18. Kapitel
Mit einem äußerst unguten Gefühl im Magen beobachtete Nicolas vom Eingang des Labors aus das eisige Wasser, das von der Decke herabsprühte und die Lachen füllte. Wenn Lara recht hatte und Xavier mit Mikroben experimentierte, dann war es der Magier, der das karpatianische Volk nahezu zum Aussterben gebracht hatte, und keiner von ihnen hatte das wahre Ausmaß seines Verrats vor all diesen Jahrhunderten auch nur vermutet. Als spürte sie, dass er sie brauchte, schob Lara die Hand in seine, und er schloss seine Finger fest um ihre und tat einen tiefen, unsicheren Atemzug.
»Ohne dich, Lara, hätte er es vielleicht geschafft.«
Vikirnoff blickte ihnen über die Schulter. »Ist dieser Sprühregen normal?«
Dampf kräuselte sich über mehreren der Wasserlachen, als wären sie irgendwie warm und erzeugten zusammen mit dem eisigen Sprühnebel eine dunstige Kondensation. Wassertropfen gefroren an den Wänden und erstarrten in den Blutspuren.
»Es scheint so«, sagte Lara. »Aber in diesen Kammern kann man sich nicht darauf verlassen, dass irgendetwas wirklich das ist, was es zu sein scheint.«
Sie hob die Hände mit den Handflächen nach oben. Der Sprühregen, der von der Decke fiel, war so fein, dass er mehr Nebel als irgendetwas anderes zu sein schien.
»Das alles muss einem Zweck dienen«, fügte Natalya hinzu und hielt nun auch die Hände hoch, um ein Gefühl für diesen seltsamen Nieselregen zu bekommen. »Spürst du etwas, Lara?«
Ihre Nichte runzelte die Stirn. »Ja, ich kann hier deutlich Xaviers Handschrift wahrnehmen. Der Nebel scheint mit irgendetwas infiltriert zu sein, aber ich kann noch nicht bestimmen, um was es sich dabei handelt. Warum kannst du es nicht fühlen?«
»In den anderen Räumen konnte ich es, auch wenn es nicht leicht war«, sagte Natalya. »Doch in diesem Raum hätte ich nicht mal sagen können, dass Xavier hier war.« Sie sah sich um. »Und ich muss zugeben, dass mir das nicht geheuer ist. Es erinnert mich an diese gruseligen alten Filme, in denen irgendein verrückter Wissenschaftler mutierte Zombies aufleben lässt. All diese Wasserlachen sind Bütten mit extrem ekliger Schmiere drin.«
Nicolas betrat den Raum und wartete, bis der Sprühnebel sein Gesicht und seine Arme berührte, bevor er den anderen ein Zeichen gab einzutreten. »Das Wasser ist kalt, doch damit hatte ich gerechnet.«
»Der Raum ist es aber nicht«, wandte Lara ein. »Diese Pfütze da drüben dampft sogar. Ich würde jede Wette eingehen, dass sie von einem unterirdischen Vulkan gespeist wird. Xavier hat etwas Heißes angezapft.«
»Würde das nicht alles vernichten, was er hier entstehen lassen will?«, fragte Natalya.
»Extremophile nennen sich so, weil sie unter extremen Bedingungen leben.« Lara sah sich um. »Und für mich sieht es so aus, als versuchte Xavier, alle Bedingungen zu testen: Hitze, Kälte, Säure, Blut, Salz und Minerale. Es gibt nichts, was er hier drinnen nicht hat. Das hier ist sein Zuchtprogramm.«
»Aber wozu die vielen Frösche?«, warf Vikirnoff ein.
Lara näherte sich den Tierchen und ignorierte Nicolas, der versuchte, sie am Arm zurückzuhalten. Wieder legte sie ihre Hand nur ein paar Zentimeter entfernt von ihnen an die Wand. »Es sind männliche Frösche. Alle.«
Nicolas biss die Zähne zusammen. »So hat es also angefangen. Er hat einen Weg gefunden, die Mikrobe so zu züchten, dass sie einzig den männlichen Nachwuchs fördert und den weiblichen unterdrückt.«
Lara zeigte auf die erste Lache. »Seht ihr diese Stängel dort mit der gelatineartigen Masse und die winzigen schwarzen Fleckchen, die darin herumwimmeln? Ich wette, dass die alle männlich sind. Er arbeitet noch an der Perfektionierung seiner Methoden, wie ich sehe.«
Es gibt nichts, was sich nicht noch verbessern lässt, flüsterte die verhasste Stimme in ihrem Ohr. Lara riss entsetzt die Augen auf und fuhr herum, schon halb in der Erwartung, den Magier mit seinem selbstgefälligen Grinsen und den hasserfüllten silbrigen Augen hinter sich stehen zu sehen.
Sie tat einen tiefen, unsicheren Atemzug und drückte eine Hand an ihre Brust. Xavier hatte diese Worte immer dann gebraucht, wenn er Razvan etwas injiziert hatte. Die Erinnerung kehrte schlagartig zurück, das Bild, das sie vor Augen hatte, war scharf und sehr lebendig. Es zeigte den kämpfenden Razvan, der Blut und Wasser schwitzte, und ihre Mutter, die hilflos weinte, während Razvan, sich krümmend und von Krämpfen geschüttelt, auf dem eisigen Boden lag. Galle stieg in Laras Kehle auf, bis sie überzeugt war, sich übergeben zu müssen.
Aber Nicolas drückte seine Hand an ihren Magen und vereinte seinen Geist mit ihrem. Ich bin hier. Er kann dir nichts anhaben, Lara. Du bist nicht mehr das hilflose kleine Mädchen, versicherte er ihr und ließ Kraft und Liebe in ihr Bewusstsein strömen.
»Es tut mir leid. Ich schaff das schon. Wir müssen es schaffen. Ich will meine Tanten finden.« Lara schob das Kinn vor und rang sich ein kleines Lächeln ab. »Seid hier drinnen vorsichtig! Ich traue alldem nicht.« Die Brust war ihr schrecklich eng geworden, und sie presste eine Hand dagegen, als sie einen weiteren nervösen Blick durch Xaviers Laboratorium warf. Er war hier. Vielleicht nicht physisch, aber der ganze Raum war von seiner Energie durchdrungen. Seine verabscheuungswürdige Natur schien sich für immer in all dem Eis eingeprägt zu haben.
