3. Kapitel

Lara fuhr stirnrunzelnd zu Nicolas herum, und ein misstrauischer Blick erschien in ihren grünen Augen. »Bist du ein Schürzenjäger? Der nur Süßholzgeraspel und schmalziges Gerede ohne was dahinter kennt? Denn dann sage ich dir gleich, dass ich Erfahrungen mit dieser Art von Mann hatte und solche Schmeichelei durchschaue.«

Sie log. Sie sah ihm in die Augen und log ihm schamlos ins Gesicht. Sie hatte keine Erfahrung mit Männern. Und sie konnte auch nicht verhindern zu erröten, wann immer sie ihn ansah. Das Lächeln begann in Nicolas’ Kopf und griff auf seine Lippen über. Und es war echt und spontan, das Lächeln. Das allein schon war ein Wunder - dass er lächeln konnte und dass er einen Grund hatte zu lächeln.

Nicolas hätte nichts lieber getan, als seine Seelengefährtin – denn das war sie – zu seinem Unterschlupf mitzunehmen und sie ein oder zwei Jahre ganz für sich allein zu behalten, um alles über sie herauszufinden. Ein fast schmerzhaftes sinnliches Verlangen durchzuckte ihn bei dem Gedanken, aber es gelang ihm, wieder eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. »Ich glaube nicht, dass mir in all den Jahren meiner Existenz schon einmal jemand gesagt hat, ich raspelte Süßholz oder redete schmalziges Zeug daher.«

Sie reagierte mit einem ungläubigen kleinen Schnauben. »Vielleicht nicht, doch ich wette, dass so manche dich einen Schürzenjäger genannt haben.«

»Ich bin ein sehr erfahrener karpatianischer Jäger, aber kein Schürzenjäger«, erwiderte er so würdevoll wie möglich, »und bin mir sicher, dass ich die nötigen Eigenschaften habe, um dein Seelengefährte zu werden.«

Sie sog verblüfft den Atem ein, bevor sie sich brüsk von ihm abwandte und hocherhobenen Hauptes in das Gasthaus stürmte.

Nicolas blieb ihr auf den Fersen, sehr dicht sogar, als er bemerkte, wie sich die männlichen Gäste bei ihrem Eintreten nach ihr umschauten. Sie war ja auch wirklich sehr attraktiv mit ihrer makellosen hellen Haut, dem roten Haar und diesem Strahlen, das viele karpatianische Frauen an sich hatten und das, mit ihrem geschmeidigen sexy Gang verbunden, die Augen aller Männer auf sich zog. Nicolas sandte ihnen auf telepathischem Weg eine Botschaft und ließ sie alle ohne Worte wissen, dass diese Frau zu ihm gehörte. In seinen schwarzen Augen stand der blanke Tod, als er jeden Einzelnen der Männer ansah, um der Botschaft Nachdruck zu verleihen. Sofort wandten sie die Blicke von ihr ab, und zwei erhoben sich sogar, um zu gehen, was Nicolas verriet, dass seine Warnungen offenbar um einiges zu stark gewesen waren. Er würde lernen müssen, mit seinen neu gewonnenen Emotionen umzugehen.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, folgte er ihr die Treppe hinauf zu einem der Gästezimmer. Als sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, kam er ihr jedoch zuvor und schob seinen viel größeren Körper zwischen sie und die Zimmertür.

»Ich gehe voran.« Er hatte das Zimmer im Geiste schon vor Augen. Zwei unbekannte männliche Wesen und Mikhail, der Prinz der Karpatianer, befanden sich darin. Aber trotz der Anwesenheit des Prinzen wollte er nicht das Risiko eingehen, seine Gefährtin zu gefährden. Denn im Zimmer witterte er auch Vampirblut.

»Das ist mein Zimmer«, protestierte sie, schockiert, wie schnell und mühelos er die Kontrolle an sich gerissen hatte.

Sein dunkler Blick glitt über ihr Gesicht. »Ja, das ist es, und du scheinst einen Überschuss an männlichem Besuch zu haben.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete er die Tür und ignorierte ihren empörten kleinen Ausruf. Mikhail war sich seiner Ankunft schon bewusst gewesen, und sein Blick ging gleich an ihm vorbei zur Tür, die Nicolas’ mächtiger Körper aber blockierte und Laras Eintreten verhinderte.

Langsam nahm Nicolas de la Cruz die Szenerie in dem Zimmer in sich auf. Einer der Männer warf sich, stöhnend vor Schmerzen, auf dem Bett herum, und ein anderer hielt ihn an den Schultern fest, um ihn zu beruhigen, während der Prinz offenbar versuchte, die Verletzungen des Mannes auf dem Bett zu heilen. Nachdem Nicolas all das gesehen hatte, machte er Platz, um seine Gefährtin eintreten zu lassen.

»Nicolas.« Mikhail trat vor, um in der traditionellen Begrüßung unter karpatianischen Kriegern Nicolas’ Unterarme zu umfassen. »Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte er, ohne sich etwas von der Unruhe anmerken zu lassen, die es ihm verursachen musste, dass Nicolas de la Cruz sich persönlich aus Südamerika herbemüht hatte, um ihm Nachrichten zu überbringen. Dass es keine guten sein konnten, lag also nahe.

»Ich bringe dir Grüße von Zacarias und meinen anderen Brüdern. Ich hoffe, dir und deiner Seelengefährtin geht es gut, Mikhail.«

Der Prinz nickte. »So ist es – auch wenn ich vorhin eine gewisse Unruhe verspürte.«

Nicolas’ Ausdruck veränderte sich nicht, und er wandte auch nicht den Blick ab. Natürlich hatte Mikhail Besorgnis verspürt. Schließlich war Nicolas so nahe daran gewesen, sich zu verwandeln, dass er seiner eigenen Gefährtin fast das Leben genommen hatte. Zum Glück hatte sie ein Messer dabeigehabt und keine Hemmungen, es zu benutzen. Das Blut war von Nicolas’ Hemd verschwunden, aber Mikhail würde er so leicht nicht täuschen können.

Nicolas wandte sich an seine Seelengefährtin, die er soeben erst gefunden hatte. »Mikhail Dubrinsky ist der Prinz des karpatianischen Volkes«, informierte er sie, bevor er sich wieder an den Prinzen wandte. »Mikhail, das ist avio päläfertiil«, sagte er in besitzergreifendem Ton und legte eine Hand auf Laras Rücken.

