7. Kapitel
Der Raum, in dem sich der Teich befand, war noch schöner, als Lara ihn in Erinnerung hatte, mit seinen verschiedenfarbigen Edelsteinen und Kristallen und dem glitzernden Wasserfall, dessen Tropfen wie Tausende vom Himmel fallender Diamanten waren. Aber die Schönheit und Wärme der Höhle gaben ihr nicht mehr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Ein Käfig war ein Käfig, egal wie schön er war. Da waren ihr die gletscherblauen, kalten und öden Eishöhlen noch lieber, weil sie dort zumindest wusste, was sie erwarten konnte.
Sie befeuchtete die Lippen und nahm sich zusammen. Ja, sie hatte viel karpatianisches Blut in ihren Adern und bekam höllische Sonnenbrände – was ein großer genetischer Nachteil war -, aber sie war keine reinblütige Karpatianerin wie Nicolas. Sie war keine Jägerin, die seit Jahrhunderten getötet hatte, und sie lief auch nicht Gefahr, zu einem Vampir zu werden, wie er. Was bedeutete, dass sie nur noch etwas länger ausharren und warten musste. Die Schutzzauber am Eingang bereiteten ihr keine Sorgen, denn sie war eine hochbegabte Magierin und hatte sehr gut aufgepasst, als er die Fäden für seine Schutzzauber gewoben hatte.
Nun suchte sie nach einem ungefährlichen Gesprächsthema, das ihn davon abhalten würde, ihr Bewusstsein anzurühren und ihre Pläne zu entdecken. »Hast du den Prinzen gesehen? Hat er dir gesagt, wie es Terry geht?«
»Ich habe mit Gregori, dem Heiler, gesprochen, und er sagte, dein Freund habe eine gute Überlebenschance. Das würde er nicht sagen, wenn es nicht so wäre.«
»Gregori schaut weniger wie ein Heiler aus als jeder andere, den ich mir vorstellen könnte.«
»Das kann schon sein. Du hattest solche Parasiten offenbar schon mal gesehen.«
Sie hatte diese Erinnerung mit Nicolas geteilt, sodass ihr keine andere Wahl blieb, als es zuzugeben. Lara nickte. »Xavier hat viel experimentiert und nach Möglichkeiten gesucht, seine Fähigkeit, anderen seinen Willen aufzuzwingen, zu verbessern.« Sie konnte nicht vermeiden, dass es sie kalt überlief. »Seine Kreaturen waren so ausgehungert, dass sie sich oft über seine Befehle hinwegsetzten und Menschenfleisch fraßen.«
»Deine Mutter?«, fragte er leise und in sanftem Ton.
Lara schluckte den Kloß herunter, der sich plötzlich in ihrer Kehle geformt hatte. Jahrelang hatte sie nicht mehr an ihre Mutter gedacht. Sie hatte sich nicht einmal ein Bild von ihr in Erinnerung rufen können oder auch nur die kleinste Einzelheit wie ihre Haarfarbe oder ihren Duft. Sie hatte nicht mal gewusst, dass sie eine Mutter hatte, bis die Parasiten in Verbindung mit Gregoris silbrigen Augen eine lange vergessene Erinnerung hervorgerufen hatten. »Ja, aber ich habe mich erst jetzt wieder an sie erinnert.«
»Sie war Magierin.« Nicolas versuchte nicht einmal, es wie eine Frage zu formulieren.
