4
Sie hatte lauter
Alpträume. Einen nach dem anderen. Rachael lebte in einer Hölle
voller Schmerzen, in der nichts Sinn machte, außer einer leisen
Männerstimme, die beruhigend auf sie einredete. Die Stimme war wie
eine Rettungsleine, die sie aus dieser Dunkelheit herauszog, in der
Fänge und Klauen sie zerfleischten, ihr Kugeln um die Ohren pfiffen
und in Körper einschlugen, wo Blut floss und grässliche Kreaturen
ihr auflauerten.
Schatten bewegten sich durch den Raum. Die Schwüle
war erdrückend. Sie hörte eine Katze schnaufen. Eine andere
antwortete mit einem heiseren Knurren. Die Geräusche kamen ganz aus
der Nähe, kaum zwei Meter von ihr entfernt. Jeder Muskel in ihrem
Körper zuckte zusammen vor Schreck, was die Schmerzen in ihrem Bein
noch verschlimmerte. Sie konnte nur den Kopf drehen und dabei nicht
genug vom Zimmer erkennen, um die Quelle dieser wilden,
katzenartigen Laute zu entdecken.
Gelegentlich wehte der Wind eine kühle Brise durch
den Raum und über sie hinweg. Und immer regnete es. In einem
unablässigen, gleichmäßigen Rhythmus, der Rachael gleichzeitig
beruhigte und irritierte. Unfähig, das Bett zu verlassen, kam sie
sich wie eine Gefangene vor. Es war klaustrophobisch. Außerdem fand
sie es beschämend, bei jeder Kleinigkeit auf einen Mann angewiesen
zu sein, insbesondere wenn man die meiste Zeit gar nicht genau
wusste, wer er wirklich war. Manchmal, wenn die alptraumhaften
Bilder von einem Menschen, der die Gestalt eines Leoparden annahm,
wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge abliefen, hielt sie sich
für verrückt. Es gab aber auch Momente, in denen sie den Mann
kannte, in denen sie voller Liebe und Zärtlichkeit war, und andere
Momente, in denen sie in das katzenhafte, furchterregende Gesicht
eines Fremden blickte und ihr Herz vor Angst laut klopfte. Sie
wusste nie, wie viel Zeit vergangen war. Manchmal war es Tag, dann
wieder Nacht, das Einzige, worauf sie zählen konnte, war die
Stimme, die sie durch die Alpträume begleitete und ihr den Weg
zurück in die Realität wies.
Rachael starrte blicklos an die Decke und
versuchte, die Angst vor den zwei unsichtbaren Wildkatzen in ihrer
Nähe zu unterdrücken. Wieder bewegte sich ein Schatten, diesmal vor
dem Fenster, draußen auf der Veranda. Ihr Herz schlug schneller.
Der Holzboden knarzte.
Aus den Augenwinkeln sah Rio, dass Rachael dabei
war, seitwärts aus dem Bett zu fallen. Er sprang sofort zu ihr hin
und hielt sie fest. »Was machst du denn da?« Die Angst ließ seine
Stimme hart klingen.
Rachael schaute ihn mit großen Augen an und
umklammerte seine Arme. »Sie sind da. Er hat sie geschickt, damit
sie mich umbringen. Ich muss hier raus.« Sie wandte den Kopf und
starrte entsetzt in eine Ecke. »Sie sind da vorn.«
Was immer sie sah, für sie war es wirklich da. Sie
war so erregt, dass Rio ein Schauer über den Rücken rieselte.
»Schau mich an, Rachael.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und
zwang sie, sich wieder auf ihn zu konzentrieren. »Ich lass nicht
zu, dass man dir etwas antut. Das ist
bloß das Fieber. Deshalb siehst du Dinge, die gar nicht da
sind.«
Rachael blinzelte, und ihre glänzenden Augen
begannen, sich auf ihn zu fokussieren. »Aber ich hab sie
gesehen.«
»Wen denn? Wer will dich umbringen?« Das hatte Rio
sie schon ein Dutzend Mal gefragt, doch nie gab sie ihm eine
Antwort. Auch diesmal blieb sie stumm und versuchte, den Kopf
abzuwenden. Doch er hielt ihr Gesicht in den Händen und zwang sie,
ihm in die Augen zu schauen.
»Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen
habe. Dazu deine langen Wimpern. Warum haben Männer eigentlich
immer so wunderschöne Wimpern?«
Die Art, wie sie ihn immer wieder aus dem
Gleichgewicht brachte, ärgerte ihn manchmal so sehr, dass er sie am
liebsten geschüttelt hätte. »Was redest du nur für dummes Zeug?«,
erwiderte Rio. »Schau mich doch an, Weib. Ich bin voller Narben,
und meine Nase ist zweimal gebrochen. Ich sehe aus wie ein
gottverdammter Killer, nicht wie ein hübscher Junge.« Kaum hatte er
die Worte ausgesprochen, bereute er sie auch schon. Gottverdammter Killer hing in der Luft zwischen
ihnen. Er biss die Zähne zusammen, fluchte innerlich und versuchte,
dem Blick ihrer riesengroßen Augen auszuweichen.
»Rio?« Rachaels Stimme klang sanft. »Ich sehe den
Schmerz in deinen Augen. Ist das meine Schuld? Habe ich dich
irgendwie gekränkt? Ich möchte niemandem wehtun, am allerwenigsten
dir. Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Rio strich sich mit den Fingern durch das zerzauste
Haar. »Ausgerechnet jetzt hast du einen lichten Augenblick, das war
ja klar. Wie machst du das bloß, Rachael? Vor zwei Sekunden warst
du noch so durcheinander, dass du nicht einmal deinen Namen
wusstest.«
Rio wirkte so verletzt, dass es ihr das Herz
zerriss. »Hat irgendjemand behauptet, du wärst ein Mörder?«
Ihr Blick glitt langsam über sein Gesicht,
Zentimeter um Zentimeter - nichts entging ihr. Rio war ganz sicher,
dass sie bis auf den Grund seiner Seele schauen konnte. Dorthin, wo
der grimmige Zorn schwelte, den er normalerweise tief verborgen
hielt, der sich jetzt aber in dem wütenden Ausbruch unaufhaltsam
Bahn brach. Sie hätte Angst vor ihm haben sollen. Zumindest hatte
er Angst vor sich selbst, denn er wusste, was er im Zorn anrichten
konnte. Doch Rachaels Gesichtsausdruck war mitleidig, ja fast
liebevoll. Sie hob die unversehrte Hand, fuhr ihm mit den Fingern
über Lippen und Hals, schlang die Hand um seinen Nacken und
streichelte seinen Kopf. Was bot sie ihm damit an? Liebe? Ihren
Körper? Zärtlichkeit?