Mikhail machte eine angedeutete Verbeugung vor ihr. »Ich bin sehr erfreut, deine Gefährtin kennenzulernen, Nicolas, aber sie wird doch einen Namen haben?«

»Einen Namen?« Zum ersten Mal sah Nicolas ganz ratlos aus.

»Sie hat doch einen Namen?«, fragte Mikhail sichtlich amüsiert.

Nicolas blickte auf das glänzende rote Haar und die funkelnden grünen Augen der Frau neben sich herab. »Wie heißt du?«

»Du hast uns aneinander gebunden und kennst nicht einmal meinen Namen«, spöttelte sie und versuchte, den Geruch nach fauligem, verdorbenem Blut zu ignorieren, der in der Luft hing. »Du bist total verrückt, weißt du. Ich heiße Lara. Lara Calladine. Und du?« Ihr Herz schlug viel zu schnell und hart, weil ihr tief im Innersten nur allzu gut bewusst war, dass ihr Leben sich unwiederbringlich verändert hatte. Sie durfte nur noch nicht daran denken, musste ruhig Blut bewahren, bis sie Zeit hatte, das Geschehene zu verarbeiten und zu überlegen, was sie dagegen unternehmen konnte.

Das Lächeln, das sich nur langsam auf seinen Zügen ausbreitete, ließ sie fast dahinschmelzen, was aber eine willkommene Ablenkung in diesem Zimmer war, das ihr irgendwie »verdorben« vorkam.

»Nicolas de la Cruz.«

»Und du bist Karpatianer.« Sie versuchte nicht einmal, es wie eine Frage klingen zu lassen, als sie von einem Mann zum anderen blickte. »Ihr beide seid es.« Es war nicht leicht, Smalltalk zu halten, wenn sie vor Kälte zitterte, völlig desorientiert war und ihr Magen revoltierte.

»Wie du«, gab Nicolas zurück.

Lara schüttelte den Kopf. »Ich bin es nur zu einem Teil.«

Eine seiner Augenbrauen fuhr in die Höhe. »Du entstammst dem Geschlecht der Drachensucher. Niemand könnte deine Gesichtszüge oder Augen für irgendetwas anderes halten.«

Ihr Herz schlug höher. »Dann kennst du meine Tanten? Hast du Neuigkeiten von ihnen?«

Angesichts der verblüffenden Freude und Hoffnung, die auf ihrem Gesicht erschienen, hätte Nicolas ihr gern gute Nachrichten überbracht. »Tut mir leid, päläfertiil, doch ich kenne nur Dominic, der ein reinblütiger Nachfahre der Drachensucher-Linie ist. Es gibt allerdings noch zwei Frauen, Natalya, die Vikirnoffs Gefährtin ist, und Colby, die Frau meines Bruders, die Drachensucher-Blut in ihren Adern haben. Es ist ein großartiges Geschlecht und eines der angesehensten in unserer Geschichte.«

Lara sah Mikhail an. »Hast du etwas von meinen Tanten gehört?«

Der Prinz der Karpatianer schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich weiß nicht, von welchen Tanten du sprichst. Es gibt keine reinblütigen Frauen in der Familie der Drachensucher. Rhiannon war die letzte, und sie ist für uns verloren. Wie seid ihr verwandt?«

Lara öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie war zum Teil Magierin und kannte die Geschichte Rhiannons, der letzten Tochter des Geschlechts der Drachensucher. Rhiannon war die Seelengefährtin eines großen Kriegers gewesen, der von Xavier, dem höchsten aller Magier, ermordet worden war. Xavier hatte Rhiannon am Leben gelassen, sie aber gefangen gehalten und gezwungen, ihm Kinder zu gebären. Die Drillinge Soren, Tatijana und Branislava waren aus diesem unheiligen Bund entstanden. Soren war in die Welt entkommen und hatte sich mit einer menschlichen Frau zusammengetan, mit der er zwei Kinder, Razvan und Natalya, bekommen hatte. Laras Vater war Razvan. Sie war also eine direkte Nachfahrin des schlimmsten Feindes der Karpatianer, des Mannes, der ihr Vertrauen missbraucht und einen Krieg begonnen hatte, der letztendlich zu der fast vollständigen Ausrottung von Magiern und Karpatianern geführt hatte. Laras Mutter war Magierin gewesen, weswegen sie ebenso viel Magier-Blut wie Drachensucher-Blut in ihren Adern hatte.

Lara richtete ihren Blick auf Terry, der stöhnend auf dem Bett lag und sich vor Schmerzen krümmte. Sie zwang sich, ihn anzusehen, obwohl sie am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Lara hatte junge Magier, denen die Parasiten mit voller Absicht injiziert worden waren, von innen heraus verfaulen sehen. Auch Terry drang der Geruch des Todes schon aus allen Poren.

Sie räusperte sich. »Habt ihr die Parasiten aus seinem Blut entfernen können?«

Terry zuckte zusammen und richtete den Blick auf ihr Gesicht. »Lara. Du bist zurück. Es tut höllisch weh. Was wolltest du mit ›Parasiten‹ sagen?«

»Bei dem rechten Bein ist es nicht schwer«, unterbrach Mikhail ihn schnell, »aber das linke bereitet mir Probleme.« Dann sah er Nicolas an und übermittelte ihm auf dem telepathischen Kommunikationsweg, den die Karpatianer untereinander benutzten: Sie hat meine Frage nicht beantwortet.

Lara versteifte sich. Diese Karpatianer verständigten sich auf demselben Weg, wie ihre Tanten mit ihr kommuniziert hatten. Sie hatte immer gedacht, dass ihre Tanten vielleicht nur Produkte ihrer kindlichen Fantasie gewesen waren. Dass ihre traumatische Kindheit sie dazu getrieben hatte, sich eine eigene imaginäre Welt zu erschaffen ... aber es war völlig ausgeschlossen, dass der Prinz und Nicolas sich auf genau demselben Weg miteinander verständigen konnten.

Sie ist nicht hier, um verhört zu werden. Nicolas’ Ton war milde, doch er veränderte ein wenig seine Haltung, sodass er zwischen Lara und dem Prinzen zu stehen kam.

Ein Ausdruck der Belustigung erschien in Mikhails Augen, der jedoch sofort wieder verschwand, als er sich dem schmerzgekrümmten Mann auf dem Bett zuwandte.

