5.

Aleksandr spürte den Aufprall einer Kugel, die in seinen Rücken einschlug. Er trug eine kugelsichere Weste, aber die Wucht reichte aus, um ihn gegen den aufgewühlten Sand zu pressen. Er hatte keine Zeit gehabt, um Atem zu holen, bevor er untergetaucht war, und er bezweifelte, dass eine der beiden Drake-Schwestern Zeit dafür gefunden hatte. Abigail zog am Ärmel seines Jacketts, und er vertraute sich ihrer Führung an. Sie kannte die Bucht besser als jeder andere, und er musste sich auf sie verlassen.

Direkt vor ihm schwamm Abigail mit kräftigen, gleichmäßigen Zügen ins tiefere Wasser hinaus und bewegte sich zwischen den Delfinen, um die Felsen zu erreichen. Seine Lunge brannte, und tief in seinem Innern regte sich die Wut wie ein eigenständiges Lebewesen. Er hatte sich viele Feinde gemacht, aber dass jemand einen Schuss abgab, der Abigail beinah getroffen hätte, war zu viel.

Abigail deutete auf die dunklen Umrisse vor ihnen und versuchte, an ihm vorbeizukommen, um zu Joley zu gelangen. Aleksandr zog Joley zu den Felsen und hielt einen Arm fest um Abigail geschlungen. Er würde sie nicht loslassen, denn nur so konnte er verhindern, dass sie sich an einer heldenhaften Dummheit versuchte, wie beispielsweise der, die Schüsse auf sich zu lenken, während er sich verbarg.

Er sog Luft in seine Lunge, ohne den Kopf allzu weit aus dem Wasser zu heben. »Ist eine von euch beiden getroffen worden?«

»Nein«, sagte Joley, »und es ist mir sogar gelungen, meine Waffe festzuhalten.«

Die Wellen waren hier stärker und pressten sie in Richtung der Felsen. Daher stemmte Aleksandr sich dagegen und hielt die beiden Frauen von den Felsblöcken fern, die das Wasser ausgewaschen hatte. »Hier können wir nicht bleiben. Die Wucht der Wellen wird uns erdrücken.« Sie trugen alle Kleidung, die schwer an ihnen zog. Der einzige Vorteil, den sie hatten, lag in dem Umstand, dass die Rinne relativ seicht war.

Abigail nickte zustimmend. »Gleich dort drüben gibt es eine Reihe von Höhlen.« Sie deutete auf die Nordseite der Bucht. »Der Eingang ist unter Wasser, und sie sind nicht ohne weiteres zu erreichen. Ihr werdet Platzangst bekommen und versuchen wollen, aus dem Wasser aufzutauchen, aber das geht nicht, denn ihr schwimmt durch eine Felsröhre, und man kann nirgends Luft holen. Wir müssen alle im letzten Moment tief einatmen, bevor wir versuchen, in die Höhlen zu gelangen.«

»Sitzen wir dort nicht in der Falle?«, fragte Joley. Eine schäumende Welle schlug über ihrem Kopf zusammen und tauchte sie unter. Aleksandr riss sie hoch, bevor sie gegen die Felsen geschmettert wurde. Joley spuckte Wasser und hustete, aber sie blickte finster zu den Klippen und schien zu wütend zu sein, um sich wirklich zu fürchten. »Ich will nicht von jemandem in einem Boot oder oben auf den Klippen erwartet werden. Da würde ich lieber aufs offene Meer hinausschwimmen.«

»Joley …« Abbey wischte sich Gischt von den Wangen, als sie die Auflehnung und den Widerstand ihrer Schwester spürte. Joley konnte manchmal ziemlich stur sein, und dafür war jetzt nicht der rechte Zeitpunkt.

»Mir graust vor engen Räumen«, gestand Joley. »Ich gerate in Panik, Abbey. Das schaffe ich nie. Es war schon schlimm genug, diese Treppe in der Mühle hinunterzusteigen. Und wenn wir in der Höhle festsitzen …«

»Tut mir leid, ich hätte daran denken sollen, aber die Höhlen sind sicherer als der Versuch, die Bucht zu erreichen. Angeblich gibt es dort einen alten Tunnel, der mit Kates Schmugglertreppe verbunden ist. Wir werden versuchen, ihn zu finden, um dann wieder zur Hauptstraße zu gelangen«, erklärte Abigail. »Das ist unsere einzige Chance, falls sie oben auf den Klippen stehen. Im Meer sind wir Zielscheiben, Joley.« Dass die Gegend häufig von weißen Haien aufgesucht wurde, behielt sie lieber für sich. Angesichts der Haie, der Felsen und der heimtückischen Strömungen brächten sie sich ernstlich in Gefahr, wenn sie aufs offene Meer hinausschwammen. Sie mussten Schutz suchen.

Eine Welle warf Abigail gegen den Felsen, bevor Aleksandr sie zu fassen bekam. Der Aufprall verschlug ihr den Atem, und sie riss die Arme hoch und wollte mit ihren Fingern Halt an dem glitschigen Gestein finden.

Augenblicklich riss ein Kugelhagel Brocken aus dem Felsen. Aleksandr zog Abbey an sich und drückte sie mit einem Arm an seine Brust. »Bist du getroffen worden?«

Sie schüttelte den Kopf und riss ihren Arm in das kalte Wasser zurück. Ihr Hinterkopf brannte, wo er von sprühenden Felssplittern getroffen worden war. »Hier können wir nicht bleiben. Die Wellen sind zu stark. Der Versuch, uns festzuhalten, wird dich auf Dauer erschöpfen, Sasha.« Die nächste Welle rollte an, und sie tauchte mit dem Kopf unter Wasser, weil sie nicht riskieren wollte, wieder gegen den Felsen geschleudert zu werden. Nachdem die Welle gegen den Felsen geschlagen war, tauchte sie wieder auf. Sie mussten sich schleunigst in Bewegung setzen. Es war Wahnsinn, noch länger in dieser Falle festzusitzen. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie Joley in diese abscheuliche Lage gebracht hatte. Wenn ihr etwas zustieß … Abigail durfte gar nicht daran denken. Sie musste dafür sorgen, dass sie möglichst schnell zu den Höhlen gelangten.