Lara runzelte die Stirn. Jetzt, da er es gesagt hatte, erinnerte sie sich auch, gehört zu haben, dass ihre Tanten ihre Mutter als Magierin bezeichnet hatten. Warum war ihr das nicht schon früher eingefallen? Warum hatte sie sich nicht daran erinnert, dass ihre Mutter lockiges Haar gehabt hatte? Lara berührte ihr eigenes Haar. Es war bei ihrer Geburt weißblond gewesen, hatte aber schon in sehr jungen Jahren einen eher rötlichen Farbton angenommen. Sie hatte einen Kopf voller Locken gehabt, dichte, federnde Korkenzieherlocken, die fast nicht zu bändigen gewesen waren. Ihre Mutter hatte genau das gleiche Haar gehabt. »Ja, das war sie. Ich erinnere mich noch schwach, wie ich sie an ihren Locken gezogen habe.«
Übelkeit stieg in ihr auf bei der Erinnerung daran, wie ihre Mutter auf dem Eis gelegen hatte und Schwärme von Parasiten über ihren Leichnam hergefallen waren. Lara presste eine Hand vor den Mund und zitterte so heftig, dass sie näher an den warmen Teich herantrat. Das Rauschen des Wasserfalls beruhigte sie so weit, dass sie ein paarmal tief durchatmen und das Thema wechseln konnte. Sie wollte sich nicht mehr erinnern.
»Du warst lange fort. Was hast du heute Nacht getan?« Als du nicht gerade anderer Leute Gedanken beherrschtest und ihnen ihr Blut nahmst, ohne ihre Einwilligung einzuholen. Der Gedanke drängte sich ungebeten in ihr Bewusstsein, und deshalb blieb sie mit dem Rücken zu Nicolas stehen, damit er ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Sie konnte sich nicht einmal auf sich selbst verlassen.
Nicolas war es gewohnt, Gegner zu durchschauen, und im Moment, ob es ihm bewusst war oder nicht, führten sie beide einen Kampf ums Überleben.
»Wir haben heute Abend einen Kriegsrat abgehalten. Die Vampire haben sich gegen uns zusammengeschlossen. Sie versuchen, unsere Spezies zu vernichten. Menschen hätten kaum eine Chance gegen sie. Allein ihnen klarzumachen, dass Vampire existieren, wäre fast unmöglich.«
Laras Herz verkrampfte sich vor Schreck, und trotz ihrer Entschlossenheit, es nicht zu tun, drehte sie sich zu ihm um. »Vampire sind viel zu eitel und egoistisch, um sich zu verbünden. Sie jagen nur dann zu zweit, wenn einer zur Marionette eines anderen geworden ist. Ich weiß, dass das so ist. Meine Tanten haben mir erklärt, was getan werden muss, um Vampire zu töten, falls ich je einem begegnen sollte, und sie haben mir auch gesagt, dass Untote jeden hassen, ihre eigene Spezies mit eingeschlossen. Und dass die karpatianischen Jäger deshalb stets im Vorteil sein werden im Kampf mit ihnen.«
»Ja, so ist es immer gewesen im Laufe der Jahrhunderte«, stimmte Nicolas ihr zu. »Aber heute nicht mehr. Irgendjemand hat einen Weg gefunden, sie zu vereinigen, und uns steht ein langer, bitterer Überlebenskampf bevor.«
Lara fragte nicht, warum er sie nicht ansah, sondern seinen Blick auf das sanft gegen die Felsen plätschernde Wasser im Teich gerichtet hielt. »Xavier?«, fragte sie schaudernd. »Glaubst du, dass er noch am Leben ist? Er war vor zwanzig Jahren schon sehr alt, aber er war auch sehr geschickt darin, sich das nötige karpatianische Blut zu beschaffen, um sein Leben fortzusetzen.«
»Wir glauben, dass er möglicherweise noch lebt und ein Bündnis mit fünf Brüdern geschlossen hat, alle mächtige Karpatianer, von denen wir annehmen, dass sie zu Vampiren geworden sind.«
»Wenn Xavier noch lebt, dann könnten auch meine Tanten noch am Leben sein. Ich muss in diese Höhle.«