»Er hat den Schlangenkopf herausgezogen, bevor ich ihn daran hindern konnte. Die Fänge der Schlange sind gebogen und haben Widerhaken an den Enden. Ich denke, dass die Widerhaken das Gift enthalten, und als er sie herausgerissen hat, konnte das Gift in seinen Blutkreislauf gelangen.« Lara warf Nicolas einen Blick zu und übermittelte ihm auf dem telepathischen Pfad, der sie beide verband: Ich finde es ein bisschen unhöflich von euch, über mich zu reden, wenn ich danebenstehe, aber trotzdem vielen Dank für deine Hilfe.

Mikhails Kopf fuhr herum, und ein Glitzern erschien in seinen schwarzen Augen. Lara hielt den Atem an. Da sie seit Jahren mit niemand anderem als ihren Tanten auf geistigem Wege kommuniziert hatte, war sie so unachtsam gewesen, den Energiestrom ein wenig überquellen zu lassen, wodurch Mikhail darauf aufmerksam geworden war, dass sie mit Nicolas sprach. Ärgerlich über sich selbst, biss sie sich auf die Lippe und ermahnte sich, still zu sein und nicht noch einmal aufzufallen. Man konnte sich vor aller Augen verbergen, wenn man nur geschickt genug darin war.

»Hab keine Angst, Terry, wir werden dafür sorgen, dass es dir bald wieder besser geht«, versicherte Lara ihm, obwohl sie ihn immer noch nicht ansehen konnte. Sie müsste wenigstens zu ihm gehen und seine Hand halten. Was für eine schlechte Freundin war sie sonst? Sie straffte die Schultern und wappnete sich innerlich.

Sein Anblick, wie er dalag und sich vor Schmerzen wand, weckte in ihr Erinnerungen an ihre Kindheit. Gesundes, lebendiges Blut roch nach Leben und war süß und flüssig. Der Tod dagegen roch eher metallisch – aber krankes, verdorbenes Blut zersetzte sich und brachte einen Übelkeit erregenden Fäulnisgeruch mit sich, der fast nicht zu ertragen war. Lara konnte dem Geruch nicht entkommen, nicht einmal mit all den kleinen Tricks, die ihre Tanten sie gelehrt hatten.

Sie trat vor, um an Nicolas vorbei zu dem Mann auf dem Bett zu gehen, aber Nicolas schien sich mit ihr zu bewegen, indem er fast unmerklich seine Haltung änderte. Lara bekam nicht mit, wie er es machte, doch als sie ein zweites Mal versuchte, an ihm vorbeizukommen, verstellte seine kräftige Gestalt ihr immer noch den Weg.

»Mikhail und ich werden tun, was wir können, um deinen Freund zu heilen, aber du musst dich zurückhalten, bis wir wissen, was genau in seinen Blutkreislauf eingedrungen ist.«

Lara öffnete schon den Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann jedoch wieder, ohne etwas zu sagen. Nicolas’ Stimme war so leise gewesen, dass sie nicht sicher war, ob Terry oder Gerald seine Worte mitbekommen hatten, doch da war etwas in seinem Ton, das keinen Widerspruch erlaubte. Er war ungeheuer stark, und sie wusste nicht, über welche Kräfte er verfügte, aber sie konnte Gefahr spüren. Jetzt, vor so vielen anderen, war nicht der richtige Moment, um Nicolas oder seine Entschlossenheit zu testen. Denn das hieße, sich in aller Öffentlichkeit gegen ihn zu stellen, und die Tanten hatten sie gelehrt, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die wenigen Male, bei denen sie es getan hatte, hatten verheerende Folgen gehabt. Mit einem leisen Zischen entwich der Atem zwischen ihren Zähnen. Am Ende würde sie vielleicht ein schlechtes Gewissen haben, weil sie eine so lahme Ausrede benutzt hatte, aber das Blut auf dem Bett verursachte ihr tatsächlich Übelkeit, und nur deshalb ließ sie sich von Nicolas Vorschriften machen.

Er beobachtete sie und behielt sein Lächeln für sich. Sie glaubte, sie könne ihr Missfallen verbergen, doch ihr Haar wechselte die Farbe, neben ihren roten Strähnen sah Nicolas jetzt auch metallisch glänzende, kupferfarbene. Der Kupferton erschien, wenn sie aufgeregt oder verärgert war, und im Moment sahen ihre Haare so aus, als züngelten dunkle Flammen zwischen ihnen auf. Die Farbe ihrer Augen hatte von Grün zu Gletscherblau gewechselt, und sie glitzerten wie Eis, als sie ihn ansah, doch Lara sagte nichts, sondern trat nur scheinbar fügsam und verständnisvoll zurück.

Nicolas beugte sich über Terrys verletzten Knöchel. Es war absolut nichts Braves, Fügsames an seiner Frau. Sie mochte ihre wahre Natur vor den anderen verbergen, aber sie war eine kleine Tigerin, mit Krallen und mit Fängen, und jederzeit bereit, sich in den Kampf zu stürzen, wenn es die Situation erforderte. Ihre Reaktion auf seine selbstherrliche Art ließ ihn wünschen, noch etwas anderes tun zu können, was ihr Haar zum Knistern und ihre Augen zum Sprühen brachte ...

Es wimmelte nur so von Parasiten in Terrys Organismus, und Nicolas runzelte die Stirn, als er das verklumpte Blut sah. Ratlos wandte er sich an Mikhail. Hast du so etwas schon mal gesehen?

Nicht in diesem Ausmaß. Ich habe Gregori gebeten herzukommen. Er ist unser größter Heiler und die einzige Überlebenschance dieses Mannes. Mikhail blickte sich kurz nach Lara um und bezog nun auch sie in das Gespräch mit ein. Es tut mir leid. Ich weiß, dass er ein Freund von dir ist.

Laras Magen verkrampfte sich, und sie presste eine Hand darauf. Dies alles war nur ihre Schuld. Sie hatte Terry und Gerald mitgenommen, um die Höhle zu suchen, weil sie im Grunde ihres Herzens nicht wirklich geglaubt hatte, dass es sie tatsächlich gab. Sie hatte selbst zu zweifeln begonnen, obwohl sie sich anfangs, als sie nach einem gründlichen Studium der Beschaffenheit des Berges eine Genehmigung eingeholt hatte, ziemlich sicher gewesen war, dass die Höhle dort sein würde. Denn bei ihren Untersuchungen war sie von einer unbezähmbaren Aufregung erfasst worden, sodass sie eigentlich schon hätte wissen müssen, dass sie auf der richtigen Spur war. Sie hätte ihre Freunde nicht solchen Gefahren ausgesetzt, wenn sie nur ein bisschen mehr an sich geglaubt hätte. Könnt ihr ihn retten?