Aleksandr wand sich aus seinem Jackett. Seine schweren Kleidungsstücke behinderten ihn. Dann gab er Abigail ein Zeichen, die Führung zu übernehmen.

»Bleib dicht bei mir«, ermahnte sie Joley.

»Ich bin direkt hinter dir«, versicherte ihr Joley, doch in ihren Augen standen Tränen. Die Vorstellung, in eine kleine Höhle zu schwimmen und auf dem Weg nicht auftauchen zu können, löste unbeschreibliches Grauen in ihr aus, aber sie durfte Abigail nicht davon abhalten, sich in Sicherheit zu bringen.

Ohne jede Vorwarnung strömte ein Windstoß auf dem Weg vom Meer zu den Klippen an ihnen vorbei wie ein grimmiger, aufheulender Wutausbruch. Wasser sprühte in etlichen strudelnden Geysiren in die Luft. Weiße Schaumkronen bedeckten die Wogen und Trümmer vom Meeresgrund wurden durch die Luft an Land geschleudert. Die Wellen schlugen hoch gegen die Klippen und spritzten nach oben, als suchten sie Beute. Möwen schrien und versammelten sich aus allen Himmelsrichtungen, und dann begannen sie, die Klippe im Sturzflug anzugreifen. Sie sanken rasch vom Himmel und stürzten sich mit ihren tückischen Schnäbeln auf etwas, was sich oben auf der Klippe schnell bewegte, um gnadenlos darauf einzuhacken.

Joley und Abigail wechselten einen langen Blick miteinander. Auf beiden Gesichtern breitete sich ein Lächeln aus.

»Weiht mich ein, was hier gespielt wird«, sagte Aleksandr und bemühte sich, nicht zu keuchen, als eine weitere Welle alle drei fast an den Felsen zerschmettert hätte.

»Hannah ist aufgewacht, und sie ist stinksauer«, sagte Joley. »Lasst uns aufbrechen, solange unser Killer anderweitig beschäftigt ist.«

»Elle hat eindeutig auch ihre Finger im Spiel«, sagte Abbey voller Zufriedenheit. »Die Möwen sind Elles Werk. Hannah liebt das Dramatische, aber Elle geht dir an die Gurgel.« Sie tauchte unter und schwamm mit kräftigen Beinstößen, um dicht über dem Grund zur Nordseite der Bucht zu gelangen.

Joley folgte ihr und dicht dahinter Aleksandr. Durch Berührungen blieben sie miteinander in Verbindung. Das Wasser war kalt, und Aleksandr fürchtete, die Unterkühlung könnte einsetzen, bevor es einem von ihnen bewusst wurde. Sowohl Joley als auch Abigail zitterten unablässig, obwohl es keiner von beiden aufzufallen schien. Er wusste, dass ihnen das Adrenalin, das durch ihre Körper gepumpt wurde, eine Illusion von Wärme vorgaukelte.

Er spürte, wie ein größerer Körper ihn streifte, und ihm wurde bewusst, dass die Delfine in der Nähe waren, als sie durch eine seichte Rinne schwammen. Als er gerade sicher war, dass seine Lunge bersten würde, tauchte Abigail auf, um tief Luft zu holen. Ihre angstvolle Sorge war nicht zu übersehen, als sie ihre Schwester betrachtete.

Joleys Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Aleksandr zog sie an sich. »Hör mir gut zu.« Er sprach mit einer betont sanften Stimme zu ihr. »Du schaffst das. Wenn du aufgrund der Enge in Panik gerätst, dann musst du dich auf etwas anderes konzentrieren. Sag dir Songtexte oder Gedichte auf. Lass dir ein Lied einfallen und denk immer daran, dass du nicht allein bist. Ich werde in Reichweite sein.«

»Ich werde direkt vor dir sein, Joley«, beteuerte ihr Abigail, »und ich würde dich niemals im Stich lassen.«

Joley betrachtete beide einen Moment lang und nickte dann. »Ich bin bereit.«

»Tief Atem holen«, ermahnte Abigail die beiden und tauchte wieder unter.

Aleksandr stieß Joley vor sich her und trieb sie durch das kalte Wasser in die Höhle unter dem Wasserspiegel. Seine Schultern streiften die Wände auf beiden Seiten, als er durch die Öffnung schwamm. Abigail hatte recht gehabt, als sie gesagt hatte, sie könnten Platzangst bekommen. Sein Instinkt trieb ihn dazu, augenblicklich an die Oberfläche tauchen zu wollen. Er konnte Felsen über seinem Kopf und auf beiden Seiten spüren. Noch schlimmer war, dass er sich nicht umdrehen und kehrtmachen konnte. Wenn ihm schon so zumute war, dann war ihm klar, dass es für Joley die Hölle sein musste. Mehrfach streichelte er mit seiner Hand ihr Bein, um ihr Mut zu machen. Er konzentrierte sich darauf, dafür zu sorgen, dass sie es durch das dunkle Nass schaffte.

Abigail war sich dessen bewusst, dass ihre Zeit knapp wurde. Sie waren schon zu lange im Wasser gewesen, und ihr Körper wurde träge. Joley schwamm selten im Meer und würde leicht ermüden. Abigail strengte sich an, um durch den irreführenden Tunnel in die kleine Höhle am Ende zu gelangen. Dort brach ihr Kopf durch den Wasserspiegel, und schon während sie Luft schnappte, griff sie hinter sich und zog Joley hoch. Joley hustete und klammerte sich an Abigail, während Aleksandr sich ihnen anschloss.

