7
Der leise Doppeltriller
ertönte erneut. Die Pistole bewegte sich nicht einen Millimeter,
sie zielte nach wie vor starr auf den Eingang. Rio antwortete mit
einer Lautkombination, blieb aber reglos stehen und wartete
ab.
»Steck die Pistole weg«, sagte Kim Pang und stieß
dabei die Tür auf. Seine Kleider waren zerrissen, nass und voller
Blut, und die Müdigkeit stand ihm ins kantige Gesicht geschrieben.
Offensichtlich war er mit leichtem Gepäck unterwegs, denn Rachael
konnte keinen Rucksack und keine Waffe an ihm entdecken.
Rio rührte sich nicht aus dem Schatten neben der
Tür. »Noch nicht, Kim«, entgegnete er leise, »du bist nicht allein
gekommen. Wer ist bei dir?«
»Mein Bruder Tama und Drake Donovon. Du hast nicht
gleich geantwortet, deshalb ist Drake auskundschaften gegangen,
während Tama meinen Rückzug deckt.« Kim blieb ganz ruhig. Er
schaute zwar zu Rachael hinüber, ließ sich aber nicht anmerken,
dass er sie kannte.
»Tama macht seine Arbeit nicht besonders gut, Kim«,
meinte Rio, doch Rachael merkte, dass er sich sichtlich entspannte,
obwohl er die Waffe nicht aus der Hand legte. »Sag ihm, er soll
reinkommen.« Rio hob den Kopf und hustete, dieses besondere heisere
Husten, das Rachael im Wald öfter aus der Entfernung gehört
hatte.
Kim rief etwas in einer fremden Sprache, seine
Stimme klang herrisch und barsch, doch als er sich umdrehte,
lächelte er. »Miss Wilson, wie schön, dass Sie es lebend aus dem
Fluss geschafft haben. Ihr Verschwinden hat ganz schön Aufsehen
erregt.«
Rachael warf Rio einen schuldbewussten Blick zu.
Sie hatte vergessen, dass sie als Rachael Wilson in den Regenwald
gekommen war. Rio grinste sie spöttisch an, so typisch Mann, dass
sie am liebsten auf ihn losgegangen wäre.
»Nett, Sie kennenzulernen, Miss Rachael Los
Smith-Wilson«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Was für ein
Glück, dass wenigstens Kim Ihren Namen behalten hat.«
»Ach, sei still«, entgegnete Rachael barsch. »Kim,
du bist verletzt. Wenn du mir Rios Verbandskasten rüberbringst,
schaue ich mal, ob ich deine Wunden auswaschen kann.«
»Du bleibst brav da sitzen und bewegst dich nicht,
Miss Wilson«, mischte Rio sich ein. »Kim kann bleiben, wo er ist,
sobald Tama und Drake da sind, verarzte ich ihn schon. Er braucht
keine Frau, die wegen nichts ein Aufhebens macht.« Er schämte sich
für seine Verkrampfung, dieses Gefühl in der Magengrube. Für die
finstere Eifersucht der Männchen seiner Art. Zwar konnte er diese
natürliche Regung noch halbwegs unterdrücken, nicht aber die
kleine, unwillkürliche Bewegung, die ihn aus dem vorteilhaften
Schatten ins Freie treten ließ, um sich unauffällig vor Rachael zu
schieben.
Kim spreizte die Finger weit auseinander, wie um zu
zeigen, dass er keine Waffen in der Hand hatte. Mit einem
verlegenen Lächeln kam sein Bruder ins Zimmer. »Tut mir leid, Kim,
ich bin auf dem nassen Ast ausgerutscht und
fast runtergefallen. Ich war so sehr damit beschäftigt, mein Leben
zu retten, dass ich nicht auch noch auf dich achten konnte.« Er
schaute von Rachael zu Rio und dann auf die Pistole in Rios Hand.
»Ein bisschen übervorsichtig, oder?«
»Und du wirst anscheinend alt, wenn du schon von
den dicksten Ästen plumpst?«, konterte Rio, der dabei jedoch
sichtbar auf die Geräusche außerhalb des Hauses konzentriert
blieb.
Da die Tür offen stand, fiel es Rachael leicht, die
plötzliche Veränderung im Rhythmus des Regenwaldes wahrzunehmen.
Während es vorher Alarmschreie, Warnrufe und Gezeter gegeben hatte,
war der Wald nun wieder von den normalen Lauten erfüllt. Dem Bellen
der Muntjaks, dem Quaken der Frösche, dem Summen und Zirpen der
Insekten und Zikaden. Zwar zwitscherten die Vögel immer noch mit
ihren verschiedenen Stimmen und Melodien, doch alles war im
Einklang mit dem Raunen des Windes und dem gedämpften,
unaufhörlichen Plätschern des Regens.
Franz stand auf und streckte sich, legte die Ohren
an, fauchte und schaute zur Tür. Rio hustete noch einmal, und
diesmal klang es etwas anders. »Tama, wirf Drake eine Hose nach
draußen. Sonst kommt er nackt herein und erschreckt Miss
Wilson.«
»Hör auf, mich so zu nennen«, schimpfte Rachael.
»Und warum hat Drake, wer immer das ist, nichts an?«
»Er wusste nicht, dass er hier einer Frau begegnen
würde«, antwortete Rio, so als ob das alles erklärte.
Da schlenderte mit nichts als Rios Hosen bekleidet
Drake Donovon lässig ins Zimmer, ein Grinsen im Gesicht. Er war
groß und blond, und sein Brustkorb war muskelbepackt, die Arme dick
und kräftig, genau wie Rios. Als er
Rachael erblickte, wurde sein Grinsen noch breiter. »Kein Wunder,
dass du nicht ans Funkgerät gehst, Rio. Stellst du uns vor?«
Unter den Blicken der vier Männer dachte Rachael
plötzlich an ihr Aussehen, den ungekämmten wirren Lockenkopf und
das fehlende Make-up. Unwillkürlich hob sie eine Hand, um ihr Haar
zu richten. Doch Rio fing ihre Hand ab und legte sie an seine
Hüfte. »Du siehst gut aus, Rachael.« Seine Stimme klang schroff. Er
starrte Drake an, als hätte er etwas an ihr bemängelt.