Er schenkte seinem ersten Impuls, ihre Hand
wegzustoßen, keine Beachtung. Diesen Blick konnte er nicht
ertragen. Also nahm er ihre Hand und drückte sie an seine nackte
Brust, auf sein wild hämmerndes Herz. »Du weißt doch gar nichts von
mir, Rachael. Du solltest mich nicht so ansehen.« Er wusste nicht
genau, was er fühlte, es war eine Mischung aus Ärger und Qual,
zusammen mit wilder Sehnsucht. Verdammt, darüber war er doch längst
hinweg gewesen. Er hatte keine Wünsche oder Bedürfnisse mehr.
»Ich versteh dich nicht.« Seine Stimme wurde
dunkler, klang beinahe belegt. »Du bist mir ein Rätsel. Warum hast
du keine Angst vor mir?«
Rachael zwinkerte mit den Augen. Sie waren dunkel,
fast schwarz, und so groß, dass ein Mann sich in ihnen verlieren
konnte. »Ich habe doch Angst vor dir.«
»Lüg mich nicht an.«
»Nein, ehrlich, ich habe Angst vor dir.« Dabei riss
sie ihre Augen weit auf und sah ihn ernst und aufrichtig an.
»Warum zum Teufel? Schließlich habe ich mich um
dich gekümmert und dir sogar mein Bett überlassen!«
»Du hast mir dein Bett nicht überlassen! Du
schläfst immer noch drin«, betonte Rachael.
»Wo soll ich denn sonst schlafen?«, erwiderte
Rio.
»Auf dem Boden?«
»Du willst, dass ich auf dem Boden schlafe? Kannst
du dir vorstellen, wie ungemütlich das wäre?«
»Hab dich doch nicht so. Ich dachte, du wärst ein
richtiges Mannsbild«, feixte Rachael. »Pass bloß auf, dass du dein
Verbrecher-Image nicht ruinierst.«
»Und was ist mit den Moskitos und den
Schlangen?«
»Schlangen?« Rachael schaute sich misstrauisch um.
»Was für Schlangen? Ich hoffe, hier gibt es nur liebe Tiere. So wie
deine Miezekätzchen.«
Sein Mund wollte schon nachgeben, doch mit etwas
Mühe gelang es Rio, ein Lächeln zu unterdrücken. »Liebe Schlangen
gibt es nicht.«
»Auch nicht da, wo du deine Katzen herhast? Warum
hast du ihnen eigentlich nicht beigebracht, wie man Gäste anständig
begrüßt?«
»Ich habe ihnen beigebracht, die Nachbarn zu
verjagen. Ich hasse es, wenn sie unangekündigt vorbeikommen.«
Eine pechschwarze Locke fiel ihm in die Stirn. Ohne
nachzudenken, strich Rachael sie zur Seite. »Du brauchst dringend
jemanden, der auf dich aufpasst.« Kaum hatte sie das gesagt, war es
ihr auch schon peinlich. Wenn sie mit Rio zusammen war, konnte sie
ihre Zunge offenbar nicht im Zaum halten. Sie plapperte einfach
alles aus, was ihr durch den Sinn ging, egal, wie intim es
war.
»Möchtest du das etwa übernehmen?« Seine Stimme
klang schon wieder belegt, das Gefühlschaos in ihm schnürte ihm die
Luft ab. Da war sie schon wieder, diese seltsam verzerrte
Wahrnehmung. Er spürte wie Rachaels Hand in seiner lag und schaute
nach unten. Seine Hand schloss sich um ihre, und er streichelte mit
den Fingern über ihre glatte Haut. Er kannte jede einzelne Stelle.
Selbst die Form ihrer Knochen war ihm vertraut. Er konnte sich
sogar erinnern, dass er einmal genauso neben ihr gesessen hatte,
während ihre spöttische Stimme ihm wohlige Schauer über den Rücken
jagte.
Rachael schloss die Augen, doch Rio glaubte, Tränen
darin gesehen zu haben, ehe sie den Kopf abwandte. »Warum sind
diese Katzen eigentlich die ganze Zeit hier? Sind das nicht
Wildtiere? Nebelparder?«
Rio schaute zu den beiden Katzen hinüber, die sich
in einem spielerischen Kampf auf dem Boden wälzten. Jede wog an die
fünfzig Pfund, so dass es ziemlich rumste, wenn sie gegen die Möbel
stießen.
»Oder hältst du sie als Haustiere?«
»Ich habe keine Haustiere«, entgegnete Rio barsch.
»Das sind Findelkinder. Sie hatten ihre Mutter getötet und ihr das
Fell abgezogen. Ich war auf ihrer Fährte und habe so die beiden
gefunden. Sie waren noch klein und brauchten Milch.«
Rachael wandte sich wieder ihm zu, hob die
Augenlider über einem Blick, der ihn fast verschlingen wollte. Das
Lächeln, das ihr blasses Gesicht aufleuchten ließ, verschlug ihm
fast den Atem. »Du hast sie also mit der Flasche großgezogen,
oder?«
Rio zuckte die Achseln, und versuchte sich von der
Art, wie sie ihn ansah, nicht beeindrucken zu lassen. Einen
Blick so voll unverhohlener Bewunderung hatte er nicht verdient.
Niemand schaute ihn jemals so an, niemand sah ihn so wie sie es
tat. Das Ganze war so verwirrend wie aufregend für ihn. Es
bereitete ihm einige Mühe, jede körperliche oder gefühlsmäßige
Reaktion zu unterdrücken. Rio ließ Rachaels Hand fallen, als hätte
er sich an ihr verbrannt, und trat hastig vom Bett zurück.