Aleksandr half beiden Frauen aus dem Wasser. Es war so dunkel, dass sie sich mit den Händen zum Rand des Wassers vortasten mussten, um sich dort auf trockene Felsen zu ziehen. Zum Glück war es ohne den kräftigen Wind etwas wärmer in der Höhle, doch Aleksandr war besorgt um beide Frauen. Sie zitterten unbeherrscht. »Wir müssen euch dringend an einen wärmeren Ort bringen«, sagte er. »Wir brauchen Licht, damit wir sehen, was wir tun.«

»An der Nordwand lag früher eine Fackel«, sagte Abigail mit klappernden Zähnen. »Und direkt darunter lag auf dem Höhlenboden ein Feuerzeug für eventuelle Taucher bereit, die in die Höhle gelangen könnten. Mit etwas Glück ist beides noch da.«

Aleksandr tastete umher, bis seine Hände auf die Fackel stießen. Darunter lag das Feuerzeug. »Ist die Existenz dieser Höhle allgemein bekannt?« Er zündete die Fackel an und erhellte die kleine Grotte, die das Meer aus den Felsen ausgehöhlt hatte.

»Nur ein paar Taucher wissen davon. Und eine Hand voll Leute, die sich eingehend mit der Geschichte dieser Region befasst haben.« Sie rieb mit ihren Händen Joleys Arme, damit ihr etwas wärmer wurde. »Ich habe die Treppe, die von hier aus nach oben führt, nie benutzt, aber ich weiß, dass der Tunnel vor fünf Jahren noch intakt war.«

»Wie kommt es eigentlich, dass ich die Einzige bin, die nichts von diesen Dingen weiß?«, fragte Joley. »Ich bin hier aufgewachsen – man sollte meinen, ich wüsste von Dingen wie verborgenen Höhlen.«

»Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, zu singen, und das ist auch gut so, denn du hast eine wunderschöne Stimme«, hob Abbey hervor und trat die kleinen Steine aus dem Weg, über die Joley stolpern könnte. »Hier entlang, Sasha. Kannst du das Licht mitbringen?«

»Und du hast jede Minute im Meer verbracht«, sagte Joley. »Aleksandr, ich danke dir dafür, dass du mir im Wasser geholfen hast. Es hat mir gar nicht behagt, dass ich nichts sehen konnte. Einen Moment lang dachte ich, ich bekomme einen Herzinfarkt, und dann hast du mein Bein gestreichelt, und alles war wieder in Ordnung.«

»Es freut mich, dass ich dir helfen konnte.«

Abigail verstummte und blickte auf etwas hinunter, was Joley nicht sehen konnte. »Aleksandr. Das solltest du dir mal ansehen. Ich glaube nämlich, dass es echt ist, und ich möchte es nicht anfassen.«

Er trat neben sie, und sein Körper streifte ihren. »Was ist, Abbey?« Sein Arm legte sich um sie, und er zog sie an sich. »Du bist eiskalt.«

»Du trägst eine kugelsichere Weste.«

»Das ist auch gut so, denn sonst wäre ich jetzt tot.«

Sie wandte den Kopf abrupt zu ihm um. »Du bist getroffen worden? Wo? Zeig mal her.«

Die Sorge in ihrer Stimme ging ihm zu Herzen. »Es ist nichts weiter, bauschki-bau, nur eine Prellung und sonst gar nichts. Was hast du gefunden?«

»Ich weiß es nicht. Schau es dir selbst an.«

Aleksandr kauerte sich hin, um sich die Kette anzusehen, die jemand anscheinend versehentlich hatte fallen lassen und die jetzt halb unter dem Schutt verborgen war. Abigail nutzte die Gelegenheit, um sich seinen Rücken anzusehen. Es gab eindeutige Hinweise auf ein Einschussloch in seiner Weste. Das Herz zersprang ihr fast in der Brust. Sie presste eine Hand auf das kleine Loch und sah Joley an. »Tut mir leid, Schätzchen. Ich hätte dich niemals bitten dürfen mitzukommen.«

»Soll das ein Witz sein? Tante Carol hat recht. Das ist ein Abenteuer, wie man es nur einmal im Leben geboten bekommt. Wir brauchen Fotos für unsere Alben!« Joley warf ihr nasses Haar zurück und rang sich mit klappernden Zähnen ein Lächeln ab. »Wie oft kommt es schon vor, dass Killerasse aus Russland versuchen, dich umzubringen?«

»Das kann nicht Prakenskij gewesen sein«, sagte Aleksandr, während er die Halskette behutsam ausgrub und sie ehrfürchtig in die Hand nahm.

Joley stemmte einen Arm in ihre Hüfte. »Verdirb mir bloß nicht den Spaß, Aleksandr. Ich bemühe mich redlich, der Situation etwas abzugewinnen.«

»Du läufst blau an, Joley. Wir müssen sehen, dass wir von hier wegkommen«, sagte Abigail. »Warum kann es nicht Prakenskij gewesen sein? Wie viele Leute laufen denn sonst noch durch die Gegend und versuchen, uns zu erschießen?«

»Offensichtlich mehr als einer.« Aleksandr wirkte geistesabwesend. »Es war nicht Prakenskij, denn sonst wären wir jetzt alle drei tot.«

»Gut zu wissen«, sagte Joley. »Ich will jetzt gehen. Für heute reicht’s mir. Ich habe noch nicht mal meine erste Tasse Tee getrunken und irgendwelche Leute schießen auf mich. Findet diese Treppe. Ich habe nämlich keine Lust, durch das schwarze Loch zurückzuschwimmen.«

