4.

Joley, komm schon. Wach auf!« Abbey schüttelte ihre Schwester.

Joley stöhnte und zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Bist du verrückt? Es ist noch dunkel. So früh stehe ich nie auf. Das ist nicht normal.«

»Steh auf. Du musst mit mir kommen.«

»Abbey, du bist total übergeschnappt. Geh wieder ins Bett. Ich stehe ganz bestimmt nicht auf, bevor die Sonne aufgegangen ist. Um zwölf vielleicht. Weck mich, wenn es Mittag ist.«

»Nichts von wegen Mittag … jetzt! Ich glaube, einer meiner Delfine ist verletzt. Ich will ihn mir genauer ansehen.«

Joley zog die Decke von ihrem Gesicht zurück, um ihre Schwester wütend anzufunkeln. »Du glaubst, er ist verletzt? Im Meer ist es eiskalt. Und es gibt Haie. Das darf doch alles nicht wahr sein. Hast du es noch nicht gehört? Ich bin eine echte, ehrliche Berühmtheit. Vormittags bin ich für nichts und niemanden zu haben.«

» Krieg deinen Hintern hoch.« Abbey riss ihr die Zudecke weg und schlug Joley ein Kissen auf den Kopf. »In diesem Haus bist du kein Star. Ich brauche jemanden, der mitkommt, und du bist die Auserwählte.«

» Warum gerade ich?«, jammerte Joley, als sie sich aufsetzte.

» Weil du außer Hannah die Einzige mit den Fähigkeiten bist, die ich dringend brauche. Und wenn etwas schief geht, ist Hannah keine ausdauernde Schwimmerin.«

»Na toll, das lässt nichts Gutes ahnen. Du hättest mir wenigstens eine Tasse Tee bringen können. Und außerdem könntest du mir von deinem mysteriösen Besucher erzählen. Es war nämlich verteufelt schwer, einzuschlafen, weil ich mich immer wieder gefragt habe, wer das wohl ist.«

»Ich will nicht über ihn reden. Jedenfalls jetzt nicht. Vielleicht sogar nie.«

»Na prima. Nett von dir, Abbey, dass du mich weckst und nicht mal meine Neugier befriedigst. Du weißt doch, dass ich ein Morgenmuffel bin.«

»Ich kann hören, dass die Delfine mich rufen, Joley«, sagte Abbey. »Da stimmt etwas nicht.«

»Also gut, von mir aus. Aber dafür bist du mir einiges schuldig. Und die Delfine auch. Du kannst ihnen ausrichten, dass du mich mitbringst, wenn du das nächste Mal mit ihnen schwimmen gehst, und dass sie nett zu mir sein und mich freundlich aufnehmen müssen.« Joley tappte zum Bad. »Brauche ich einen Taucheranzug?«

»Nein, aber du solltest dich vielleicht bewaffnen.«

Joley streckte ihren Kopf wieder zur Tür heraus. Sie hatte ihre Zahnbürste im Mund. »Bewaffnen?« Ihre Miene hellte sich beträchtlich auf. » Wozu sollte ich mich bewaffnen? Auf wen darf ich schießen?«

»Du darfst auf gar niemanden schießen, du verrücktes Huhn. Es ist nur für alle Fälle. Und weil du gut schießen kannst.«

»Besser als Hannah«, räumte Joley ein. »Sie macht die Augen zu, wenn sie abdrückt. Damit bringt sie Jonas auf die Palme.«

» Wahrscheinlich tut sie es genau deshalb, denn normalerweise trifft sie neun von zehn Mal ins Schwarze. Aber du triffst nun mal immer ins Schwarze. Und Hannah würde niemanden töten, aber du tätest es.«

»Und das könntest ohne weiteres du sein, wenn du mich jemals wieder so früh aus dem Bett holen solltest«, sagte Joley zur Warnung. »Aber ich würde dir verzeihen, wenn du mir den neuesten Klatsch über deinen mitternächtlichen Besucher erzählst …« Sie blickte hoffnungsvoll auf. Als Abbey den Kopf schüttelte und sie finster ansah, kapitulierte Joley seufzend. » Wohin fahren wir? Ich dachte, dein Boot treibt irgendwo draußen auf dem Meer. Oder hat Jonas es zurückbringen lassen?«

»Natürlich hat Jonas das Boot längst abschleppen lassen. Er kümmert sich immer um jede Kleinigkeit. Aber die Delfine sind in der Seelöwenbucht, und wenn wir Glück haben, brauchen wir gar nicht mit dem Boot rauszufahren.«

»Das ist gut. Muss ich mich wirklich bewaffnen?«

»Ja. Und es kann gut sein, dass du von deiner Waffe Gebrauch machen musst. Letzte Nacht hat sich hier ein Ass von einem Killer rumgetrieben.«

»Meine Güte, Abbey, wir müssen Jonas verständigen.« Joley zog Sweatpants und ein gefüttertes Hemd an. »In was bist du bloß hineingeraten? Normalerweise bin ich doch diejenige, die sich in Schwierigkeiten bringt. Und du bist das brave Mädchen. «

Abbey musterte ihre Schwester. » Wie kriegst du das bloß hin, am frühen Morgen so auszusehen? Ungeschminkt, und du hast dir noch nicht einmal die Haare gekämmt und trägst diese unansehnlichen Sachen, und doch siehst du aus, als seist du eine Million Dollar wert. Ich schwöre es dir, du und Hannah, ihr müsst in einem anderen Leben etwas richtig gemacht haben. Ich hätte nichts dagegen, aufzuwachen und so auszusehen wie du.«

Joley warf ihr eine Kusshand zu. »Nett, dass du das sagst, vor allem, da du nicht mal den Anstand besessen hast, mir eine Tasse Tee zu bringen. Wenn wir das Boot nicht nehmen, wie kommen wir dann zur Bucht? Klettern wir die Klippen hinunter? Du weißt, das kann ich nicht besonders gut.«

»Ich dachte, wir nehmen die ehemalige Schmugglerroute. Ich habe einen Schlüssel für die alte Mühle. Kate renoviert sie mit Matts Hilfe, aber die beiden haben so viel mit den Vorbereitungen für ihre Hochzeit zu tun, dass sie jetzt bestimmt nicht dort sind. Es gibt eine alte Treppe, die durch den Tunnel zur Bucht führt. Kate hat mir erzählt, vor vielleicht hundert Jahren sei das eine Schmugglerroute gewesen. Ich will keine Zeit damit verlieren, erst zum Hafen zu fahren, und zu Fuß ist die Treppe der schnellste Weg.«

» Warum habe ich eigentlich das Gefühl, dass wir uns in große Schwierigkeiten bringen werden?«, fragte Joley, als sie eine Waffe aus der obersten Schublade ihrer Kommode nahm, sie lud und in ihre Handtasche gleiten ließ.