Sie lachte ihn aus, aber so sanft und verlockend,
dass es sich wie ein Streicheln anfühlte. Rio verlor fast die
Beherrschung angesichts dieser sinnlichen Frau, die so
verführerisch in seinem Bett lag, das seidige Haar um den Kopf
aufgefächert wie ein Heiligenschein. Er wünschte, es wäre nur ihr
Körper, von dem er sich derart angezogen fühlte. Das hätte er noch
verstanden. Er war schon lange nicht mehr mit einer Frau zusammen
gewesen. Üppige Kurven, zartes Fleisch, dazu die Hitze und der Duft
des Dschungels waren eine aufreizende Kombination, die eine heftige
körperliche Reaktion durchaus rechtfertigte. Doch es war weit mehr
als das. Er kannte ihren Körper. Erinnerte sich an ihr Lachen. An
das Flüstern in der Nacht, in ihrer geheimen, gemeinsamen Welt.
Sein Kopf und sein Herz reagierten auf sie. Verdammt, wäre er ein
Mann, der solchen Unsinn glaubte, würde er sie beide für
seelenverwandt halten.
»Hab ich nicht Recht?«, beharrte Rachael. »Du hast
sie als Babys gefunden, sie mit nach Hause genommen und ihnen die
Flasche gegeben.«
»Ist doch besser, als ihnen das Fell abzuziehen«,
erwiderte Rio kurz.
Rachael sah, wie er vom Hals aufwärts dunkelrot
anlief. Dem Mann war es kein bisschen peinlich, nackt
herumzulaufen, aber wenn man ihn bei einer guten Tat ertappte,
schämte er sich. Sie fand sein Erröten äußerst liebenswert.
»Warum läufst du eigentlich ständig ohne Kleider herum? Bin ich
etwa in eine geheime Nudistenkolonie geraten? Oder glaubst du, dass
es mir Spaß macht, dich im Adamskostüm zu sehen?«
»Ich weiß, dass es dir Spaß macht.« Rio musste
lächeln. Aus ihrer aufrichtigen Bewunderung für seinen Körper hatte
sie nie einen Hehl gemacht.
Rachael antwortete so freimütig wie immer. »Ich geb
ja zu, dass du hübsch anzuschauen bist, aber mit der Zeit kommt es
mir etwas komisch vor. Warum tust du das?«
Rio lüpfte die Augenbrauen. »So kann man sich
schneller verwandeln, wenn man als Leopard im Wald herumlaufen
möchte.«
Rachael schnitt eine Grimasse. »Haha, bist du immer
so ein Spaßvogel? Willst du mir das mein Leben lang vorhalten? Ich
denke, nach allem, was passiert ist, ist es doch ganz normal, wenn
ich Alpträume davon habe, wie sich Männer in bösartige Leoparden
verwandeln.«
»Bösartige Leoparden?« Rio wühlte in einem kleinen
Holzschrank und zog eine Jeans heraus. »Leoparden sind nicht
bösartig. Sie sind zwar Raubtiere, aber sie sind nicht
bösartig.«
»Danke für die Aufklärung. Ich hatte keine Ahnung,
wo da der feine Unterschied liegt. Da war auch keiner zu bemerken,
als dein kleiner Leopard mir das Bein angenagt hat.«
»Das war mein Fehler. Ich war fest davon überzeugt,
dass irgendjemand auf der Lauer lag, um mich zu töten.«
»Warum sollte man dich umbringen wollen?«
Rio lachte leise. »Ist es nicht viel
wahrscheinlicher, dass man einem Mann wie mir nach dem Leben
trachtet als einer Frau wie dir?«
Rachael wollte den Blick von ihm abwenden, war aber
gefesselt vom Spiel der Muskeln unter seiner Haut. Als er in seine
Jeans schlüpfte und sie beiläufig über die kräftigen Oberschenkel
und die schmalen Hüften zog, hielt sie den Atem an. Nachlässig
schloss er ein paar Knöpfe und ließ die oberen offen, so als lohne
es sich nicht, die Hose richtig zuzumachen.
Rachael fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich
trocken gewordenen Lippen. Sonst wäre ihr das Sprechen
schwergefallen. »Rio, dies ist dein Haus. Ich bin hier einfach
hereingeplatzt. Wenn du lieber nackt bist, kann ich damit leben.«
Es rührte sie, dass er sich ihr zuliebe bedecken wollte - aber ein
Teil von ihr sah ihn gern unbekleidet. Es lag etwas primitiv
Sinnliches in der Art, wie er leise durch das kleine Baumhaus
schlich, nackt und auf bloßen Füßen.
»Mir macht das nichts aus, Rachael. Du bist noch
ans Bett gefesselt und musst bestimmt teuflische Schmerzen
aushalten. Ich weiß es zu schätzen, dass du dich nicht beschwerst.«
Er zögerte einen Herzschlag lang. Noch einen. »Ich weiß es sogar
sehr zu schätzen.«
»Ach was!« Herausfordernd starrte sie ihn an. »Ich
hab doch kein Wort davon gesagt, dass ich deine lieben kleinen
Kätzchen über den Haufen schießen werde, sobald ich aus diesem Bett
herauskomme. Was ich aber ernsthaft in Erwägung ziehe. Überhaupt
verwöhnst du sie viel zu sehr, und das tut deinem Ruf gar nicht
gut, du harter Kerl.«
In dem Moment stießen die beiden Katzen bei ihrer
spielerischen Balgerei an das Bett, und mit Rachaels heroischer
Selbstbeherrschung war es vorbei. Erschrocken warf sie sich zur
Seite. Rio, der immer noch neben dem kleinen Schrank stand, war mit
einem einzigen Satz bei
ihr und warf sich mit leuchtend gelbgoldenen Augen auf sie. Sein
Gesicht war nur Zentimeter von ihrem entfernt. Die Decke an die
nackte Brust gedrückt, sah Rachael ängstlich zu ihm auf, versuchte
aber gleichzeitig, tapfer zu wirken. Sie reizte ihn so sehr, dass
er es kaum aushalten konnte.
