19
Rachael umfasste das
Geländer und lehnte sich über die Verandabrüstung, um auf den
Waldboden hinunterzusehen. »Ich fühle mich wie gefangen.« Sie
drehte sich um und lächelte Rio an. »Ist das möglich in einem so
riesigen Wald? Und sag jetzt nicht, das wäre nur wieder eine meiner
kleinen Launen.«
»Natürlich ist das möglich. Warten ist immer das
Schlimmste. Aber wir wissen, dass der Maulwurf die Nachricht
weitergegeben hat, also kann es nicht mehr lange dauern. Ich habe
erfahren, dass Armando mit einem riesigen Tross angekommen ist und
den Fluss hochfährt. Unsere Leute beobachten ihn. Er hat vier
berühmte Großwildjäger mitgebracht, was ihm einige Schwierigkeiten
beschert hat, denn so etwas sieht die Regierung gar nicht
gern.«
Rachael schauderte. »Zu wissen, dass dieser Mann
hier im Wald ist, macht mir Angst. Armando ist durch und durch
böse, Rio. Es wird nicht lange dauern, bis er seine Leute
losschickt.«
»Ich weiß, darauf warten wir nur. Heute ist
vielleicht die letzte Gelegenheit, etwas Spaß zu haben. Sie sind
noch nicht in unserem Revier.«
»Es gefällt mir nicht, dass ich nicht nach Elijah
sehen kann, obwohl er in der Nähe ist. Ich mache mir Sorgen um ihn.
Ich habe immer Angst um ihn gehabt.«
Rio griff nach ihrer Hand und legte sie auf sein
Herz. »Zumindest haben wir so etwas Zeit gewonnen, damit dein Bein
richtig verheilt.«
Rachael drehte ihren Unterschenkel nach allen
Seiten und betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Richtig verheilt nennst
du das? Aber wenigstens habe ich noch ein Bein. Und Fritz geht es
auch wieder besser. Er ist heute Morgen in der Dämmerung mit Franz
jagen gegangen. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.«
Rio zog sie an der Hand, bis sie ganz dicht vor ihm
stand. »Wir brauchen nicht hierzubleiben, wenn du dich lieber
amüsieren möchtest«, bot er leise an.
Rachael schaute zu ihm auf, in sein
wettergegerbtes, liebes Gesicht. Sie hatte sich jeden einzelnen
Zentimeter eingeprägt und hätte es blind nachzeichnen können. Seine
Augen hatten ein neckisches Funkeln, das er eigentlich nur sie
sehen ließ. Sie liebte diese spitzbübische, verschmitzte Seite an
ihm, die sich oft ganz unerwartet offenbarte. »Ist das nicht
gefährlich?«
»Im Moment noch nicht. Armando ist zwar schneller
gekommen als erwartet, aber das ändert nichts. Ich rechne jetzt
täglich damit, dass der Killer deines Onkels auftaucht, doch die
Tiere im Wald werden uns warnen. Wir brauchen nicht hier beim Haus
zu bleiben, wenn du Bewegung haben willst und dich ein wenig
austoben möchtest. Es gibt ein oder zwei wunderschöne Flecken, die
ich dir noch gar nicht gezeigt habe.« Er strich ihr mit den Fingern
durchs Haar und rieb die einzelnen Strähnen aneinander. »Wir haben
so viel Energie darauf verwendet, alles für die Ankunft deines
Onkels vorzubereiten, dass wir es nicht geschafft haben, eine
wohlverdiente Pause einzulegen. Die Hütte ist fertig, du bist
eingezogen und unsere Leute am
Fluss und im Wald behalten alles im Auge. Ich glaube, wir können
uns einen kleine Auszeit nehmen.«
Seit Elijahs Auftauchen hatte Rio sich die
nächtlichen Ausflüge verboten. Er wollte Rachael nicht allein
lassen, und ehe sie mitkommen konnte, sollte erst ihr Bein
verheilen. Doch der Ruf der Wildnis lockte ihn täglich.
Rachaels Lächeln wurde breiter. Ohne zu zögern riss
sie sich das Hemd herunter, warf es beiseite und stand in nichts
als einem seidenen Tanga vor ihm. Rio sog scharf die Luft ein und
inhalierte ihren Duft. Rachael einzuatmen war ihm zur Gewohnheit
geworden. »Vielleicht sollten wir einfach hierbleiben«, murmelte er
leise. Ihre Brüste waren wunderschön, voll und prall und so
perfekt, dass er sie einfach berühren musste. Seine Finger glitten
über ihre Haut und zogen an ihren Nippeln, nur um zu sehen, wie sie
sich für ihn aufstellten.
»Lieber nicht. Ich möchte laufen. Aber du kannst
hier auf mich warten.« Rachael streifte auch den Tanga ab und
genoss es, wie Rio sie dabei ansah. Erst seit sie ihn kannte,
begriff sie sich als sexuelles Wesen. Er machte ihr nicht nur ihren
eigenen Körper so bewusst, sondern auch seinen. Und er zeigte ihr,
was man mit beiden zusammen anstellen konnte. Mit einer
verführerischen und äußerst femininen Bewegung griff sie nach einem
Ast über ihrem Kopf. »Du kannst ja an mich denken, solange ich weg
bin«, scherzte sie.
»Ohne mich gehst du nirgendwo hin«, erklärte Rio,
indem er sich hastig auszog. Rachael verwandelte sich bereits,
wurde zu einer schlanken Leopardin mit runden Kurven und einem
katzenhaften Körper, der für Schnelligkeit und Ausdauer gemacht
war. Sie sprang auf einen benachbarten Ast und eilte über einen
schräg nach unten führenden Zweig zur nächsten Kreuzung.
Rio nahm sich nicht die Zeit, seine Sachen
ordentlich zusammenzufalten. Die Wildheit hatte ihn bereits im
Griff, ließ tief aus seinem Bauch heraus den unwiderstehlichen
Drang nach Freiheit hervorbrechen. Seine Muskeln kontrahierten, und
er verwandelte sich in der Luft, während er mit einem gewaltigen
Satz auf die unteren Äste sprang, die sich mit denen, über die
Rachael lief, überschnitten.
Im Bewusstsein, dass Rio hinter ihr her war, eilte
Rachael von Ast zu Ast. Wäre es ihr möglich gewesen, als Leopardin
laut zu lachen, hätte sie es getan. Sie konnte nicht glauben, was
für eine Wende ihr Leben genommen hatte. Aus dem kleinen Fehler,
den sie gemacht hatte, als sie Rios Haus für eine Rasthütte
gehalten hatte, war das schönste Missverständnis ihres Lebens
geworden.
Sie platzte fast vor Freude, war vollkommen und
strahlend glücklich. Sie erreichte den Boden und lief los, setzte
leichtfüßig über umgestürzte Bäume und kleinere Sträucher. Grub die
Klauen in den Pflanzenteppich, um noch mehr Schwung zu bekommen.