Wieder holte sie tief Luft, um sich zu beruhigen, und zwang sich, näher an eine Reihe von Becken heranzutreten. Eines war mit Flüssigkeit gefüllt, und als sie daran roch, wich sie entsetzt zurück. »Ich glaube, das ist Fruchtwasser. Wo mag er das herhaben?« In dem Becken daneben sammelte sich das Blut, das unablässig von oben herablief. Trauben von Organismen schwammen in den beiden Becken.
»Woher mag das Blut sein?«
Nicolas trat näher und schnupperte daran. »Das hier ist von dem Reh, das die Fledermäuse vorhin erlegt haben, aber sieh dir die anderen Blutspuren an, Lara. Dieses Becken hier hat zwei verschiedene Zuflüsse. Sie sind älter, doch das Blut ist von Karpatianern.«
Natalya winkte sie in eine Ecke. »Das hier ist Razvans Blut. Es ist nicht so alt wie die anderen Spuren, und es läuft auch in dieses Becken.«
»Was glaubst du, wie alt Razvans Blut ist, Natalya?«, fragte Vikirnoff.
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht sehr alt. Ein, zwei Tage vielleicht. Wie in diesem anderen Raum ist sein Blut erstarrt, gefroren sogar, aber es ist nicht sehr alt.«
»Dann ist er erst kürzlich hier gewesen, was bedeutet, dass auch Xavier hier war. Direkt unter unseren Augen«, sagte Nicolas. »Er hat Experimente durchgeführt und uns die ganze Zeit über seine kleine Mikrobenarmee hinterhergeschickt. Doch wie konnte er sich vor uns verbergen?«
»Er hat Jahrhunderte gehabt, um seine Methoden zu vervollkommnen, und er scheint sie mit Vampiren zu teilen«, gab Vikirnoff zu bedenken.
Eine kurze Stille entstand, während überall um sie herum das Eis knackte und stöhnte, als wäre es ebenso lebendig wie sie selbst. Lara schaute sich um. »Je tiefer die Eishöhle, desto instabiler ist das Eis, falls es nicht durch Magie geschützt ist. Eishöhlen bleiben nie gleich, nicht wie diese hier. Wasser kann von schmelzendem Eis oben hereinströmen und einen sehr starken Wasserfall erzeugen, der dann ein paar Tage später, wenn es wieder kalt ist, vollkommen gefroren sein kann. Und Eis bewegt sich. Die Mauern sind instabil. Du misst sie ab, um sicherzugehen, dass sie nicht um dich zusammenbrechen. Dieses Eis dagegen ist sehr stabil, obwohl wir viele Hundert Fuß unter der Erde sind. Die Mauern bewegen sich, wenn er will, dass sie sich bewegen. Er ist hier gewesen.«
Ihre Lungen brannten, und sie merkte plötzlich, wie flach sie atmete. Sie hasste diese Höhle und wollte sie sofort verlassen.
»Lara«, sagte Nicolas, »könnten diese anderen zwei Blutspuren von deinen Tanten stammen? Ich erkenne den Geruch nicht, ich weiß nur, dass es Blut von Angehörigen der Drachensucher-Linie ist.«
Natalya kam zu ihnen herübergeeilt und drückte ihre Hände an die Brust. »Ich habe sie nicht gekannt. Ich dachte, sie wären schon lange tot.«
Lara fühlte sich so seltsam schwerfällig und träge, dass ihr jede Bewegung widerstrebte. »Falls das ihr Blut ist, müssten wir es bis zu ihnen zurückverfolgen können. Er hat sie krank und schwach gehalten, weil er Angst vor ihnen hatte, aber er wollte ihr Blut, und er hat es ihnen oft genommen.«
Nicolas’ Kopf fuhr zu ihr herum. »Lara? Was ist mit dir?« Er blickte von ihr zu den anderen beiden. »Hier stimmt was nicht! Keiner von uns atmet richtig.«
Laras Verstand war wie benebelt. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. »Eine natürliche Gefahr in einer Höhle. Er würde die Elemente benutzen, und es wäre einfach.« Sie blickte zur Höhlendecke auf, und der Sprühregen traf ihr Gesicht. »Nicolas, wir müssen hier heraus. Wärmt eure Lungen auf! Er gefriert unsere Lungen mithilfe der Eiskristalle. Die Partikel sind winzig klein, und wir atmen sie ein.«
Nicolas zog sie aus dem Labor in den nächsten Raum. Hier gab es keinen Sprühnebel aus Eis. Vikirnoff und Natalya folgten ihnen. Nicolas stellte sich vor Lara, legte seine Hände rechts und links an ihren Körper und sandte Wärme in ihre Brust und Lungen. Ihre Haut prickelte wie von Nadelstichen, aber der schreckliche Druck ließ nach.
»Wir haben Glück gehabt«, sagte sie. »Eispartikel in der Lunge können einen sehr schnell umbringen. Und Ersticken ist kein schöner Tod.« Sie rieb Nicolas’ Arme. »Kannst du sehen, wohin die Blutspur meiner Tanten führt?«
»Sie sind irgendwo zu unserer Linken über uns. Lasst uns in diese Richtung gehen.«
Nicolas ging voraus und entschied sich für einen breiteren Tunnel, der nach oben führte. Hier war das Eis von dünnen weißen und blauen Streifen durchzogen. Knackende, grollende Geräusche und das allgegenwärtige Tröpfeln von Wasser waren ihre ständigen Begleiter. Das Gewicht von Eis und Felsgestein drückte schwer auf sie herab. Als sie schneller gingen, wurde der Boden immer unebener, als hätte die Erde Eisklumpen nach oben gedrückt. Um leichter voranzukommen, erhoben sie sich in die Luft und brachten den kurvenreichen Tunnel schwebend hinter sich.
Mehrere andere Stollen öffneten sich, aber bis auf einen kurzen Blick hinein setzten die vier unbeirrt ihren Weg nach oben fort. Sie waren schon eine ganze Weile in Xaviers Unterschlupf – sie mussten Tatijana und Branislava finden und an die Oberfläche zurückkehren. Der Eisregen war überall, hier und da brachen auch kleine Stücke aus der Decke und regneten auf sie herab, sodass sie ständig einen Schutzschild über ihren Köpfen brauchten. Als der Boden anstieg, begannen Eiszapfen zu vibrieren, das Wasser tropfte schneller, und ein Netz aus kleinen Rissen, aus denen Wasser herausrann, überzog eine der Wände.