Nicolas’ Kopf fuhr hoch, und schwarze Augen begegneten den ihren mit schon fast schmerzhaft intensivem Blick. »Die Höhle ist gefährlich. Dort hineinzugehen wäre äußerst unvernünftig. Wenn deine Tanten noch am Leben wären, wüssten wir es. Sie würden die Fähigkeit besitzen, unsere Leute zu Hilfe zu rufen.«
»Wenn das so wäre«, versetzte Lara sarkastisch, »hätten sie es schon getan, als ich noch ein Kind war. Aber Xavier hielt sie in einem so schwachen, kranken Zustand, dass sie gar nicht in der Lage dazu waren.«
»Wer die Höhle von innen kennt, hat zwei ganz in Eis eingeschlossene Drachen gesehen – tote Drachen, Lara.«
Ihr wurde übel, und sie presste eine Hand an ihren Magen. »Xavier hielt sie immer in Eis eingeschlossen. Er fror seine Blutvorräte ein. Raffiniert, was?«, sagte sie bitter. »Weißt du, was für Schmerzen jemand, der eingefroren war, beim Auftauen durchmacht?«
Nicolas’ Stimme war nun viel sanfter. »Lara, ich verspreche dir, selbst in die Eishöhle hineinzugehen und nachzusehen, aber für dich ist es das Beste, dich von ihr fernzuhalten. Xavier hat Schutzzauber hinterlassen – gefährliche, zu denen unter anderem auch Schattenkrieger gehören. Es wäre Selbstmord, wenn du in die Höhle gehen würdest.«
Lara presste die Lippen zusammen. Was nutzte es, mit ihm zu streiten, wenn sie ohnehin vorhatte zu verschwinden? Natürlich würde sie in die Höhle gehen. Sie konnte nicht anders. Ihre Tanten hätten niemals freiwillig aufgehört, nach ihr zu suchen, und sie würde sich auch nicht von Gefahren davon abhalten lassen, gerade den Ort aufzusuchen, der ihre Leichen und vielleicht auch nur Hinweise auf ihren Verbleib enthalten würde.
Sie schaute sich um und suchte nach einem unverfänglichen Gesprächsthema – und wenn auch nur, um überhaupt etwas zu sagen. In dem angrenzenden Raum konnte sie die Ecke des Bettes sehen, ein massives, altmodisches Bett mit einem reich geschnitzten Kopf- und Fußteil. Aber sie wollte weder in dieses Zimmer gehen noch seine Existenz zur Kenntnis nehmen, weil sie jetzt schon spüren konnte, wie die Spannung in der Höhle zunahm.
Lara sah Nicolas unter halb gesenkten Wimpern hervor an und entfernte sich ein wenig mehr von ihm. Irgendwie schien er den ganzen Raum auszufüllen, obwohl gerade dieser ziemlich groß war und hohe Decken hatte. Es war unmöglich, die prickelnde erotische Anziehung zwischen ihnen nicht wahrzunehmen. Nicolas war zu attraktiv, zu sinnlich, und seine Bewegungen – die Art, wie er beispielsweise von absoluter Reglosigkeit blitzschnell in Aktion treten konnte – einfach viel zu sexy. Macht verriet sich in der Geschmeidigkeit seines Körpers und in jeder Linie seines Gesichts. Seine glutvollen Augen konnten sie schier zerfließen lassen, und wenn er den eindringlichen Blick dieser schwarzen Augen auf sie richtete und ihr seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, hörte ihr Körper auf, ihr selbst zu gehören, und schrie förmlich nach ihm.
Sie hatte versucht, nicht mehr über die Konsequenzen nachzudenken, die es für sie haben könnte, dass er sie zu seiner Seelengefährtin gemacht hatte. Vielleicht hatte sie tief in ihrem Innersten nie wirklich geglaubt, dass er mit ein paar lächerlichen Worten ihr Leben für immer verändern könnte, aber sie spürte die Verbindung zu ihm, ob sie wollte oder nicht – und auf sexueller Ebene war es schlicht beängstigend, was mit ihr geschah. Sich von einer Frau, die kein bisschen interessiert an Männern war, nicht einmal an jenen, die ihre Freunde waren oder die sie kannte, in eine zu verwandeln, deren Körper völlig außer Rand und Band geriet bei einem Mann, den sie nicht einmal mochte, war, gelinde gesagt, ein Albtraum. Eine Katastrophe.