Rio kam schnell näher, ein riesiger Leopard, der fest entschlossen
war, sie einzuholen.
Rachael wich ihm aus und schlängelte sich durch die
Bäume, blieb aber auf dem Weg, den sie offenbar nehmen sollte. Wenn
sie die falsche Richtung einschlug, baute er sich so unverrückbar
vor ihr auf, dass sie nicht an ihm vorbeikam. Es war ihr egal, sie
genoss ganz einfach die unbekümmerte Freiheit. Der Wald war
wunderschön, jedes Detail trat klar und deutlich hervor. Sie
spielte mit einer Kröte, die von ihren Avancen nicht allzu
begeistert war, und rannte voraus, als Rio das kleine Wesen
beschnupperte.
Die Böschung sah sie erst, als es schon zu spät
war, sie versuchte noch zu bremsen, plumpste aber Hals über Kopf in
einen großen blauen Teich. Das Felsbecken war
von einem zarten Wasserfall ausgehöhlt worden, der in einem langen
weißen Schaumschleier in das klare Wasser fiel. Ringsherum wuchsen
hohe Farnbüsche mit langen, filigranen Wedeln. Rachael tauchte
wieder auf, um Luft zu schnappen, verwandelte sich unterdessen, und
lachte so heftig, dass sie zweimal unterging.
Rio fasste sie mit einem starken Arm um die Taille
und stellte sie nah am Ufer wieder auf die Füße. »Du
leichtsinniges, verrücktes Weib. Fast wäre mir das Herz
stehengeblieben«, schimpfte er. Doch seine Stimme war eher
schmeichelnd, wie Samt auf der Haut.
Sanft berührte er ihr Gesicht und folgte mit den
Fingerspitzen der Linie ihrer Wange und ihres Kinns, eine Berührung
so zart wie von einem Flügel der leuchtend bunten Schmetterlinge,
die sich auf den Bäumen drängten. Und doch sandte sie einen
Blitzschlag durch Rachaels Körper. Er legte beide Hände um ihr
Gesicht, umfing es behutsam und schaute ihr in die Augen.
In den Tiefen seines ausdrucksstarken grünen Blicks
sah sie, wie intensiv die Leidenschaft seiner Liebe war. Im
Hintergrund brannten Verlangen und Hunger, doch die Liebe strahlte
ihr dabei entgegen wie ein helles Licht. Langsam senkte Rio den
Kopf. In diesem sinnlichen Augenblick reagierte ihr innerster Kern,
jeder einzelne Muskel spannte sich erwartungsfroh, Hitze
durchströmte sie und konzentrierte sich an einem feurigen
Brennpunkt in ihrem Schoß.
Er beugte sich über sie, berührte sie aber nicht,
ließ einen Hauch Luft zwischen ihnen, so dass der Wind die Hitze
auf ihrer Haut anfachen konnte. Wasser umspielte sie, vom
millionenfachen Fall der Tropfen aufgeschäumt bauschte es sich um
sie, streichelte sie und rieselte über ihre Haut.
Seine Lippen streiften ihre. Sanft. Zärtlich. Kaum
spürbar, und hinterließen doch eine tanzende Flammenspur. Hitziges
Verlangen überkam sie, ergriff jede Faser, jede Zelle. Rachael kam
ihm entgegen, hob den Mund. Die Spitzen ihrer Brüste streiften zart
seinen Brustkorb und versengten seine Haut, Brandspuren, mit denen
sie beide nicht gerechnet hatten. Rachael erreichte seinen Mund und
gab einen leisen, unterwürfigen Laut von sich, ein Seufzen, mit dem
sie ihm die Lippen öffnete. Ihn in sich aufnahm. Hitze, Feuer und
Seide. Irgendetwas in ihr bewegte sich. Erkannte ihn. Sie spürte,
wie ihr anderes Selbst in ihr hochkam. Aber nicht die Kontrolle
übernahm, sondern sich ihr nur anschloss.
Rio vertiefte den Kuss, umfing ihr Gesicht mit den
Händen und legte ihr die Finger in den Nacken, während sein anderes
Selbst ebenfalls hervortrat und sich mit ihr vereinte. Ihre
Leidenschaft steigerte sich mit jeder Berührung, jedem Kuss. Die
Dunstschleier des Wasserfalls leckten wie Zungen über ihre
Haut.
Rachael stöhnte, als die Wollust sie übermannte,
ihr Atem und Verstand raubte. Sie presste sich an ihn und rieb sich
an seiner Haut. Sie brauchte den Körperkontakt. Als Rio den Kopf
hob, um Luft zu schnappen, leckte sie ihm den Wasserstaub von der
Brust und ließ die Zunge den winzigen Tropfen zum Bauch hinunter
folgen. Er streichelte sie am ganzen Körper und fand jede einzelne
Stelle, die sie erglühen und vor Wonne stöhnen ließ.
Rachael schmiegte sich an ihn, Haut an Haut, rieb
sich, musste einfach jeden Zentimeter seines Körpers spüren. Konnte
nicht genug küssen, probieren und erforschen, ehe drängendere
Bedürfnisse sich meldeten.
»Du schnurrst«, murmelte er leise. »Ich liebe es,
wie du
schnurrst, wenn ich dich anfasse.« Sein Mund wanderte ihren Hals
hinab, verweilte kurz an dem einladenden Grübchen dort und bewegte
sich weiter nach unten, um ihr die Wassertropfen abzulecken. Seine
Hände folgten der Linie ihrer Hüften, legten sich um ihre
Hinterbacken und hoben sie hoch.
Rachael schlang die Beine um ihn. »Schnurre ich
wirklich? Das habe ich gar nicht gemerkt. Dann kann ich wohl nicht
anders.« Sie fuhr mit den Zähnen über seine Schulter und den Nacken
bis zum Kinn. Ihr Atem war warm und verführerisch, genau wie ihre
seidenglatte Haut. »Du würdest jede Frau zum Schnurren bringen,
Rio. Spürst du, wie die Leopardin in mir sich mit dem Leoparden in
dir vereint? Wie kann das sein? Wie können wir fühlen, was sie
fühlen, wenn wir eins mit ihnen sind?«
»Weil du dich mir vollständig geöffnet hast. Du
hast mir deinen Körper und dein Herz geschenkt. Das schließt das
Tier in dir ein, und mein Leopard sehnt sich nach deinem. Wir sind
ein Paar, Rachael. Nicht allen von uns ist das in einem Leben
vergönnt. Wir waren wohl schon in mehr als einem Leben zusammen. Du
bist mir so vertraut.« Er zog sie auf sich und schloss die Augen,
um das unglaublich sinnliche Erlebnis auszukosten.