»Der Eingang ist gleich dort drüben.« Abigail deutete in die Richtung, doch ihre Aufmerksamkeit galt Aleksandr. »Nicht weit von Sasha. Was ist das? Das Ding ist echt, stimmt’s?«

»Ja.« Aleksandr atmete langsam aus und sah gebannt das Stück Geschichte an, das er in seinen Händen hielt. »Ich glaube es jedenfalls. Ich glaube, dass es sich um eine Kette handelt, die seit Jahren vermisst wird. Im März 1917 hat Nikolaus II, der Zar des russischen Reichs, abgedankt. Danach wurde eine vorläufige Regierung gebildet.« Ehrfurcht lag jetzt auch in seiner Stimme. »Der Zar, seine geliebte Frau, Zarin Alexandra Feodrowna, und ihre fünf Kinder wurden nach Sibirien deportiert. Es hieß, sie besäßen eine kleine Sammlung von Schmuckstücken, die der Zar für seine Frau aufbewahrt hatte. 1918 wurden die gesamte Familie und zusätzlich noch vier getreue Gefolgsleute heimlich hingerichtet.«

»Diese Geschichte habe ich natürlich schon gehört«, sagte Abigail, der ein Schauer über den Rücken lief. Sie und Joley tauschten einen langen Blick miteinander aus. »Aber was hat all das mit dieser Kette zu tun?«

Aleksandr richtete sich mit dem schweren Schmuckstück in seinen Händen auf. »Es wird gemunkelt, vor der Hochzeit hätte Nikolaus eine ganz besondere Halskette für Alexandra in Auftrag gegeben. Tatsächlich hatte sie ihn zwischenzeitlich abgewiesen, da man sie in Russland alles andere als herzlich willkommen geheißen hatte. Die Kette wurde ausschließlich aus den seltensten und vollkommensten Edelsteinen angefertigt und sollte Alexandra zeigen, wie sehr der Zar sie liebte und bewunderte. «

»Ist das wahr?«

Er zuckte die Achseln. »Bis jetzt war der einzige Beweis, den ich je für die Existenz dieser Kette gesehen habe, ein kleines Gemälde. Und dieses Gemälde ist vor circa vier Jahren aus einer Sammlung gestohlen worden. Es kamen viele Gerüchte auf, die Kette sei da oder dort aufgetaucht, aber niemandem ist es je gelungen, das Stück tatsächlich zu finden. Ihr macht euch keine Vorstellung davon, wie viele Staatsschätze aus unserem Land geschafft worden sind. Zeugnisse unserer Geschichte, die unserem Volk zustehen.« Er schüttelte den Kopf und drehte sich zu den beiden um. »Wir hatten die Fährte von verschiedenen Kunstwerken aufgenommen. Wenn dieses Stück hier echt ist, dann übersteigt der Fund alles, was ich mir je erträumt habe. Es handelt sich um eine Kostbarkeit von unschätzbarem Wert.«

»Aber wie könnte die Kette in diese Höhle gelangt sein?«, fragte Abigail.

»Das ist eine sehr gute Frage.« Aleksandrs Aufmerksamkeit richtete sich jetzt wieder auf die beiden zitternden Frauen. »Entschuldigt meine Unaufmerksamkeit. Ich muss euch schleunigst an einen warmen Ort bringen.«

»Wir werden die Fackel mitnehmen müssen, weil wir keine Taschenlampe haben«, sagte Abigail. »Komm schon, Joley, jetzt ist es nicht mehr weit und dann sind wir im Warmen.«

Joley folgte ihrer Schwester zum Fuß der Treppe. »Du willst, dass ich da raufsteige?« Die Stufen waren in die Klippe selbst gemeißelt, und die Treppe wand sich sehr schmal und steil nach oben in den Fels hinein. Es war dunkel und stellenweise tropfte es von der Decke, die an anderen Stellen bedrohlich niedrig war. Sie trat zurück und schüttelte den Kopf. »Lieber nehme ich es mit dem Killerass auf.«

Abigail legte ihren Arm um Joley. »Ich weiß, dass du dich fürchtest, aber die Treppe sollte an einem gewissen Punkt auf Kates unterirdisches Stufensystem treffen und uns in den Keller der alten Mühle führen.«

»Abbey kann vorausgehen, und ich werde dicht hinter dir sein«, beteuerte Aleksandr Joley. »Ich werde dir ein russisches Lied vorsingen.« Er lachte leise. »Ein Wiegenlied, denn das ist das Einzige, was ich singen kann.«

Joley holte tief Atem und nickte. »Normalerweise stelle ich mich wirklich nicht so an. Ich habe nur einfach ein Problem damit, wenn ich mich eingesperrt fühle.«

»Niemand unterstellt dir, dass du feige bist, Joley«, sagte Abigail. »Lasst es uns hinter uns bringen. Hannah und Elle haben bestimmt schon Jonas verständigt, und der rennt draußen auf den Klippen herum und dreht durch, weil er glaubt, wir seien erschossen worden oder ertrunken.« Sie machte sich mit der Fackel in der Hand an den Aufstieg und spürte Joleys geballte Faust im Saum ihres nassen Hemds.

»Wenn er zu unserer Rettung einen Suchtrupp anfordert, schäme ich mich in Grund und Boden«, sagte Joley. »Kannst du dir die Revolverblätter vorstellen? Was glaubst du wohl, wie die das ausschlachten würden?«

»Er wird keinen Suchtrupp anfordern, solange Hannah oder Elle ihm kein grünes Licht geben. Und die beiden wissen, dass wir am Leben sind«, sagte Abigail zu ihr. »Sasha, was ist, singst du jetzt oder nicht?«

Er räusperte sich. »Ich wollte deiner Schwester nur Mut machen. Aber singen werde ich in ihrer Gegenwart ganz bestimmt nicht.«

»Am besten fängst du jetzt gleich damit an«, sagte Joley.