Sie hatte sich geschworen, nie wieder so hilflos zu sein, wie sie es als Kind gewesen war. Sie hatte Jahre ihres Lebens damit verbracht, alles um sich herum zu kontrollieren, um sich niemals wieder so verwundbar zu fühlen. Mit einem unterdrückten Seufzer sah sie sich in der Höhle um. Zwanzig Jahre später, und sie war wieder dort, wo sie begonnen hatte, nur dass es diesmal ihr eigener Körper war, der sie verriet.
»Hör auf, dich so vor mir zu fürchten, päläfertiil. Ich werde mir nichts nehmen, was du mir nicht geben willst.«
In dem flackernden Kerzenlicht sah er fast ein bisschen wölfisch aus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wünschte, ihr Blick würde nicht so an seinem harten, maskulinen Körper hinuntergleiten – und dass er nicht einen so wissenden Ausdruck im Gesicht hätte. Er war ein Karpatianer, dessen wache Sinne ihm verraten mussten, wie erregt sie war ... und wahrscheinlich konnte er auch ihre Angst riechen, was eigentlich sogar noch schlimmer war.
Ärgerlich schob sie das Kinn vor. Wenn er ihre Angst riechen konnte, was nützte es dann schon, sie zu verleugnen? »Du hast mich ohne meine Zustimmung an dich gebunden. Das sagt mir, dass du dir nimmst, was du willst, und es dich gar nicht weniger kümmern könnte, was ich will oder empfinde.«
»Bist du sicher, dass es das ist, was es dir sagt?«
Sie konnte nicht umhin, einen kurzen Blick zu dem Tunnel zu werfen, der in die Freiheit führte. Er war nur wenige Meter entfernt, aber es hätten genauso gut auch Meilen sein können. »Du brauchst gar nicht so herablassend zu tun. Glaubst du wirklich, die Dinge wären heute noch genauso wie damals, als du geboren wurdest? Wie lange ist das her, fünfhundert Jahre?«
Seine weißen Zähne blitzten auf, doch es war kein Lächeln, sondern mehr eine Warnung. »Du hast dich um ein paar Jahrhunderte vertan, meine Liebe, aber ich verstehe schon, was du meinst. Wir haben das Recht, unsere Seelengefährtinnen an uns zu binden, und wenn du nicht gegen das Unvermeidliche ankämpfst, wird der Übergang viel leichter sein.«
Laras Augenbrauen fuhren in die Höhe. »So? Für wen denn? Ich müsste doch auch ein paar Rechte haben in dieser Situation. Es gibt sicher jemanden, von dem ich mich beraten lassen kann? Von Prinz Mikhail vielleicht.«
Die Spannung in der Höhle stieg noch weiter an. Nicolas’ Ausdruck veränderte sich nicht, aber winzige rote Lichter flackerten in den Tiefen seiner Augen auf. »Wenn du etwas wissen willst, brauchst du nur mich zu fragen. Seelengefährten belügen einander nicht.«
»Du hast gesagt, du würdest mich nicht zu einer Gefangenen machen, und doch hast du es getan. Du hast mir den Weg aus der Höhle beschrieben, aber dann hast du mir nicht erlaubt, ihn zu benutzen.«
Nicolas löste sich aus seiner starren Haltung, und mit dem Spiel der ausgeprägten Muskeln unter seinem dünnen Hemd erinnerte er Lara an eine Raubkatze, die sich streckte und die Krallen ausfuhr. Lara stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte, und trat sogar einen Schritt zurück, obwohl Nicolas sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
»Die Sonne würde dir die Haut verbrennen. Erwarte nicht von mir, dass ich dir nur einer unbegründeten Angst wegen erlaube, dich zu verletzen. Das ginge gegen meine Natur.«