Sein Blut geriet in Wallung, floss wie ein
unkontrollierbarer Lavastrom durch die Adern, stieg ihm zu Kopf und
ließ feurige Flammen vor seinen Augen tanzen. Sie war eng und heiß,
wie ein samtenes Futteral, das ihm beinahe schmerzliche Lust
bereitete. Er fühlte alles gleichzeitig, wilde Lust, gieriges
Verlangen, überwältigende Liebe und Zärtlichkeit. Er wollte sich
Zeit nehmen, sie vom Wasser umschmeichelt ausgiebig lieben, doch
trotz seiner Zurückhaltung war der Genuss zu intensiv. Sie waren so
heiß erregt,
dass der Funke übersprang und sie beide Feuer fingen, so sehr Rio
auch dagegen ankämpfte. Rachael grub die Nägel in seine Haut, warf
den Kopf zurück und bot ihm den entblößten Hals dar.
Tief im Innern, da wo es zählte, bewegten sie sich
im Einklang, vereinten sich und verschmolzen miteinander, wurden zu
einem Wesen in einer Haut. Rachaels leiser Aufschrei raubte ihm den
letzten Rest Selbstbeherrschung. Sie umschloss ihn, packte ihn und
hielt ihn fordernd fest. Rio schaute gen Himmel, schwang sich zum
Höhenflug auf und riss sie mit, so dass das Wasser gegen ihre Haut
klatschte.
»Und du fluchst«, flüsterte Rachael kichernd. Sie
küsste ihn auf die Schulter, wiegte die Hüften in seinem Takt und
ließ sie beide unter kleinen Nachbeben erschauern.
»Dafür bist du verantwortlich, Rachael. Eines Tages
habe ich deinetwegen einen Herzanfall. Ich könnte dich hundert Mal
am Tag lieben.« Er setzte sie vorsichtig ab. Sie stand taillenhoch
im Wasser und lehnte sich an ihn. Er schloss sie fest in die Arme.
»Ich verliere mein Stehvermögen, ist dir das aufgefallen?«
Ihr leises, verführerisches Lachen rieselte über
ihn hinweg wie ein reinigender Regenschauer. »Und ich dachte, es
läge an mir.«
Ein Knacken in den Büschen am Ufer verriet ihnen,
dass sie nicht allein waren. Rio wand sich blitzschnell nach
hinten, um der Gefahr zu begegnen, schob sich sofort zwischen
Rachael und die wild wackelnden Sträucher. Zwei kleine Katzen kamen
herausgepurzelt, Fritz schlitterte die schlammige Uferböschung
hinab und landete beinah direkt vor ihren Füßen im Wasser. Rachaels
Hand lag auf Rios Rücken, so dass sie spürte, wie seine Anspannung
sich wieder löste.
Fritz zog sich jaulend aus dem Wasser und ging
knurrend und fauchend auf Franz los. Der wartete deutlich amüsiert
unter den Farnen, bis Fritz das nasse Fell ausgeschüttelt hatte.
Dann fiel er ein zweites Mal über ihn her, sprang seinen Bruder an
und schubste ihn erneut die Böschung hinunter. In einem wilden
Knäuel aus Pelz und Pranken rollten die beiden Kater gemeinsam ins
Wasser und machten dabei mehr Krach, als Rachael je von einer Katze
gehört hatte.
Sie lachte laut auf und schlang einen Arm um Rios
schmale Taille. »Sie sind wie kleine Kinder.«
Rio fuhr sich mit der Hand durch den dichten
schwarzen Haarschopf. »Ich weiß.« Er klang völlig entnervt. »Sie
sind zu nichts zu gebrauchen.«
Das brachte sie noch mehr zum Lachen. »Du kannst
dir nicht vorstellen, wie unglaublich sexy ich dich finde.« Sie
küsste ihn aufs Kinn. »Ich schwimme ein wenig, solange ich noch die
Gelegenheit habe. Jeden Augenblick fängt es wieder an zu
regnen.«
»Es regnet doch schon.«
»Das ist nur Wasserstaub. Schau dir den Regenbogen
an!« Rachael zeigte nach oben und tauchte unter, war nur noch ein
verschwommener Fleck aus nackter Haut und schwarzseidenem
Haar.
Kopfschüttelnd schaute Rio ihr nach, als sie
fortschwamm, dann sah er wieder den zwei Nebelpardern bei ihrer
Balgerei zu. Wenn sie ihre rauen Spielchen spielen wollten, waren
sie nicht zu bremsen. Er watete durchs Wasser zu der flachen
Felsbank, auf die er sich oft legte, um in der Sonne zu trocknen.
Es war zwar immer feucht und heiß, doch dort wurde man vom
Sprühnebel des Wasserfalls gekühlt. Sein Blick wanderte zurück zu
Rachael,
die durch den Teich schwamm, ihre nackte Haut schimmerte hell im
leuchtenden Blau des Wassers.
Unter dem Wasserfall tauchte Rachael auf, stellte
sich darunter und hob den Kopf, um die Tropfen über ihr Gesicht
rinnen zu lassen. Sie strich sich die dichte Haarpracht zurück und
lächelte vor lauter Freude darüber, am Leben zu sein. Das Wasser
war erstaunlich blau, und die weißen Dunstschleier hingen wie
flauschige Wolken in den Blättern oben. Die Dämmerung brach herein,
von dem sanften grauen Himmel angelockt kamen die Fledermäuse
hervor und kreisten auf der Jagd nach Insekten lauernd über der
Wasseroberfläche. Sie schaute quer über den kleinen Teich zu Rio
hinüber. Er lag lang ausgestreckt auf einem großen grauen Felsblock
und beobachtete sie mit seinen ausdrucksvollen grünen Augen.
»Ich liebe diesen Ort, Rio. Kommst du oft
hierher?«
»Immer wenn ich ein schönes langes Bad nehmen und
gemütlich schwimmen möchte«, antwortete er, ohne den Kopf zu heben.
Er sah einfach nur zu, wie sie verführerisch wie eine Wassernymphe
im taillenhohen Wasser stand. »In diesem Teich gibt es keine
Blutegel, deshalb kann man hier gefahrlos schwimmen.«
Rachael lächelte ihn an und watete auf ihn zu. Von
den Zweigen mehrerer Bäume ringsum stoben Vögel auf und ihre
aufgeregt flatternden Flügel erfüllten die Luft mit einer Art
Summen. Sie erstarrte mitten im Schritt und schaute zu dem
aufgestiegenen Schwarm empor. Ihr Herz begann zu klopfen. Über den
Teich hinweg suchte sie Rios Blick. Er lag längst nicht mehr faul
auf dem Stein, sondern hatte sich wachsam hingehockt. Ohne sie
anzusehen, machte er ihr mit der Hand ein Zeichen, sich in einem
Halbkreis zu ihm hinzubewegen.