» Warum besitzt du überhaupt eine Waffe?«, fragte Abbey. »Ich dachte, wir nehmen die, die Jonas zu unserem Schutz hier gelassen hat. Oder vielleicht eine von Sarahs.«

» Weil ich von durchgeknallten Fans ganz irre Briefe bekomme, die mir manchmal tierische Angst einjagen«, antwortete Joley. »Ich habe deine Frage beantwortet, und jetzt gestehst du mir alles.« Sie lief auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und folgte Abbey auf den Fersen. »Fang mit dem scharfen Russen an, mit dem du vielleicht verlobt bist, vielleicht aber auch nicht. Als Nächstes kommt dann das Ass von einem Killer dran.«

Abbey blieb auf der Treppe stehen. » Was meinst du mit irren Briefen von durchgeknallten Fans? An Weihnachten hast du schon mal so etwas erwähnt. Was ist los?«

Joley zuckte die Achseln. »Das gehört nun mal dazu. Hannah ist ein berühmtes Model und bekommt auch solche Briefe. Kate schreibt Bücher und hat ebenso schon ein paar bekommen. Ich verkaufe ein paar Millionen Alben und stehe auf der Bühne und singe vor vierzig- bis fünfzigtausend Leuten. Es ist eigentlich nichts weiter dabei, aber manchmal setzt es mir zu.«

»Meine Güte, ich hatte ja keine Ahnung. Hast du mit Sarah darüber gesprochen? Sie hat jede Menge Erfahrung auf diesem Gebiet. Und was ist mit Jonas? Dem fällt bestimmt auch etwas dazu ein.«

Joley lachte. »Der würde versuchen, uns dazu zu bringen, dass wir uns ganz still verhalten und uns in einem Kleiderschrank verstecken. Wir stehen nun mal im Rampenlicht der Öffentlichkeit, und da können sich gestörte Typen auf uns fixieren und uns dann aus irgendwelchen Gründen belästigen. Du dagegen arbeitest draußen im Meer mit Delfinen. Für dich sollten sich Killerasse nicht interessieren.«

»Nein, eigentlich nicht. Vielleicht galt sein Interesse ja einer von euch.« Abigail zog die Stirn in Falten. »Auf den Gedanken bin ich noch gar nicht gekommen, weil der Mann, der gestern umgebracht worden ist, Russe war, und die Männer, die ihn umgebracht haben, waren offenbar auch Russen. Aleksandr arbeitet für Interpol, und hier in der Gegend tut sich offenbar irgendetwas. Ich wollte Jonas schon anrufen, aber erst muss ich sehen, ob ich den Delfinen helfen kann. Sie haben mir das Leben gerettet. Und wenn Gene am Leben bleibt, dann haben sie auch ihn gerettet.«

Joley folgte Abbey aus dem Haus. »Weshalb sollten die Russen sich auch nur im Entferntesten für dich interessieren – oder gar für mich? Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass unsere kleine Hannah oder Kate sie gegen sich aufgebracht haben. Und wie um alles in der Welt hast du diesen unglaublich gut aussehenden Aleksandr kennen gelernt?«

»Erinnerst du dich, dass ich damals mal in Patagonien tauchen war, um Schwarzdelfine zu studieren?«, fragte Abigail. Sie öffnete verstohlen die Haustür, da sie ihre übrigen Schwestern nicht wecken wollte. »Joley, glaubst du, dass der Zauber, mit dem wir das Haus versiegelt haben, wirkt? Erinnerst du dich noch daran, wie Sarah Damon beschützt hat, bevor sie miteinander verlobt waren, und wie diese Männer eingebrochen sind und uns erschießen wollten?«

» Wir sind ja reichlich schnell wieder vom Thema abgekommen«, meckerte Joley. »Jedes Mal, wenn ich eine Antwort von dir haben will, gehst du nahtlos zu einem anderen Thema über. Was hat das mit dem scharfen Russen zu tun?«

»Hör auf, ihn so zu nennen. Ich will ihn mir weder scharf noch mild noch süß noch sonstwie vorstellen. Ich wünschte, er ginge wieder nach Russland zurück.« Abigail stieß mit den Zehen eine von zwei Taschen an, die sie gepackt hatte und die schon auf den Stufen vor dem Haus bereitstanden. »Hier, du nimmst die da. Sie ist nicht besonders schwer.«

Joley hob die Tasche hoch und sah ihre Schwester finster an. »Hast du den Verstand verloren? Das Ding wiegt eine Tonne. Ich dachte, ich sollte eine Hand zum Schießen frei haben. Mach mir bloß keine Vorwürfe, wenn wir erschossen werden. Und nur zu deiner Information, Patagonien gehört nicht zu Russland.« Sie trug die Tasche zum Wagen und murrte bei jedem Schritt.

»Bist du immer so?«

»Wie?« Joley packte die Tasche auf den Rücksitz und sah Abigail finster an.

»Dieses ewige Gejammer.«

»Ja. Um drei Uhr morgens ohne eine Tasse Tee oder Kaffee, ja, da bin ich immer nur am Jammern. Menschen sind nicht dazu geschaffen, vor zwölf Uhr mittags wach zu werden, und wenn du möchtest, dass ich nett zu dir bin, dann melde dich erst um diese Zeit bei mir.« Joley schlüpfte auf den Beifahrersitz und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Du benimmst dich wie ein kleines Baby. Schnall dich an. Und nur zu deiner Information, es ist nicht drei Uhr morgens, zufällig ist es bereits halb sieben.«

Joley zuckte die Achseln. »Das ist gehupft wie gesprungen. Und wenn du willst, dass ich kooperativ bin, dann komm auf den scharfen Russen zurück. Der ist das einzige lohnende Thema. «