»Ich glaube nicht, dass du etwas so Fundamentales wie Freiheit verstehst, Nicolas«, gab sie zurück. »Du bist groß und stark und verfügst über enorme Macht. Hat dir überhaupt schon mal jemand vorgeschrieben, was du zu tun hast? Ich kann mir nicht vorstellen, dass viele Leute in deinem Leben versucht haben, dir Vorschriften zu machen.«
»Das kann man nicht vergleichen«, erwiderte er seufzend. »Ich habe so etwas noch nie tun müssen, und du kannst mir gern glauben, dass es nichts ist, was mir Freude macht. Ich hasse grundlose Streitereien, Lara. Doch ich kann nicht zulassen, dass du dir aus purem Trotz die Haut versengst. Was für ein miserabler Seelengefährte wäre ich denn dann? Wäre dir wirklich jemand lieber, den deine Gesundheit und Sicherheit nicht im Geringsten interessieren?«
»Du sagtest, Seelengefährten belügen einander nicht. Kannst du wirklich behaupten, dass du mich gezwungen hast zu bleiben, weil du dir Sorgen um meine Haut machst, oder war der wahre Grund dafür nicht vielmehr, dass ich es gewagt hatte, mich über deine Anweisungen hinwegzusetzen?«
Daraufhin regte er sich endlich, mit einer fließenden, geschmeidigen Bewegung, bei der es Lara eiskalt über den Rücken lief. Er sah aus wie eine eingesperrte Dschungelkatze, wild, gereizt und überaus bedrohlich. »Ich weigere mich, eine solche Frage zu beantworten. Ich habe dir mein Bewusstsein geöffnet und dir alles zu sehen erlaubt, einschließlich meiner Motivation. Mehr gibt es zu diesem Thema nicht zu sagen.«
Lara holte tief Luft, als sie seinen dicht unter der Oberfläche schwelenden Ärger spürte, aber sie brachte es nicht über sich, sich zu entschuldigen, ja, nicht einmal, ihn zu beruhigen und in dem Glauben zu lassen, sie fände sich mit ihrem Schicksal ab.
Nicolas brach als Erster das Schweigen. »Du hast noch nichts gegessen.«
»Ich habe eigentlich auch keinen Hunger. Es ist eine lange Nacht gewesen.« Sie erschrak, sobald die Worte über ihre Lippen gekommen waren, da sie auf keinen Fall wollte, dass er vorschlug, gleich zu Bett zu gehen.
»Du weißt, dass du Blut brauchst, Lara. Du hast zu viel von der Spezies der Drachensucher, um ohne Blut überleben zu können. Wenn es dir schwerfällt, es von einem Menschen anzunehmen, wie regelst du das dann? Tierblut reicht nicht aus, das weiß ich.«
Lara zuckte die Schultern. »Es gibt Blutbanken. Ich brauche nicht Menschen dafür zu manipulieren, als wären sie Marionetten.« Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und begann, auf und ab zu gehen, um ein wenig Abstand zu ihm zu gewinnen.
Aber er schien überall zu sein, und seine Gegenwart ließ alles andere klein erscheinen. Als er schließlich stehen blieb, verharrte er so regungslos, dass sie den Jäger in ihm sehen konnte. Geduldig. Wie aus Erz gegossen. Abwartend. Und er konnte für immer warten. Panik erfasste sie, doch sie unterdrückte sie schnell wieder. Nein, Nicolas schien nur unbesiegbar, genau wie Razvan und Xavier, die ihr allmächtig erschienen waren, als sie ein Kind gewesen war. Aber sie war ihnen entkommen, obwohl sie es für unmöglich gehalten hatte, und sie konnte auch diesem Mann entkommen. Sie durfte nur nicht aufhören nachzudenken; sie musste sich konzentrieren.