Rachael schaute zu den zwei kleinen Nebelpardern
hinüber, die halb versteckt in dem buschigen Farn lagen. Müde vom
Raufen waren die beiden im Schutz der filigranen Wedel
eingeschlummert, doch nun waren sie ebenso aufmerksam wie Rio und
hielten mit weit aufgerissenem Maul und aufgestellten Ohren die
Nase in den Wind. Sie zwang sich, in die Richtung weiterzugehen,
die Rio ihr gewiesen hatte. Er wollte, dass sie sofort aus dem
Wasser kam und sich bessere Deckung suchte. Die Wächter des Waldes
hatten Alarm geschlagen. Ein Jäger war in ihr Reich
eingedrungen.
Rio schlang den Arm um sie. »Alles in Ordnung. Wir
wussten ja, dass es bald so weit sein würde. Für ihn ist es
wichtig, dass er dich entdeckt.« Rio hauchte ihr einen Kuss auf die
Schläfe. »Aber erst, wenn du dir etwas angezogen hast. Wir haben
eine ziemlich deutliche Spur zu der kleinen Hütte gelegt, die Tama
und Kim für dich gebaut haben. Du tust wie eine Einheimische, die
versucht, allein zurechtzukommen.«
Rachael lehnte sich trostsuchend an ihn. Rio nahm
sie fester in den Arm. »Wir müssen es aber nicht unbedingt so
machen, sestrilla. Wenn du Angst hast,
finden wir einen anderen Weg, wie er dich sehen kann.«
Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich
spiele den Köder. Armando hat mich Elijah so oft als passives Opfer
vorgeführt, dass es ein schönes Gefühl ist, endlich etwas tun zu
können. Auch wenn ich nur ein Dummerchen in einer Eingeborenenhütte
spiele, um Armandos Spion zu täuschen. Das gibt mir ein wenig Macht
über dieses schreckliche Monster. Armando hat Elijahs Leben
zerstört, und ich war das Mittel zum Zweck.«
Rio knabberte an ihrem Ohr, während er sie
zielstrebig
aus dem Wasser in den Schutz der Bäume führte. »Wir verwandeln uns
hier, Rachael. Als Leopardin bist du besser getarnt. Wir müssen
aber einen großen Bogen um Armandos Spion machen und dich zur Hütte
zurückbringen. Wir wollen doch nicht, dass er den Geruch der
Leopardin aufnimmt und entdeckt, dass du dich verwandeln kannst.
Zeig dich ihm aus der Entfernung in menschlicher Gestalt. Ich passe
auf dich auf. Eine falsche Bewegung und ich töte ihn.«
Rachael zuckte zusammen. Diese Schonungslosigkeit
war typisch für ihn. »Bist du sicher, dass er allein ist? Dass nur
der Spion kommt, nicht mein Onkel?«
»Horch auf die Tiere. Sie melden einen Leoparden,
und er ist unterwegs zur Hütte.«
Rachael atmete tief. »Was ist mit Fritz und Franz?
Du musst dafür sorgen, dass sie wegbleiben. Ich will nicht, dass
ihnen etwas zustößt. Du weißt doch, dass sie dir überallhin
folgen.«
»Mach dir keine Sorgen, wir haben schon oft
zusammen gejagt. Unsere Falle wird zuschnappen, Rachael. Das Ego
deines Onkels ist viel zu groß, um dem Killerleoparden die Beute zu
überlassen. Wenn er glaubt, dass er dich direkt vor Elijahs Nase
töten kann, wird er anbeißen.«
»Um mich brauchst du dir auch keine Sorgen zu
machen. Ich gebe zu, dass ich Angst habe, aber ich sehe das eher
positiv. Endlich kann ich einmal etwas für Elijah tun.« Sie drückte
das Gesicht an seine Schulter und rieb es liebevoll an ihm, so wie
Großkatzen es taten. »Ich schaff das schon.«
»Vielleicht versucht er, dich zu entführen und zu
deinem Onkel zu bringen, aber ich bezweifle das. Ich gehe davon
aus, dass er nur herausfinden soll, ob du tatsächlich
dort wohnst. Aber sei trotzdem wachsam, Rachael, für den Fall,
dass ich mich täusche.«
Rio ging die Böschung hoch und zog sie hinter sich
her, so dass sie von dem dichten Gebüsch fast gänzlich verborgen
wurden. Er verwandelte sich bereits und sein Pelz streifte ihre
bloße Haut. Diese wunderbare Verwandlung erstaunte Rachael immer
wieder. Es erschien unglaublich, dass sie die Hände in das Fell
eines Leoparden graben konnte, und noch unglaublicher, dass sie ihm
über den Rücken streichen und die Ohren kraulen durfte. Trotz der
höchst realen Bedrohung durch ihren Onkel lächelte Rachael
glücklich, als sie ihrer wilden Natur erlaubte, zum Vorschein zu
kommen.
Der Rückweg durch den Wald dauerte viel länger,
denn sie schlichen vorsichtig über einen Pfad, der von ihrem Haus
fortführte. In einem Wäldchen, in dem dünne Bäume besonders dicht
zusammenstanden, hatten sie eine kleine Hütte errichtet. Rio hatte
Wert darauf gelegt, dass es für einen Scharfschützen schwer war,
durch die Bäume zu schießen. Wenn Armandos Killer Rachael umbringen
wollte, musste er es aus der Nähe tun. Das hieß, er würde zum
Angriff die Leopardengestalt benutzen.
Während sie durch den Wald streiften, blieb Rachael
nahe bei Rio, damit die Gibbons und Vögel sicher sein konnten, dass
sie nicht auf der Jagd waren. Der Eindringling sollte nicht darauf
aufmerksam werden, dass sie sich durch Büsche und Bäume auf die
neue Hütte zubewegten. Sie hatte nur drei Wände, genau wie die
Rasthütten, die von den Einheimischen benutzt wurden, wenn sie von
einem Ort zum andern unterwegs waren. Die offene vierte Seite wurde
von dem Blätterbaldachin und einem Strohdach geschützt.
Rachaels Kleider befanden sich bereits in der
Hütte, und sie verwandelte sich rasch, um etwas anzuziehen. Rio
blieb in der Leopardengestalt und sah ohne mit der Wimper zu zucken
aufmerksam zu, wie sie ihre Jeans und ein Hemd überzog. Sie
lächelte ihn an, beugte sich herab und drückte ihm einen Kuss auf
den Leopardenkopf. »Pass auf dich auf, Rio. Und achte auf Elijah.«
Ihr Herz pochte laut, und sie wusste, dass der Leopard es hören
konnte, genauso wie er die Angst riechen konnte, die ihr wie ein
schlechter Geschmack auf der Zunge lag. Als das riesige Tier sich
an ihrem Bein rieb, schlang sie einen Arm um seinen kräftigen
Nacken. »Unterschätz ihn nicht. Armando Lospostos ist ein Monster.