Vorsichtig, damit ihr Bein sich nicht bewegte, zog
er sie hoch und nahm sie in den Arm. »Du musst immer daran denken,
dass du dich nicht rühren darfst. Ich habe kaum noch Antibiotika,
und diese Wunde darf nicht wieder aufgehen. Halt noch ein paar Tage
durch.«
Rachael war sich seiner nackten Brust an ihrem
Busen nur allzu bewusst, und der Hände, die beruhigend über ihren
Rücken strichen. Doch am meisten beschäftigte sie der Gedanke an
die Entfernung, die er mit einem einzigen Sprung bewältigt hatte.
So etwas war einfach unmöglich. Sie legte den Kopf in den Nacken,
um Rios Gesicht genauer studieren zu können. Ja, er hatte viele
Narben. Und seine Nase war mehr als einmal gebrochen, doch für sie
war er der faszinierendste Mann auf der ganzen Welt. Aber das
Ungewöhnlichste an ihm waren die Augen. Wie Katzenaugen.
»Du tust es schon wieder.« Rio unterbrach den
Augenkontakt, hob den Kopf und strich ihr mit dem Kinn übers Haar.
»Du schaust mich ganz ängstlich an, Rachael. Wenn ich dir etwas
Böses tun wollte, hätte ich dann nicht längst Gelegenheit dazu
gehabt?« Er klang gereizt.
Rachael war etwas verlegen. »Das liegt nur an den
Katzen, die machen mich nervös.«
Rio legte die Hände auf ihre Schultern und begann,
sie zu massieren. »Nach allem, was du durchgemacht hast, kann man
dir das nicht vorwerfen, aber sie werden dich
nicht mehr angreifen. Ich stell euch jetzt mal vor. Dann geht es
besser.«
»Würde es dir etwas ausmachen, mir vorher noch ein
Hemd rauszusuchen? Ich glaube, dann fühl ich mich weniger
verletzlich.« Und vielleicht hinderte es ihren Körper daran, auf
seinen so sehr zu reagieren, denn ihre Brüste schmerzten vor lauter
Sehnsucht nach seiner Berührung. Ihr grässlich angeschwollenes Bein
tat weh, sie hatte hohes Fieber und trotz allem wirkte seine
seltsame Anziehungskraft geradezu unwiderstehlich. »Falls deine
unberechenbaren Lieblinge auf die Idee kommen sollten, mich zum
Abendessen zu verspeisen, sollen sie wenigstens Klamotten mitkauen
müssen.« Die Muskeln unter seiner sehr menschlichen Haut fühlten
sich an, als wären sie aus Stahl. »Wie hast du das gemacht? Wie
konntest du mit einem einzigen Satz quer durchs Zimmer springen?«
Besser sie fand gleich heraus, ob sie dabei war, den Verstand zu
verlieren. »Ich hab mir das nicht eingebildet und am Fieber lag es
auch nicht.«
»Nein, dein Fieber ist etwas gesunken«, gab Rio zu,
während er ihr half, sich wieder hinzulegen. »Ich habe den größten
Teil meines Lebens im Wald verbracht. Ich laufe über Äste, springe
von einem zum andern, klettere Baumstämme hoch und schwimme durch
Flüsse. Das gehört einfach zu meinem Leben.«
Dankbar für die Erklärung und nicht sonderlich
erpicht darauf, die Entfernung genauer abzuschätzen, atmete Rachael
langsam aus. Vielleicht war es ja möglich. Mit etwas Übung. Sehr
viel Übung. Sie sah zu, wie Rio wieder zum Schrank ging und vermied
es, dabei seine Schritte zu zählen. Er lief auf nackten, leisen
Sohlen, völlig lautlos. Plötzlich reckte er sich, lasziv und
geschmeidig wie eine Katze.
Hob die Hände über den Kopf und legte sie mit weit gespreizten
Fingern an die Wand. Streckte sich, bis sich der Rücken bog, um
möglichst weit nach oben zu kommen und fuhr mit den Fingerspitzen
tiefen Krallenspuren nach. Das hatte er offenbar schon so oft
gemacht, dass die Kanten der Kratzer glatt poliert waren. Es wirkte
wie eine ganz natürliche, unverkrampfte Bewegung.
Rachaels Herz schlug gegen die Brust. Waren die
Nebelparder groß genug, um solche Kratzspuren zu hinterlassen? Wohl
kaum. Die Katze, die diese tiefen Kerben in die Wand gegraben
hatte, musste wesentlich größer sein. »Wie kommen diese Kratzspuren
ins Haus?«
Rio ließ die Arme sinken. »Das ist eine schlechte
Angewohnheit von mir. Ich strecke mich gern, damit ich in Form
bleibe.« Er nahm ein Hemd, roch daran und drehte sich mit
spitzbübischem Grinsen zu Rachael um. »Das hier ist nicht
schlecht.« Er hielt ihr ein blaues Hemd hin. »Was meinst du?«
»Scheint in Ordnung zu sein.« Rachael versuchte,
sich aufzurichten.
»Warte.« Rio zog den Hemdsärmel ganz behutsam über
die provisorische Schiene an Rachaels Handgelenk. »Du bist immer so
ungeduldig.« Er half ihr, sich aufzusetzen, legte ihr das Hemd um
und knöpfte es zu, seine Fingerknöchel streiften ihr zartes
Fleisch. Es fühlte sich sehr schön an, sie in sein Lieblingshemd
einzuhüllen, und es kam ihm so vor, als hätte er das schon hundert
Mal gemacht. »Verdammt, ich glaube, deine Temperatur steigt schon
wieder.«
Rachael legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Du
fluchst zu viel.«
»Wirklich?« Er zog eine Augenbraue in die Höhe.
»Und
ich dachte, in deiner Gegenwart reiße ich mich zusammen. Die
Katzen stört es nicht.« Auf ein Fingerschnippen hin eilten die
beiden Nebelparder an seine Seite und drückten sich an seine
Hüfte.
Rachael zwang sich, ganz still sitzenzubleiben.