»Hey.« In einer treuherzigen Geste streckte Drake
die Hände vor ihm aus. »Ich finde, sie sieht großartig aus.
Insbesondere für eine Tote. Kim hat gedacht, Sie wären im Fluss
ertrunken, aber anscheinend hat Sie unser aller Dschungelheld
gerettet.«
»Lass das Süßholzraspeln«, erwiderte Rio. »Das
passt nicht zu dir.«
Rachael lächelte den blonden Hünen an. »Ich finde,
es passt sehr gut zu Ihnen.«
Rio presste ihre Hand fester an seine Hüfte. »Was
ist passiert, Kim?«
»Wir sind von Tomas Vien und seinen Leuten gefangen
genommen worden. Doch anders als wir zunächst vermutet hatten,
hatten sie es weder auf die Medikamente noch auf Lösegeld
abgesehen.« Kim schaute zu Rachael hinüber. »Sie waren hinter Miss
Wilson her. Sie hatten Fotos von ihr.«
Als Rachael Anstalten machte, aufzustehen, drückte
Rio ihre Hand, um ihr zu signalisieren, dass sie ruhig bleiben
sollte. »Wie habt ihr es geschafft, ihnen zu entkommen?«
Drake musterte Rio scharf, seine seltsamen Augen
verengten sich zu Schlitzen, doch er sagte nichts.
Kim deutete mit einem Blick auf seinen Bruder. »Ich
bin zu einer Verabredung mit meinem Vater nicht erschienen. Es
sollte für eine besondere Zeremonie sein, und meine Familie wusste,
dass etwas passiert sein musste, als ich nicht auftauchte.«
Tama nickte. »Mein Vater war sehr besorgt. Flussauf
und flussab erzählte man sich von den Banditen, dass sie eine Frau
suchten und dass jeder, der ihr Zuflucht bieten wollte, mit dem Tod
rechnen musste. Unsere Leute waren gewarnt. Als Kim nicht
zurückkehrte, hat mein Vater mich auf die Suche geschickt. Ich habe
um Unterstützung gebeten, und Drake war in der Nähe, deshalb ist er
mitgekommen und hat mir geholfen, Kim aufzuspüren.«
»Ich habe dich angefunkt«, nahm Drake den Faden
auf. »Ich wusste, dass du bestimmt von Kims Verschwinden
unterrichtet werden wolltest und uns bei der Suche nach ihm zur
Hilfe gekommen wärst, aber du hast nicht geantwortet, da habe ich
mir Sorgen um dich gemacht. Offenbar völlig unnötig.«
»Das Funkgerät ist kaputt«, erwiderte Rio knapp.
»Hat eine Kugel abbekommen.«
»Fritz ist verletzt.« Drake ging auf die kleine
Katze zu, doch Franz lief vor dem verwundeten Leoparden hin und her
und bleckte drohend die säbelförmigen Zähne.
Drake schnitt dem Nebelparder eine Grimasse, wich
aber vor der aufgeregten Katze zurück. »Es hat also doch Ärger
gegeben.«
Rio zuckte die Achseln. »Keinen, mit dem ich nicht
fertiggeworden wäre. Du hast also Tama geholfen, Kim aus dem
Banditenlager zu befreien?« Er warf einen Blick auf die
zähnefletschende Katze. »Franz, beruhig dich oder geh raus.«
Franz fauchte bedrohlich, rollte sich schützend um
Fritz herum zusammen und starrte die Eindringlinge unverwandt
an.
Drake nickte, hielt aber weiterhin ein wachsames
Auge auf den Nebelparder gerichtet. »Kim war in schlechter
Verfassung. Sie haben ihm nicht geglaubt, dass sie über Bord
gegangen ist. Man hat ihn geschlagen.«
Rachael gab einen leisen, erstickten Schrei von
sich. Rio strich ihr mit dem Daumen tröstend über den
Handrücken.
»Sie haben alle geschlagen, sogar die Frau«,
berichtete Kim grimmig. Er blickte Rachael an. »Sie werden nicht
aufhören, nach Ihnen zu suchen, es sei denn, Ihre Leiche wird
gefunden. Irgendjemand hat eine Million Dollar Belohnung auf Sie
ausgesetzt.«
Rachael kniff erschrocken die Augen zu. Mit so viel
Geld hatte sie nicht gerechnet. Menschen töteten schon für weit
weniger. Was wohl eine Million Dollar für die Männer hier im Raum
bedeuteten?
»Das erklärt natürlich einiges«, meinte Rio. Er
seufzte leise. »Drake, mir gehen die Medikamente aus, aber um Kim
zu verarzten, reicht es noch.«
»Ich hole die Pflanzen, die wir brauchen«, sagte
Tama. »Wir konnten auf dem Weg nicht anhalten, wir wollten so
schnell wie möglich nach dir sehen.« Eilig verließ er das
Haus.
»Ich weiß das zu schätzen«, bemerkte Rio. Er schob
Rachael ein wenig zur Seite, ließ sich neben ihr in den Sessel
sinken, wobei er auf ihr Bein unter der Decke achtete, zog sie ein
Stück weit auf seinen Schoß und drapierte Bein und Decke, wie er es
für richtig hielt. Schließlich bedeutete er den anderen, sich
ebenfalls einen Sitzplatz zu suchen.