»Glaube mir, er ist kein lohnendes Thema. Und fall bloß nicht auf ihn rein.«

Joley schnaubte. »Ich falle nicht auf Männer rein. Ich renne, so schnell und so weit ich kann. Ich habe nicht die Absicht, so schmalzig zu gucken wie Kate und Sarah.« Sie schüttelte sich. »Die Vorstellung ist regelrecht beängstigend.« Das spöttische Funkeln erlosch in ihren Augen. »Warum machst du dir Sorgen um das Haus?«

»Es hat ihn reingelassen. Letzte Nacht. Wir alle haben die Kerzen angezündet und das Ritual vollzogen, um das Haus zu schützen, aber er hat es geschafft, reinzukommen. Sogar Tante Carol hat mitgeholfen und ihre Magie ist sehr mächtig. Elle und du und Hannah, ihr drei beherrscht solche Zauber, und doch hat das Haus ihn reingelassen.«

Joley warf einen Seitenblick auf Abigail und wandte ihre Augen gleich wieder ab. Sie räusperte sich. »Ihn? Den Russen?« Joley achtete darauf, ihren Tonfall beiläufig klingen zu lassen.

»Ja, natürlich, wen denn sonst?« Abbeys Eingeständnis kam widerwillig. Vom Meer her war Nebel aufgezogen, wie es am frühen Morgen häufig der Fall war, und jetzt lag er dicht über der kurvigen Schnellstraße. Sie fuhr langsam, um kein Risiko einzugehen, obwohl ihr eigentlich danach zumute war, Vollgas zu geben. Sie wollte nicht wahrhaben, was es hieß, dass ihr Haus den Interpolagenten bereitwillig eingelassen hatte. »Das Haus hat ihm Zutritt gewährt, nachdem wir alle uns zusammengeschlossen haben, um es mit einem Zauber zu versiegeln. Unsere Magie hat sich nicht bewährt.«

»Das wäre eine mögliche Erklärung«, wagte sich Joley behutsam vor.

Abigails Finger schlossen sich fester um das Lenkrad, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Es ist die einzige Erklärung. Ich muss die anderen wissen lassen, dass wir im Haus nicht sicher sind.«

»Das Haus verwehrt nicht jedem den Zutritt, Abbey. Die Verlobten von Sarah und Kate können trotz abgeschlossener Türen kommen und gehen, wie sie wollen. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie das Tor mit dem Vorhängeschloss aufgeschwungen ist, als Damon das erste Mal kam, um Sarah zu besuchen?«

»Ich habe Aleksandr kennen gelernt, bevor die Prophezeiung begonnen hatte, sich zu erfüllen. Und überhaupt sind Matt und Damon mit Sarah und Kate verlobt. Das ist etwas ganz anderes. « Abigail sah Joley drohend an, um jede Fortsetzung dieses Gesprächs zu unterbinden.

»Hmmm.« Joley betrachtete eingehend ihre Fingernägel. »Ich glaube tatsächlich, das Gerücht gehört zu haben, dass du mit diesem Mann verlobt bist.«

»Halt den Mund. Ich kann nicht fahren, wenn du mir auf die Nerven gehst.«

Joley lachte, als sie auf die lange Einfahrt abbogen, die zur alten Mühle hinaufführte. »Wenn du mich fragst, bist du recht gut gefahren.«

»Stimmt nicht.« Abigail parkte den Wagen so dicht wie möglich vor dem alten Gebäude. Die Mühle hatte jahrelang zum Verkauf gestanden, bis ihre Schwester kürzlich beschlossen hatte, sie zu erwerben. Das weitläufige Gebäude bot einen Ausblick auf die Seelöwenbucht und war früher einmal ein kleines, aber einträgliches Sägewerk gewesen, das dem weitaus lukrativeren Geschäft mit geschmuggelter Ware als Fassade diente. Die Mühle hatte eine lange und abwechslungsreiche Geschichte. Kate Drake wollte möglichst viel von der alten Bausubstanz erhalten, wenn sie die Gebäude renovierte und in eine Buchhandlung mit Café umwandelte. Nachdem die Renovierungsarbeiten abgeschlossen waren, würden eine große Terrasse und eine komplett verglaste Wand zur Meeresseite hin atemberaubende Ausblicke auf die zerklüftete kalifornische Küste bieten.

»Wünschst du dir manchmal, du wärest normal, Joley?«, fragte Abigail, als sie eine schwere Tasche aus dem Wagen zerrte.

Joley zuckte die Achseln und behielt Abigails Gesicht im Auge. »Was ist schon normal, Abbey? Wir haben einander, und das ist es, was auf lange Sicht wirklich zählt. Wir haben unsere Tanten und unsere Eltern und Cousinen. Unsere Familie unterscheidet sich von anderen, ja, das schon, und vielleicht zahlen wir einen Preis für unsere Gaben, aber die guten Seiten überwiegen. « Sie griff auf den Rücksitz und hob die zweite schwere Tasche aus dem Wagen. »Du trägst schon seit einer ganzen Weile eine Last mit dir herum. Meinst du nicht, es ist an der Zeit, diese Last mit uns zu teilen?«

Abigail wandte den Blick ab, und ihr Körper wurde steif vor Ablehnung. »Ich bin noch nicht so weit, Joley.«

»Das macht doch nichts, Abbey«, sagte Joley. »Denk nur daran, dass wir dich lieben, und ganz gleich, was dir fehlt, wir werden eine Lösung finden, wie wir dir helfen können.«

Abigail blinzelte gegen ihre Tränen an. »Ich habe meine magischen Kräfte über einen langen Zeitraum als eine Selbstverständlichkeit angesehen, Joley. Tu das bloß nicht. Bilde dir bloß nie ein, du könntest dich behaglich damit einrichten und sie gedankenlos anwenden.« Sie wandte ihr Gesicht dem Meer zu. »Hörst du sie?«

Joley hatte noch viele Fragen auf Lager, doch sie kniff ihre Lippen zusammen und nickte. Abigail erschien ihr mit einem Mal zerbrechlich. Viel zu zerbrechlich. Sie würde mit Libby reden. Vielleicht könnte sie die Sorgen lindern, die Abigail bedrückten. Joley hatte plötzlich große Angst um ihre Schwester. Sie überlegte, was sie jetzt sagen könnte, um die Spannung zu mildern, die sich plötzlich zwischen ihnen eingeschlichen hatte. »Ich glaube, ich höre sie, Abbey. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du stundenlang mit Kopfhörern dagesessen und gelauscht hast und wie du immer wieder deine Bandaufnahmen angesehen hast, aber ich habe diesen Dingen nie allzu viel Beachtung geschenkt. Es klingt wie ein Klicken und ein Pfeifen, stimmt’s?«