Innerlich schlotterte sie vor Angst, doch sie hatte schon vor
langer Zeit gelernt, in gefährlichen Situationen die Fassung zu
wahren, daher machte sie ein gleichmütiges Gesicht und brachte
sogar ein kleines Lächeln zustande. Der Regen trommelte gleichmäßig
aufs Dach. Sie hörte sogar das Summen der Insekten und das Rascheln
der Blätter und Zweige rund ums Haus. Rachael schluckte den kleinen
Kloß herunter, der ihr das Atmen schwermachte, und sog Rios
Körpergeruch ein. Er war so maskulin, roch nach Gefahr und nach
Wald. »Das glaub ich dir gern. Wahrscheinlich haben sie deine
schlechten Angewohnheiten längst übernommen.«
Rio rückte näher an sie heran, so als ob er ihre
Angst spürte, kraulte den Katzen an seiner Seite jedoch weiter die
Ohren. Rachael betrachtete die gezackte Schramme an seiner Schläfe,
die sie ihm zugefügt hatte; die Wunde heilte bereits, sah aber ganz
so aus, als hätte sie genäht werden müssen. »Das wird wieder eine
Narbe werden, Rio. Es tut mir schrecklich leid. Du hast dich so
sehr um mich gekümmert, dass du für dich selbst keine Zeit mehr
hattest.« Rachael schämte sich, dass sie ihn geschlagen hatte. Doch
die Details des Kampfes waren längst verblasst vor all den
alptraumhaften Bildern, in denen sie diese Männer sah, die sich in
Leoparden verwandelten.
»Wie lange willst du dich noch davor drücken, die
Leoparden einmal anzufassen?« Rio griff nach ihrer Hand. »Das ist
Fritz. An seinem Ohr fehlt ein kleines Stück und
seine Flecken sehen aus wie eine Landkarte.« Er führte ihre Hand
über Nacken und Rücken des Tiers. Rachaels Haut glühte schon wieder
und fühlte sich heiß und trocken an. Ihre Augen bekamen diesen
glasigen Schein, an den er nun schon so gewöhnt war.
Rachael gab sich allergrößte Mühe nicht zu zittern.
»Hallo Fritz. Falls du derjenige warst, der mir neulich das Bein
abgekaut hat, möchte ich dich bitten, das nie wieder zu tun.«
Der harte Zug um Rios Mund wurde weicher. »Nette
Begrüßung. Das wird er sich sicher merken. Der hier ist Franz. Er
ist meistens ganz lieb, nur wenn Fritz zu hart mit ihm umspringt,
bekommt er gelegentlich einen Wutanfall. Manchmal verschwinden die
beiden tagelang, doch die meiste Zeit sind sie bei mir. Ich
überlasse es ihnen, wann sie kommen oder gehen.« Er drückte ihre
Hand ins Fell der Katze.
Bei dem Gedanken, dass sie gerade ein so
gefährliches und scheues Wesen wie diesen Nebelparder streichelte,
erfasste sie unwillkürlich eine gewisse Erregung. »Hallo Franz.
Weißt du nicht, dass du Angst vor Menschen haben solltest?« Rachael
runzelte die Stirn. »Hast du nie darüber nachgedacht, dass sie als
Haustiere für Wilderer, die hinter ihrem Pelz her sind, eine
leichte Beute werden könnten?«
»Sie sind nicht richtig zahm, Rachael. Sie
akzeptieren dich nur, weil mein Geruch überall an dir haftet.
Schließlich schlafen wir zusammen. Deshalb bin ich auch so erpicht
darauf, dass ihr euch anfreundet, damit nichts mehr passieren kann.
Normalerweise verstecken sie sich vor Menschen.«
»Wir schlafen nur im selben Bett«, erwiderte
Rachael spitz. »Und ich möchte mich weder jetzt noch in Zukunft
mit den beiden anfreunden. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen,
dass du nicht ganz normal bist? Es gibt nicht viele, die gerne so
leben würden wie du.«
Rio schaute sich in seinem Haus um. »Mir
gefällt’s.«
Rachael seufzte. »Ich wollte dich damit nicht
kritisieren.« Sie suchte nach einer anderen Position, die den
pochenden Schmerz in ihrem Bein vielleicht etwas erträglicher
machte.
Rio strich ihr das Haar aus dem Nacken. Es war nass
von Schweiß. Rachael wurde immer unruhiger und nervös versuchte sie
ständig, eine bequemere Stellung zu finden. »Rachael, entspann
dich. Ich mixe dir einen kühlen Drink.«
Rachael biss sich auf die Zunge, als er mit
gewohnter Grazie aufsprang. Auch wenn er stets im Kommandoton
sprach, er meinte es nicht so - sie war einfach überempfindlich.
Sie versuchte, sich ihr dichtes Haar aus der Stirn zu streichen.
Ihre Locken standen in alle Richtungen ab, wie immer, wenn sie
feucht geworden waren. Während sie so dalag, hätte sie schwören
können, dass die Wände sich auf sie zubewegten, sie einschlossen
und ihr die Luft raubten. Alles ging ihr auf die Nerven, angefangen
beim Trommeln des unablässigen Regens bis hin zu den verspielten
Nebelpardern. Wenn sie einen Schuh in die Hand bekommen hätte,
hätte sie ihn wohl vor lauter Frustration an die Wand
geworfen.
Ihr Blick suchte wieder Rio, so wie er es die ganze
Zeit tat. Es ärgerte sie, dass sie sich so wenig beherrschen konnte
und ihn unentwegt anstarrte, und dass sie immer schon im Voraus
wusste, was er tun würde. So wie sie jetzt wusste, dass er gleich
mit einer geschmeidigen Bewegung nach der Eisbox greifen würde. Sie
kannte ihn einfach. Wenn
sie die Augen schloss, sah sie ihn vor sich, wie er leise mit ihr
redete, ihr geistesabwesend das Haar aus der Stirn strich und seine
Finger um ihren Nacken schlang.
Warum erinnerten sie all seine Bewegungen, jede
einzelne Geste an eine Katze? Insbesondere seine Augen. Seine
Pupillen waren geweitet, so wie die einer Katze bei Nacht, doch
tagsüber waren sie nahezu unsichtbar.