Mikhail und Nicolas standen beide über Terrys Knöchel gebeugt und untersuchten die Verletzung, dennoch spürte Lara einen Austausch zwischen ihnen. Nicht mit Worten, nicht einmal über einen privaten telepathischen Verbindungsweg, da Nicolas sein Bewusstsein für sie offen hielt.

Dunst drang durch das offene Fenster herein, ein dichter Strom von weißem Nebel, der den ganzen Raum ausfüllte. Sofort war die Luft wie elektrisch aufgeladen, und Lara spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. Sie trat zurück, weg von dem Fenster und in Richtung Tür. Aber sie hätte sich nicht beunruhigen müssen, denn Nicolas war sofort bei ihr und schob sich zwischen sie und den Nebel. Ausnahmsweise war sie einmal nicht gekränkt, denn sie wollte nichts zu tun haben mit dem, was durch das offene Fenster hereinkam.

Energie war etwas, womit ein Magier von Geburt an umzugehen lernte. Lara hatte viele junge Magier daran arbeiten sehen, sich die jeweils verfügbare Energie für einfache oder komplexe Aufgaben zunutze zu machen. In den Jahren ihrer Studien und Experimente hatte sie jedoch selten eine solche Menge an Energie verspürt wie die, die jetzt in diesen Raum eindrang, und noch nie hatte Macht eine andere angezogen wie ein Magnet und eine Person umgeben, wie es gerade zu geschehen schien. Der Dampf formte sich zu der Gestalt eines großen, durchsichtigen Mannes, aber die Energie raste auf den Prinzen zu, schlug in großen Wellen über ihm zusammen – und verlieh ihm unsagbare Macht.

Nicolas, Terry und Gerald schienen von all dem überhaupt nichts wahrzunehmen. Wahrscheinlich bemerkte sie es nur, weil sie schon immer sehr empfindlich auf die Nähe von Energie reagiert hatte. In ihren Kindertagen hatte sie ihr als Warnung gedient, dass sie jeden Moment aus ihrer Kammer geschleift, dass ihr Fleisch zerfetzt und ihr Blut getrunken würde. Sie erschauderte noch heute bei dem Gedanken und bekam ein mulmiges Gefühl im Magen.

Eine Hand schon wieder auf ihren Bauch gepresst, wich Lara vor dem Prinzen und dem durchsichtigen Mann zurück. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, ihre Handgelenke brannten, und sie hatte das Gefühl, als kröchen Spinnen über ihre Haut. Als sie die Wand erreichte, schüttelte sie diese Empfindungen ab. Die Temperatur in dem Raum war merklich gesunken, und wieder zitterte sie vor Kälte.

Der Fremde fuhr herum, um sie anzusehen, mit Augen, die wie kalter Stahl waren. »Eine aus der Familie der Drachensucher«, sagte er. »Sie hat viel Drachensucher-Blut in ihren Adern.«

Bittere Galle stieg Lara in die Kehle, die sie fast erstickte, weil sie kaum noch in der Lage war zu atmen. Die Wände des Zimmers wellten und verbogen sich.

»Gregori, wir haben nicht viel Zeit«, mahnte Mikhail.

Laras Furcht wurde zu einem Monster, das in ihr wuchs und wuchs, bis sie kaum noch geradeaus sehen konnte. Der Boden unter ihren Füßen bewegte sich. Welch enorme Macht sich hier in diesem Zimmer konzentrierte! Und wie stark der Geruch nach verdorbenem Blut war! Der Mann auf dem Bett hatte keine Kraft mehr zu schreien und stöhnte nur noch unablässig.

Gregori nickte, aber seine silbrigen Augen hörten nicht auf, sich in Laras zu bohren, rissen ihre Barrieren und so sorgfältig platzierten Schilde ein und blickten geradewegs in sie hinein, um all ihre Geheimnisse aufzudecken. Es fließt große Macht in deinen Adern.

Sie zuckte zusammen, innerlich und äußerlich, als ihr Bewusstsein vor der Invasion dieser hellen, durchdringenden Augen zurückschreckte. Lara zitterte vor Furcht, denn eine solche Augenfarbe hatte sie bisher nur bei einer einzigen anderen Person gesehen. Für einen Moment verschwamm Gregoris Gesicht, und sie starrte in ein anderes, das ihr aus ihren schlimmsten Albträumen nur allzu gut bekannt war. Nach Atem ringend fuhr sie herum und suchte nach einem Ausweg, aber die Eismauern waren undurchdringlich dick. Sie saß in der Falle. Ihr Handgelenk pochte und brannte.

Lara? Was ist mit dir? Nicolas trat auf sie zu.

Bleib aus meinem Kopf! Sie verweigerte ihm den Kontakt nicht nur, sondern verbannte ihn sogar aus ihrem Geist, errichtete schnell und hart eine Barriere zwischen ihnen und zog die Energie im Raum wie einen schützenden Mantel um sich. Instinktiv fuhren ihre Hände in die Höhe und woben schnell und mit erstaunlicher Geschicklichkeit einen Schutzzauber um sie herum.

Wand aus Licht, Schild aus Gold. Erhebt euch, kommt hervor, gebt Halt! Behütet, schützt und schirmt uns vor dem Bösen ab! Lasst die Dämonen der Vergangenheit nicht weiter ernten, sondern sich zu Tode hungern!

Donner grollte und erschütterte den Raum. Ein gewaltiger Strom heller, orangefarbener Flammen schoss aus der Barriere purer Energie empor.

Vorsicht!, schrie Nicolas im Geiste warnend und warf sich vor den Prinzen.

Gregori war schon in Bewegung und stürzte ebenfalls durch das Zimmer zu Mikhail hinüber.

In Wellen aufblitzende Lichter vereinten sich und explodierten wie gleißend helle Raketen, und eine hoch aufragende Wand aus orangeroten Flammen blendete sie alle für einen Moment. Die Männer warfen schützend die Arme vor die Augen, aber die Mauer aus Energie traf die drei Karpatianer mit der Wucht eines Güterzuges und schleuderte sie herum, als wären sie nicht mehr als Treibgut auf den Wogen einer entfesselten See.