»Worum geht es?«, fragte Drake, während er in dem
Verbandskasten herumwühlte. »Wieso eine Million Dollar?«
»Ich hatte letzte Nacht einen Besucher. Einen von
uns, aber ich habe ihn noch nie gesehen. Er ist ein Verräter,
Drake. Ich habe überlegt, was einen von uns dazu bewegen könnte,
zum Verräter zu werden, aber eine Million Dollar dürften einigen
den Kopf verdrehen.«
Rachael verhielt sich mucksmäuschenstill, ihr war
bewusst, dass alles, was hier besprochen wurde, wichtig für sie
war. Sie hoffte, die anderen würden ihre Anwesenheit vergessen und
noch offener reden.
»Wie kann er einer von uns sein, wenn du seinen
Geruch nicht erkannt hast, Rio?«, fragte Drake, ohne von Kims
Wunden aufzuschauen, die er gerade wusch.
Rachael konnte den Anblick von, Kims geschwollenem,
blutunterlaufenem Gesicht kaum ertragen. Stoisch ließ er sich von
Drake die Platzwunden säubern, doch als er das zerfetzte Hemd
auszog, sah sie, wie er zusammenzuckte. Er drehte sich ein wenig zu
ihr hin, als sie nach Luft rang. »Was hat man dir bloß
angetan?«
Rio legte den Arm um Rachael. »Solche Wunden
entstehen durch Stockschläge. Alle wissen, dass die Banditen ihre
Opfer gern mit Stöcken traktieren. Tomas ist berüchtigt dafür. Ich
glaube, wir haben nicht ein einziges Entführungsopfer befreit, dass
nicht von solchen Misshandlungen zumindest berichtet hätte.«
Rachael barg ihr Gesicht an Rios Schulter. »Es tut
mir leid, Kim, ich wollte nicht, dass jemand verletzt wird. Ich
dachte, wenn ich im Fluss verschwände, würden sie glauben, ich sei
ertrunken.«
»Sie hätten einen anderen Grund gefunden, ihn zu
schlagen«, erwiderte Rio und massierte ihr den Nacken.
»Tomas ist krank. Es macht ihm Spaß, andere leiden zu
sehen.«
»Er hat Recht, Miss Wilson«, gab Kim zu.
»Rachael. Nennen Sie mich bitte Rachael.«
»Sie hat Schwierigkeiten mit ihrem Nachnamen«, warf
Rio ein.
Rachael funkelte ihn böse an. »Wie witzig! Du bist
ein echter Komiker.«
»Ich wusste nicht mal, dass Rio überhaupt Sinn für
Humor hat«, sagte Drake und warf Rio über die Schulter ein
jungenhaftes Grinsen zu.
»Habe ich auch nicht«, erwiderte Rio drohend.
Mit mehreren Pflanzen und Wurzeln in der Hand war
Tama bereits zurück. »Die werden dir schnell helfen, Kim, und der
Katze vielleicht auch.«
»Hast du deinem Vater schon Bescheid gegeben, dass
du Kim lebend gefunden hast?«, fragte Rio.
»Natürlich, sofort. Der Wind hat die Nachricht zu
ihm getragen. Er wird die Vision in seinen Träumen sehen und
dadurch wissen, dass es Kim gutgeht«, antwortete Tama, während er
flink ein paar Streifen von einer Pflanze riss und sie zusammen mit
zerdrückten grünen Stielen in einen Topf warf.
Rachael runzelte die Stirn, als sie Rio nicken sah.
»Will er damit sagen, sein Vater wird träumen, dass Kim noch lebt,
und wissen, dass der Traum wahr ist?«
»Ihr Vater ist ein mächtiger Medizinmann, und zwar
ein richtig echter. Meiner Meinung nach weiß er mehr über die
Pflanzen im Wald, über Gifte und Visionen als jeder andere lebende
Mensch. Wenn sie ihm die Nachricht geschickt haben, erhält er sie
als Vision, oder als Traum, wenn dir das lieber ist«, erklärte
Rio.
Er hörte sich nicht so an, als machte er sich über
sie lustig, trotzdem fand Rachael es schwer zu glauben, dass
Nachrichten per Vision übermittelt werden konnten. »Du denkst doch
nicht wirklich, dass das funktioniert, oder?«
»Ich weiß es. Ich hab’s selber gesehen. Ich bin
nicht besonders gut darin, jemandem Visionen zu senden, aber ich
habe schon mal selber welche empfangen. Im Wald funktionieren sie
zuverlässiger als die Post«, meinte Rio.
Drake nickte zustimmend. »Visionen sind nicht
einfach, Rachael. Man muss erst lernen, sie richtig zu
interpretieren.«
»Rachael?« Rio hob eine Augenbraue und warf Drake
einen warnenden Blick zu.
»Sie hat uns doch darum gebeten, sie Rachael zu
nennen«, bemerkte Drake mit Unschuldsmiene. »Ich wollte nur höflich
sein.«
Ein seltsamer Geruch entstieg dem Topf, in dem Tama
Blätter, Blüten, Stängel und Wurzeln etlicher Pflanzen zu einem
Brei zerdrückte. Er war nicht unangenehm, sondern roch nach Minze
und Blumen, Orangen und Gewürzen. Fasziniert schaute Rachael zu und
achtete nicht weiter auf das Gespräch zwischen den Männern. »Was
ist das?«
Tama lächelte sie an. »Das ist gegen Entzündungen.«
Er hielt den Topf schräg, damit sie die braungrüne Paste sehen
konnte.
»Wird sie auch Fritz helfen?«, fragte Rachael.
»Seine Wunden nässen, und Rio macht sich Sorgen um ihn.«
»Der Leopard hat ihn angegriffen und ihn fast
umgebracht«, mischte Rio sich ein. »Er kannte mich gut genug, um zu
wissen, dass ich Fritz retten würde, ehe ich ihn weiter
verfolgte.«
»Also kennt er deine Art zu jagen.« Drake klang
beunruhigt.