Das darfst du nie vergessen, nicht einen Augenblick.«
Rio hätte sich am liebsten verwandelt, nur für
einen Moment, um sie tröstend in den Arm zu nehmen und sie
aufzumuntern, doch er wagte es nicht. Im Wald herrschte lebhafter
Nachrichtenaustausch. Armando hatte getan, was Elijah nicht
erwartet hatte, er war tatsächlich mit einem großen Tross Männer
und einem Killerleoparden angerückt. Offenbar wollte er sich seine
Chance nicht entgehen lassen. Er hatte seinen Spion gleich
losgeschickt, noch ehe das Camp stand, das einige Meilen
flussaufwärts errichtet wurde. Rio hoffte, dass Elijah den
Nachrichten, die von den Tieren am Fluss und im Wald verbreitet
wurden, ebenso lauschte wie ihre menschlichen Verbündeten.
Rio rieb sich noch ein letztes Mal zärtlich an
Rachael, ehe er nah der offenen Seite der Hütte in die niedrigen
Äste eines Baumes sprang. Sie wirkte einsam und verletzlich. Und
genauso sollte sie auch aussehen, aber verdammt nochmal, es brach
ihm trotzdem das Herz. Er verschwand im dichten Laub, und obwohl er
wusste, dass sie ihn nicht
mehr sehen konnte, hoffte er, dass sie seine Gegenwart spürte.
Wenn der Leopardenschnüffler sie nicht bloß ausspionieren sollte,
sondern ihr irgendwie zu nahe käme, würde er ihn zweifelsohne töten
müssen.
Der fremde Leopard brauchte einen Tag und eine
Nacht, um Rachaels kleine Hütte zu finden. Sie lag mit klopfendem
Herzen allein im Bett, atmete tief ein und aus, und versuchte, ihre
wilde Seite zu unterdrücken und das Lamm zu spielen, das das
Monster, das ihr Leben ruiniert hatte, in die Falle lockte. Sie aß
allein, verrichtete endlose, nutzlose Arbeiten und tat generell
sehr beschäftigt. Sie ging sogar so weit, in der Nähe der Hütte
eine Art Garten anzulegen, in dem sie Kräuter pflanzte. Und die
ganze Zeit spürte sie Rio ganz in ihrer Nähe. Sie sah ihn nicht,
doch sie wusste, dass er da war, und das wärmte ihr Herz. Um sich
selbst hatte sie keine Angst. Sie vertraute Rio und seinen
Fähigkeiten.
Rachael war in ihrem kleinen Garten, als sie das
erste irritierte Kreischen der Vögel im Blätterdach über ihrem Haus
hörte. Das Flattern von Flügeln, als einige die Flucht ergriffen.
Die durchdringenden Schreie, mit denen die Wächter Alarm schlugen.
Doch sie ließ sich nichts anmerken, schließlich hatte sie über
Jahre gelernt, in gefährlichen Situationen ruhig und gelassen zu
bleiben. Der fremde Leopard pirschte sich heran. Die Affen
verrieten ihr, auf welchem Weg er sich der Hütte näherte. Das Tier
suchte nach Spuren von Elijah, oder einer Falle für Armando. Doch
es würde bloß Rachael vorfinden, wie sie sich mühte, aus einer
Rasthütte ein Heim zu zaubern.
Sie richtete sich auf und roch ihn. Nahm den
wilden, bestialischen Geruch des Eindringlings wahr. Spürte seinen
stechenden Blick und die Erregung, die ihn überkam.
Er wusste, dass er ihr das Leben nehmen konnte,
dass sie allein war, eine leichte Beute für ein Raubtier wie einen
Leoparden. Der fremde Leopard ging davon aus, dass sie die Gabe der
Verwandlung nicht besaß. Armando hatte ihm versichert, dass sie
keine Gestaltwandlerin sei, sondern ausschließlich der menschlichen
Form verhaftet, und dass sie es nicht wert sei zu leben. Obwohl sie
den Leoparden nicht sehen konnte, spürte sie beinahe, wie er vor
Mordlust bebte. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Sie bekam
Gänsehaut, und ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Rachael summte leise vor sich hin, ging absichtlich
zum nächsten Baumstamm und schnitt ein paar duftende Orchideen für
die Holzplatte, die ihr als Tisch diente. Vor dem Haus, in
Reichweite des Leoparden, bewegte sie sich in dem sicheren
Bewusstsein, dass Rio sein Gewehr unverwandt auf ihn gerichtet
hielt. Dann ging sie in ihre kleine Hütte und arrangierte die
Blumen nachlässig. Ihre Knie wurden weich, deshalb setzte sie sich
auf einen Baumstumpf, bewunderte die Schönheit der Umgebung und
versuchte, entspannt zu wirken.
Zu ihrem Erstaunen tauchten plötzlich Kim und Tama
mit vier Stammesangehörigen auf und baten laut gestikulierend um
Wasser. Kim zwinkerte ihr zu. Nur auf diese Weise konnten sie den
fremden Leoparden daran hindern, sie zu schnappen und in Armandos
Camp zu bringen. Er konnte ihrem Onkel zwar berichten, dass Rachael
allein war und Elijah sich nicht in ihrer Nähe aufhielt, doch wenn
er sie fangen wollte, musste er noch einmal zurückkehren. Trotzdem
spürte sie die Gegenwart des Leoparden noch bis in die Nacht. Kim
und seine Gefährten scharten sich um sie, redeten bis weit nach
Einbruch der Dunkelheit und überließen ihr dann höflich die Hütte.
Damit hielten
sie den Spion erfolgreich davon ab, irgendetwas gegen sie zu
unternehmen. Es schien ewig zu dauern, bis das Gefühl drohender
Gefahr sich wieder legte. Sie blieb ganz still liegen und wartete
ab, hätte sich aber am liebsten zu einem Ball zusammengerollt und
vor Erleichterung geweint.
Im Morgengrauen kam Rio, nahm sie in den Arm und
übersäte ihr Gesicht mit Küssen. Er brachte Elijah mit, in voller
Größe und unversehrt, der sie fest an sich drückte und sie für
ihren Mut lobte.
»Hat es funktioniert? Ist er zu Armando zurück und
hat er ihm erzählt, dass ich hier ganz allein lebe, ohne dass du
etwas davon weißt?« Rachaels Stimme klang gedämpft, weil sie das
Gesicht an Rios Brust gedrückt hatte. Sie sog seinen Körpergeruch
ein und betastete ihn, musste sich seiner enormen Kraft
vergewissern, denn sie fühlte sich sehr verletzlich.
»Ja, es hat geklappt«, sagte Elijah beruhigend.