Er seufzte. »In Ordnung, aber erzählt das bloß niemandem.«

Abigail wappnete sich innerlich gegen den Klang seiner Singstimme. Vor Jahren hatte er ihr, wenn sie spätnachts in seinen Armen lag, mit seiner wunderbaren vollen Stimme vorgesungen. Er sang immer nur in seiner Muttersprache, und sie hatte ihm dann nie widerstehen können. Jetzt stimmte er ein überliefertes Wiegenlied der Kosaken an, und sie wusste, dass er es bewusst ausgewählt hatte, um sie an frühere Zeiten zu erinnern. Seine Stimme schien vibrierend durch ihren Körper zu hallen und sämtliche Nervenenden zu berühren, bis Tränen in ihren Augen brannten und sie schnell mehrfach hintereinander blinzeln musste, um wieder klar zu sehen.

»Manche Worte verstehe ich«, sagte Joley. »Im Sinne von ›schlaf, mein Kindchen, mein schönes Kindchen‹, aber dann kommt dieses Wort, das du vorhin auch zu Abbey gesagt hast. Bauschki-bau. Was heißt das?«

»Das kann man nicht übersetzen. Es ist ein zärtliches Kosewort. Oft nenne ich sie auch mein schönes Kindchen, aber das kann sie nicht leiden.«

Abigail schüttelte den Kopf, denn sie wollte nicht hören, was er sagte. Nur nichts fühlen und sich auch nicht daran erinnern, wie es früher mit ihm gewesen war! Er war immer ihr fürsorglicher Beschützer gewesen … und das hatte sich als die größte Illusion von allen erwiesen.

»Du hast eine wunderschöne Stimme. Du hättest Sänger werden sollen«, sagte Joley voller Erstaunen. »Mit dir würde ich gern mal zusammen singen.«

»Mir genügt es, wenn ich später unsere Kinder in den Schlaf singen kann.«

Abigails Faust ballte sich fester um die Fackel. Sie würden keine Kinder miteinander haben. Wie oft hatten sie darüber gesprochen, gemeinsame Kinder zu haben? Er wollte eine große Familie haben, weil er nie eine eigene Familie gehabt hatte. Keine Geschwister, keine Verwandten. Immer wieder hatte er gesagt, er wollte fünf Mädchen und fünf Jungen, und sie hatte gelacht und den Kopf geschüttelt und versucht, ihn auf eine vernünftigere Zahl herunterzuhandeln.

Sie musste unbedingt das Thema wechseln, ihn dazu bringen, dass er über etwas sprach, was keine persönlichen Bezüge herstellte. »Erzähl uns mehr darüber, was aus dieser Kette geworden ist.«

Joleys Faust ballte sich fester um Abbeys Hemd, eine stumme Geste des Verständnisses. Oft neckte sie Abigail, doch im Moment konnte sie den Schmerz ihrer Schwester fühlen und wollte, dass er verging. Was auch immer sich zwischen Aleksandr und Abigail abgespielt hatte, musste furchtbar gewesen sein, und Joley empfand tiefes Mitgefühl mit beiden. Einen Moment lang wünschte sie, sie besäße Libbys Heilkräfte und könnte die Wunden schließen, die zwischen diesem Paar aufklafften.

»Nach der Hinrichtung wurden die Leichen der Romanows an den Ort gebracht, an dem man sie begraben wollte, gleich nördlich von Jekaterinburg. Hier gab es Sümpfe, Torfmoore und stillgelegte Bergwerkschächte. Die Wachen haben die Leichen entkleidet und ihnen alle Wertgegenstände abgenommen. Aus Augenzeugenberichten wissen wir, dass mehrere Pfund Diamanten an ihren Körpern gefunden wurden. In etlichen Versionen der Geschichte hieß es, die Zarin hätte die Kette um ihren Hals getragen oder zumindest an ihrem Körper verborgen, und sie sei ihr von einer der Wachen abgenommen worden. Aber diese Halskette ist der Regierung nie ausgehändigt worden. Falls sie tatsächlich bei einem Familienmitglied gefunden wurde, hat jemand sie an sich gebracht und gut versteckt.«

»Wo kann sie die ganze Zeit gewesen sein?«, fragte Abigail. Ihre Stimme klang gepresst, und ihre Kehle war zusammengeschnürt und rau. Sie hielt den Blick nach vorn gerichtet, weil sie ihn nicht ansehen wollte. Er kannte sie zu gut und hätte sofort gewusst, dass sie ihm gegenüber nicht gleichgültig war.

»Eine gute Frage. Aber bevor ich mich allzu intensiv damit auseinander setze, will ich mir die Echtheit bestätigen lassen.«

Abigail machte so abrupt Halt, dass Joley fast mit ihr zusammengeprallt wäre. »Ich kann nicht genau sagen, ob der Schacht hier eingestürzt ist oder ob ich auf eine Wand gestoßen bin und die Verbindung zu Kates Treppe ganz in der Nähe ist.« Sie richtete den Lichtschein auf die Felsmauer.

Joley erschauerte. »Finde sie schnell, Abbey.«

Aleksandr legte Joley einen Moment lang seine Hand auf die Schulter. »Hier ist die Verbindungsstelle, daran besteht überhaupt kein Zweifel«, sagte er im Tonfall tiefer Überzeugung.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Joley.