»Also gut, es kann gar nicht sein, dass du dich in
einen Leoparden verwandelt hast.« Rachael starrte an die Decke und
versuchte, das Problem durch Nachdenken zu lösen. Sie musste
aufhören sich auszumalen, wie er mit seinen beiden Katzenfreunden
durch die Baumkronen sprang. Es war idiotisch und bewies nur, dass
sie nicht mehr richtig bei Verstand war.
»Was ist denn jetzt schon wieder los?« Rio rührte
mit einem langen Löffel im Glas herum. »Die Hälfte der Zeit redest
du ziemlichen Unsinn.«
»Für das, was ich ihm Fieberwahn sage, kann ich ja
wohl nichts.« Rachael war selbst ein wenig erschrocken über ihren
schnippischen Tonfall. Sie war müde. Und sie war es leid, müde zu
sein. Hatte es satt, sich mürrisch und missgelaunt zu fühlen und
ständig überlegen zu müssen, was nun echt war und was ihre
überhitzte Fantasie ihr nur vorgaukelte.
»Versuch doch einfach mal, gar nichts zu sagen«,
schlug Rio vor.
Rachael zuckte zusammen. Wenn sie nervös war,
redete sie immer zu viel. »Ich schätze, du hast Recht. Ich sollte
eben mit versteinertem Gesicht die Wand anstarren - so wie du. Dann
kämen wir vielleicht besser miteinander aus.« Sie schämte sich sehr
dafür, dass sie Rio anfuhr, aber wenn sie es nicht tat, musste sie
schreien.
Rio musterte ihr Gesicht. Rachael hatte hochrote
Wangen und zupfte mit den Fingern unablässig an ihrer dünnen Decke
herum. Jedesmal wenn er sie anschaute, spürte er dieses seltsame
Flattern tief in seinem Innern, genau an der Stelle, wo seine
Gefühle verborgen lagen. »Wir kommen schon zurecht«, erwiderte er
knapp. »Es liegt nicht an dir. Ich bin einfach nicht daran gewöhnt,
jemanden um mich zu haben.«
Rachael seufzte. »Tut mir leid.« Warum musste er
bloß so nett sein, wenn sie es auf einen ordentlichen Streit
angelegt hatte? Es wäre so schön gewesen, einen Grund zu haben,
ihre schlechte Laune an ihm auszulassen. Rachael schnaubte
gottergeben. »Ich tu mir bloß selbst leid, das ist alles. Die
Hälfte der Zeit bin ich tatsächlich durcheinander. Ich komme mir so
dumm vor.« Und hilflos. Sie fühlte sich so hilflos, dass sie am
liebsten losgeschrien hätte. Sie wollte nicht in dem Haus eines
wildfremden Mannes gefangen sein, der auch noch genauso gefährlich
aussah, wie er offenbar tatsächlich war. »Du bist doch ein Fremder,
oder?« Rios brennender Blick ging ihr bis in die Zehenspitzen.
Warum fühlte er sich bloß nicht wie ein Fremder an? Warum waren ihr
seine Berührungen so vertraut?
Rio zog eine Augenbraue hoch. »Du liegst in meinem
Bett, und ich bin Tag und Nacht für dich da. Kann ich da ein
Fremder sein?« Entnervt ließ Rachael sich in die Kissen
zurückfallen. »Siehst du? Was soll das für eine Antwort sein? Bist
du etwa in einem Kloster aufgewachsen? Haben sie dir da
beigebracht, ständig in Rätseln zu sprechen? Dann lass dir gesagt
sein, dass ich das weder interessant noch hilfreich finde, sondern
einfach nur langweilig und idiotisch.« Sie pustete gegen ihren
Pony. »Mein Haar macht mich verrückt, hast du eine Schere?«
»Warum willst du eigentlich ständig etwas Scharfes
von mir?«
Rachael prustete los. Sie lachte so laut, dass es
einige Vögel auf der Verandabrüstung erschreckte und sie mit lautem
Flügelschlag zeternd das Weite suchten. »Ich habe den Eindruck,
dass ich mich für jeden zweiten Satz entschuldigen muss. Ich bin in
dein Haus eingedrungen, habe deine Dusche benutzt, in deinem Bett
geschlafen, dir eine übergebraten und ließ dir keine andere Wahl
als eine frustrierte, fantasierende Kranke zu pflegen - und jetzt
will ich dich auch noch mit irgendetwas Scharfem bedrohen.«
»Damit zu drohen, dass du dir die Haare
abschneidest, ist auch nicht viel besser.« Rio trat ans Bett,
beugte sich über sie, sah ihr in die Augen und grub seine Finger in
ihr Haar. »Niemand kann mich dazu zwingen, etwas zu tun, was ich
nicht möchte.« Ausgenommen vielleicht die verführerische Frau, die
in seinem Bett lag, doch das würde er ihr gegenüber niemals zugeben
… und sich selbst gegenüber auch nicht. »Dein Haar ist kurz genug.
Mehr brauchst du nicht abzuschneiden.« Er rieb ihre fransigen
Haarspitzen zwischen den Fingern.
»Ich hab’s früher viel länger getragen. Aber es ist
so dick, dass es mir bei der Schwüle zu heiß wird.«
»Ich finde schon etwas, womit du es hochstecken
kannst.«
»Gib dir keine Mühe, Rio, ich bin bloß gereizt.«
Seine Freundlichkeit machte sie verlegen.
»Ich habe in der Nacht, in der du hier angekommen
bist, nasse Kleider gefunden und sie rochen nach Fluss. Bist du
etwa im Fluss gewesen?«
Rachael nickte, sie gab sich große Mühe, sich
zusammenzureißen.