»Es gibt nicht allzu viele Menschen, die wissen, dass du die
Nebelparder dabeihast, wenn du Opfer aus den Händen der Banditen
befreist.«
Kim löste den Blick von der schlimmen Wunde auf
seiner Brust, die sein Bruder gerade mit einem dick bestrichenen
Umschlag verband. »Nur dein Team und ein paar von unseren Leuten,
Rio.«
»Niemand aus unserer Mannschaft würde Rio
verraten«, warf Drake ein. »Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen
und sind alle aufeinander angewiesen. Ich kann mich darauf
verlassen, dass Rio meinen Hintern rettet, falls ich verwundet
werde. Und sollte ich in Gefangenschaft geraten, wird keiner ruhen,
bis ich wieder frei bin. So ist es, Kim.«
»Und wir liefern unsere Freunde nicht ans Messer,
für kein Geld der Welt«, erwiderte Kim ruhig und würdevoll.
»Nein, für deine Leute wird Freundschaft immer
wichtiger sein als Geld, Kim«, pflichtete Rio ihm bei. »Ich weiß
nicht, woher dieser Verräter kommt oder wie er von mir erfahren
konnte, doch er ist definitiv einer von uns, nicht von euch.«
»Also stammt er aus dem Wald«, folgerte Tama.
Drake zog ein finsteres Gesicht, als Rio nickte.
»Aber es ist seltsam, dass du den Geruch nicht erkannt hast.«
»An Fritz hängt der Gestank noch«, sagte Rio
gereizt, »sag du mir doch, wer es war.«
»Schick erst Franz nach draußen«, forderte Drake.
»Er sieht irgendwie hungrig aus.«
»Sei bloß vorsichtig«, warnte Rachael, »mich hat er
angegriffen. Und zwar brutal.«
Drakes Gesichtsausdruck verfinsterte sich immer
mehr. »Er hat dich angegriffen?«
Rachael nickte. »Und gebissen, also sei bitte
vorsichtig. Er hat Fänge wie ein Säbelzahntiger.«
»Franz war es nicht«, korrigierte Rio, »in Wahrheit
hat Fritz sie gebissen.«
»Spielt das eine Rolle?«, polterte Drake. »Das Tier
hat dich tatsächlich angefallen? Dann kannst du von Glück sagen,
dass du noch lebst.«
»Ich möchte, dass Tama sich ihr Bein ansieht, wenn
er mit Kim fertig ist«, sagte Rio und musterte Rachael genauer. »Du
hast Schweißausbrüche. Wenn du zu müde wirst, lege ich dich wieder
ins Bett. Sie ist heute zum ersten Mal aufgestanden, und ich möchte
nicht, dass sie es übertreibt.«
»Lass mal sehen«, sagte Tama und schaute vom bloßen
Rücken seines Bruders auf, den er gerade mit der Paste
bestrich.
Rio zog die Decke von Rachaels Bein und enthüllte
ihren geschwollenen Unterschenkel mit den Schnitt- und Bisswunden.
Die beiden Löcher, die von den Fangzähnen stammten, nässten noch
immer und boten keinen schönen Anblick. Rachael war verlegen.
Drake zuckte sichtlich zusammen. »Mein Gott, Rio,
das muss ja höllisch wehtun. Hat sie keine Infektion? Wir müssen
sie sofort ins Krankenhaus bringen.«
Rachael schüttelte den Kopf und drückte sich
schutzsuchend an Rios kräftigen Körper. »Nein, ich hab’s dir doch
gesagt, Rio, ich kann nicht ins Krankenhaus.«
Kim und Tama untersuchten ihr Bein vorsichtig. »Sie
hat Recht, Rio. Wenn du sie ins Krankenhaus bringst, werden Tomas’
Spione davon erfahren und ihm Bescheid geben, selbst wenn du sie
unter einem falschen Namen einlieferst. Manche sind von ihm
bezahlt, andere haben Angst vor ihm und wieder andere suchen nur
den Kontakt,
aber irgendeiner wird sie verraten. Dort kannst du sie nicht
beschützen.«
»Ich will nicht, dass jemand sein Leben riskiert,
um mich zu beschützen«, protestierte Rachael. »Mein Bein verheilt
sehr gut. Ich fühle mich viel besser als noch vor ein paar Tagen,
Rio. Sobald ich kann, mache ich mich wieder auf den Weg. Ich möchte
nicht, dass irgendjemand für mich sein Leben riskiert.«
Rio griff nach ihrer Hand und verschränkte seine
Finger mit ihren. »Rachael, niemand wird dich an Tomas verraten,
und du wirst auch nicht einfach allein in den Wald hinausgehen. So
läuft das nicht.«
Rachael wollte mit ihm diskutieren, wollte ihm
sagen, dass es genau so laufen würde, aber
nicht vor den anderen. Auch wenn er recht entspannt wirkte, spürte
Rachael, dass Rio innerlich sehr nervös war. Sie kannte ihn in- und
auswendig. Auch wenn er ein Fremder war, schien er ihr immer wieder
so vertraut. Das enge Zusammensein mit den anderen war ihm
unangenehm, obwohl er sich mit ihnen verbunden fühlte.
Unwillkürlich rückte sie näher an ihn heran und verlagerte ihr
Gewicht, bis ihre Schulter sich nahtlos in seine Achselhöhle fügte,
als wäre sie als Ergänzung zu seinem Körper geschaffen worden. Es
war eine Geste, mit der sie sich in seinen Schutz begab, und er
spürte das genau.
Er schaute auf Rachaels Locken hinab. So viele
Haare. Dick und schwarz wie Rabenflügel. Ihre Mähne stand in alle
Richtungen ab. Er fuhr mit den Fingern in den dichten Wuschelkopf,
strich durch die Locken und sah zu, wie sie sich um seinen Daumen
kringelten. Eine perfekte Selbstverständlichkeit, etwas, das er
automatisch tat, um sich zu beruhigen und Kontakt herzustellen. Er
würde sich nie daran
gewöhnen, mit anderen Menschen zusammen zu sein, nicht einmal,
wenn es sich dabei um Freunde handelte, doch mit Rachael war es
anders, sie war ein Teil von ihm. Gehörte zu ihm.