Abigail beantwortete ihre Frage. »Weil jemand die Höhlen und diese Treppen benutzt, um etwas ins Land zu schmuggeln. Wahrscheinlich das, worauf es Aleksandr und sein Partner abgesehen hatten. Das heißt, es muss einen Weg an die Oberfläche geben.«

»Sie hat recht, Joley«, stimmte Aleksandr ihr zu. »Nur noch ein paar Minuten und wir sind draußen.«

»Glaubst du, derjenige, der auf uns geschossen hat, ist noch da?«

Abigail lachte. »Das hättest du wohl gern. Du wirst keine Gelegenheit bekommen, jemanden zu erschießen. Bestimmt ist Jonas bereits auf dem Schauplatz erschienen und der Killer ist längst verschwunden. Hannah und Elle haben ihn wahrscheinlich mit den Möwen vertrieben.«

»Also, das finde ich jetzt echt fies. Ich habe noch nicht gefrühstückt und bin schon ins eiskalte Meer getrieben und mit Tonnen von Fels über meinem Kopf unterirdisch eingezwängt worden. Es gibt nur eine Möglichkeit, damit es mir wieder besser geht, und die heißt Rache.«

»Warum hat dich eigentlich noch niemand rekrutiert?«, fragte Aleksandr. »Da, Abbey. Dort ist die Verbindung. Siehst du diesen enormen Felsspalt? Der ist nicht von Natur aus da. Tritt zurück, an dieser Stelle könnte sich eine Falle befinden.«

»Ich gäbe eine großartige Interpolagentin ab«, sagte Joley. »Ich bin so anonym.« Sie grinste ihre Schwester an.

»Joley würde wirklich eine ausgezeichnete Agentin abgeben«, sagte Abbey voller Stolz. »Sie bleibt selbst unter Beschuss cool, und sie ist richtig gut in den Kampfsportarten. Sie behält sogar in Extremsituationen einen klaren Kopf, und wenn ihr etwas so schwer fällt wie das hier, dann tut sie es trotzdem.« Sie trat zurück und schmiegte sich eng an ihre Schwester, während sie ihre Finger über den Spalt gleiten ließ. »Hier ist ein Riegel.«

»Lass mich mal ran«, ordnete Aleksandr an.

»Dafür ist es hier zu eng«, widersprach Abbey. »Hier drinnen können wir nicht die Plätze miteinander tauschen.« Ihre Finger fanden einen Stift, der die beschwerte Steinplatte an ihrem Platz festhielt. In dem Moment, als sie ihn hinauszog, schwang die Tür unter Ächzen und Quietschen langsam auf. Sie hörte, wie Joley nach Luft schnappte, und streckte einen Arm hinter sich, um ihre Hand zu halten. »Wir sind schon fast in Kates Mühle, Joley«, versprach sie ihr.

»Noch mehr Fels über meinem Kopf. Irgendwie kommt mir das vor wie ein Grab.« Joley erschauerte. »Lasst uns sehen, dass wir schnell hier rauskommen.«

»Warte, Abbey, geh keinen Schritt weiter«, sagte Aleksandr warnend. »Ich gehe voran.«

»Wir sind die Treppe hinuntergekommen, die von der Mühle zum Meer führt«, sagte Abigail. »Meinst du nicht, wenn uns jemand eine Falle stellen wollte, hätten wir sie längst hinter uns?«

»Die optimale Stelle ist genau hier, direkt vor deinen Füßen.« Seine Stimme war zu reinem Stahl geworden. »An der Treppe in der Mühle können sie keine Vorrichtung anbringen, weil eure Schwester oder jemand, der ganz legal dort arbeitet, verletzt werden könnte und es dann zu einer Untersuchung käme. Ein Taucher könnte die Höhle entdecken und die Treppe hinaufsteigen, um zu sehen, wie weit sie in die Klippe hineinführt. Sichern müssen sie nur diesen Bereich hier, denn das ist ihr Fluchtweg und die Verbindung zur Hauptstraße, und von dort aus können sie das, was sie ins Land gebracht haben, mühelos transportieren.«

Abigail presste sich augenblicklich flach an die Wand. »Joley, kannst du dich möglichst klein machen und dich eng an die Wand schmiegen, damit Aleksandr versuchen kann, an uns vorbeizukommen? «

»Na prima«, maulte Joley. »Und du musst natürlich ein Kleiderschrank von einem Mann sein, mit Schultern, die so breit sind wie der Mississippi.« Sie versuchte sich an den Fels zu quetschen.

Aleksandr gelang es, sich an Joley vorbeizuzwängen, wobei er sich mehrfach murmelnd entschuldigte. Abigail packte er an den Schultern, als er versuchte, sich an ihr vorbeizuschieben. In dem Moment, als sich sein Körper an ihren presste und er ihre zarte Haut spürte, erkannte sein Körper ihren, auch wenn sie noch so nass war und nach Meer roch. Sie passte zu ihm. Sie gehörte zu ihm. Er wollte sie durch und durch haben, mit Leib und Seele. Er brauchte sie sogar. Er fluchte leise, und seine Finger spannten sich auf ihren Schultern, als seine Reaktion ihn wie ein Fausthieb traf und weitaus heftiger war, als er es erwartet hatte.

Abigail blickte zu ihm auf, denn die Glut und die Härte seines Körpers nötigten sie dazu, obwohl es das Letzte war, was sie tun wollte. Die Fackel in ihrer Hand warf ihren Schein auf sein Gesicht, auf die Furchen, die sich so tief eingegraben hatten, auf die Augen, die im Lauf des Lebens zu viele Gräuel gesehen hatten. Sie hatte geglaubt, ihn zu kennen und zu wissen, wozu er fähig war, um andere vor Unheil zu bewahren. Sie hatte sich immer für einen seiner Schützlinge gehalten, und doch hatte er sie auf dieselbe Weise geopfert wie die anderen, die er benutzte, um an Informationen zu kommen. Das war ihr jetzt klar, und es war eine schmerzliche Lektion gewesen.