Gregori und Nicolas bekamen den größten Teil der Energie ab, die sie jedoch beide lieber in sich aufnahmen, statt sich dagegen zur Wehr zu setzen, während sie versuchten, den Prinzen vor der größten Wucht des Aufpralls zu beschützen. Als Nicolas zurückgeschleudert wurde, wechselte er noch in der Luft die Richtung und sprang auf seine Seelengefährtin zu, für den Fall, dass Gregori mit einer tödlichen Bedrohung auf den Angriff auf ihren Prinzen reagieren sollte. Dabei stieß er hart mit Lara zusammen, als er, von einer Macht umgeben, die ihm anhaftete wie dicke Taue und den ganzen Raum erleuchtete, durch die Luft flog, seine Gefährtin zu Boden warf und mit seinem hochgewachsenen Körper ihren viel kleineren bedeckte.

Sie versuchte, sich unter ihm wegzurollen, aber er ergriff ihre Handgelenke und hinderte sie daran, neue Schutzzauber zu weben, indem er ihre Arme über ihren Kopf zog und sie auf den Boden drückte. »Lara, sieh mich an!«

Sie erstarrte unter ihm, ihre Augen ins Nichts gerichtet und wie leer. Ihr Körper war eiskalt, beunruhigend kalt sogar. Nicolas zögerte nicht, sondern drang sogleich in ihr Bewusstsein ein und folgte ihr auf dem Weg ihrer Erinnerungen ...

Der Gestank nach fauligem Blut war stark und vermischte sich mit dem nicht minder widerlichen von verwesendem Fleisch. Dann hörte Nicolas die Schreie und das Stöhnen, das fortwährende Schluchzen von jemandem, der große Qualen litt, die nicht nur körperlicher, sondern auch geistiger Natur waren. Nicolas ging den eiskalten Gang hinunter, der zu einem großen Raum mit hoher Decke und ebenso hohen Säulen führte. Rote Farbspritzer durchzogen das eisige Blau der einen Wand, an der ein Mann am Boden angekettet war. Er war nackt und hatte Augen, in denen der Wahnsinn brannte, und er wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt, als winzige weiße Parasiten sich an seinem Körper gütlich taten. Nicolas erkannte in ihm einen der erbittertsten Feinde der Karpatianer – Razvan, den Enkel von Xavier, dem ältesten und mächtigsten der Magier.

Neben Razvan angekettet lag der regungslose Körper einer Frau. Ihr Mund war weit aufgerissen, als wäre sie schreiend gestorben, das Gesicht erstarrt zu einem Ausdruck des Entsetzens. Die Parasiten fraßen an ihr, während Razvan verzweifelt versuchte, sie von dem Leichnam zu vertreiben. Seine Hände waren schon blutig von seinem hilflosen Einschlagen auf das Eis. Plötzlich blickte er auf, und Nicolas folgte seinem gequälten Blick zu einem in der Ecke kauernden Kind, das rotes Haar mit dunkleren, kupferfarbenen Strähnen hatte und sich die Fäuste in den Mund steckte, um nicht zu schreien. Er konnte das Alter von Kindern nicht gut einschätzen, aber für ihn schien das kleine Mädchen nicht älter als drei oder vier zu sein. Die Augen der Kleinen ruhten auf dem Gesicht der Frau, und sie weinte leise vor sich hin.

Mama.

Alles in Nicolas erstarrte. Einen Augenblick lang blieb er reglos stehen, aber dann erwachte wilder Zorn in seinem tiefsten Innern und bahnte sich den Weg nach oben. Er wollte dieses Kind ergreifen und es in Sicherheit bringen, doch das Einzige, was er tun konnte, war, die Frau zu retten, die er jetzt und hier in den Armen hielt. Er nahm Laras Gesicht zwischen seine Hände. Kein Kind dürfte solchen Dingen ausgesetzt werden.

»Avio siel, mein Herz, komm zurück zu mir!« Er flüsterte, als er den Befehl erteilte, unterlegte ihn aber mit einem starken Zwang. »Du bist in Sicherheit, Lara. Ich bin dein Seelengefährte und werde dich bis zu meinem letzten Atemzug beschützen.«

Ihr trüber, umwölkter Blick richtete sich auf sein Gesicht.

»Ja. Sieh mich an! Konzentrier dich ganz auf mich! Lass dich von mir zurückführen!«

In der Eishöhle ihrer Erinnerungen wartete er nicht darauf, dass das Kind in Lara reagierte. Mit grenzenloser Zärtlichkeit hob er das kleine Mädchen hoch und bedeckte seine Augen, legte sein Gesicht an seine Brust und sprach mit beruhigender Stimme auf die Kleine ein, als er der grauenhafte Szene den Rücken kehrte und hinausging.

Laras lange Wimpern flatterten, und das trübe Blau ihrer Augen verdunkelte sich, während sie zu ihm aufschaute. Sie tat einen unsicheren Atemzug. Nicolas lehnte sich zurück, um sie in eine sitzende Position zu bringen. Sie sah sich um, und Besorgnis schlich sich in ihren Gesichtsausdruck.

»Habe ich jemanden verletzt?« Sie senkte den Kopf und vermied es, Nicolas anzusehen.

»Es ist niemandem etwas geschehen«, sagte er, um einen leisen, sanften und beruhigenden Ton bemüht, obwohl er fest mit einer Hand ihr Kinn umfasste und sie zwang, ihn anzusehen. »Niemand hier würde dir etwas antun, Lara.«

Ihr Herz schlug viel zu schnell. Er legte seine flache Hand auf ihre Brust, sandte Wärme in die Eiseskälte ihres Körpers und verlangsamte ihren Herzschlag, bis er so ruhig und regelmäßig wie der seine war. Sie schnappte nach Luft, als könnte sie nicht atmen, und Nicolas senkte seinen dunklen Kopf auf ihren, damit ihr Atem sich vermischte, bis sie sich entspannte und ihre Atemzüge langsamer und müheloser wurden. Die ganze Zeit über ließ sie seinen Blick nicht los, und er ahnte Tränen in ihren Augen, auch wenn sich darin keine zeigten.