Abigail schloss die Tür zur Mühle auf. »Jeder Ton hat eine bestimmte Bedeutung. Und jeder einzelne Delfin scheint einen Erkennungspfiff zu haben, das ist fast schon so etwas wie ein Name, denn diesen spezifischen Pfiff benutzen sie, wenn sie einander rufen. Viele Forscher glauben ebenso wie ich, dass ihre Kommunikation viel weiter entwickelt ist, als wir anfangs dachten.«

»Sie haben ihre eigene Sprache?« Joley hatte das richtige Thema getroffen. Abigail begeisterte sich so sehr für die Delfine und für ihre Forschungen, dass ihr Tonfall sich beträchtlich aufgeheitert hatte.

»Ich glaube ja, aber mit unserer Sprache ist sie mit Sicherheit nicht vergleichbar.«

»Sie wirken immer so intelligent und so glücklich. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, überkommt mich dieser verrückte Drang, ins Meer zu springen und mich ihnen anzuschließen. Und du kennst ja mein Verhältnis zum Meer.«

»Vergiss nie, dass sie wild lebende Tiere sind, Joley. Delfine können aggressiv sein, und unter gewissen Umständen könnten sie einen Menschen auch verletzen. Allzu oft missverstehen die Leute, was ein Delfin tut, und zwar schlicht und einfach deshalb, weil Delfine ständig zu lächeln scheinen.«

»Ich habe nicht wirklich vor, mich mit ihnen ins Meer zu stürzen«, gestand Joley. »Ich meinte nur, dass der Impuls da ist. Ich weiß, dass du es tust, aber ich halte alles, was mehr wiegt als ich, gern auf Abstand.«

Abbey grinste ihre Schwester an. »Bezieht sich das auch auf Männer?«

»Natürlich. Seit sich damals dieses Tor geöffnet hat und die Prophezeiung sich zu erfüllen begann, gehe ich nicht mal mehr mit Männern aus. Ich schaue sie nicht mal mehr an! Nein, nicht mit mir. Das kommt gar nicht infrage. Ich doch nicht«, erklärte Joley nachdrücklich. Sie sah zu, wie Abigail eine zweite Tür aufschloss, die in den Keller hinunterführte. »Hat hier nicht das Erdbeben das Siegel gesprengt und es diesem Geist ermöglicht, zu entkommen?« Sie erschauerte. »Eine Tasse Tee könnte ich jetzt wirklich gebrauchen.«

»Und ich dachte immer, du seist die Waghalsigste von uns allen.«

»Nach zwölf Uhr mittags bin ich sehr waghalsig«, hob Joley hervor. »Und nach Mitternacht steppt dann wirklich der Bär.«

Abigail lachte. »Sieh dich vor auf den Stufen. Sie sind alt und bröckeln ab. Kate hat mir erzählt, an einer Stelle sei der Tunnel eingesunken, aber wir kommen durch.«

»Wie aufregend«, sagte Joley und verdrehte die Augen. »Dafür bist du mir gewaltig viel schuldig.« Sie stieg die Kellertreppe hinunter und wartete, während Abigail den Eingang des Tunnels suchte, der zur Bucht führte.

»Ist dir jemals ein Mann begegnet, den du unter Umständen geheiratet hättest?«, fragte Abbey.

Joley warf den Kopf zurück. »Dazu wird es wahrscheinlich nicht kommen. Keiner könnte mich ertragen. Ich bin zu gemein. «

Abbey lachte. »Du spinnst wirklich. Du lässt dich zwar von niemandem herumschubsen, aber du bist einer der nettesten Menschen, die ich kenne.«

Joley warf ihr wieder eine Kusshand zu. »Danke, Abbey, aber da ich zufällig weiß, dass du nicht viele Leute kennst – weil du regelrecht menschenscheu bist –, hat das nicht viel zu sagen.«

»Ich bin nicht menschenscheu. Die Menschen meiden mich.« Abigail fand den Eingang und rümpfte die Nase, sowie sie im Tunnel stand. »Da drinnen riecht es ganz schön muffig und faulig. Wir werden eine Taschenlampe brauchen.«

»Eine Waffe habe ich dabei, aber keine Taschenlampe.« Joley prallte mit ihrer Schwester zusammen, als Abbey stehen blieb, um eine Taschenlampe auszupacken. »Ich hätte wissen müssen, dass du auf alles vorbereitet bist.«

»Selbstverständlich.«

»Die Menschen meiden dich nicht, Abbey«, sagte Joley. Sie warf einen nervösen Blick in den Tunnel, holte dann tief Atem und folgte Abigail.

»Oh doch, das tun sie. Tätest du das etwa nicht, wenn du nicht meine Schwester wärst? Erinnerst du dich noch an all die Jahre in der Schule, als ich noch keine Kontrolle über meine Gabe hatte? Ich brauchte nur versehentlich das Wort Wahrheit zu benutzen und alle, die in Hörweite waren, haben mir die Wahrheit gesagt. Kinder um mich herum haben alles Mögliche ausgeplaudert, wovon sie nicht wollten, dass ein anderer es weiß. Würdest du es riskieren wollen, deine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse preiszugeben? Du brauchst dir doch nur anzusehen, was passiert ist, als Inez mich letztes Jahr breitgeschlagen hat, dem Ausschuss für den Weihnachtsumzug beizutreten. Ich habe einen gewaltigen Skandal verursacht.«

»Das war nicht deine Schuld. Dieser Geist war entkommen und hat all unseren Gaben übel mitgespielt. Du hast das Wort Wahrheit benutzt und Sylvia Frericksons Geliebter hat gestanden, dass sie eine Affäre miteinander haben.«

»Es war so furchtbar. Daran sind zwei Ehen zerbrochen. Und Sylvia hat mich vor allen anderen geohrfeigt.«

»Du hättest sie k. o. schlagen sollen.« Joley tastete sich durch den Schutt auf den schmalen Steinstufen voran. »Hier unten ist es feucht und modrig. Igitt.«