Abigail schüttelte den Kopf, um abzustreiten, dass tief in ihrem Innern sich etwas nach ihm sehnte. Sie würde sich nicht von der unterschwelligen Melancholie in seinen Augen anlocken lassen. Auch würde sie sich nicht von seiner Traurigkeit, von seinem Verlangen und noch nicht einmal von seiner grauenhaften Einsamkeit berühren lassen. Genauso wenig würde sie sich von dem hehren Anliegen, das er wirklich hatte, überzeugen lassen. Ja, es stimmte, er verwandte sein Leben darauf, Monster zu fangen und Verbrecher aufzuspüren, und er hatte es diesem Ziel geweiht. Sie wusste, dass er Ehrgefühl besaß und dass sein Vaterland auf seine Loyalität zählen konnte, aber sie wusste auch, dass er so erbarmungslos und skrupellos sein konnte wie jeder der Verbrecher, hinter denen er her war.

Sie würde sich nicht noch einmal in Gefahr bringen. Weder ihr Leben noch ihre Magie. Sie wandte ihr Gesicht ab.

Joley umklammerte ihre Finger fester und zog Abigails Aufmerksamkeit auf sich. Zusätzlich zu den Blutsbanden waren sie durch Magie miteinander verbunden. Was die eine fühlte, fühlte auch die andere, und Joley blinzelte gegen ihre Tränen an, denn sie begriff, dass Abigail etwas Schlimmes zugestoßen war. Abbey drückte beruhigend ihre Hand. Sie konnte ihre jüngere Schwester nicht vor den starken Gefühlen bewahren, die sie miteinander teilten. Ihr graute schon davor, ihren Schwestern die Wahrheit zu erzählen, doch sie wusste, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als ihnen eines Tages offen zu sagen, was sie getan hatte.

Aleksandr beugte sich hinunter und presste seine Lippen an Abigails Ohr. »Früher warst du offener.«

Ihr Herz machte einen Satz. »Das ist lange her.«

»Nicht für mich, bauschki-bau, nicht für mich.«

»Du tust mir weh.« Die Worte kamen über ihre Lippen, bevor sie sie zurückhalten konnte. Vier Jahre waren eine lange Zeit und sie hätte längst darüber hinweggekommen sein sollen, aber es war alles noch da, jede lebhafte Einzelheit.

Er zwängte sich ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei und nahm ihr die Fackel aus der Hand. »Bleibt hier, bis ich euch Bescheid gebe, dass alles in Ordnung ist.«

Er war jetzt wieder so nüchtern und sachlich, als sei es nie zu diesem kurzen Wortwechsel gekommen. Abigail klammerte sich instinktiv an Joley. Er konnte seine Gefühle nach Belieben ein- und ausschalten. Warum hatte sie das nicht bemerkt, als sie bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen war? Das war ein auffallender Charakterfehler, den sie niemals hätte übersehen dürfen.

Joley gab einen kurzen gepeinigten Laut von sich, als das Licht der Fackel sich von ihnen entfernte und sie im Dunkeln zurückblieben. »Ich kann nicht mehr. Tut mir Leid, Abbey, aber ich muss umkehren. Ich kann nicht atmen. Mein Herz zerspringt.«

»Ganz ruhig, meine Liebe. Es tut mir ja so leid. Deine Platzangst hatte ich vollständig vergessen.«

»Ich habe die andere Treppe fast erreicht«, rief Aleksandr zurück. »Aber jetzt brauche ich ein bisschen Hilfe von eurer Seite, meine Damen. Joley, warum singst du mir nicht etwas vor, damit ich weiß, wie weit ihr weg seid?«

»Aleksandr …« Abigail bekam es plötzlich mit der Angst zu tun. »Lass die Finger von allem, was tödlich sein könnte. Wir kehren einfach um. Der Schütze muss inzwischen fort sein. Jetzt können wir an Land schwimmen.«

»Ich bin schon fast da, malutka.« In seiner Stimme schwang eindeutig eine zärtliche Liebkosung mit.

Abigail traute ihm nicht. Er sagte immer genau das Richtige. Er lenkte Joley ab, und seine Stimme war sexy und voller Zuspruch und Sorge, aber was für ihn zählte, war letzten Endes doch nur, dass er der Schmugglerroute bis zu ihrem Ende folgen wollte. Er wollte die Treppe hinaufsteigen und sehen, wo die Schmuggler herauskamen. Sie musste immer daran denken, dass alles, was er tat, einem Zweck diente.

»Ich weiß, dass dir das Singen ein Gräuel ist, Abbey«, flüsterte Joley, »aber ich bitte dich, nur dieses eine Mal.«

Abigail schloss die Augen. Sie musste Joley aus der Patsche helfen, denn schließlich hatte sie ihre Schwester überhaupt erst in diese unbehagliche und gefährliche Lage gebracht. Abigail fürchtete sich davor, ihre Stimme zu benutzen. Joley hatte die Magie ihres Gesangs unter Kontrolle, Abigail jedoch nicht. Sie konnte mit ihrer Stimme Verheerendes anrichten. Wenn sie allein mit ihrem Boot draußen war, sang sie den Delfinen und den Walen etwas vor, sämtlichen Geschöpfen, die im Meer lebten, aber in Gegenwart von Menschen sang sie nicht.

Sie setzte zu einem Song an, zu einem von Joleys Originalen, einer zarten Melodie voller Kummer und Gram, denn sie war nicht nur bekümmert, sondern glaubte, ihr Herz würde von neuem in zahllose Splitter zerbrechen. Sie konnte die Intensität von Joleys schockiertem Blick im Dunkeln spüren, und doch fiel Joley in ihren Gesang ein, obgleich ihre sonst so kräftige Stimme zaghaft klang. Doch dann gewann sie an Kraft, während sie zweistimmig sangen.