»Ich werde den Geruch neutralisieren.« Gregori, sieh sie bitte nicht direkt an, da ist etwas an deinen Augen, das böse Kindheitserinnerungen in ihr weckt. »Du hättest mir sagen sollen, dass er dich stört. Als dein Seelengefährte muss ich dich vor solchen Dingen beschützen.«

»Ich bin eine erwachsene Frau und kein kleines Mädchen mehr, Nicolas.«

In ihren Erinnerungen hatte sie seine Anwesenheit gespürt, vor allem, als er das Kind, das sie darin gewesen war, aus der Eishöhle herausgetragen hatte. Er war ihr dort ein Trost gewesen, und auch jetzt, obwohl ihre Unterlippe vor Angst zitterte, versuchte sie nicht, sich seiner Berührung zu entziehen. Er beugte sich vor und strich ganz sanft mit seinen Lippen über ihre. Für einen weiteren langen Moment hielt er ihren Blick mit seinem fest, und sie konnte seine Anwesenheit in ihrem Bewusstsein spüren, wo er sich vergewisserte, dass die albtraumhafte Welt ihrer Kindheit weit genug zurückgewichen war, um ihr ein bisschen Frieden zu gewähren.

»Alles in Ordnung mit dir, Lara?«, fragte Mikhail.

Seine Stimme war sanft wie Nicolas’, bemerkte sie. Wahrscheinlich dachten sie, sie stünde kurz vor einem Zusammenbruch. Und vielleicht war es ja auch so. Aber Nicolas hatte den Geruch nach fauligem Fleisch und Blut verschwinden lassen und ihn durch den frischen Duft des Waldes ersetzt. Sie konnte sogar eine leichte Brise auf ihrem Gesicht spüren. Abgesehen davon, dass ihr Verhalten ihr schrecklich peinlich war, ging es ihr gut. Sie versuchte immer noch, auf keinen Fall den Heiler anzusehen, obwohl sie wusste, dass sie, von seinen merkwürdigen Augen angezogen wie eine Motte vom Licht, es nicht lange würde vermeiden können.

Lara ergriff die Hand, die Nicolas ihr reichte, und ließ sich von ihm auf die Beine ziehen. »Es geht mir gut, danke. Ich hoffe, dass niemandem etwas geschehen ist.«

»Wäre ich verletzt, würde Gregori das im Handumdrehen in Ordnung bringen«, beruhigte Mikhail sie schmunzelnd. »Lass dir von ihm keine Angst einjagen! Er übt diesen Blick jeden Abend unten am See.«

Bevor sie es verhindern konnte, sah Lara zu Gregori hinüber. Seine silbrigen Augen flößten ihr Unbehagen ein, aber trotzdem zwang sie sich, ihn anzusehen. »Ich habe keine Angst, und mein Verhalten tut mir leid. Ich wollte wirklich niemanden verletzen.«

»Das hast du auch nicht, kleine Schwester«, sagte Gregori, den Blick absichtlich immer noch auf Terry gerichtet. »Doch wenn wir deinem Freund helfen wollen, müssen wir uns beeilen.«

Lara blieb fast das Herz stehen, als sie plötzlich merkte, dass sie Terry und Gerald vergessen hatte, die nicht nur ihr seltsames Verhalten, sondern auch ihren Umgang mit Energie mitangesehen hatten. Sie hätte sich jedoch keine Sorgen machen müssen, denn keiner der beiden schien sie zu beachten. Einer der drei Karpatianer hatte ihre Sinne blockiert und ihnen falsche Erinnerungen an das Geschehene eingegeben.

Lara war sehr beschämt über ihr Benehmen vor diesen Männern. Nicht einmal um ihre Freunde hatte sie sich gekümmert! Entschlossen straffte sie ihre Schultern und trat einen Schritt auf das Bett zu. Die Gegenwart der Parasiten hatte ihren schrecklichen Kindheitserinnerungen Tür und Tor geöffnet.

»Stell dich an die Tür!«, befahl ihr Nicolas jedoch und verstellte ihr auch jetzt wieder den Weg zum Bett. »Wir wollen doch nicht, dass die Wirtin oder ihr Mann in dieses Zimmer kommen. Das ist zu gefährlich.«

Lara versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen, nickte und trat zurück, um den Karpatianern Platz zu machen. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die Tür und sah dem Heiler bei der Arbeit zu. Sie hatte noch nie einen begnadeten karpatianischen Heiler seine Kunst ausüben sehen und war fasziniert von der absoluten Konzentration und Effizienz, mit der er seiner Arbeit nachging. Ohne das geringste Zögern trat Gregori aus seinem Körper heraus und ließ nur pure heilende Energie zurück.

Mikhail zündete Kerzen an, deren aromatischer Duft die Luft erfüllte und den Heilungsprozess unterstützte. Gregori, der seinen Körper ja bereits verlassen hatte, drang in Terrys ein, um die sich schnell vermehrenden Horden von Parasiten zu zerstören, die den Körper des jungen Mannes zu verzehren drohten.

Es war erstaunlich, mitanzusehen, wie viel scheinbar endlose Energie Gregori entzogen wurde. Es beraubte ihn aller Kraft, obwohl die beiden anderen Karpatianer mit ihm zusammenarbeiteten. Sein Gesicht war grau geworden, er taumelte schon vor Erschöpfung, und die Zeit verging unendlich langsam.

Draußen vor dem Fenster begann Schnee zu fallen, zuerst nur ein paar Flocken, die jedoch allmählich immer dichter wurden. Im Gasthof wurde es still, als die Gäste sich nach und nach zu Bett begaben. Gerald wechselte oft die Haltung, aber er wich nicht von Terrys Seite, hielt ihn an den Schultern fest und redete beruhigend auf ihn ein. Nach einer Stunde hörte Terry auf zu stöhnen, und eine weitere Stunde später war er schon viel ruhiger.

Gregori wankte, als er in seinen eigenen Körper zurückkehrte, und ließ sich auf den Boden fallen, wo er blass und vollkommen entkräftet sitzen blieb. Langsam schüttelte er den Kopf. Die Parasiten vermehren sich genauso schnell, wie ich sie vernichte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihre Anzahl schnell genug verringern kann, um Terry irgendwann ganz von ihnen zu befreien.

Völlig unbefangen öffnete Mikhail mit seinen Zähnen die Vene an seinem Handgelenk und streckte seinen Arm aus. Laras Blick glitt unwillkürlich zu Gregoris Mund, als er ihn über die Wunde legte. Ihr Magen verkrampfte sich, und Donner krachte in ihren Ohren.