»Ist Ihr Handgelenk gebrochen?«, fragte Tama,
offensichtlich besorgt. »Wie ist das passiert? Im Fluss?«
Rachael schaute auf die provisorische Schiene. Ihr
Bein schmerzte so sehr, dass sie meist gar nicht an ihr Handgelenk
dachte. »Wahrscheinlich. Rio hat es geschient, aber um ehrlich zu
sein, merke ich es kaum.«
In Rio kam ein Gefühl hoch, das ihm fast den Atem
raubte. Er brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, was es
war: Glück. Ihm wurde tatsächlich warm ums Herz. Dieses Gefühl
hatte er schon so lange nicht mehr gehabt, dass er es fast nicht
wiedererkannte. Rachael hatte den anderen nicht verraten, dass er
für ihre Verletzung verantwortlich war. Und das bedeutete ihm sehr
viel, auch wenn es das vielleicht nicht sollte.
»Rio«, sagte Drake scharf. »Dieser Verräter, der
gestern Nacht hier gewesen ist, muss hinter ihr her gewesen
sein.«
»Ich dachte, man hätte ihn geschickt, mich
umzubringen, dass er sich wegen der auf mich ausgesetzten Belohnung
den Banditen angeschlossen hat, doch wenn es um eine Million Dollar
geht, haben sie an mir bestimmt kein Interesse mehr«, erwiderte Rio
trocken. Mit einem angedeuteten Lächeln beugte er sich zu Rachael
hinüber. »Anscheinend bist du viel mehr wert als ich.«
»Und hübscher ist sie auch«, spöttelte Drake.
»Guck doch einfach nicht hin.«
Kim und Tama setzten sich neben Rachaels Sessel auf
den Boden und schoben die Decke von ihrem Bein, um die Wunden näher
zu untersuchen. So konnte Rachael
den Blick auf die schrecklichen Narben, die sich über Kims Rücken
zogen, nicht länger vermeiden. »Dass sie das meinetwegen getan
haben, macht mich ganz krank. Ich weiß, dass du mich nicht dafür
verantwortlich machst, aber ich fühle mich schuldig.«
Kim lächelte sie an. »Wir haben alle an irgendetwas
Schuld. Es macht nur wenig Sinn, sich für Dinge verantwortlich zu
fühlen, auf die man keinen Einfluss hat. Also lassen Sie es.«
Rachael wünschte, es wäre wirklich so einfach. Sie
wandte den Blick ab und starrte durchs Fenster in das dichte Grün.
Die Blätter wirkten filigran, die unbändigen Schlingpflanzen hatten
sich zu grünen Lianen verwunden, und Orchideen wetteiferten mit
farbenprächtigen Pilzen und anderen Blumen um einen Platz auf den
dicken Baumstämmen und Ästen. Es war wunderschön und urwüchsig und
weckte etwas in ihr zum Leben. Sie sehnte sich danach, im tiefsten
Wald zu verschwinden, einfach anders zu sein, anders zu werden,
unangreifbar, wild und frei.
Zuerst fühlte sie es im Brustkorb, er wurde ihr so
eng, dass ihr das Atmen schwerfiel. Dann spürte sie ein Brennen im
Bauch, und ihre Muskeln reckten und streckten sich. Hitze versengte
Fleisch und Knochen und brodelte in ihren Eingeweiden. Ein
wahnsinniger Juckreiz befiel sie, sie blickte auf ihre Arme
hinunter und sah, dass sich unter ihrer Haut etwas bewegte, etwas
Lebendiges. Ihre Hände verbogen sich ungewollt, die Finger krümmten
sich, und ihre Fingerspitzen durchfuhr ein stechender Schmerz. Sie
japste nach Luft und trat vom Rand eines tiefen Abgrunds zurück,
ihr Herz hämmerte, und ihre Lungen rangen nach Luft.
»Ich kann nicht mehr atmen, Rio.« Es dauerte eine
Ewigkeit, die Worte überhaupt herauszubekommen. »Ich muss nach
draußen, ins Freie.«
Rio vergeudete keine Zeit mit Fragen, er nahm sie
einfach auf seinen Arm, als wäre sie ein kleines Mädchen, und trug
sie vorsichtig um Kim und Tama und den Topf mit der braungrünen
Paste herum. Rachael erhaschte einen Blick auf Drakes Gesicht, der
sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, und die verrieten ihr,
dass er mehr wusste als sie, ehe es ihm gelang, seine Züge wieder
unter Kontrolle zu bringen.
Rachael vergrub ihr Gesicht an Rios Hals, atmete
seinen tröstenden Körpergeruch und überließ sich der Kraft seiner
Arme.
»Alles in Ordnung, Rachael«, beruhigte er sie und
streichelte ihr mit der Hand übers Haar, während er sich mit ihr
auf das kleine Sofa auf der Veranda setzte. »Horch auf den Wald,
die Affen und Vögel. Sie bringen dich wieder ins Gleichgewicht.
Lausch dem Regen. Seinem wohltuenden Klang.«
»Was passiert mit mir? Weißt du es? Ich schwöre, da
hat sich unter meiner Haut etwas bewegt, vielleicht ein Parasit.«
Die Luftfeuchtigkeit war so hoch, es war wie in einer Sauna. Das
Plätschern des Regens klang durch das dichte Kronendach über ihnen
verhalten und gedämpft. Rachaels Atem ging stoßweise und keuchend,
so als hätte sie ein langes Rennen hinter sich. Ihr verletztes Bein
pochte und brannte, und ihr Puls raste. »Ich habe keine
Panikattacken, nie. Ich bin nicht hysterisch, Rio.«
»Ich weiß, Rachael. Niemand hält dich für
hysterisch. Bleib ganz ruhig, und wenn wir wieder allein sind,
reden wir darüber.« Sein Herz pochte ebenfalls. Es war unglaublich,
beinahe undenkbar. Er brauchte Zeit, um zu überlegen
und sich etwas mehr Klarheit zu verschaffen, bevor er ihr
Antworten geben konnte. »Nur eine Frage, Rachael. Hast du schon
einmal vom Han Vol Don gehört? Hat deine Mutter jemals diese Worte
gesagt oder sie in ihren Geschichten benutzt?« Mit angehaltenem
Atem wartete er auf Rachaels Antwort; er hatte das Gefühl, seine
ganze Welt könnte jeden Augenblick zusammenbrechen.