»Ich hasse diesen Ort«, sagte Vikirnoff. »Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden.«
Natalya warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Ich gehe nirgendwohin, ehe ich meine Tanten gefunden habe. Du hast das Blut gesehen. Was ist, wenn sie noch leben?«
Nicolas murmelte etwas Unflätiges. »Sie sind nicht mehr am Leben. Das wäre unmöglich nach all dieser Zeit. Es ist ein nutzloses Unterfangen, sie zu suchen, und du wirst uns höchstens alle damit umbringen.«
Vikirnoff fuhr zu ihm herum und bleckte die Zähne. »Das war nicht Natalyas Idee. Deine Seelengefährtin hat uns hierher geschleppt.«
Nicolas’ Reaktion war nicht weniger aggressiv als die des anderen Mannes. Seine schwarzen Augen glühten rot vor Zorn. »Sprich nicht in diesem Ton von meiner Frau!«, herrschte er Vikirnoff an.
Lara runzelte die Stirn, als sie zwischen die beiden Männer trat. Die leuchtenden Fäden, die die Eisspinnen zur Erhellung des Weges woben, warfen nicht nur Schatten auf das blaue und weiße Eis, sondern auch auf die Gesichter beider Männer, die dunkel und angriffslustig in dem lumineszierenden Glühen wirkten. Die Schatten an der Wand schienen sich aus eigenem Antrieb zu bewegen, wuchsen und verbreiteten sich und verformten sich bei jeder Bewegung innerhalb des Tunnels.
Lara hob ihre Hände und wandte sich singend an ihre Spinnen: Winzige Spinnen aus kristallinem Eis, die ihr Fäden spinnt, damit wir sehen! Werft eure fein gesponnenen Fäden aus und grabt euch tiefer in das, was uns hier zu schaffen macht! Dringt ins Eis, sucht es gründlich ab und zeigt mir, was durch Zauberei verborgen war!
Dunkle Streifen erschienen an der Eiswand, die auch kreuz und quer durch den Tunnel selbst verliefen. Lara sog scharf den Atem ein. »Es ist Xavier. Er beherrscht unsere Emotionen. Sprecht nicht und denkt nicht. Seht zu, dass euer Kopf ganz leer bleibt, während ich eine Möglichkeit suche, dem zu begegnen.«
Wieder erhob sie die Hände zu einem Gegenzauber. Was gezaubert wurde, um aus dem Verborgenen zu herrschen, lässt sich zunichtemachen durch einer Jungfrau Lied.
Innerhalb der Eiswände wurden Gesicht und Körper einer jungen Frau sichtbar, und schließlich löste sich die perfekt geformte Skulptur eines jungen Mädchens aus dem Eis. Als sie zu singen begann, erinnerten die Töne an einen kalten Wind, der über die Wände und den Tunnel hinauffuhr und die dunklen Streifen mit Tauen aus Eis bedeckte, sodass nach einer Weile jeder Streifen hart gefroren war. Ihr Gesang wurde höher und höher, bis die Frequenz die Eistaue zersplitterte und sie, unschädlich geworden, auf den Boden fielen. Das Mädchen stieg wieder in das Eis zurück und verschwand.
Nicolas grinste Vikirnoff an. »Das ist meine Frau.«
Natalyas Stolz war unübersehbar, als sie ihrer Nichte ein Lächeln schenkte. »Du weißt, was du tust, mein Mädchen.«
»Das habe ich den Tanten zu verdanken. Sie haben mir alles beigebracht.« Im Prinzip waren sie ihre Großtanten und Natalyas Tanten, doch Lara wäre nie auf die Idee gekommen, da einen Unterschied zu machen. »Ich muss sie finden.«
»Das werden wir, sívamet. Wir alle wollen sie finden und nach Hause bringen«, versicherte ihr Nicolas.
Noch immer wuchsen und verlängerten sich die Schatten an den Wänden. Die beiden Männer, deren Augen immer noch zornig blitzten, nahmen die Frauen zwischen sich, weil die Gefahr im Tunnel deutlich spürbar war. Auf den Wänden tanzten Schatten und drangen durch die Eisschichten, sodass jetzt dunkler Rauch ins Freie zog.
Natalya schnappte nach Luft und griff nach Laras Handgelenk. »Ich weiß, was das ist.«
Die Frauen sahen sich mit entsetzten Mienen an. »Schattenkrieger«, flüsterten sie wie aus einem Munde.
Auch Nicolas zog scharf den Atem ein und blickte den langen Schacht hinauf und hinunter. Sie befanden sich etwa in der Mitte, und überall an den Wänden entlang, vor und hinter ihnen, drang Rauch aus den Rissen in dem Eis hervor. »Nicht einmal der kampferprobteste Jäger kann hoffen, den Schattenkriegern zu entrinnen«, sagte er. »Wir müssen den nächsten Raum erreichen, bevor sie aus der Wand kommen. Wenn wir zwischen sie geraten, sterben wir hier.«
»Bewegung zieht sie an«, gab Natalya zu bedenken.
»Ich bin mir sicher, sie wissen schon, dass wir hier sind«, gab Nicolas zurück.
»Wenn wir an einen sichereren Ort gelangen und Natalya ein bisschen Zeit verschaffen könnten«, meinte Vikirnoff, »kann sie vielleicht mit ihnen fertigwerden.«
»Früher hätte ich es gekonnt, weil ich Magier-Blut in meinen Adern hatte«, sagte Natalya. »Doch heute bin ich mir nicht so sicher, dass ich mit ihnen fertigwürde.«
»Ich habe Magier-Blut in mir«, sagte Lara.
»Hört auf zu reden und lauft!« Ohne auf einen Protest zu warten, ergriff Nicolas Laras Handgelenk und zog sie rasend schnell aus dem Gang hinaus.
Vikirnoff und Natalya folgten ihnen auf den Fersen, und alle vier bewegten sich so schnell, dass sie verschwammen, aber die Bewegung erzeugte eine Reaktion bei den tanzenden Schatten. Der dunkle Rauch drang sogar noch schneller aus der Eiswand und begann, lebensgroße Erscheinungen aus herumwirbelndem Rauch, Schatten und Substanz zu bilden.
Die vier schafften es kaum zum Eingang des nächsten Raumes, bevor die Schattenkrieger auch schon hinter ihnen waren und lautlos, mit erhobenen Schwertern, durch den kurvenreichen Tunnel glitten. Manchmal veränderte sich der Rauch und ließ die Gestalt eines Kriegers in voller Rüstung und mit glänzendem Schwert erkennen, das Gesicht aber lag vollkommen im Dunkeln.
Nicolas hastete zur gegenüberliegenden Seite des Raumes weiter, auf den linken Eingang zu, doch mehrere Krieger verteilten sich blitzschnell und schnitten ihnen diesen Fluchtweg ab. Die einzige Möglichkeit, die den Karpatianern blieb, war ein enger Gang zur Rechten, der immer noch nach oben führte, allerdings in eine andere Richtung als die, in die sie gehen wollten.