»Ich war doch diejenige, die das alles ausgelöst hat. Sie ist mit mir zur Schule gegangen und wusste ganz genau, dass ich es war«, sagte Abigail und seufzte matt. »Ich konnte ihr nicht wirklich vorwerfen, dass sie wütend auf mich war.«

»Aber schließlich hatte sie eine Affäre mit einem Mann, dessen Ehefrau kurz vor der Entbindung stand. Sylvia hatte es schon immer auf die Ehemänner anderer Frauen abgesehen«, erwiderte Joley und rümpfte die Nase. »Und wenn sie dich meidet, dann kannst du dich glücklich schätzen.«

»Nass ist das hier.« Abbey ließ den Lichtschein über die Tunnelwände gleiten. Größtenteils bestanden sie aus Fels, aber es gab einen Bereich, in dem Wasser durchsickerte und auf die Stufen tropfte, die entsprechend glitschig waren. »Pass an dieser Stelle besonders gut auf, wohin du trittst. Es sieht so aus, als sei hier jemand ausgerutscht und hingefallen.«

Joley erstarrte. »Was soll das heißen, hingefallen? Kate und Matt sind noch nicht hier unten gewesen. Matt wollte den Tunnel verschließen. Er hielt es für gefährlich, die Treppe zu erhalten. Meinst du, er war schon hier unten?«

»Entweder er oder die Russen benutzen diese Route«, sagte Abbey.

»Das finde ich gar nicht komisch. Vielleicht sollte ich meine Waffe in der Hand halten, statt sie in der Handtasche zu tragen. «

»Es war auch nicht als ein Scherz gedacht«, sagte Abigail und blieb stehen, um die Schleifspuren im glitschigen Lehm genauer zu betrachten. »Diese Spuren sind noch ziemlich frisch. Wir werden Matt fragen, ob er schon hier unten war, was durchaus möglich ist. Wir haben also keinen Grund zur Panik.«

»Ich hatte gar nicht vor, in Panik zu geraten«, protestierte Joley. »Ich wollte lediglich die Waffe auspacken. Das mit dem Ass von einem Killer klang nämlich gar nicht gut. In diesem Tunnel ist seit Jahren niemand mehr gewesen, Abbey. Und niemand hat Zugang zur Bucht. Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie auf diesem Wege heute noch Waren schmuggeln, oder?«

»Es ist immerhin eine Möglichkeit, die wir in Betracht ziehen müssen.«

»Na prima. Wenn Jonas hört, dass du zur Bucht runtergestiegen bist, verliert er den Verstand, Abbey.«

»Was soll das heißen, ich? Du bist schließlich auch noch dabei. «

Joley lachte. »Von mir erwartet Jonas keine Spur von Vernunft. Ich habe mir klugerweise das Image der abgedrehten Künstlerin zugelegt. Du dagegen besitzt all diese beeindruckenden akademischen Titel und schreibst Artikel, die in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Von dir wird im Großen und Ganzen erwartet, dass du ungeheuer vernünftig bist.« Sie sah sich die Schleifspuren genau an. »Matt ist groß und kräftig. Meinst du, er könnte es gewesen sein?«

»Das lässt sich unmöglich sagen.« Abbey sah ihrer Schwester in die Augen. »Sieh mal, Joley, damit habe ich nicht gerechnet. Ich glaube, einer der Delfine ist letzte Nacht angeschossen worden. Sie haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um mich zu retten, und ich muss in die Bucht gehen und versuchen, ihnen zu helfen, aber du musst gar nichts. Warum gehst du nicht ins Haus zurück und rufst Jonas an und sagst ihm Bescheid, was hier vorgeht? Ich glaube nicht, dass hier jemand ist, aber wir sollten besser auf Nummer sicher gehen.«

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich dich hier allein lasse, Abbey. Los, wir gehen weiter. Ich bin viel zu stur, um mich zu fürchten. Wenn jemand mir oder einem Menschen, den ich liebe, droht, drehe ich durch, das weißt du doch. Das ist mein voller Ernst.«

Abbey legte Joley eine Hand auf den Arm. »Danke, Joley. Ich kann den Delfin nicht im Stich lassen, wenn er medizinische Versorgung braucht. Sie sind in die Bucht gekommen – sie mögen seichtes Wasser –, und dort wird es mir möglich sein, ihn zu behandeln. Noch ein paar Schritte, und wir sollten fast am Strand sein. Lass mich auf alle Fälle vorangehen. Wenn ich weiß, das alles in Ordnung ist, rufe ich dich.«

»Ich komme mit dir.«

Abbey richtete den Lichtschein auf die untersten Stufen. Es war zwecklos, mit Joley zu streiten, wenn sie sich erst einmal zu etwas entschlossen hatte. Und in Wahrheit war Abigail dankbar für ihre Gegenwart. Sie folgte der Treppe bis ganz nach unten in einen schmalen Eingang, der sich zu einer natürlichen Höhle ausweitete. Die Decke war gewissenhaft abgetragen worden, bis man in gebeugter Haltung zum Höhleneingang laufen konnte. Die frühe Morgensonne, die gedämpft durch die Höhlenöffnung drang, spendete genug Licht, um auch ohne Taschenlampe zu erkennen, wohin sie gingen. Die Geräusche des Meeres vermischten sich mit den Lauten der Delfine. Der Wind wehte kräftig, und salzige Gischt sprühte gegen die Felsen neben der Höhle.

»Es ist ein wunderschöner Morgen«, sagte Abbey.

Joley rieb sich die Nase und grinste ihre Schwester an. »Ich war schon lange nicht mehr morgens am Meer, und ich muss sagen, es ist wirklich wunderschön.« Die Sonne war über dem Wasser aufgegangen und sandte Strahlen aus Gold und Silber über seine Oberfläche. In der Bucht bildeten sich schillernde Tümpel, die einladend funkelten. »Kein Wunder, dass du so viel Zeit im Meer verbringst.«

Abbey hielt ihren Arm fest, bevor sie aus der Höhle treten konnten. »Lass uns vorsichtig sein. Siehst du diese Spuren im Schlamm? Hier sind kürzlich mehrere Menschen umhergelaufen. «

»Es könnten Kinder oder Jugendliche gewesen sein.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht.« Abbey sah sich sorgfältig in der Höhle um. Der Strand schien menschenleer zu sein. Draußen im Wasser waren etliche Delfine beim Spy-hopping. Einer rief sie unter Verwendung ihres Erkennungspfiffs. »Bleib hier, Joley, und gib mir Deckung.«

Joley stellte die Tasche ab und fischte nüchtern und sachlich die Waffe aus ihrer Handtasche. »Sieh dich vor, Abbey. Und wenn ich schreie, wirfst du dich flach auf den Boden.«

»Wird gemacht.« Abbey nahm beide Taschen und setzte sich in Bewegung. Auf dem Weg über den groben Sand zum Meeresrand blickte sie verstohlen in jeden Spalt und jede Ritze, in jedes mögliche Versteck, das sie sehen konnte. Sowie sie das Wasser erreicht hatte, gestattete sie ihrem Blick, höher hinaufzugleiten und sich die Klippe über der Höhle genauer anzusehen.