»Der Spion ist zu Armando zurückgekehrt und hat brav alles
berichtet, was er gesehen hat.«
»Ich habe gespürt, wie sehr es ihn gedrängt hat,
mich zu töten«, sagte Rachael. »Ich weiß nicht, was er getan hätte,
wenn Kim und Tama nicht aufgetaucht wären.«
»Das habe ich auch bemerkt«, gestand Rio. »Aber ich
hatte ihn die ganze Zeit im Visier. Er hätte keine Chance gehabt,
sestrilla.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rachael.
»Tama und Kim werden dich in ihr Dorf bringen. Dort
bist du in Sicherheit. Armando wird seine Männer zur Hütte schicken
und sie leer vorfinden. In der Annahme, dass du zurückkommen wirst,
werden sie sich auf die Lauer legen. In der Zwischenzeit müssen wir
die Großwildjäger loswerden. Es sieht so aus, als hätte Armando sie
angewiesen,
einen Leoparden zu fangen. Er weiß, dass er Elijah in seinem gut
bewachten Camp nicht erwischen kann, aber er glaubt, dass dein
Bruder sich nachts verwandelt und als Leopard nach dir
sucht.«
Elijah grinste sie an, doch sein Blick blieb kalt
und hart. »Das sieht ihm ähnlich, professionelle Großwildjäger
mitzubringen. Er konnte ihnen ja schlecht erzählen, dass ich ein
Gestaltwandler bin. Damit hätte er sich um eins seiner großen
Geheimnisse gebracht.«
»Die Großwildjäger hoffen, mit einer angepflockten
Ziege einen Leoparden anlocken zu können. In der näheren Umgebung
sollte es keine größeren Leoparden mehr geben, nur noch Nebelparder
und kleinere Katzen. Wir wollten nicht riskieren, dass irgendein
anderer umherstreifender Leopard getötet wird, und haben
entsprechende Warnungen ausgeben lassen. Aber wir können nicht
vorsichtig genug sein.«
»Vier Großwildjäger?«, wiederholte Rachael. »Ihr
meint Männer, die von Berufs wegen Großkatzen jagen? Das ist
typisch Armando. Ich hätte wissen müssen, dass er das tut.«
Elijah berührte sie sanft an der Schulter. »Ich
habe es geahnt. Wir sind darauf vorbereitet. Du bist bei Tama und
Kim gut aufgehoben.«
»Glaubt ihr nicht, dass der Spion zurückkommt, um
mich zu beobachten? Ich sollte hierbleiben, damit er täglich an
Armando berichten kann.«
»Er wird es nicht schaffen, dem Drang, dich zu
töten, zu widerstehen«, erwiderte Rio. »Du hast doch gespürt, wie
stark seine Mordlust war. Das können wir nicht noch einmal
riskieren. Er ist gefährlich, und ich muss Elijah bei den
Großwildjägern helfen. Wir können es uns nicht leisten,
sie im Rücken zu haben. Armando wird in jedem Fall Leute schicken,
um dich zu holen. Also musst du dich in Sicherheit bringen.«
Rachaels Herz machte einen Satz. Schon eine
Berührung, ein einziger Blick von Rio konnte das verursachen. Als
sie ihm in die Augen sah, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Du
weißt, was du von mir verlangst, nicht wahr? Ich musste
danebenstehen und zusehen, wie Armando Elijahs Leben ruinierte, ihn
meinetwegen quälte und schikanierte. Er hat mich benutzt, um meinen
Bruder zu drangsalieren. Er darf mir keinen von euch wegnehmen. Das
würde ich nicht überleben. Ihr müsst beide zu mir zurückkommen.«
Sie schaute ihren Bruder nicht an, doch ihre Stimme war
tränenerstickt. »Elijah wird sich opfern, weil er glaubt, dass es
keine Erlösung für ihn gibt. Rio, du musst einen Weg finden, ihn
heil wieder zurückzubringen.«
Rio hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. »Du hast
versprochen, dass du mich heiratest, sestrilla. Meine Geliebte. Für eine anständige
Zeremonie brauchen wir Elijah. Er muss mir die Braut zuführen. Du
kannst dich darauf verlassen, dass ich ihn dir wiederbringe.«
»Ich danke dir.« Rachael machte sich mit Tama und
Kim auf den Weg. Nur einmal schaute sie sich noch um, aber sowohl
Elijah als auch Rio blickten ihr nach, bis sie verschwunden
war.
Dann sahen die beiden Männer sich wortlos an, zogen
sich hastig aus und verwandelten sich in Leoparden. Es war Zeit für
die Jagd.
In der ersten Nacht erledigten Rio und Elijah den
ersten Großwildjäger. Das Auge fest an den Sucher gedrückt, den
Finger am Abzug seines Gewehrs, wartete er in seinem Versteck.
Unter ihm, auf dem Boden des Waldes,
meckerte ängstlich eine kleine Ziege. Rio wusste, dass der
Killerleopard in der Nähe war, als Kundschafter für die Jäger, doch
er hatte sich mit Elijah längst hoch oben im Blätterdach über der
Falle des Jägers auf die Lauer gelegt.
In der zweiten Nacht hockte der Killerleopard dann
in den Bäumen über ihrem ausgewählten Opfer. Seine gelben Augen
glitzerten drohend und rachsüchtig. Sie hatten ihn, ein Wesen, das
sich den anderen aus der Jagdgruppe überlegen fühlte, schlecht
aussehen lassen, und er hatte seine Aufgabe nicht erfüllt. Er
wollte nicht noch einmal versagen. Elijah war es, der direkt vor
der Nase des Killerleoparden den zweiten Großwildjäger tötete,
indem er sich in das Versteck schlich und den lauernden Jäger dort
erlegte.
Als der Killerleopard bei seinem Blick in die Runde
den toten Jäger entdeckte, wurde er wild, brüllte vor Wut und
Rachsucht und rannte durch den Wald zu Rachaels kleiner,
verlassener Hütte. Rio war dankbar, dass sie längst fort war. Der
Leopard war mordlustig und wünschte sich verzweifelt, irgendetwas
in kleine Stücke reißen zu können. Rio folgte ihm in wesentlich
gemächlicherem Tempo, sollte der Eindringling sich doch
verausgaben. Aus der Ferne sah er zu, wie der fremde Leopard die
winzige, behelfsmäßige Hütte demolierte. Er war so außer sich, dass
er die Möbel in ihre Einzelteile zerlegte und sogar die kleine Vase
mit den Orchideen zerbrach.