Schattenkrieger bestanden aus verfügbaren Elementen, Molekülen und Wasser. Den einst fähigsten und ehrenhaftesten Kämpfern ihrer Zeit wurden die Seelen entrissen, und sie wurden von schwarzen Magiern in deren Dienst gezwungen. Sie waren schon tot, substanzlos und fast unmöglich zu besiegen.
Die Krieger schwärmten aus, und die Karpatianer zogen sich noch weiter in den schmalen Gang aus Eis zurück. Die Männer gingen rückwärts, um den Feind nicht aus den Augen zu verlieren, und hielten ihre Frauen hinter sich.
»Sie werden sich uns irgendwann stellen müssen«, sagte Nicolas mit einer gewissen Befriedigung.
Natalya versuchte, den Strom von Schatten aufzuhalten, indem sie stehen blieb und die Arme hob.
Hört auf mich, ihr Dunklen, aus eurer Ruhestätte Gerissenen. Ich rufe Erde, Wind und Feuer, Wasser, Geist und Seele an.
Daraufhin hätten die Krieger ihre Schwerter niederlegen und auf Befehle warten müssen, doch stattdessen stürmten sie auf die beiden Frauen zu, und der Rauch wechselte von Grau zu Schwarz.
»Ohne das Magier-Blut funktioniert das nicht so gut«, sagte Natalya. »Lauft!«
Die Karpatianer fuhren herum und ergriffen wieder mit schier unglaublicher Geschwindigkeit die Flucht. Lara hatte Mühe, Schritt zu halten, obwohl Nicolas sie mitzog und ihre Füße nicht wirklich den Boden berührten. Sie vergaß immer wieder, ihre Körpertemperatur zu regulieren, und es war so kalt, dass sie es kaum noch auszuhalten glaubte und fortwährend vor Kälte zitterte. Ihre Beine und Arme waren steif, und ihre Brust schmerzte so sehr, dass das Atmen eine Qual war. Als sie weiter den schmalen Gang hinaufeilten, veränderte sich die Luft und erwärmte sich ein wenig, was ihr ein bisschen Erleichterung verschaffte, sie aber auch mit der Sorge erfüllte, dass mit der steigenden Temperatur das Eis schmelzen könnte.
Lara blickte über die Schulter zurück und sah, dass die Krieger endlich haltgemacht hatten. Vielleicht hatte Natalyas Zauberspruch schließlich doch gewirkt, oder aber sie waren die Wächter eines bestimmten Gebietes und konnten nicht weitergehen.
»Sie verfolgen uns nicht mehr«, verkündete sie erleichtert.
Die anderen blieben stehen, um einen Blick zurückzuwerfen. Von dunklem Rauch umwirbelt, waren die Krieger mit erhobenen Schwertern am Eingang zu dem schmalen Tunnel stehen geblieben.
»Weiter!«, befahl Nicolas, die Hand an Laras Rücken. »Wer weiß, ob sie uns nicht erneut angreifen. Lasst uns weitergehen, aber sucht nach einem Gang, der in die linke Richtung führt. Über den können wir dann vielleicht wieder zu dem richtigen Weg zurückkehren, der uns zu euren Tanten bringt.«
Lara überprüfte schnell das Eis um sie herum. Selbst ein paar Grade Temperaturunterschied könnten dazu führen, dass sich große Eisstücke lösten und ihnen von der Decke und den Wänden entgegenflogen. Dieser Gang war enger als die meisten und mit dichten Reihen messerscharfer Eiszapfen gesäumt. Zu beiden Seiten von ihnen befanden sich oben und unten je zwei Reihen eisiger Dolche in seltsamen hellen Brauntönen, die für eine Eishöhle sehr ungewöhnlich waren. Der Boden war mit runden Hohlräumen, sogenannten Pods, bedeckt, was ebenfalls Laras Argwohn weckte. Die leicht erhöhten Buckel waren überall, als wüchse eine seltsame Art Bakterie auf dem Tunnelboden.
Als sie weitergingen, wurde es dunkler, und Lara merkte, dass keine Eisspinnen mehr aus den Wänden kamen, um ihnen den Weg mit ihren leuchtenden Seidenfäden zu erhellen. Der Tunnel führte in einer kleinen Anhöhe weiter aufwärts, und mit jedem Schritt wurden die Pods auf dem Boden zahlreicher, und auch die Temperatur stieg an.
»Bleibt mal stehen!« Lara nahm sich einen Moment, um sich gründlich umzusehen.
Ihre Nachtsicht war recht gut, aber die Karpatianer konnten ohne jedes Licht im Dunkeln sehen, und es sah so aus, als würden ein paar Schritte mehr sie über die leichte Anhöhe hinweg und in wirklich rabenschwarze Finsternis hineinbringen. Bevor sie praktisch blind wurde und sich auf die anderen verlassen musste, wollte sie die Stabilität des Eises prüfen. Dabei bemerkte sie, dass zwei besonders scharfe, gebogene Eiszapfen – je einer rechts und links von ihnen in der Nähe des Ausgangs – bereits tropften. Die Tropfen waren von gelblicher Farbe und vereinten sich zu einem kleinen Rinnsal, das am Fuß der Zapfen entlang zum Boden hinunterfloss. Die Flüssigkeit speiste die kleinen Hohlräume im Eis und färbte sie langsam bernsteinfarben. Während das Wasser gelb wie Bernstein wurde, waren leichte Bewegungen darin wahrzunehmen, winzige Mikroben, die in den kleinen Wasserstellen herumschwammen.
Lara unterdrückte einen Fluch. »Das ist nicht gut.«
Nicolas war schon ein paar Schritte vorausgegangen, um das Licht weit genug hinter sich zu bringen und sich seiner exzellenten Nachtsicht bedienen zu können. Von der Kuppe der Anhöhe blickte er in den pechschwarzen Tunnel vor ihnen herab.
»Auch die Geräusche sind anders«, sagte Natalya. »Das gefällt mir nicht.«
Vikirnoff ging zu Nicolas und betrachtete mit ihm den einzigen Weg, der ihnen offenstand. »Was meinst du?« Beide sahen sich unaufhörlich um.
»Irgendetwas erwartet uns da unten«, sagte Nicolas. »Ich weiß nicht, was es ist, doch ich kann Bewegung spüren. Ich glaube, dass die Schattenkrieger uns nicht ohne Grund in diesen Tunnel getrieben haben. Irgendetwas erwartet uns dort unten, um uns anzugreifen.«
Vikirnoff blickte über seine Schulter. Die Schattenkrieger hatten sich noch nicht verzogen. Sie hielten die Stellung und warteten auf irgendetwas.