Als Abigail ganz sicher sein konnte, dass sie allein in der Bucht war, gab sie Joley durch ein Zeichen zu verstehen, die Luft sei rein, und dann wartete sie darauf, dass ihre Schwester sich ihr anschloss.

Joley starrte ehrfürchtig die geschmeidigen Tiere an, die auf dem Meer tanzten. »So viele Delfine auf einmal habe ich noch nie gesehen.«

»Sie sind wunderschön, nicht wahr?« Abbey watete in das seichte Wasser und pfiff leise. »Behalte die Höhle und die Klippen im Auge, Joley. Ich werde jetzt Kiwi zu mir rufen.« Sie sah sich ein letztes Mal um und ließ ihren Blick über die Klippen und das Meer gleiten, um ganz sicherzugehen, dass sie keine Zuschauer hatte. Dann hob sie den Arm und beschrieb eine kleine Kreisbewegung, ehe sie ihre Hand an ihre Brust zurückzog und dabei wiederholt einen seltsam hohen Pfiff ausstieß. »Kiwi kommt.«

Das große Männchen schwamm ins seichte Wasser, bis es eine Tiefe von vielleicht dreißig Zentimetern erreicht hatte. Abigail watete den Rest des Weges zu ihm hinaus. Joley hielt den Atem an. Aus der Nähe war der Delfin riesig und wirkte unglaublich kräftig. Abigail redete beschwichtigend auf ihn ein und ließ ihre Hände über ihn gleiten, während sie die Wunde untersuchte.

»Wie schlimm ist es, Abbey?«, rief Joley. Sie blickte dem Delphin in das ihr zugewandte Auge. Sie sah Intelligenz darin und auch Nervosität. »Ihm gefällt gar nicht, dass du mich mitgebracht hast, stimmt’s?«

Abbey drehte das Tier behutsam in der Brandung um, damit sie die Wunde besser sehen konnte. »Das ist es nicht. Er fühlt sich schutzlos ausgeliefert. Sie scheinen erfassen zu können, wenn wir alle miteinander in Verbindung treten, und daher bezweifle ich, dass er sich an deiner Gegenwart stört. Ich versuche schon länger, dahinterzukommen, woher die Delfine es wissen, wenn wir Kontakt zueinander aufnehmen.«

»Liegt es vielleicht an den Energien? Wir können die Energien wahrnehmen. Möglicherweise können sie es auch.«

»Kann sein«, sagte Abigail versonnen. »Kiwis Wunden sind nicht allzu schlimm, aber er wird die Antibiotika brauchen, die ich mitgebracht habe. Die Kugel hat mir auf dem Rücken und den Schultern die Haut abgezogen und Kiwis Wunden scheinen ganz ähnlich wie meine zu sein. Wir haben beide Glück gehabt. «

»Libby wird sich deine Wunden heute Morgen ansehen wollen, Abbey. Sie wird deine Behandlung bestimmt nicht einem Sanitäter überlassen.«

»Ich möchte nicht, dass sie ihre Kraft an mich vergeudet. Es schmerzt ein wenig, aber das kann ich aushalten. Mein Bein merke ich mehr.«

»Hat dich wirklich ein Haifisch gebissen?«

»Nein! Natürlich nicht, und es war auch kein Angriff.« Abbey öffnete schnell ihre Tasche und zog eine dicke Salbe und ein Röhrchen Tabletten heraus. »Haie haben eine raue Haut, und ich denke, einer muss mich im Vorbeikommen gestreift haben.«

Joley verzog das Gesicht. »Sprich nicht darüber. Ich habe sowieso schon immer Angst um dich, wenn du mit den Delfinen schwimmen gehst. Früher hatte ich Albträume, in denen ein Seeungeheuer vorkam, das dich in ein nasses Grab hinunterzog. «

»Wirklich?« Abbey lachte. »Ich habe das Meer immer geliebt und es als ein wunderbares Märchenland empfunden. Das Meer ist interessant und jeden Tag anders. Mir gefällt, dass man seine Gefahren nie außer Acht lassen darf und dass ich stets auf der Hut sein muss.«

»Abbey, was tust du da?« Joley sah zu, wie ihre Schwester eine dicke Paste auf die Wunde schmierte und sich dann dicht neben dem Kopf des Delfins ins Wasser kauerte.

»Ich werde ihn mehrfach behandeln müssen, damit sich die Wunde nicht infiziert. Joley, es ist wichtig, dass du die Handzeichen nicht nachahmst, mit denen ich ihn zu mir gerufen habe, und auch nicht die Pfiffe oder das Zwitschern. Er vertraut mir, aber wenn dieses Vertrauen gebrochen würde, wäre es mir nicht mehr möglich, die Beziehung und Freundschaft mit ihm aufrechtzuerhalten.«

»Ich werde nicht gegen meine Schweigepflicht verstoßen«, sagte Joley, »aber ich habe ganz entschieden Einwände dagegen, dass du deine Hand in das Maul dieses Delfins steckst. Er hat mehr Zähne als ein Hai.« Ihre Sorge wuchs, als sie Abigails Hand in dem offenen Maul verschwinden sah. »Was tust du da?«

»Ich verabreiche ihm die Antibiotika. Er braucht eine Kombination von mehreren. Mach dir keine Sorgen.«

»Nimm bitte deine Hand aus diesem Maul, bevor ich ausflippe und laut schreie oder irgendeinen anderen Blödsinn anstelle. Du jagst mir wirklich Angst ein, Abbey. Lieber bekäme ich es mit dem russischen Killer zu tun.«