Aleksandr verharrte regungslos, als die beiden Stimmen sich im Gesang vereinten. Die Drake-Schwestern besaßen unglaubliche Kräfte. Ihre Stimmen hatten etwas Unwiderstehliches, fast schon Hypnotisierendes an sich. Man konnte sich in dem Klang verlieren, sich in eine andere Zeit und an einen anderen Ort locken lassen, sich verführen und ins Paradies leiten lassen. Er schüttelte den Kopf und versuchte, sich aus dem Bann zu lösen und die kleine verborgene Falle zu finden, von der er wusste, dass sie sich in dem engen Tunnel befinden musste.

»Oh, da haben wir sie ja, meine Damen. Eine einfache, aber wirksame Vorrichtung. Es handelt sich eher um ein Warnsystem, damit sie wissen, ob jemand die Treppe benutzt und ihre Route entdeckt hat. Ich bezweifle, dass sie öfter als einmal im Monat benutzt wird, vielleicht sogar noch seltener.«

Der Gesang riss abrupt ab. »Wie gefährlich ist diese Vorrichtung, Aleksandr?« Er zog es vor, von Abigail mit der Koseform seines Namens angesprochen zu werden, denn wenn sie das tat, wusste er, dass sie in dem Moment nicht bemüht war, ihn auf Armeslänge von sich zu halten. Wie jetzt.

Aleksandr sah sich den Stolperdraht genauer an. »Überhaupt nicht. Es ist ein kleiner Stolperdraht, der an einem ganz kleinen Stöckchen angebracht ist. Wenn wir gegen ihn stoßen, wissen sie, dass jemand die Treppe benutzt hat und dass ihre Route nicht mehr sicher ist. Im Licht der Fackel werdet ihr beide problemlos darübersteigen können. Hier ist es trocken, und die Stufen sind vollständig aus Stein. Ich komme jetzt zurück und hole euch.«

»Werden sie es nicht trotzdem wissen?«, fragte Joley. »Dein Killerfreund muss doch gewusst haben, dass wir auf diesem Weg nach oben kommen würden.«

»Das war nicht derselbe Mann, der letzte Nacht vor eurem Haus gestanden hat. Ich kenne seine Arbeit. Hier haben wir es mit jemand anderem zu tun.« Das Licht der Fackel fiel auf sie, und Joley holte sichtlich erleichtert Luft. »Wie viele Feinde habt ihr Drakes eigentlich?«

»Du warst derjenige, auf den er geschossen hat«, hob Abigail hervor. Ihr Magen rebellierte gegen diese Vorstellung. Sie presste eine Hand darauf, um sich Ruhe auszubitten.

Aleksandr antwortete nicht, sondern machte kehrt, um vorauszugehen. Sie kamen nur langsam voran. In den Tunnel war wenig Sickerwasser gelangt, und er bestand aus blankem Fels, aber er war extrem eng und die Decke über ihren Köpfen war ungleichmäßig hoch und hatte stellenweise scharfe Kanten.

»Seid jetzt vorsichtig«, wies er sie an. »Steigt über diesen kleinen Draht.« Er hielt die Fackel möglichst hoch, soweit sich das bei dieser Enge eben machen ließ. »Seht ihr ihn?«

Wenn man erst einmal darauf hingewiesen wurde, war es nicht schwierig, das Hindernis zu überwinden, und sie legten eilig die kurze Strecke zur Treppe zurück.

»Du hast dich nie dazu bekannt, dass du eine ganz tolle Stimme hast, Abbey«, sagte Joley, als sie die wenigen Stufen zurücklegten, die direkt auf die Treppe unter der Mühle trafen. »Deine Tonlage ist perfekt. Wie kann es sein, dass ich nichts davon wusste?«

Abigail gab ihr keine Antwort. Sie starrte eine Stelle zwischen Aleksandrs Schulterblättern an, während sie weiterliefen.

»Ihr habt beide etwas, das man in anderen Stimmen nicht findet«, sagte Aleksandr, ohne sich umzudrehen. »Ich vermute, dabei handelt es sich wohl um Magie.«

»Ja«, bestätigte Joley. »Ich kann gewisse Zauber weben und Libby dabei helfen, Menschen glücklicher zu machen, und solche Dinge eben. Das ist eine wundervolle Gabe, und ich bemühe mich sehr, sie klug einzusetzen. Es hat immer wieder Momente gegeben, in denen die Versuchung bestanden hat, sie zu benutzen, wenn mich jemand wirklich ärgert, aber Abbey hat in meinem Beisein noch nie einen einzigen Ton gesungen. Und meine Schwestern können auch nichts von ihrer Stimme gewusst haben, denn das hätten sie mir gesagt.« Sie knuffte Abigail in den Rücken. »Warum verbirgst du deine Talente?«

»Darüber will ich nicht reden«, sagte Abbey mit gepresster Stimme.

Aleksandr warf ihr über seine Schulter einen Blick zu. »Es scheint in der letzten Zeit viele Themen zu geben, über die du nicht reden willst. Deine Stimme ist wundervoll und sollte nicht vor der Welt verborgen werden. Wir haben oft über unsere Kinder gesprochen und auch darüber, ihnen Wiegenlieder vorzusingen, aber du hast nicht ein einziges Mal angeboten, dass du sie in den Schlaf singen könntest.«

Abigail stieß heftig ihren Atem aus. Wut stieg brodelnd an die Oberfläche, obwohl sie sich bemühte, sie zu unterdrücken. »Tu nicht so, als wüssten wir nicht beide, dass meine Magie Schaden anrichten kann. Im Gegensatz zu Joley habe ich mit einer Magie zu kämpfen, die einen Knacks bekommen hat. Aber vielleicht bin ich es auch, die einen Knacks bekommen hat. Ich würde es niemals riskieren, einem meiner Kinder Schaden zuzufügen.«