Lara hockte sich neben die Hohlräume im Eis, sah sie sich gründlich an und untersuchte dann, ohne auf die Pods zu treten, die doppelten Reihen der bräunlichen Eiszapfen. Sie fuhr mit der Hand über die Formationen, ohne jedoch mit ihnen direkt in Kontakt zu kommen. »In diesen Eiszapfen wimmelt es von Bakterien, aber nicht deshalb haben sie so eine merkwürdige Farbe.« Sie beugte sich noch weiter vor und schnupperte an ihnen. »Das ist verdünntes Blut. Oder zumindest denke ich, dass es das ist.«
»Was auch immer da herunterkommt, es kommt in unsere Richtung«, sagte Nicolas warnend.
Zum ersten Mal, seit sie die Höhle betreten hatten, hatte er wirklich und wahrhaftig das Gefühl, dass sie in der Falle saßen. Was auch immer aus dem Dunkeln auf sie zukroch, schien nicht allein zu sein. Seine Sicht wurde noch klarer, als das Ding näher kam, und im ersten Moment hielt er es für mehrere große Schlangen, die dick wie Anakondas waren. Die Köpfe waren groß, und alle hatten weit aufgerissene Mäuler und prüften mit ihren gespaltenen Zungen die Luft, um Beute zu erspüren. Die Schlangenköpfe waren denen, die sie aus Terrys Bein entfernt hatten, verdächtig ähnlich.
»Was glaubst du, wie viele es sind?«, fragte Vikirnoff. »Sechs kann ich sehen, aber hinter ihnen höre ich noch mehr.«
»Es ist nur eine«, klärte Nicolas ihn auf. »Eine mit Tentakeln. Ich nehme an, das Biest hat vor, uns in sein Maul hineinzuziehen.«
»Wir sind bereits in seinem Maul«, sagte Lara dumpf.
Ein kurzes Schweigen entstand, als sich alle in dem Tunnel umblickten. Die doppelten Reihen blutbefleckter Eiszapfen waren Zähne. Die beiden gebogenen Reißzähne enthielten das Gift. Das Maul war eine Brutstätte für Bakterien und alle möglichen anderen Infektionen, von denen viele tödlich waren. Die kleinen Buckel entlang der Zunge waren die Brutkästen. Und die Tentakel, die sich nach ihnen ausstreckten, würden sie in den Körper – den engen Tunnel – zurückziehen, wo sie verdaut werden konnten.
»Vikirnoff und ich werden die Tentakel zurückhalten, doch wir müssen hier heraus. Such du einen Weg durch die Schattenkrieger, Lara. Schließlich bist du Magierin.«
Sie verdrehte die Augen. »Ach, nein! Und was ist aus deiner Überzeugung geworden, dass Frauen nicht kämpfen sollen?«
»Ach was, die Männer lassen uns doch bloß gegen eine Legion von Schattenkriegern antreten«, spöttelte Natalya. »Das ist doch kaum der Rede wert, Lara.«
»Du hast darin Erfahrung«, erinnerte Vikirnoff sie. »Ich denke, dass du damit fertigwerden kannst.«
»Bist du sicher, dass du mich nicht lieber schwängern und nach Hause schicken willst, während du hier Superman spielst? Denn mir wäre das nur recht«, sagte Natalya.
»Die Schlangenköpfe haben Witterung aufgenommen und kommen auf uns zu«, warnte Nicolas. »Vielleicht solltet ihr euch jetzt gleich um diese Schattenkrieger kümmern.«
»Wie mein absoluter Held in The Abyss – Abgrund des Todes sagen würde: ›Behalt die Strumpfhose an‹«, sagte Natalya naserümpfend. »Komm, Lara, dann wollen wir den Jungs mal zeigen, wie man gegen Schattenkrieger kämpft!«
Widerstrebend folgte Lara ihrer Tante zu den doppelten Zahnreihen zurück. »Sei vorsichtig und tritt nicht auf die kleinen Buckel. Ich glaube, das sind Brutstätten von Parasiten, nicht Mikroben. Ich bin ziemlich sicher, dass das Labor für die Extremophile war. Xavier sammelt sie aus dem Eis und testet sie in den ersten Becken, verändert sie und leitet sie in die Fruchtwasserbehälter weiter, damit sie unter diesen Bedingungen zu leben lernen. Und dann lässt er sie von dem Gletscher in die Erde hinunterbringen, wo die Karpatianer schlafen. Dieses Ding, was immer es auch sein mag, brütet seine Parasiten aus. Sieh doch nur, wie sie in den Hohlräumen herumwimmeln.« Sie hatte den starken Verdacht, dass das gelbliche Gift, das die Pods speiste, dasselbe war wie das, was Razvan injiziert wurde.
»Du liebe Güte!«, sagte Natalya. »Ich glaube, wir sind hier tatsächlich in Mamis Bauch.«
Die winzigen Maden gerieten in Aufregung und wuselten noch eifriger herum, als sie näher an die Brutstätten herantraten.
Hinter ihnen erfolgte der erste Angriff. Nicolas und Vikirnoff brachten mit einer Handbewegung Schwerter aus Eis hervor und traten ein paar Schritte auseinander, um mehr Bewegungsfreiheit zu erlangen. Dabei achteten sie die ganze Zeit darauf, sich immer einige Zentimeter über dem Boden zu halten, um nicht die zahlreichen Brutstätten zu berühren, die sich in der Zunge der Schlange befanden. Die riesigen Köpfe an den Tentakeln zuckten unablässig hin und her und auf und nieder. Der Angriff war gut koordiniert, denn die Köpfe bewegten sich im hypnotisierenden Rhythmus einer Kobra, die ihr Opfer lähmt.
Die beiden Frauen richteten sich auf und gingen vorsichtig um die vielen Erhebungen herum, bis sie direkt hinter den mit Bakterien überzogenen Zähnen standen. Lichter blitzten auf, Flüche wurden laut, und ein Spritzer Blut an den Wänden versetzte die parasitären Würmer in so wilde Raserei, dass der Boden unter Laras und Natalyas Füßen schwankte und erbebte. Noch mehr Gift tropfte aus den Reißzähnen der Schlange und lief über den Boden.
»Erinnere mich daran, den Blitz herabzurufen, damit wir auch sauber sind, bevor wir ins Dorf zurückkehren«, sagte Natalya.