Ich werde dir helfen, Gregori, erbot sich Nicolas.

Ich auch, setzte der Prinz hinzu.

Nein! Beide Karpatianer reagierten gleichermaßen heftig.

Das darfst du nicht, Mikhail, sagte Gregori. Wir können nicht riskieren, dass du mit dem verdorbenen Blut in Berührung kommst. Die Parasiten spüren deine Gegenwart auch so schon. Sie schwärmen zu der Seite aus, die dir am nächsten ist, in der Hoffnung, so an dich herankommen zu können.

Aber du wirst uns mit deinem Blut aushelfen müssen, fügte Nicolas nach einem kurzen Blick auf Gregori hinzu.

Der Heiler seufzte, als er sich von Nicolas auf die Beine ziehen ließ. Unser Prinz ist kein Kind mehr, Nicolas, sondern ein erwachsener Mann, dem sehr wohl bewusst ist, dass das karpatianische Volk ohne ihn nicht existieren kann. Wenn ihm etwas zustößt, wird unsere Spezies aussterben. So gern wir auch glauben würden, dass jemand anders deinen Platz einnehmen könnte, Mikhail, weißt du doch ebenso gut wie unsere Feinde, dass das nicht möglich ist.

Nicht unbedingt, hielt Mikhail dagegen. Savannah hat mein Blut in den Adern, und sie erwartet Zwillinge. Auch Raven ist guter Hoffnung und trägt meinen Sohn unter dem Herzen ... obwohl sie wieder Probleme hat.

Wir dürfen trotzdem nichts riskieren. Lucian, Gabriel oder Darius können problemlos meinen Platz als dein Stellvertreter einnehmen, doch es gibt keinen Mann, der deine eigene Position besetzen kann. Eine unüberhörbare Schärfe klang in Gregoris Stimme mit.

Für Lara war es offensichtlich, dass sie diese Diskussion schon oft geführt hatten. Für sie selbst war das Gespräch jedoch sehr interessant, und es half ihr, nicht an die zerfetzte Haut an Mikhails Handgelenk zu denken. Er war mit seiner Zunge darübergefahren, aber sie konnte immer noch Bissspuren und verschmiertes Blut dort sehen. Ihr drehte sich der Magen um, und eine Welle der Übelkeit stieg in ihr hoch. Auch ihre Körpertemperatur sank plötzlich.

Da ist immer noch mein Bruder Jacques. Mikhails Stimme war leiser geworden, und die gleiche Schärfe wie in Gregoris schwang darin mit.

Der seinem eigenen Kopf ohne den seiner Gefährtin noch immer nicht vertraut. Du darfst kein Risiko eingehen, Mikhail. Gregori warf ihm einen bösen Blick zu. Mach mir deswegen nicht schon wieder Kummer, Papa.

Mikhail verschluckte sich fast bei Gregoris letztem Wort und machte einen Schritt auf seinen Stellvertreter zu, der auch der Seelengefährte seiner Tochter war. In dem Moment verzerrte sich Terrys Gesicht zu einer bösartigen Fratze, und Speichel lief ihm übers Kinn, als er sich knurrend auf den Prinzen warf. Gerald packte ihn an den Schultern, um ihn zurückzuhalten, aber Terry, der erstaunlich stark war für einen so schwer verletzten Mann, setzte sich mit aller Kraft zur Wehr und holte mit seinen schon zu Krallen verformten Händen nach Mikhails Augen aus.

Nicolas schwenkte seine Hand im selben Augenblick wie Gregori, und Lara flüsterte einen Schutzzauber, während ihre flinken Hände schnell ein kompliziertes Muster woben. Terry prallte gegen eine unsichtbare Barriere, doch er verdrehte die Augen und rammte seinen Schädel immer wieder gegen den unsichtbaren Schild, der jetzt den Prinzen schützte.

Gerald stürzte ihm nach und versuchte, ihn unter Kontrolle zu bringen, aber Terry, noch immer knurrend wie ein tollwütiges Tier, versetzte ihm einen Fausthieb ins Gesicht, der Gerald auf das Bett zurückwarf, und schlug wieder mit dem Kopf gegen die unsichtbare Wand, um an Mikhail heranzukommen.

Lara drang in Terrys Bewusstsein ein, um ihn zu beruhigen. Sanft rührte sie seinen Geist an und setzte ihre ganze Willenskraft ein, um ihn zu beruhigen. Aber sofort reagierte eine wütende Horde Parasiten auf ihre Gegenwart. Sie wanden sich und zappelten in einem Anfall wilder Gier. Gerade war sie noch in Terrys Kopf, und im nächsten Moment schon war sie wieder draußen, hinausgeworfen von dem harten Stoß eines Mannes, der sie schlagartig aus Terrys Geist entfernte.

Sie fuhr herum und funkelte Nicolas böse an, denn allmählich erkannte sie seine Berührung. Er gönnte ihr jedoch keinen Blick, weil seine ganze Aufmerksamkeit sich nur darauf konzentrierte, den völlig außer Rand und Band geratenen Terry zu bezwingen. Lara blickte zu Gregori hinüber. Der Heiler hielt Mikhail an die Wand gedrückt, aber sein konzentrierter Gesichtsausdruck verriet, dass er bei Nicolas war und ihm half, Terry zu bändigen.

Der lag jetzt wieder auf dem Bett, mit unsteten, verdrehten Augen, aber sein Körper jedenfalls war ruhig und wehrte sich nicht länger. Langsam ließ Lara den angehaltenen Atem entweichen. Gregori machte Mikhail ein Zeichen zu gehen, doch der warf ihm nur einen kurzen Blick zu, an dem deutlich zu erkennen war, dass er nichts dergleichen vorhatte.

»Mach dich an die Arbeit!«, befahl Mikhail.

Gregori zuckte die breiten Schultern, und wieder bündelte er heilende Energie und drang in Terrys Körper ein.

»Was geht hier eigentlich vor?«, fragte Gerald, als er vom Bett stieg und um den karpatianischen Heiler herum auf Lara zuging.

Doch blitzschnell stellte Nicolas sich ihm in den Weg. »Du hast überall Blut am Hemd. Du solltest besser duschen gehen.«

»Er hat recht, Gerald«, stimmte Lara zu. »Es ist sicherer, wenn du dich gründlich wäschst. Und verbrenn deine Kleider. Alles, was du heute getragen hast.«

Gerald blieb stehen, warf einen Blick auf Terry, riss die Tür auf und rannte über den Gang zu seinem Zimmer.