»Wir sind überfallen worden. Man hat aus dem Dschungel auf uns
geschossen. Ich glaube, Simon wurde getroffen. Ich bin über Bord
gegangen und der Fluss hat mich mitgerissen.«
Rio spannte die Muskeln an. »Du hättest sterben
können.«
»Ich habe Glück gehabt. Ich bin mit der Bluse an
einem Ast unter der Wasseroberfläche hängen geblieben, und
irgendwie habe ich es dann geschafft, mich auf einen umgestürzten
Baum zu ziehen. So bin ich hergekommen. Das Haus habe ich ganz
zufällig entdeckt. Wenn nicht ein Teil der Tarnung von dem heftigen
Wind fortgerissen worden wäre, hätte ich es wohl nie gesehen. Ich
hatte Angst, es nach einer Erkundungstour nicht mehr
wiederzufinden, deshalb habe ich ein Seil zwischen zwei Bäume
gebunden, um den Weg zu markieren. Ich dachte, es wäre eine Hütte
von Eingeborenen, die sie nur gelegentlich nutzen.«
»Und ich habe dich für einen Killer gehalten, der
mir zuvorgekommen war und auf mich wartete. Ich hätte es besser
wissen müssen, aber ich war erschöpft und ziemlich angeschlagen.
Wer ist Simon?« Er hatte lange genug gewartet. Hatte seine Gefühle
unterdrückt und die Unterhaltung weitergeführt wie ein vernünftiger
Mensch. Doch eine heftige Eifersucht nagte an seinen Eingeweiden.
Er hätte sie nicht an sich heranlassen dürfen. Er hätte es besser
wissen müssen. Aber sie hatte sein Herz im Sturm erobert. Auch wenn
er nicht wusste, wie das geschehen konnte, und noch viel weniger
eine Ahnung hatte, wie er sie von dort wieder vertreiben
sollte.
»Simon ist einer aus unserer Kirchengruppe. Wir
waren unterwegs, um Medikamente zu bringen.«
»Also ist er ein Fremder. Ihr habt euch doch alle
erst
kurz vor der Abfahrt kennengelernt.« Höchst irritiert registrierte
Rio die Woge der Erleichterung, die ihn durchströmte.
Rachael nickte. »Wir kommen aus verschiedenen
Teilen des Landes und haben uns freiwillig für diesen Einsatz
gemeldet.«
»Wer war euer Führer?«
»Kim Pang. Ich fand ihn sehr nett und
kompetent.«
Rio war neben dem Bett in die Hocke gegangen, doch
als Rachael eine Hand auf seinen Schenkel legte, versteifte er
sich. Plötzlich glitzerten seine Augen so bedrohlich, dass ihr ein
kalter Schauer über den Rücken lief. »Weißt du, was mit ihm
passiert ist?«
Rachael schüttelte den Kopf. »Das Letzte, was ich
von ihm gesehen habe, war, wie er verzweifelt versuchte, das Seil
zu durchtrennen, mit dem die Barkasse vertäut war. Ist er ein
Freund von dir?« Sie hätte Kim Pang gern in Sicherheit gewusst,
genau wie alle anderen. Doch wenn er und Rio Freunde waren, wurde
es gefährlich für sie.
»Ja, ich kenne Kim. Er ist ein sehr guter Führer.«
Rio strich sich mit der Hand über die Augen. »Ich muss gleich
nachsehen, ob jemand überlebt hat und ob ich Spuren finden
kann.«
»Bei diesem Wetter? Außerdem wird es gleich dunkel.
Das ist viel zu gefährlich, Rio. Sie wurden doch auf der anderen
Seite des Flusses gefangen.« Sie musste sofort verschwinden.
Rachael hasste, wie selbstsüchtig sie ihr Handeln empfand.
Natürlich sollte Rio den anderen helfen, wenn er konnte, auch wenn
sie nicht glaubte, dass er gegen eine Gruppe bewaffneter Banditen
irgendetwas ausrichten konnte.
Voller Wut über sich selbst und ihre vertrackte
Lage,
schlug sie ungeduldig die dünne Decke zurück. »Ich muss aus diesem
Bett raus, sonst drehe ich durch.«
»Immer mit der Ruhe, Lady.« Rio legte die Arme um
Rachael und hielt sie fest. »Bleib einfach still sitzen, dann
schaue ich mal, was ich tun kann.« Er warf ihr einen
verständnisvollen Blick zu, so als könne er ihre selbstsüchtigen
Gedanken lesen.
Rio ging nach draußen und verschwand aus ihrem
Blickfeld. Sie hörte, wie dieser sonst so stille Mann auf der
Veranda einen ungewöhnlichen Lärm veranstaltete. Der Wind half, die
drückende Hitze und die Platzangst zu zerstreuen, trotzdem hätte
Rachael am liebsten geheult. Sie war gefangen in ihrem Bett und
unfähig, auch nur die kleine Strecke bis zur offenen Tür zu
bewältigen. Das Moskitonetz bauschte sich in der Brise. Wie üblich
hatte Rio kein Licht angemacht; er liebte die Nacht und anscheinend
konnte er im Dunkeln gut sehen.
Dieser Gedanke rief eine längst vergessene
Erinnerung wach: Ein Lachen, leise und ansteckend, und wie sie
beide im Regen tuschelten. Rio, der sie auf den Armen trug und ihm
Kreis herumwirbelte, während sie den Kopf gegen den Himmel streckte
und Regentropfen ihr Gesicht benetzten. Rachael stockte der Atem.
Es war nicht wahr. Sie hätte doch gewusst, wenn sie mit ihm
zusammen gewesen wäre. Rio war kein Mann, den eine Frau einfach
vergaß oder freiwillig aufgab.
»Komm, ich nehm dich mit nach draußen. Es regnet
zwar, aber das Verandadach ist dicht, also kannst du eine Weile im
Freien sitzen. Ich weiß, wie es ist, sich eingesperrt zu fühlen.
Ich helfe dir«, sagte Rio und schob einen Arm unter ihr Bein. »Halt
dich an meinem Hals fest.«
»Ich bin ziemlich schwer«, warnte ihn Rachael,
während
sie gehorsam die Finger hinter seinem Nacken verschränkte. Bei der
Aussicht, aus dem Bett zu kommen und den freien Himmel betrachten
zu können, kam Freude in ihr auf, ein warmes, überbordendes
Glücksgefühl.