Lara war froh, dass Natalya wirklich zu glauben schien, sie würden lebend aus der Eishöhle herauskommen.
»Vorsicht, Vikirnoff!«, schrie Nicolas. Er hatte einen der Köpfe abgeschlagen, und mit Parasiten verseuchtes Blut spritzte über den Boden und die Wände. »Komm nicht damit in Berührung. Und das gilt auch für euch, Lara und Natalya.«
Lara warf ihm einen finsteren Blick über die Schulter zu. »Wir versuchen uns hier auf die Schattenkrieger zu konzentrieren. Glaubst du etwa, das wäre leicht?«
»Töten können wir sie nicht, da sie ohnehin schon tot sind«, überlegte Natalya laut. »Sie zu gefrieren ist auch nicht möglich, weil sie aus dem Eis kommen.«
»Es müsste uns aber gelingen, ihre Aufmerksamkeit zu erregen und Xavier das Kommando zu entreißen. Er geht immer den einfachsten Weg. Er nimmt ihnen ihre Seelen und beherrscht sie dadurch, so ähnlich, wie er es bei meinem Vater tat«, sagte Lara nachdenklich. »Sie kennen also keine Loyalität ihm gegenüber. Die Krieger wurden gegen ihren Willen versklavt.«
»Lara!«, rief Nicolas. »Dem Ding ist ein weiterer Kopf gewachsen. Was macht ihr da oben?«
»Wir spielen mit unseren Puppen«, rief Lara in leicht gereiztem Ton zurück. »Es ist nicht einfach, Nicolas. Ich muss mich konzentrieren.«
»Du schaffst das schon«, ermutigte Natalya sie. »Du kennst Xavier, und ich habe auch schon bemerkt, dass das Eis auf dich reagiert.«
Daran hatte Lara nicht gedacht. Doch Natalya hatte recht. Sie war in Eishöhlen zu Hause, empfand sie als etwas ganz Natürliches, und die Zaubersprüche durchfluteten ihren Kopf immer schneller, je mehr sie sie benutzte. Die Tanten hatten sie auf alle Arten von Problemen vorbereitet, schien es, und sie war mehr denn je entschlossen, zumindest ihre Leichen mit nach Hause zu nehmen. Im Leben mochten sie Gefangene gewesen sein, aber sie würde nicht dulden, dass sie es auch im Tod noch blieben.
»Halte das Gift und die Parasiten von mir fern, Natalya«, bat sie.
»Klar.«
Lara holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen, bevor sie die Hände hob und in Richtung der Schattenkrieger ein Muster wob.
Ihr alten Krieger der Vergangenheit, die ihr mit Ehre und Gewissen kämpftet. Beherrscht von Dunkelheit und Ungesehenem, rufe ich euch nun – und hört mich an! Gefesselt von Dunkelheit, die keine Ehre hat, rufe ich eure Geister an – kämpft wieder als wahre Krieger! Ich schicke euch Kraft und Energie und erlaube euch zu denken. Ich erbitte eine Gunst und gebe eure Seelen frei. Steht wie einer, der gefroren ist!
Die Schattenkrieger erstarrten und ließen ihre Schwerter fallen, mit den Spitzen zu dem eisigen Boden. Durch den wabernden Rauch konnte Lara rot glühende Löcher anstatt Augen sehen, die wiederum in schwarzen Masken steckten, wo Gesichter hätten sein müssen. Vor den Spiegeln aus Eis blieben die Krieger reglos stehen und starrten mit ihren blicklosen Augen auf das, was ihre leeren Seelen reflektierten. Es stimmte Lara traurig, dass diese Männer, die sich ihr Leben lang wie Ehrenmänner verhalten hatten, von einer so üblen Kreatur wie Xavier hatten befehligt werden können.
Lara hob noch einmal die Hände, um ein Muster zu weben, diesmal sogar noch ein komplizierteres und detaillierteres als beim ersten Mal. Und als sie wieder sang, klang unüberhörbarer Respekt in ihrer Stimme mit.
Ihr, die ihr schlimmes Unrecht erlitten habt, die ihr in Kämpfen ehrenhaft zusammengehalten habt, blickt ins Eis und seht, was von euch vielleicht noch zurückgewonnen werden kann.
Mit angehaltenem Atem wartete sie, als die Krieger sich zu bewegen begannen, als erwachten sie aus langem Schlaf. Einer nach dem anderen streckten sie die Arme nach dem Spiegel aus Eis aus.
Lara sang leise weiter. Krieger voller Kraft und Tapferkeit, nehmt zurück, was euch gehört, und fahrt mit Ehre auf!
Das Eis begann sich zu verformen und durch die Luft schwebende Lichter hervorzubringen, von denen jedes eine andere Form und Farbe hatte. Als die Lichter herunterschwebten, stiegen die Krieger in sie ein, erglühten für einen Moment – und lösten sich in Luft auf, nachdem sie sich tief vor Lara verbeugt hatten.
Sowie der letzte Schattenkrieger verschwunden war, rief Lara Nicolas. »Der Weg ist frei. Wir müssen hier heraus. Tretet nicht auf die Erhebungen.«
Vikirnoff und Nicolas liefen zu ihren Gefährtinnen und stiegen vorsichtig über die schnappenden Zähne hinweg aus dem Mutterparasiten.
»Das hast du gut gemacht, Lara«, sagte Nicolas, während er den Schattenkriegern einen kleinen Gruß nachsandte. »Du hast ihnen Ehre erwiesen, und das zu Recht.«
»Was sollen wir damit machen?«, fragte Vikirnoff, als die scheußliche Kreatur wieder nach ihnen schnappte. Sie konnte sich nicht bewegen, da sie gefroren und ihr Körper ein Teil der Höhle war.