Rachael wühlte in ihrem Gedächtnis nach dem
Ausdruck. Er kam ihr zwar nicht gänzlich unbekannt vor, aber sie
hatte keine Ahnung, was er bedeutete, und sie war sich ziemlich
sicher, dass ihre Mutter nie davon gesprochen hatte, wenn sie ihre
wilden Dschungelabenteuer erzählte. »Ich weiß nicht. Mir gegenüber
hat meine Mutter diese Worte nie erwähnt, allerdings …«, verwirrt
brach Rachael ab.
»Ist nicht weiter wichtig«, meinte Rio.
»Was bedeutet das? Han Vol Don? Es klingt wie
Musik.«
»Ist schon gut, denk nicht weiter darüber nach«,
wiederholte Rio. »Ich hoffe, du machst dir keine Vorwürfe wegen
dem, was Kim zugestoßen ist. Ich bin schon seit einiger Zeit
entlang des Flusses unterwegs, und in drei verschiedenen Ländern,
um Menschen zu retten, die Opfer von Entführungen geworden sind.
Mein Team wird angeheuert, wenn jemand in die Lager der Banditen
eindringen und die Entführten herausholen soll. Manchmal
kontaktiert uns die Regierung und manchmal bitten uns die Familien
um Hilfe. Gelegentlich überbringen wir auch das Lösegeld und sorgen
dafür, dass die Entführten sicher nach Hause kommen. Und fast jedes
Mal, wenn Tomas und seine Leute ihre Finger mit im Spiel haben,
sind die Opfer geschlagen worden. Tomas ist einer der
blutrünstigsten Anführer. Die meisten von denen betrachten sich
eher als Geschäftsleute. Sobald das Lösegeld bezahlt wird, lassen
sie die Entführten wieder frei, und das in der Regel bei guter
Gesundheit.«
Rachael schüttelte den Kopf. »Und für sie ist das
einfach eine Art zu leben? Indem man Menschen entführt? Was sagen
denn die Familien dazu?«
»Höchstwahrscheinlich sind sie dankbar für das
Geld, das hereinkommt. Manche tun es auch aus politischen Gründen,
die Fälle sind für mein Team wesentlich brenzliger und riskanter.
Und jedes Mal, wenn wir jemanden suchen, den Tomas gekidnappt hat,
wissen wir, dass es sowohl für den Entführten als auch für uns
gefährlich wird. Tomas hat sogar schon Geiseln getötet, nachdem das
Lösegeld bezahlt war. Sein Wort ist nichts wert, weder ihm noch
irgendjemand anderem.«
»Bist du ihm schon oft begegnet?«
Rio nickte. »Einige Male. Er ist verrückt und wie
berauscht von der eigenen Macht. Man weiß, dass er sogar die
eigenen Männer erschießt, wenn er glaubt, sie hätten etwas falsch
gemacht. Und er ist ganz versessen auf Frauen. Ich glaube wie
gesagt, er hat richtig Spaß daran, Menschen zu quälen.«
»Ich habe auch mal so jemanden gekannt. Er konnte
lächeln und so tun, als wäre er dein bester Freund, während er
insgeheim plante, deine ganze Familie auszulöschen. Solche Menschen
sind wirklich pervers.« Rachael fühlte sich schon besser. Das
seltsame Unwohlsein, das sie gerade überfallen hatte, war wieder
weg, und zurück blieb nichts, als das Grübeln darüber, was
geschehen war. Sie konnte sich nur noch erinnern, dass sie Angst
gehabt hatte. Nach diesem unerklärlichen Vorfall kam sie sich etwas
lächerlich vor, wie der Inbegriff der hysterischen Frau. Kein
Wunder,
dass Rio der Ansicht war, sie gehöre nicht in den Regenwald. »Rio,
es tut mir leid, dass ich mich vor deinen Freunden so dumm benommen
habe.«
»Hast du doch gar nicht, Rachael. Wenn du dich
besser fühlst, gehen wir wieder ins Haus, damit Tama und Kim dein
Bein verarzten können. Sie kennen sich wirklich viel besser aus als
ich. Ihr Vater hat mir zwar auch ein wenig beigebracht, doch die
beiden sind schon damit aufgewachsen, das ist ihr großer
Vorteil.«
Sie schlang die Arme um seinen Hals und
verschränkte die Finger in seinem Nacken. »Ich glaube, ich könnte
mich daran gewöhnen, mich von dir herumtragen zu lassen«, neckte
sie ihn.
»Gut, aber leg dir die Decke um. Dass du vor mir
ohne Unterwäsche herumläufst, ist ja in Ordnung, aber nackt vor
meinen Freunden herumzustolzieren, geht zu weit. Drake wird einen
Herzinfarkt bekommen.«
»Sieht so aus, als hätte ich deine schlechten
Angewohnheiten übernommen«, erwiderte Rachael, indem sie die Decke
um die bloßen Schenkel drapierte. Dann schmiegte sie sich an Rios
Brust, legte ihm wieder die Arme um den Hals und wandte den Kopf,
um ihm in die ausdrucksstarken grünen Augen zu sehen.