Nicolas verschränkte die Arme vor der Brust. »Ohne Blut sterben wir. Ist es nicht besser, uns zu nehmen, was wir brauchen, ohne den Menschen zu erschrecken, und ihn dann ohne Erinnerung daran zurückzulassen, dass wir sein Blut genommen haben, als jemanden unnötig zu quälen?«
Laras Haar knisterte vor Energie, und ihre Augen waren blau wie Aquamarin geworden, erkannte Nicolas, als sie zu ihm herumfuhr. »Der Bauer hatte Angst. In dem winzigen Moment, bevor du in sein Bewusstsein eingedrungen bist, habe ich seine Angst gespürt. Und vorhin auf der Straße, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind, hast du nicht einmal versucht, mich nicht wissen zu lassen, was geschah, als du mein Blut nahmst.« Ihre Hand glitt zu ihrem Gürtel, zu dem Messer dort, ihrer einzigen Waffe, falls Nicolas sie noch einmal angreifen sollte. Es war ein beruhigendes Gefühl, das kühle Heft der Waffe unter ihrer Hand zu spüren.
»Man kann nicht beides haben, Lara. Entweder willst du, dass ich seine Gedanken kontrolliere und ihn vor Furcht bewahre, oder du willst, dass ich mich einfach bloß ernähre, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was der Spender fühlt.«
»Warum gehst du nicht zu einer Blutbank?«
Er setzte sich auf einen Felsen neben dem Teich. »Die Antwort darauf kennst du schon. Dieses Blut wirkt bei uns nicht. Wir können damit überleben, aber nicht gedeihen. Ich bekämpfe Vampire und muss jederzeit über meine volle Kraft verfügen können. Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?«
Lara fuhr sich nervös mit beiden Händen durch das Haar. »Ich weiß es nicht. Etwas anderes, Respektvolleres. Menschen sollten nicht einfach so als Nahrungsquelle missbraucht werden. Sie haben Gefühle. Wir sind nicht nur hirnlose Marionetten.«
»Du bist nicht menschlich.«
Lara schob das Kinn vor. »Ich mag zwar einen Mischmasch von Blut in meinen Adern haben, wie es übrigens auch bei den meisten anderen Menschen ist, aber ich denke zweifelsohne wie ein Mensch. Ich weiß, wie es war, gefangen gehalten und hinausgeschleppt zu werden, damit mir jemand das Fleisch aufreißen und das Blut aussaugen konnte. Ihnen war es egal, wie verängstigt oder angeekelt ich war. Es kümmerte sie nicht, was ich dachte oder empfand. Ich kümmerte sie genauso wenig, wie dich dieser Bauer vorhin kümmerte.«
Nicolas’ dunkle Augen glitten über ihr Gesicht, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen. »Sollte unsere Spezies ihr Leben aufgeben, weil wir das Blut anderer nicht ohne deren Einwilligung nehmen sollten? Wir sind vorsichtig und respektvoll.«
»Mir kam das nicht sehr respektvoll vor.« In Gedanken gab sie sich einen Tritt dafür. Was sollte dieses Streitgespräch, wenn sie ihn doch eigentlich hinters Licht führen und überlisten wollte? Sie musste ihn ablenken, Smalltalk mit ihm halten, mit honigsüßer Stimme, vielleicht sogar ab und zu etwas Humorvolles einwerfen ... kurz, sich aller Tricks bedienen, die sich als so wertvoll für sie erwiesen hatten, als sie aufgewachsen war. Gespräche lenkten die anderen ab.
Konfrontationen dagegen machten sie unruhig und warnten sie, dass sie es mit jemandem zu tun hatten, der Macht besaß. Außerdem reagierte ihr Körper auf ihre Stimmungen. Die Pflegefamilien, bei denen sie aufgewachsen war, hatten sich alle irgendwann unwohl gefühlt mit einem Kind, dessen Haar- und Augenfarbe wechselten, wenn es verärgert war. Sie nahm es ihnen nicht übel, dass sie angenommen hatten, sie sei ein Kind des Teufels; viele von ihnen waren abergläubisch gewesen, und wenn sie ehrlich sein sollte, war sie ja auch ein Kind des Teufels ... oder zumindest doch die Ururenkelin des Teufels.