»Ich denke, das schaffe ich schon«, erwiderte Rio
trocken. »Achtung, es wird wehtun, wenn ich dich hochhebe.«
Rio hatte Recht, es tat so weh, dass Rachael ihr
Gesicht an seinen warmen Hals drückte, um einen Aufschrei des
Entsetzens zu unterdrücken. Schmerz durchzuckte ihr Bein, traf sie
wie ein Faustschlag in den Magen und schoss durch ihren ganzen
Körper. Sie grub die Fingernägel in Rios Haut und biss sich fest
auf den Daumen.
»Es tut mir leid, Rachael, ich weiß, wie weh es
tut«, sagte er sanft.
Rio trug sie behutsam, als wäre sie schwerelos,
durchs Zimmer, damit sie mit ihrem geschwollenen Bein nirgendwo
anstieß. Vor der Tür empfing sie der Dschungel, mit seinen
ureigenen Geräuschen. Das Summen der Insekten, das Quaken der
Frösche, Rufe von anderen Tieren, dazu Flügelgeflatter und das
ständige Trommeln des Regens verwoben sich zu einem einzigartigen
Klangteppich.
Rio hatte einen weichen, dick gepolsterten Sessel
nach draußen gezogen, ein Möbelstück, auf das er besonders stolz
war. Vorsichtig setzte er Rachael hinein und bettete ihr Bein auf
ein Kissen auf einem Küchenstuhl. Sie legte den Kopf in den Nacken
und schaute durch das feine Moskitonetz in die filigranen
Baumkronen empor. Die ganze Veranda war durch ein Netz geschützt.
Die Brüstung bestand aus knorrigen polierten Ästen, die so mit der
Umgebung verschmolzen, dass man nicht sagen konnte, wo der Wald
begann und wo das Haus aufhörte.
Rio ließ sich neben sie in den breiten Sessel
sinken und
hielt ihr das Glas mit dem kalten Drink hin. »Trink das, Rachael,
vielleicht verschafft es dir ein wenig Abkühlung. In etwa einer
Stunde kann ich dir wieder etwas gegen das Fieber geben.«
Rachael schwitzte eher vor Schmerz als vor Fieber,
doch das wollte sie ihm nicht sagen nach all der Mühe, die er sich
gegeben hatte. Der Wind strich erfrischend über ihr Gesicht und
spielte mit den wilden Locken ihrer unbändigen Haarpracht. Sie
strich sich mit den Fingern durch die Mähne, ehe sie Rio das Glas
abnahm. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie etwas von der kalten
Flüssigkeit verschüttete. »Rio, sag mir die Wahrheit.« Rachael
schaute nachdenklich in die Stämme und Äste, die über und über mit
wilden Orchideen in allen erdenklichen Farben bewachsen waren.
»Werde ich mein Bein verlieren?« Ganz ruhig wartete sie auf seine
Antwort. Sie redete sich ein, dass sie mit der Wahrheit umgehen
konnte. »Ich möchte es lieber gleich wissen.«
Rio schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nichts
versprechen, Rachael, aber die Schwellung ist zurückgegangen. Und
das Fieber kommt und geht, wütet nicht mehr ununterbrochen. Von der
Wunde gehen keine roten Striemen mehr aus, daher denke ich, dass
wir eine Blutvergiftung vermeiden konnten. Sobald wir es schaffen,
bringe ich dich zu einem Arzt, damit der sich das anschaut. Der
Fluss schwillt ziemlich schnell ab.«
»Ich kann zu keinem Arzt gehen«, gestand Rachael
zögernd. »Niemand darf wissen, dass ich noch lebe. Wenn sie das
herausfinden, bin ich so gut wie tot.«
Rio beobachtete, wie sich ihre Lippen um das Glas
schlossen und wie sie schluckte, wie der Saft durch ihren Hals
rann. Er streckte die Beine weit von sich, als ob er
vollkommen entspannt wäre, obwohl genau das Gegenteil der Fall
war. »Wer möchte dich tot sehen, Rachael?«
»Das spielt doch keine Rolle, oder? Immerhin war
ich geistesgegenwärtig genug, meine Stiefel ins Wasser zu werfen.
Die könnten gefunden werden, wenn man nach mir sucht. Und glaub
mir, sie werden nach mir suchen. Mit den besten Fährtensuchern, die
es gibt.«
»Dann werden sie zu mir kommen. Wenn ich nicht
gerade Banditen jage, bin ich Fährtenleser.«
Rachael schluckte die Angst hinunter, die plötzlich
in ihr hochkam. »Großartig. Und ich kann nicht einmal vor dir
weglaufen. Sie werden dir viel Geld bieten, damit du mich
auslieferst.« Sie zuckte die Achseln und versuchte lässig zu
wirken, obwohl sie am liebsten sofort losgerannt und im Dschungel
untergetaucht wäre. »Vielleicht bitten sie dich auch nur, mich zu
töten. Das macht weniger Arbeit.«
Rio streichelte ihr über den Kopf. »Du hast Glück,
an Geld bin ich nicht sonderlich interessiert. Hier im Urwald
braucht man nicht viel. Es gibt reichlich Früchte, und alles andere
kann ich jagen oder tauschen.« Er spielte mit ihren Locken. »Ich
glaube, ich bin eher ein Faulpelz«, sagte er grinsend. »Außerdem
kannst du dich verdammt gut wehren. Ich denke, ich sollte mich
nicht mir dir anlegen.«
»Wenn sie dich fragen, wirst du ihnen dann
erzählen, wo ich bin?«
»Warum sollte ich das tun, wenn ich dich für mich
behalten kann?«
Rachael kippte den Rest des Safts herunter. Er war
kühl und süß. Dann bettete sie ihren Kopf an Rios Schulter und
erlaubte ihren Gliedern, sich zu entspannen. Die Nacht war
unglaublich schön. Unzählige unterschiedliche Blätter und Bäume
wiegten sich sanft im Wind, und der Regen
lieferte die Hintergrundmusik, die Rachael nun, da sie draußen vom
Wind umfächelt wurde, als beinahe wohltuend empfand. Manchmal sah
sie sogar Opossums von einem Baum zum andern flitzen.
»Soll ich raten oder willst du mich weiter auf die
Folter spannen? Warum sollst du unbedingt sterben?«