Sie lächelten sich an. Ohne jeden Grund, aber das
war ihnen egal. Sie waren einfach eins. Ob sie sich wohl zuerst
rührte, oder war er es? Rachael hatte keine Ahnung, doch schon
verschmolzen ihre Lippen und Freude durchströmte ihre Körper. Die
Erde wankte und bebte. Affen zeterten laut, und ein Vogel kreischte
entzückt. Die Wassertropfen auf den Blättern und Moosen schillerten
in allen Farben des Regenbogens. Als der Wind sich ein wenig
drehte, regneten Blütenblätter auf sie herab, doch die zwei merkten
es gar nicht. In diesem Moment gab es nur sie beide, in ihrer ganz
eigenen Welt aus reinem Gefühl.
Es war Rachael, die sich zuerst zurückzog, mit
einem Lächeln, denn sie konnte nicht anders. »Du hast einen
erstaunlichen Mund.«
Diese Worte hatte diese Stimme schon einmal zu ihm
gesagt, in genau demselben Ton, scherzhaft und beinahe ehrfürchtig.
Er hatte schon einmal gefühlt, wie ihre Fingerspitzen über seine
Lippen glitten. Und er konnte sich ganz genau daran erinnern, wie
er das Geschirr beiseitegefegt und sie auf den Tisch gelegt hatte,
außer sich vor Verlangen, so wild auf sie, dass er es nicht hatte
abwarten können, bis sie im Schlafzimmer waren.
Rachaels Finger spielten mit seinem Haar, eine
Geste, die ihm stets zu Herzen ging. Manchmal hatte er den
Eindruck, er lebte nur für ihr Lächeln. Einen Kuss von ihr. Um sie
lachen zu hören. Er beugte sich vor, bis seine Lippen ihr Ohr
berührten. »Ich wünschte, wir wären allein.« Seine Zunge unternahm
eine kleine Erkundungstour, und seine Zähne knabberten an ihrem
Ohrläppchen. Rachael schmiegte sich an seinen Brustkorb, die Nippel
ihrer weichen, verführerischen Hügel waren ganz erregt. Er hatte
gewusst, dass ihr Körper so auf sein Zungenspiel reagieren
würde.
»Vielleicht ist es ganz gut, dass wir Besuch
haben«, meinte Rachael, während sie versuchte, ihren Verstand davon
abzuhalten, sich zusammen mit dem Rest ihres Körpers in Nichts
aufzulösen. Es musste an der Feuchtigkeit liegen. Sie konnte mit
Sicherheit sagen, dass sie sich noch nie im Leben so sexy gefühlt
hatte, und auch noch nie einen Mann so umgarnt und verführt hatte
wie Rio. Sie schaute ihm in die Augen, in diese seltsamen,
verlockenden Augen, und hatte das Gefühl, darin zu versinken.
Aus dem Haus drang das warnende Knurren eines
Leoparden, dann ein leises heiseres Husten. Mit einem Blinzeln
versuchten Rachael und Rio, den Zauber schnell abzuschütteln, der
sie gefangenhielt.
»Rio, du solltest deinen kleinen Freund
zurückpfeifen, sonst erlebt er eine Überraschung«, rief
Drake.
Rachael war erschrocken, wie scharf und drohend
seine Stimme klang. Rio spannte die Muskeln und erteilte Franz
einen knappen Befehl, der den Nebelparder aus dem Haus stürzen
ließ. Mit angelegten Ohren und zuckendem Schwanz zeigte er Rio die
Zähne.
»Er wirkt richtig wütend.« Rachael konnte den
ängstlichen Ton in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. »Er sieht
mit einem Mal so groß aus, und seine Zähne sind geradezu
gruselig.«
Rio trat einen Schritt zurück, um der Katze Platz
zu machen. »Leoparden haben viel Temperament, Rachael. Sie können
sehr launisch und reizbar sein, selbst die kleineren
Familienmitglieder. Franz ist sowieso schon unruhig, und Besuch mag
er nicht besonders.«
»An mich sollte er aber gewöhnt sein«, sagte Drake
barsch. »Der Zwerg hat mir gedroht. Wenn er mich gebissen hätte,
hätte ich ihm das Fell abgezogen.« Er stand im Türrahmen und
blickte den Nebelparder zornig an. Seine funkelnden Augen waren
starr, beinahe glasig, und eine gefährliche Aura umgab ihn. Er
packte die Verandabrüstung und krallte die Finger fest um das
Holz.
Ohne Drake aus den Augen zu lassen, setzte Rio
Rachael langsam auf dem Polstersofa ab. Er schien plötzlich
sprungbereit zu sein, obwohl er nach wie vor sehr entspannt wirkte.
Sein Lächeln reichte allerdings nicht ganz bis an seine Augen
heran, in denen Rachael sah, wie er
Drake beobachtete, während dieser weiterhin den Nebelparder
anstarrte. Keiner der Männer bewegte auch nur einen Muskel, sie
standen so reglos, dass sie zu einem Teil des Dschungels zu werden
schienen und mit den Schatten verschmolzen. Wolken zogen vorüber
und verdunkelten den Himmel. Der Wind wehte, die Blätter und
Schlingpflanzen schaukelten hin und her, und die Schatten wurden
lang und länger. Ein paar Regentropfen schafften es, das dichte
Blätterdach zu durchdringen und klatschten auf die
Verandabrüstung.
Plötzlich schien irgendwo Holz zu splittern,
begleitet von einem unangenehm kreischenden Geräusch, und
geringelte Holzspäne landeten auf der Veranda. Überrascht schaute
Rachael zu, wie sie auf den Boden fielen. Franz fauchte und zog
sich mit dem Gesicht zu Drake langsam auf einen dicken Ast zurück.
Dann sprang er, als ob seine Hinterpranken Sprungfedern wären, in
das Blätterdach und verschwand.
Drake blieb wie erstarrt stehen und sah nach den
zappelnden Blättern, dann holte er tief Luft und schaute zu Rio
hinüber. »Beruhig dich, Mann, der Zwerg hatte eine Strafe
verdient.«
»Fritz ist von einem Leoparden angegriffen worden,
Drake. Franz ist ein bisschen durcheinander. Du hättest ihm eine
kleine Pause gönnen können.«
»Ich versteh euch nicht«, mischte Rachael sich ein.