Rio gab ihm keine Chance, keine Gelegenheit zum
Kampf, stürzte sich einfach vom Dach auf ihn, grub die Zähne tief
in seinen Hals und drückte zu, während der Killer sich wand und mit
spitzen Krallen nach ihm schlug. Rio hatte die längste Zeit seines
Lebens im Wald verbracht und lief ständig als Mensch oder Tier
durch die
Bäume. Der Killerleopard aber hatte sein natürliches Leben
aufgegeben für ein Leben in der Stadt, das Macht und Geld
versprach. Er war nicht annähernd so schnell und skrupellos wie
sein Gegner. Rio erwies der Leiche den schuldigen Respekt, indem er
sie zu feiner Asche verbrannte und die Überreste verstreute, ehe er
sich wieder Elijah anschloss.
Den dritten Jäger töteten sie in der Abenddämmerung
des dritten Tages. Diesmal warteten sie, bis der letzte der vier
merkte, was geschehen war, und sich hastig vom Tatort entfernte.
Voll grimmiger Freude trabte Elijah hinter dem einsamen
Großwildjäger her. Der Mann hatte endlich seine Niederlage
eingestanden und stolperte entsetzt über den Verlust seiner Freunde
zurück ins Camp. Sein Gewehr hielt er fest an sich gedrückt, so als
ob diese eine Waffe ihn vor den Schrecken des dunklen Waldes
bewahren könnte. Er zuckte zusammen, als er das leise Jaulen der
Nebelparder hörte. Und rannte los, als ein krächzendes Husten den
kleinen Katzen antwortete. Mit zerrissener Kleidung, Parasiten am
Körper und dem Blut seiner Freunde an der Kleidung stürzte er in
das schwer bewachte Lager.
Armando reagierte in typischer Manier. Aggressiv
und wütend, weil jemand seine Pläne durchkreuzt hatte. Als der Mann
über die alptraumhafte Jagd berichtete, hörte er gar nicht richtig
zu. Elijah hatte solche Szenen in der Vergangenheit schon oft
miterlebt und wusste, dass sein Onkel imstande war, extrem
gewalttätig zu werden. Auch seine Männer wussten das und wechselten
Blicke voller Unbehagen, als der einsame Jäger versuchte, sein
Versagen zu erklären. Sogar bei der hohen Feuchtigkeit und Hitze im
Regenwald trug Armando den gewohnten eng anliegenden
Rollkragenpullover. Dieser weiche, teure Pulli,
ein offenkundiges Zeichen von Reichtum und Macht, war sein
Markenzeichen. Er schwitzte zwar, doch sein Ego erlaubte ihm nicht,
den Pulli abzulegen. Der Leopard verzog das Gesicht zu einer
stummen Maske der Verachtung - und des Hasses.
»Wovon zum Teufel reden Sie?«, blaffte Armando, der
in seinen Drohgebärden ständig mit der Hand an seine Waffe kam.
Sein Gesicht war wutverzerrt. »Ich habe vier Großwildjäger
angeheuert. Was ist so schwer daran, einen Leoparden zu fangen,
verdammt nochmal? Ich habe Ihnen viel Geld gezahlt, damit Sie ihn
mir lebendig bringen. Fangen Sie ihn mit einem Netz. Verwunden Sie
ihn. Es ist mir egal, wie Sie es anstellen. Nehmen Sie ein
Betäubungsgewehr. Soll ich mir Ihren Kopf zerbrechen? Wenn Sie nach
all dem Geld, das ich Ihnen gezahlt hab, versagen, kommen Sie nicht
lebend aus diesem Wald heraus, das kann ich Ihnen versprechen. Sie
sind zu viert, und er ist allein. So schwer kann es doch nicht
sein. Und jetzt gehen Sie mir aus den Augen und erledigen Sie Ihren
verdammten Job.«
Der Mann wich zurück, diesmal achtete er darauf,
das Gewehr vor sich zu halten, so dass er jederzeit anlegen konnte,
falls er gezwungen war, sich zu verteidigen. »Sie haben mir nicht
zugehört, Sir.« Argwöhnisch musterte er die Wächter, die allesamt
bis an die Zähne bewaffnet waren. »Wir sind nicht mehr zu viert. In
der ersten Nacht hat der Leopard Bob getötet. Er hat die
angebundene Ziege einfach ignoriert und sich direkt auf ihn
gestürzt. Wir hatten Bob unten gelassen, um ihn zu ködern, wir
anderen waren mit Zielfernrohren in den Bäumen. In der zweiten
Nacht hat er Leonard ausgeschaltet. Craig war letzte Nacht dran.
Was das auch für ein Leopard ist, er ist ein
Menschenfresser. Und er ist verflucht clever. Dabei hat er sie
nicht einmal angenagt, es ist, als würde er nur mit uns
spielen.«
Fluchend sprang Armando auf die Füße. Sofort trat
der Großwildjäger einen Schritt zurück und machte Platz. »Das
gefällt mir nicht. Wenn Rachael morgen nicht zu dieser Hütte
zurückkehrt, verlassen wir das Lager. Wir werden ihr alle zusammen
einen kleinen Besuch abstatten.« Als der Jäger in sein Zelt gehen
wollte, packte Armando ihn am Arm und riss ihn herum. »Sie nicht.
Sie haben einen Job zu erledigen. Sie haben das Geld genommen, also
holen Sie jetzt den Leoparden. Und nun raus hier.«
Elijah kauerte in einem Baum, dessen Laub ihn
verbarg, und beobachtete, wie der letzte Jäger widerwillig die
Sicherheit des Camps verließ. Er wartete mit unendlicher Geduld, er
kannte den Tagesablauf in einem Jagdlager. Als die Moskitos kamen,
verstummten die Gespräche. Zunehmend verärgert schlugen die Männer
nach den Insekten. Der Regen setzte wieder ein, die anhaltenden
Schauer verstärkten die allgemeine schlechte Laune noch. Die
meisten Männer kamen aus der Stadt, nur die vier Großwildjäger
hatten sich im Dschungel ausgekannt, und drei von ihnen waren nun
tot. Das drückte auf die Stimmung im Lager. Die Männer verschwanden
in den Zelten, nur die Wächter an den Grenzen blieben draußen. Alle
von ihnen versuchten, unter den Bäumen Schutz zu finden. Keiner
achtete auf die Äste über seinem Kopf. Trotzdem wartete Elijah
geduldig, wie es seine Art war. Ihm machten die Insekten und der
Regen nichts aus. Dies war seine Welt, die anderen waren
Eindringlinge. Er richtete sich auf eine lange Wartezeit ein,
stellte sich auf den Rhythmus des Lagers und der Männer ein.