»Er ist so zutraulich und lieb«, sagte Abigail. »Das stimmt doch, Kiwi?« Sie gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, dass sie fertig war. »Er ist so beständig und zuverlässig. Jeder Delfin ist anders. Einige von ihnen sind viel nervöser und überspannter. Ich schicke ihn jetzt ins Meer zurück, aber höchstwahrscheinlich werden sie im seichten Wasser bleiben. Ich will nur nicht, dass sie von jemandem bemerkt und belästigt werden. Kinder können albern und manchmal auch grausam sein. Ich wäre wirklich sauer, wenn man ihnen Stöckchen in die Blaslöcher wirft. An einigen Orten, an denen ich war, ist das schon vorgekommen, und dann kann ich mich nicht mehr beherrschen. «

Joley lachte leise. »Da brauchst du dir gar keine Sorgen zu machen. Wenn du es Hannah erzählst, tun sie es nur ein einziges Mal, denn sie würde sich etwas Spektakuläres einfallen lassen, um den Betreffenden eine Lektion zu erteilen. Es heißt, Sylvia hätte diesen Ausschlag auf der linken Gesichtshälfte, der immer wieder auftritt. Jedes Mal, wenn sie flirtet, zeigt er sich in Form eines flammend roten Handabdrucks.«

Abigail verdrehte die Augen. »Hat Hannah den Ausschlag immer noch nicht zurückgezogen?«

»Sie sagt, nur Sylvia selbst kann den Ausschlag kurieren, indem sie ›das Richtige‹ tut.«

»Und was soll das sein? Sie kann nichts dafür, dass sie flirtet. Sylvia definiert sich selbst ausschließlich darüber, dass sie flirtet. «

»Ich glaube, Hannah erwartet von ihr, dass sie sich bei dir entschuldigt.«

»Eher geht die Welt unter. Sylvia hat sich, solange ich zurückdenken kann, noch nie bei jemandem entschuldigt, und wir haben schon gemeinsam den Kindergarten besucht.« Abigail beobachtete die anderen Delfine, die sich jetzt um Kiwi scharten. »Ich möchte ein paar Aufnahmen von ihnen machen, auf denen man ihn deutlich sieht. Sie wissen, dass ich etwas auf seine Wunden geschmiert habe.« Sie zog die Kamera aus ihrer Tasche. »Macht es dir etwas aus, noch ein Weilchen zu bleiben, Joley?«

Joley schüttelte den Kopf und grinste. Abigail war bereits am Knipsen. Sie machte ihrer Tante Carol Ehre, als sie Schnappschüsse aufnahm wie eine Irre und bis zur Taille ins Wasser watete, ohne das kalte Wasser, das ihre Jeans durchnässte, überhaupt wahrzunehmen.

Der Wind kam vom Meer her, und die Möwen schwangen sich in die Luft und kreisten über ihnen, während die Delfine begannen, sich zu kleinen Gruppen zusammenzuschließen und in verschiedene Richtungen aufzubrechen, um sich auf Nahrungssuche zu begeben. »Sieh nur, was sie tun«, sagte Abigail aufgeregt. »Siehst du, wie sie hochspringen? Das nennt man Spy-hopping. Sie verständigen sich darüber, wo die Jagd im Gange ist. Siehst du, wie sie die Fische zu einem kleineren und dichteren Klumpen zusammentreiben? Sie rufen die anderen herbei.«

»Was zum Teufel hast du hier zu suchen, Abigail?« Die Stimme zerriss die frühmorgendliche Stille. Sie klang zornig und hatte einen starken russischen Akzent.

Abigail hätte ihren Fotoapparat beinah ins Wasser fallen lassen. Als sie herumwirbelte, stand sie Aleksandr Volstov gegenüber. Er sah gut aus. Frisch und sauber. Makellos gepflegt in einem Anzug. Nicht im Mindesten zerknittert oder nass. Sogar sein Haar war gekämmt. »Na toll. Wie bist du denn hierher gekommen? Du befindest dich auf privatem Grund und Boden.«

»Ich sollte dich schütteln. Du besitzt etwa so viel Verstand wie ein Krebs.«

Joley hüstelte diskret, was ihr einen finsteren Blick von ihrer Schwester eintrug.

»Schläfst du denn nie, Aleksandr?«, fragte Abigail unwirsch. »Also wirklich, Joley. Wozu bist du überhaupt bewaffnet? Warum hast du nicht auf ihn geschossen? Ich habe dich schließlich nicht ohne Grund mitgenommen. Du solltest Wache stehen. Ich dachte, du würdest auf jeden schießen, der uns zu nahe kommt.«

»Ihr seid bewaffnet?«, fragte Aleksandr, und sein Akzent war so ausgeprägt, dass sie ihn kaum verstehen konnten. »Ich würde schlafen, wenn ich mir keine Sorgen darüber machen müsste, dass du jede Warnung, die ich dir erteile, in den Wind schlägst. Verflucht noch mal, Abbey, was zum Teufel stimmt nicht mit dir? Bist du lebensmüde?«

»Nein, wir sind schließlich bewaffnet«, erwiderte sie mit ruhiger Stimme. »Wir waren vorsichtig. Was hast du denn von mir erwartet? Dass ich mich in ein Loch verkrieche, weil du behauptest, ein Killer könnte es auf mich abgesehen haben? Ich habe wichtige Arbeiten zu erledigen. Ich führe mein Leben. Ich habe zwei Schwestern, die demnächst heiraten werden, und wir treffen Vorbereitungen für eine Doppelhochzeit. Ich denke im Traum nicht daran, mich zu verstecken und mich nicht mehr aus dem Haus zu trauen, bloß weil es sein kann, dass irgendjemand mich tot sehen will. Du bist der Interpolagent. Verhafte denjenigen und hör auf, mich zu belästigen.«

»Gib’s ihm, Abbey!«, feuerte Joley sie an. Sie trat vor und streckte ihre Hand aus. »Ich bin übrigens Joley Drake, eine von Abbeys zahlreichen Schwestern. Ich habe Sie letzte Nacht gesehen, aber wir sind einander nicht vorgestellt worden.«

»Die Sängerin«, sagte Aleksandr. »Ich habe Sie im Radio gehört. Sie haben eine wunderschöne Stimme.«

»Danke.«

Abbey knurrte fast. »Warum bist du so nett zu ihm? Du bist meine Schwester. Fall bloß nicht auf seinen Charme rein.«