»Ich dachte, ihr zwei wärt Freunde.«
Sofort legte Rio ihr beruhigend die Hand auf die
Schulter. »Drake und ich, wir verstehen uns, Rachael.«
»Also ich verstehe euch beide nicht.«
Rio lachte leise. »Es hat was mit schlecht
gelaunten Katzen zu tun. Na los, lass uns das Bein
versorgen.«
»Du meinst, du willst die hausgemachte, grässliche
Paste draufschmieren?«, fragte Rachael entsetzt. »Auf gar keinen
Fall. Ich verlass mich lieber auf deine Mittel.« Sie starrte auf
die Brüstung hinter Drake. Im Holz waren frische Kratzspuren zu
sehen, die ihres Wissens vorher nicht da gewesen waren.
»Du willst doch jetzt nicht kneifen, oder?«,
spottete Rio und hob sie hoch, als ob nichts geschehen wäre. Er
schien die Kratzer nicht zu bemerken. Die Anspannung war von ihm
abgefallen, als ob es sie nie gegeben hätte.
»Vielleicht können wir noch ein paar Blütenblätter
hineinrühren und die Farbe verändern«, schlug Drake vor, ehe er vor
Rio ins Haus ging. »Tama, sie möchte deine Heilsalbe nicht. Kannst
du sie nicht prinzessinnenrosa machen?«
Rachael schnitt Drake eine Grimasse. »Ich will sie
nicht, egal, welche Farbe sie hat.«
Kim lächelte sie an. »Sie hilft aber, Miss
Wilson.«
»Rachael«, korrigierte sie ihn und versuchte,
würdevoll auszusehen, während Rio sie auf dem Bett absetzte. Sie
war müde, eigentlich wollte sie sich nur noch hinlegen und eine
Weile schlafen. »Wie schnell denn? Brennt sie auch nicht?«
»Dein Bein tut doch ohnehin schon höllisch weh«,
bemerkte Rio. »Schlimmer kann es gar nicht werden.«
Rachael rollte sich so eng wie möglich zusammen, um
das Bein vor jedem Voodoo-Gebräu zu schützen, das Tama angerührt
haben mochte. »Ich bin eine moderne Frau. Und ich möchte nur
moderne Medizin.«
»Kennst du nicht das Sprichwort: ›Andere Länder,
andere Sitten‹?«, zog Rio sie auf.
»Doch, aber ich bezweifle, dass diese Salbe und ihr
spezieller
Grünstich unbedingt mit zur Landessitte gehört.« Rachael funkelte
ihn böse an, und als Rio versuchte, ihr Bein vorzuziehen und zu
untersuchen, wehrte sie sich. »Lass los, wenn dir deine Hand lieb
ist!«
»Ist sie immer so?«, fragte Drake.
»Es wird immer schlimmer. Gib ihr bloß kein Gewehr
in die Hand.«
»Das war ein Unfall. Ich hatte hohes Fieber.«
Wieder schob sie Rios Hand fort. »Komm mir nicht zu nah mit dem
Zeug. Du lässt ganz schön den Macho raushängen, wenn deine Freunde
da sind.«
»Hör auf, so herumzuzappeln. Ich möchte, dass Kim
und Tama sich das anschauen, ob sie was tun können.« Rio setzte
sich auf die Bettkante und legte sich lässig quer über ihre Hüften,
so dass sie sich nicht mehr aufrichten konnte. »Tu’s einfach, Tama,
hör nicht auf sie.«
»Auf was hat sie denn geschossen?«, fragte
Drake.
»Auf das Funkgerät.«
Drake lachte. »Glücklicherweise habe ich meins
dabei. Ich lass es dir hier, ich kann mir ein neues holen. Wir
müssen nach Kims Weltverbesserern suchen und sie aus Tomas’ Camp
herausholen. Das ist der wahre Grund, weshalb wir gekommen sind,
weißt du, nicht um dir zu Hilfe zu eilen, Rio.«
»Kims Weltverbesserer?«, echote Rachael mit
gespielter Entrüstung. »Wenn es mir bessergeht, wirst du das
zurücknehmen.«
Rio versuchte, die finstere Eifersucht, die sich in
seinen Eingeweiden regte, zu ignorieren. Er entstammte zwar einer
wilden Spezies, aber er musste sich ja nicht entsprechend
aufführen, er konnte sich zivilisiert benehmen. Es sollte ihm
nichts ausmachen, wenn Rachael Drake anlächelte.
Und das hätte er vielleicht auch noch ertragen können. Aber wie
sie mit ihm scherzte, das ging einfach zu weit. Dieser besondere
Tonfall in ihrer Stimme sollte nur ihm vorbehalten sein. Er zog
sich in sich selbst zurück, suchte nach seiner ruhigen Mitte, dem
Ort, an den er sich oft zurückzog, wenn er den Teil von sich, der
nach den Regeln des Dschungels lebte, in Schach halten musste. Er
holte tief Luft. Atmete langsam ein und aus, entschlossen, sich
nicht von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Es war überaus
wichtig für ihn, die Kontrolle zu behalten.
Da berührten ihn ihre Finger. Federleicht. Zart wie
Schmetterlingsflügel. Ihre Hand schob sich in seinen Hosenbund,
ihre Knöchel drückten gegen seine nackte Haut und schon stand er in
Flammen. Es war nur eine kleine Geste, aber sie zeigte, dass
Rachael seinen Trost und Schutz brauchte. Und das half ihm
sofort.
»Rio, gehst du Don Gregson und die anderen suchen?«
Sie hatte ihre Flucht so sorgfältig geplant. Und der weitere Plan
war gewesen, ihr Leben allein zu verbringen, und davor hatte sie
nicht einmal große Angst gehabt. Aber nun war alles anders. Sie
wollte nicht, dass Rio sie allein ließ.