlt haben.«

»Sie würden es an einem Ort verstecken wollen, den man weder von einem der Strände noch vom Meer aus allzu leicht sehen kann.«

»Direkt im Norden eines Städtchens, das Elk heißt, liegt mitten in einen langen Strand eingebettet eine kleine Bucht, zwischen zwei Vorsprüngen von Cuffeys Cove. Diese Bucht hat einen Sandstrand, der selbst bei Flut trocken bleibt, es sei denn, ein Sturm kommt auf. Dort könnte man ein Boot zwischen die Büsche und Bäume ziehen. Sportfischer können es sehen, aber ein Boot der Küstenwache würde es nicht bemerken, weil die Bucht nach Süden gewandt ist. Sogar die Schnellstraße macht dort einen Bogen und entfernt sich von der Küste. Normalerweise gibt es einen Verwalter, und er vertreibt jeden, der eine Abkürzung über das Privatgrundstück nehmen will, aber Inez hat mir vor ein paar Wochen erzählt, dass er verletzt aufgefunden wurde und im Krankenhaus liegt.«

»Das sehen wir uns jetzt gleich an.«

»Du weißt selbst, dass daraus heute nichts mehr wird. Sieh dir die Dünung an.« Sie wies auf das Meer hinaus. »Diese Küste kann sehr rau sein. Lass uns an Land paddeln und an einem der kommenden Tage dorthin fahren.«

»Ich brauche dich heute Abend trotzdem noch. Ich will mir das Caspar Inn ansehen, und du wirst mitkommen müssen.«

»Weshalb sollte ich mitkommen müssen? In diesem Gasthaus bist du vollkommen sicher. Da gehen die Leute hin, um sich zu entspannen.«

»Du musst trotzdem mitkommen. Ich habe keinen Partner mehr, oder hast du das vergessen?«

»Nimm Jonas mit«, fauchte sie ihn durch zusammengebissene Zähne an und paddelte heftig, um einen größeren Abstand zwischen sich und ihn zu legen.

Er konnte bei diesem Tempo mühelos mithalten. »Jeder kennt Jonas. Ich glaube, ich habe Ilja Prakenskij ausfindig gemacht. Er arbeitet für einen Mann namens Sergej Nikitin, und ich sagte dir ja schon, dass er sehr gefährlich ist. Wenn du mich begleitest, könnte das Treffen friedlich verlaufen. Wenn ich ohne dich dort auftauche, werden sie glauben, ich sei gekommen, um Jagd auf sie zu machen, und dann könnte jemand verletzt werden.«

Sie sah ihn finster und mit unverhohlenem Argwohn an. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mich dabeihaben willst, wenn auch nur die geringste Gefahr besteht.«

»Normalerweise würde das zutreffen, aber ich glaube, dass deine Anwesenheit von Gewalttätigkeiten abschrecken wird, und dort halten sich zu viele Unschuldige auf.«

»Glaubst du, dass Prakenskij und Nikitin etwas mit dem Kunstraub zu tun haben?«

»Genau das beabsichtige ich herauszufinden.«

Abigail seufzte. Sie hätte Nein sagen sollen. Es hätte ihr leicht fallen sollen, aber stattdessen zuckte sie die Achseln und versuchte, ihr pochendes Herz zum Verstummen zu bringen. »Um wie viel Uhr?«