»Zerstör sie, Lara«, sagte Nicolas. »Ich kann nicht den Blitz hier herabrufen, aber du kannst diese Brutmaschine vernichten, die da liegt und auf Opfer wartet, um sie an ihre Jungen zu verfüttern. Du beherrschst doch alle Elemente.«
»Du auch.« Sie legte den Kopf zurück und sah ihm ins Gesicht. Er wollte, dass sie es tat – um ihr Selbstvertrauen zu stärken und ihr zu zeigen, dass sie Macht und die Kontrolle über die Situation besaß. Sie sollte wissen, dass sie das Ungeheuer töten konnte, das seinem Volk so zusetzte. »Gut«, sagte sie und nickte. »Ich wünschte nur, uns bliebe Zeit zu überlegen, wie wir Xaviers Labor zerstören können.«
Nicolas’ Lächeln erreichte seine Augen nicht; er bleckte nur die Zähne wie ein Wolf. »Ich bin schon dabei, darüber nachzudenken. Außerdem müssen wir noch sehen, wo und wie er die infizierten Mikroben in die Erde bringt.«
»Er muss den Gletscher benutzen, um sie entweder in das Wasser oder in die Erde einzuschleusen«, sagte Lara. »Ich würde auf die Erde tippen, weil die Dorfbewohner nicht infiziert zu sein scheinen.«
»Nachdem wir nun wissen, wonach wir suchen, werden wir es auch finden«, sagte Nicolas zuversichtlich. »Doch vernichte erst mal dieses Scheusal hier!«
Lara blickte sich zu dem Eismonster mit den blutbefleckten Zähnen und dem aus ihnen herauströpfelnden Gift um. Xavier hatte die perfekte Mutter für seine Parasiten geschaffen. Lara brauchte Feuer ... und Luft, um es aufrechtzuerhalten. Während die anderen zurücktraten, stellte sie sich mit erhobenen Armen vor das Monster, wohl wissend, dass Nicolas ihr die perfekte Gelegenheit gegeben hatte, Xaviers Pläne zu vereiteln und sich an ihm zu rächen. Die Zerstörung seiner Parasitenfabrik würde ein großer Rückschlag für ihn sein.
»Das ist für Razvan und Gerald und Terry«, flüsterte sie und begann, eins ihrer komplizierten Muster in die Luft zu zeichnen.
Ich rufe die Macht des Westens an; Luft, hör meinen Ruf! Ich schöpfe aus der Macht des Ostens; Feuer, komm zu mir!
Ein brausender Wind war zu hören, als kleine, flackernde Partikel sich zu vereinen begannen, sich immer schneller und schneller drehten und einen Windtunnel erzeugten. Je schneller sie sich drehten, desto höher schlugen die Flammen und sammelten mehr und mehr Partikel, bis sie zu einem großen Flammenrohr wurden. Mit einer schnellen Handbewegung schoss Lara es direkt auf das Ungeheuer ab, das die abscheulichen parasitären Würmer ausbrütete, und hüllte es vollkommen in Feuer.
Du, die du die Mutter bist und durch die Tat gebunden, lass Feuer die Parasiten verzehren, die sich an dir nähren!
Das riesige Maul öffnete sich in einem stummen Schrei, und weißglühende Flammen schlugen zischend gegen das Eis und verbrannten und zerschmolzen die Kreatur sehr schnell.
Nicolas warf Lara eine Kusshand zu. »Das ist mein Mädchen«, sagte er. »Und nun lasst uns verschwinden.«
Xaviers Eishöhlen waren sich ihrer Anwesenheit nur allzu gut bewusst und fingen an, sich nun ernsthaft gegen sie zur Wehr zu setzen. Bald würde die Sonne aufgehen, und vorher mussten sie die Höhlen verlassen haben. Sie mussten die Tanten – oder ihre Überreste – finden und verschwinden, bevor sie von ihrer eigenen Schwäche daran gehindert wurden.
Wieder bewegten sie sich ungeheuer schnell durch die gewundenen, manchmal sehr engen Tunnel. Sie berührten nicht den Boden und hielten sich immer nach links und in Richtung Erdoberfläche.
Laras Herz begann wie wild zu pochen. Das ist es! Das ist der Raum, in dem ich sie zuletzt gesehen habe und in dem sie mir zur Flucht verholfen haben.
Sofort hielt Nicolas an. Auch Natalya und Vikirnoff blieben stehen und sahen sich um.
Lara erkannte die kathedralenartige Decke und die beiden Reihen hoher Eiskristallsäulen, die mit kunstvollen Schnitzereien versehen waren und über die ganze Höhe des Raumes verliefen. Verschiedenfarbige Kugeln saßen in Nischen innerhalb der Säulen. Lebensgroße Eisskulpturen von verschiedenen Sagengestalten waren überall in der Kammer verteilt und sahen wie grimmige Wächter aus. Die Skulpturen hatten ihr als Kind große Angst eingejagt, besonders wenn sie sie unter Xaviers Launen zum Leben hatte erwachen sehen und sie sich durch den Raum an sie herangepirscht hatten. Unter aus dem Eis herausgeschnittenen Bögen standen blutrote Pyramiden, die ein unheimliches Leuchten abgaben.
»Seht nicht in die Kugeln, besonders nicht in die trüben. Sie erwachen zum Leben und können euch einfangen.« Lara griff nach Nicolas’ Hand, weil sie den Kontakt jetzt brauchte.
»Natalya und ich sind schon einmal hier gewesen. Ich habe damals das Eis durch die Öffnung geschoben, um sie zu verschließen, damit der Prinz nicht herunterkommen konnte, um uns zu helfen«, erzählte Vikirnoff. »Xavier hatte Mikhail eine Falle gestellt und Vampire benutzt, um ihm dabei zu helfen. Wir waren gezwungen, die Höhlenöffnung zu verschließen, um ihn zu schützen, und Natalya und ich haben es nur gerade eben noch lebend hier heraus geschafft.«
»Wir entkamen durch den Boden«, sagte Natalya. »Xavier hat Falltüren darin eingebaut, um fliehen zu können.«
Unter dem Eisboden befand sich ein Muster aus Sternen, Quadraten und Dreiecken, und in der Mitte einer jeder dieser Formen waren Hieroglyphen eingeschnitzt.
»Und ich habe die in Eis eingeschlossenen Drachen gesehen«, fuhr Natalya fort. »Das Eis um sie war mehrere Fuß dick. Sie sahen aus wie Aquarelle. Zuerst haben wir gar nicht bemerkt, dass es zwei waren.«
Lara nickte nach rechts hinüber. »Dort drüben ist eine Nische in der Wand.« Jetzt konnte sie kaum noch atmen. Würden die Körper noch dort sein? Und wenn ja, woher war dann das Blut gekommen? Sie konnten doch nicht mehr am Leben sein, oder?
»Soll ich für dich nachsehen?«, erbot sich Nicolas.
Lara schüttelte den Kopf, denn dies war ihre Suche – ihr Versprechen. Sie würde es selbst tun. So drückte sie nur seine Hand und ging, straffte die Schultern und zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vikirnoff, Natalya und Nicolas verteilten sich, um sie zu beschützen, behielten scharf den Raum im Auge und warteten auf einen Angriff – von dem sie sicher waren, dass er kurz bevorstand.