»Ich habe gerade seine Schultern und seinen Brustkorb bewundert. Das beeindruckt mich mehr als sein Charme«, gestand Joley und zwinkerte dem Russen zu. »Und außerdem glaube ich gehört zu haben, dass du mit ihm verlobt bist, oder?«

»Ich bin nicht mit ihm verlobt.«

»Doch, das bist du«, sagte Aleksandr. »Du hast Ja gesagt, als ich dir einen Antrag gemacht habe, und du hast einen Ring von mir angenommen. Ich bin sicher, dass du ihn noch hast.«

Joley starrte ihre Schwester aus weit aufgerissenen Augen an. »Ist das wahr?«

Aleksandr nickte. »Es war ein Familienerbstück. Und in Russland halten wir unser Wort. Sie hat sich einverstanden erklärt, mich zu heiraten, also sind wir verlobt. Jetzt müssen wir nur noch heiraten.«

»Das war ganz eindeutig kein Familienerbstück, du Lügner. Wir haben den Ring in diesem kleinen Geschäft gekauft. Und wir werden nicht heiraten«, verbesserte ihn Abigail.

»Warum nicht?«, fragte Joley.

»Weil ich ihn restlos verabscheue, darum«, sagte Abigail. »Und wenn du weiterhin das Privatgrundstück der Drakes betrittst, Sasha, dann lasse ich dich verhaften.«

»Von deinem Freund?« Die Temperatur von Aleksandrs Stimme sank beträchtlich.

Joley erschauerte. »Ich dachte, Sie sind ihr Freund.«

»Ich bin ihr Verlobter. Harrington ist ihr Freund.«

Joley starrte ihn mit einer Mischung aus Schock und Entsetzen an. Dann brach sie in lautes Gelächter aus. »Mann, liegen Sie daneben! Wenn man bedenkt, dass Sie demnächst zur Familie gehören, wird es mir eine Freude sein, Ihr Bild zu korrigieren. «

»Ich finde das überhaupt nicht komisch, Joley«, sagte Abigail. »Sprich kein Wort mehr mit ihm, es sei denn, du hast vor, ihn von unserem Grundstück zu verweisen. Als Leibwächterin bist du absolut unbrauchbar. Gib mir die Waffe.«

»Abbey, Schätzchen«, sagte Joley, »wenn ich mich recht erinnere, hast du bei all unseren Schießübungen nicht ein einziges Mal das Ziel getroffen. Du warst viel zu sehr damit beschäftigt, die Wolken zu betrachten oder einen seltsamen kleinen Käfer zu beobachten, der über den Boden gekrochen ist.«

»Aber jetzt konzentriere ich mich.«

»Harrington ist nicht ihr Freund?«, fragte Aleksandr, ohne Abbey zu beachten.

»Jonas? Er ist gewissermaßen unser Bruder«, sagte Joley. »Abigail und Jonas sind kein Paar. Wahrscheinlich fiele er in Ohnmacht, wenn ich ihm erzählen würde, dass Sie das geglaubt haben. Er hat uns alle sehr ins Herz geschlossen und wir ihn auch, aber der Typ Frau, den er sich als Freundin vorstellen könnte, sind wir alle nicht.«

»Er hat eine Freundin?«, fragte Abigail, die sich von diesem Gedanken ablenken ließ. »Wer ist es denn?«

»Du jedenfalls nicht«, sagte Joley. Sie musterte Aleksandr. »Was haben Sie meiner Schwester getan? Sie hat doch bestimmt ihre Gründe dafür, Sie zu verabscheuen.« Sie warf einen Blick auf Abbey. »Ist er derjenige, den das Haus eingelassen hat?«

Aleksandr seufzte aufgebracht. »Häuser lassen keine Leute ein. Ihre Balkontür stand sperrangelweit offen. Das hätte jeder als Einladung auffassen können.«

Joley schüttelte den Kopf. »Unser Haus ist gesichert, Aleksandr. Ich darf dich doch so nennen? Und wenn das Haus dich letzte Nacht eingelassen hat, dann hat das sehr viel zu bedeuten. «

»Joley.« In Abigails Stimme lag eine unmissverständliche Warnung.

Jedes Mal, wenn sie in Aleksandrs Nähe war, erinnerte sie sich daran, wie zärtlich er trotz seines großen, kräftigen Körpers sein konnte und wie sein Lächeln manchmal seine Augen wärmte. Sie wollte sich im Zusammenhang mit ihm jedoch an nichts Gutes erinnern. Er hatte sie in dem Glauben gewiegt, ihre Gabe sei so nützlich wie die Gaben all ihrer Schwestern. Er hatte sie glauben lassen, sie sei liebenswert und er würde trotz all ihrer Unzulänglichkeiten immer für sie da sein. Sie wusste, was Liebe war, und sie war nicht bereit, sich mit weniger zu begnügen.

Sie wandte sich von den beiden ab und zog sich in ihre ganz persönliche Welt zurück. Sie wäre jetzt gern in ihrem geliebten Ozean gewesen und durch eine Welt von Farben und Tönen geschwommen, die weit weg von dem Ort war, an dem sie sich im Moment befand. Sie hörte das Plätschern von Wellen, die einladend in die Bucht schwappten. Sie hörte die Rufe der Möwen und das Schnattern der Delfine. Der Wind küsste ihr Gesicht, als sie zu den vorüberziehenden Wolken aufblickte.

Kaltes Wasser traf sie ins Gesicht. Verblüfft blickte sie auf den Delfin hinunter, der nur wenige Schritte von ihr entfernt war. Er sprühte sie ein zweites Mal mit Wasser an. Sie nahm das rasende Klicken wahr, die Leiber, die sich im Wasser umherwarfen, statt ihrer Nahrungssuche nachzugehen, was sie eigentlich hätten tun sollen. Sie rammte ihre Schulter fest in Aleksandr und schrie gleichzeitig Joley etwas zu. Aleksandr bot die größte Zielscheibe, und sie musste dafür sorgen, dass er zu Boden ging.

Er musste die Warnung ebenfalls verstanden haben, denn exakt im selben Moment schoss sein Arm vor und zog auch Joley ins Wasser. Als sich das Meer über ihnen schloss, wälzte sich Aleksandr auf die beiden Frauen, um sie mit seinem größeren Körper zu bedecken.