Lara lehnte sich an die Wand und beobachtete, wie Nicolas Gregori zu Hilfe kam und beide mit vereinten Kräften versuchten, der Parasiten Herr zu werden und Terrys Leben zu retten. Und es war nicht nur ein Kampf um sein Leben, sondern auch um seine Seele. Die Parasiten arbeiteten fieberhaft daran, ihn sich zu eigen zu machen, seinen Körper und Geist in Besitz zu nehmen und ihn auf Geheiß ihres Herrn und Meisters zu verwandeln.

Aber auch die Karpatianer arbeiteten unentwegt, um ihn zu retten. Die Zeit verstrich. Beide wurden immer blasser, bis sie schließlich völlig grau im Gesicht waren und ermattet neben Terry auf das Bett sanken. Mikhail öffnete in aller Ruhe noch einmal die Vene an seinem Handgelenk und bot sie Nicolas an.

Lara gab sich alle Mühe, das leuchtend rote Blut nicht anzusehen, nicht hinzuschauen, als Nicolas den Arm des Prinzen ergriff, sich darüberbeugte und Mikhails Lebenskraft in sich aufnahm, aber sie war so fasziniert, dass sie den Blick nicht abwenden konnte.

Ihr eigenes Handgelenk begann zu brennen. Selbst ihre Lungen brannten, und sie fröstelte, weil ihre Körpertemperatur so stark gesunken war, obwohl sie alles tat, um sie zu regulieren und wiederherzustellen. Die Wände um sie verbogen sich und nahmen einen bläulichen Schimmer an. Lara hielt den Atem an und versuchte, sich auf die Wand über dem Prinzen zu konzentrieren, aber ihr Blick – und Geist – wurden immer wieder zu dem Anblick des über seinen Arm rinnenden Blutes zurückgezogen, das auf Nicolas’ Finger und dann auf den Boden tropfte.

Ihr drehte sich der Magen um, und verzweifelt sah sie auf Terry. Doch auch das war ein Fehler, denn nun stellte sie sich die Parasiten vor, die durch seine Blutbahn zu seinen Organen ausschwärmten, einen massiven Angriff starteten und mit dem Heiler und Nicolas um den Besitz des Körpers rangen.

Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Terrys Gesicht veränderte sich vor ihren Augen, seine jungenhaften Züge verwandelten sich, bis es die eines unbestreitbar gut aussehenden Mannes waren, mit funkelnden türkisfarbenen Augen und pechschwarzem Haar, das mit silbernen Strähnen durchsetzt war und ihm in die Stirn fiel. Die Augen suchten ihren Blick.

Lara stockte der Atem, als sie die Qual darin sah, das schmerzhafte Bewusstsein, den ohnmächtigen Zorn und eine Furcht, die so groß war, dass sie den ganzen Raum ausfüllte. Und die Wände, als wären sie außerstande, solche Schrecken in sich zu bergen, wölbten sich nach außen.

Lauf, Lara! Lauf und versteck dich! Sie hörte das Schluchzen in der Stimme des Mannes, das maßlose Entsetzen.

Nicolas fand sich, zitternd vor Kälte, in einer ganz aus Eis bestehenden Kammer wieder. An eine Wand gekettet, Arme und Brust brennend von mit ätzendem Vampirblut bedeckten Kettengliedern, rang Razvan darum, die Kontrolle über seine eigene Seele zu behalten. Seine Augen waren aufgewühlt vor Schmerz, sein schwarzes Haar ganz silbern schon von den erlittenen Qualen.

Lara. Die flüsternde Stimme war voller Liebe, aber auch geprägt von Angst und bitterer Verzweiflung. Lauf meine Kleine. Er kommt, und ich kann dich nicht beschützen.

Nicolas fühlte ein Entsetzen in sich erwachen, das ihn zu ersticken drohte. Als er den Kopf wandte, um einen Blick in die Ecke zu werfen, sah er, dass das kleine Mädchen diesmal älter war. Vielleicht vier oder fünf. Sie kauerte zitternd an der Wand, Tränen liefen ihr übers Gesicht, und ihr Herz schlug so laut, dass er es über seinen eigenen schnellen Herzschlag hören konnte.

Schleppende Schritte näherten sich von hinten. Nicolas fuhr herum und sah eine scheußliche Kreatur, die halb Gerippe war, halb Mann, in ihre Richtung kommen. An einigen Stellen hing ihm die Haut schon von den Knochen, während sie an anderen noch straff und fest war. Alles Fleisch war jedoch verrottet und verfault. Ein paar lange Strähnen grauen Haares hingen büschelweise von seinem kahlen Schädel. Er hatte einen fransigen, ihm bis zur Brust reichenden Bart, in dem es nur so wimmelte von Ungeziefer. Seine zu Krallen verformten Hände endeten in langen gelben Nägeln. Verfaulte schwarze Zähne offenbarten sich bei einem makaberen, bösen Grinsen. Die Augen in dem, was von seinem Gesicht noch übrig war, waren jedoch lebhaft und glühten geradezu vor Wahnsinn.

Nicolas’ Furcht verschärfte sich, bis auch sein Herz in banger Erwartung fast schmerzhaft hart gegen seine Rippen schlug und seine Lungen brannten. Mühevoll rang er nach Atem.

Nicolas! Mikhails scharfe Stimme befahl ihm, in die Gegenwart zurückzukehren. Beruhige dich, kleine Schwester! Du bist in Sicherheit, fügte der Prinz in sanfterem Ton hinzu, um Lara die Furcht zu nehmen.

Nicolas kannte nur einen Weg, um seine Seelengefährtin vor ihren albtraumhaften Erinnerungen zu bewahren, vor diesen Rückblenden, die in der Enge des Hotelzimmers mit immer schärferen Bildern wiederkehrten. Er hob sie auf seine starken Arme, drang ganz und gar in ihr Bewusstsein ein und übernahm dort die Kontrolle. Sie hatte Drachensucher-Blut in ihren Adern und war zweifelsohne in der Lage, sich mit seiner Hilfe zu verwandeln. Mit diesem Gedanken löste er sich und sie in feinen Dunst auf und brachte sie aus dem Zimmer, aus dem Gasthof und in die frische, saubere Nachtluft hinaus.