Lara durchquerte die saalartige Eiskammer und ignorierte die schrecklichen Erinnerungen, die ihr kamen. Ganz bewusst griff sie nach den guten – denn auch die hatte es gegeben, wenn auch allein der beiden Frauen wegen. Sie hatte sie nie in menschlicher Gestalt gesehen, sondern immer nur als Drachen, aber ihre Stimmen hatten sie bei Verstand gehalten, ihr das Gefühl gegeben, geliebt zu werden, sie alles gelehrt, was sie wusste, und noch einiges mehr. Diese Frauen waren ihre einzige wahre Familie gewesen, und sie wollte sie unbedingt nach Hause bringen. Xavier durfte sie nicht länger haben.
Bitte, bitte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft in der Brust, ihre Augen brannten. Bitte, bitte, bitte, betete sie im Stillen. Lara glaubte nicht, dass sie es ertragen könnte, nie zu erfahren, was aus ihren Tanten geworden war. Sie hatten so viel für sie getan, sie davor gerettet, wahnsinnig zu werden, ihr Wertvorstellungen vermittelt, sie gelehrt, Recht und Unrecht zu unterscheiden, ihr eine Chance gegeben zu leben und sie in die Welt hinausgeschickt mit so viel Wissen, wie sie ihr nur hatten vermitteln können. Sie hatten sie geliebt, und ihretwegen wusste sie, was Liebe war.
Ich bin bei dir, versicherte ihr Nicolas.
Und da merkte sie, dass er mit ihr verschmolzen war, dass seine Kraft und Liebe in sie hineinströmten und ihr Mut machten. Für einen Moment klammerte sie sich an ihn, bevor sie um die Ecke bog, um die Nische in der Mauer zu betreten. Ihr stockte der Atem, und dicke Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie konnte Tante Bronnie sehen, die sie mit einem ihrer wundervollen Smaragdaugen durch die dicke Eiswand anstarrte. Schuppen bedeckten die elegante Biegung ihres Nackens und den keilförmigen Kopf. Eine Tatze war ausgestreckt und hatte offenbar im Eis gekratzt, bevor sie gefroren war. Hinter ihr, wie immer geschützt von Branislava, stand Tatijana, deren Körper jedoch beinahe nicht zu sehen war.
Sie sind noch hier, Nicolas. Wenn ich sie aus dem Eis befreien kann, kannst du sie dann schweben lassen? Sie sind riesengroß und unmöglich zu tragen.
Was immer nötig ist, Lara.
Er hatte nicht vor, ihr zu gestehen, was es ihn schon an Kraft kostete, sie warm zu halten und fortwährend nach dem Feind Ausschau zu halten. Doch sie wusste es sowieso. Sie wusste auch, dass der Morgen immer näherrückte und sie die Eishöhlen schnellstens verlassen mussten.
Lara trat von der Wand zurück und hob die Hände. Dies würde der wichtigste Zauber sein, den sie je gewirkt hatte. Sie musste den Spinnen befehlen, sich durch das Eis zu bohren und enorme Stücke herauszuschneiden, um die Drachen zu befreien, aber sie musste auch das Eis stabilisieren, damit es nicht über ihnen zusammenbrach.
Sein unaufhörliches Knacken erinnerte sie daran, wie instabil es ohnehin schon war. Zuerst musste sie wissen, ob die Wände sich bewegten, doch sie war sich fast sicher, dass es so war. Tief atmete sie ein. Sie brauchte ein straff von Wand zu Wand gespanntes Netz, das sie warnen würde, falls sich der Gang verschmälerte.
Winzige Spinnen aus kristallinem Eis, webt euer Netz und macht es fest, spinnt eure Seide von einer Wand zur anderen und gebt ihnen Halt! Webt eure Muster und webt sie fest, bis euer Netz das Eis beherrscht!
Die Spinnen kamen aus dem Eis herausgekrochen, schwärmten über die dicken Wände aus und begannen, ihre schimmernden Fäden zu spinnen, bis das Netz von Wand zu Wand reichte. Zufrieden wob Lara ein Muster mit den Händen. Mit anmutigen und liebevollen Bewegungen zog sie jeden ihrer Fäden, und ihre Stimme war ganz belegt vor Emotion, als sie den Spinnen befahl, Löcher in das Eis um die Drachen zu bohren, um einen gewaltigen Eisblock daraus lösen zu können.
Spinnen, Spinnen, formt eine Linie, benutzt eure Geschicklichkeit und schneidet, bohrt und bindet!
Die Spinnen verteilten sich auf der Wand um die Drachen. Sie brauchten einige Zeit, um sich mehrere Fuß tief in das Eis und um eine so große Fläche herum zu graben.
»Beeil dich, Lara! Die Kugeln hier wechseln die Farbe, und etwas, das wie Blut aussieht, läuft durch sie hindurch«, rief Natalya. »Wir müssen hier heraus!«
Lara dachte jedoch nicht daran, ihren nächsten Zauber zu überstürzen. Dazu war er viel zu wichtig. Sie würde nicht riskieren, ihre Tanten zu verlieren, wenn sie schon so nahe daran war, sie zu befreien. Sie fügte einen Haltezauber für das Eis hinzu, obwohl sie wusste, dass er nicht lange wirksam sein würde gegen den Druck des Gletschers und Xaviers Zorn, den sie in dem Eis schon spüren konnte.
Ich rufe dich, Wasser in gefrorener Form, halte durch, auch wenn du gerissen und zersplittert bist! Winzige Teilchen Wasser und geschmolzenes Eis, verbindet das Eis wieder gut und gebt ihm Halt!
Das ominöse Knacken und Grollen wurde leiser, doch das Geräusch von Wasser umgab sie auch weiterhin. Es schien also geschafft zu sein. Wieder atmete Lara tief ein, und mit all der Hoffnung, der Liebe und dem Wissen, das sie besaß, wirkte sie ihren nächsten Zauber, um den Eisblock zu öffnen, den die Spinnen für sie herausgeschnitten hatten.
Kriecht dreimal um das Eis und bindet es, lasst das Böse in den Boden sinken! Kleine Spinnen aus kristallinem Eis, haltet eure Netze, haltet sie gut fest! Werft sie schützend um das Eis, damit ich die erreichen kann, die schlafen!
Die Spinnen zogen ihre Fäden durch alle Bohrlöcher, zogen sie fest an und vor und zurück, bis sie große Eisstücke losgesägt hatten. Unermüdlich fuhren sie damit fort, bis sie die Drachen freigelegt hatten, und dann bohrten sie noch mehr Löcher um die Körper, bis die Drachen endlich aus ihrem eisigen Gefängnis glitten.
Noch immer hart gefroren, schlugen die Drachenkörper krachend auf dem Boden auf.