Es war wichtig, unauffällig zu handeln, die Tat zu
begehen und unerkannt davonzukommen. Die Männer im Lager waren
schwer bewaffnet. Elijah wollte kein Blutbad anrichten. Eine
polizeiliche Untersuchung im Wald sollte er auf jeden Fall
vermeiden. Er musste heimlich und leise töten. Er kauerte in den
Büschen, keine drei Meter von einem der Wächter entfernt, und
beobachtete seinen Onkel. Das Licht einer Laterne erhellte das
Innere des Zeltes. Eine Seite war zurückgeschlagen, damit Armando
freies Schussfeld hatte. Und das Gewehr war nie mehr als drei
Zentimeter von seinen Fingerspitzen entfernt. Eine nach der anderen
wurden die Laternen gelöscht, und Dunkelheit legte sich über das
Lager.
Der Wind wehte. Der Regen fiel. Elijah wartete, bis
die Wachen nach und nach müde wurden. Plötzlich erwachte er zum
Leben. Er kroch näher heran, wählte die stockende, zeitlupenartige
Anschleichjagd des erfahrenen Leoparden. Sein konzentrierter Blick
heftete sich auf Armando, der, die Waffe stets in Reichweite, in
seinem Zelt herumlief. Ein leibhaftiger Dämon. Ein Mörder. Jedes
Unrecht, das Armando seiner Familie angetan hatte, fiel Elijah
wieder ein. Er ließ den ersten Wächter hinter sich. Der Mann hatte
ihn zwei Mal direkt angesehen, und doch nicht bemerkt, dass ein
Leopard sich ins Lager schlich.
Ein anderer Mann kam aus einem Zelt und wankte zum
nächsten Baum. Fast wäre er über den Leoparden gestolpert, nur
Zentimeter hätten gefehlt. Elijah schob sich vor, um dem Mann aus
dem Weg zu gehen, und gewann einen weiteren Meter. Armando trat an
den Zelteingang und spähte zum hundertsten Mal in die Nacht hinaus,
offensichtlich war ihm mulmig. Das Gewehr hielt er im Arm, fest an
die Brust gedrückt. Elijah, verborgen in dem kleinen
Gebüsch nur wenige Meter vom Zelt entfernt, wandte nicht einmal
den Blick von seinem Opfer.
Armando ging wieder ins Zelt, und der Leopard kroch
leise weiter, glitt geschmeidig über den unebenen Grund und legte
den schweren Körper auf den dicken Tatzen ab, um kein Geräusch zu
verursachen. Nur das gleichmäßige Trommeln des Regens war zu hören.
Am Eingang des Zelts verharrte Elijah, darauf bedacht, im Schatten
zu bleiben, wo das Licht der Laterne nicht hinreichte. Dann nahm er
sein Ziel ins Visier, straffte die Muskeln, bis er so angespannt
war wie eine lebendige Sprungfeder, und genoss das Gefühl der
Macht, das ihn überkam.
Als hätte er die Gefahr gespürt, drehte Armando
sich wieder um, hob das Gewehr ein Stück an und suchte nervös die
Dunkelheit ab. Der Leopard traf in hart, warf ihn hintenüber und
grub die Zähne in seine Kehle. Die mächtigen Kieferknochen
schlossen sich zu einem tödlichen Biss und trafen auf Metall, nicht
auf Fleisch. Elijah versuchte, durch den Panzer zu beißen, und
schlug mit den Krallen nach Armandos Bauch. Doch auch die
Weichteile seines Körpers wurden von der metallenen Rüstung
geschützt.
Armando war auf den Rücken gefallen und hart auf
dem Boden gelandet, sein Gewehr hatte er dabei verloren. Die Kiefer
des Leoparden schlossen sich fester, zermalmten seine Kehle und
schnürten ihm trotz der versteckten Panzerung die Luft ab.
Plötzlich hielt Armando das Messer, das er im Ärmel versteckt
hatte, in der Hand und stieß es Elijah mehrfach in die Seite. Doch
der Leopard hielt grimmig fest und sah ihn aus gelbgrünen Augen
durchdringend an. Armando schlug wild um sich, doch kein Laut
entwich seiner gurgelnden Kehle.
Von den dunklen Schatten aufgeschreckt kam ein
Wächter an den Zelteingang gelaufen und legte sein Gewehr an. Da
sprang ein zweiter Leopard von einem Baum und riss ihn in einem
Würgegriff zu Boden. Alles geschah absolut lautlos. Rio schüttelte
den Mann ein letztes Mal, um sicherzustellen, dass er nicht mehr
imstande war, Alarm auszulösen. Dann zog er die Leiche ins Zelt und
löschte die Laterne, damit es drinnen dunkel wurde und es keine
Schatten mehr gab, die den dort tobenden Kampf auf Leben und Tod
verraten konnten.
Rio verwandelte sich teilweise, packte Armando am
Handgelenk und entwand ihm das Messer. Der Mann hauchte bereits
sein Leben aus; dunkle, giftige Rache erstarrte in seinen Augen,
während er in das Gesicht seines Neffen sah, in die Augen des
Leoparden, der ihm langsam die Luftröhre abdrückte und ihm den
kostbaren Sauerstoff verwehrte.
Elijah lag in Armandos Hals verbissen mit bebenden
Flanken und blutgetränkt auf dem Boden. Rio stupste ihn an und
drängte ihn, aufzustehen, ehe sie entdeckt wurden. Dann nahm er
seine menschliche Gestalt an. »Es ist vorbei, Elijah. Er ist tot.«
Nur um ganz sicherzugehen, kontrollierte Rio noch Armandos Puls.
»Du verlierst zu viel Blut, komm, lass uns hier verschwinden.
Spring auf die Zweige gleich vor dem Zelt.«
Elijah konnte nicht glauben, dass das Monster tot
war. Stumm schaute er auf Armando, in die offenen, glasigen Augen,
und wusste, dass er in die Fratze des Bösen sah. Er spürte
Schmerzen, doch nur gedämpft und weit entfernt. Unbeholfen griff er
mit den Pranken nach dem Pullover, zerriss ihn und betrachtete die
stählerne Rüstung darunter.
»Elijah, wir haben nicht viel Zeit.« Rio fasste den
großen Leoparden um den Hals und versuchte, ihn wegzuziehen
von dem Monstrum, das zermalmt und geschlagen auf dem Boden lag.
»Du verlierst zu viel Blut. Wenn wir nicht sofort gehen, wirst du
nicht überleben.« Als der Leopard ungerührt über Armandos Leiche
stehen blieb, änderte Rio die Taktik. »Rachael wartet auf uns,
Elijah. Sie sorgt sich. Lass uns zu ihr gehen.«
Der Leopard hob den Kopf und schaute Rio mit
traurigen Augen an. Verzweiflung war darin zu lesen. Verwirrung.
Und tiefe, echte Trauer. Rio berührte den pelzigen Kopf noch
einmal. »Du bist frei. Ihr seid beide frei. Ihr könnt euer Leben
jetzt selbst bestimmen.« Rio verwandelte sich, nahm seine
Tiergestalt an und führte Elijah aus dem dunklen Zelt. Zu Rachael.
Zurück ins Leben.