Nicolas griff nach ihrer Hand. Seine Handfläche legte sich über die ihre – Haut an Haut. Ihr Magen machte einen Satz, als seine Finger sich um ihre legten, und ihr Herz wollte sich schier überschlagen. Sie holte tief Luft, blickte zu ihm auf und fühlte sich sofort gefangen – gefesselt -, wie hypnotisiert von der Heftigkeit in seinem Blick. Er drehte ihre Hand um und legte sie an seine Brust.
»Ich habe Hunderte von Jahren gelebt, Lara. Ich wurde schon mit der Düsternis in mir geboren, und ich habe sie in jedem Moment meiner Existenz bekämpft, mit nichts anderem als Ehre. Ich versuche nichts zu entschuldigen, ich möchte nur, dass du verstehst. Heute Abend war ich gefährlich nahe dran, der Finsternis in mir nachzugeben, und du hast mich davor bewahrt. Wir sind aneinander gebunden, aber das Ritual ist noch nicht vollendet. Vielleicht war ich bei dem Bauern ein bisschen gröber, als ich wollte, doch wenn ich ihn nicht beruhigt hatte, bevor er etwas merkte, war das keine Absicht.«
Sie befeuchtete die trockenen Lippen. Tief im Innersten, wo ihr Selbsterhaltungstrieb saß, hörte sie sich schreien: »Nein, nein, sei still, lass dich nicht darauf ein!«, aber es war zu spät, die Worte strömten nur so aus ihr heraus. »Da war ein Rausch, den ich spüren konnte, ein Rausch, der dich erfasste, als du den Mann ergriffen hast. Du bist süchtig danach, Nicolas. Es muss ein erstaunliches Gefühl sein, über jemand anderen die absolute Macht zu haben, für diesen einen Moment ein Leben in deiner Hand zu halten und die Entscheidungen dafür zu treffen.« Sie schob das Kinn vor und entzog ihm ihre Hand. »Vielleicht war es ja das, was dich in all den Jahren aufrechterhalten hat, und nicht die Ehre.«
Von jäher Wut erfasst, trat Nicolas zurück. Als er Laras Bewusstsein anrührte, wich er entsetzt zurück und entfernte sich ein paar Schritte, obwohl er sie am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. Wie konnte sie es wagen, seine Jahrhunderte des treuen Dienstes so einfach zu verwerfen, seinen Kampf gegen die Finsternis, die sich sein ganzes Leben lang tagtäglich wie ein Monster in ihm erhob? Schlimmer noch – was für eine Art von Seelengefährtin würde ihren Gefährten verwundbar und hilflos allein lassen, und das aus rein egoistischen Überlegungen, die weder logisch noch vernünftig waren? Er konnte ihren Plan so klar und deutlich sehen wie seine eigene Hand vor Augen – sie wartete nur darauf, dass ihn der tiefe Schlaf seiner Spezies übermannte, um zu gehen und ihn allein und ohne Schutzzauber in seiner Höhle zurückzulassen.
Er war schon seit Jahrhunderten nicht mehr in Wut geraten, aber jetzt stieg sie in ihm hoch, eine schwarze Wand aus unkontrollierbarem Zorn. Niemand stellte seine Autorität infrage, und niemand hatte je an seiner Integrität gezweifelt. Und sie hatte innerhalb weniger Momente beides getan.
Seine schwarzen Augen loderten vor Zorn, der Atem entwich ihm in einem langen, scharfen Zischen. »Du denkst daran, mich zu verlassen, sowie ich dem tiefen Schlaf meines Volkes erliege? Das würdest du tun? Mich schutzlos und ohne magische Barrieren hier zurücklassen, obwohl du weißt, dass ich mich überhaupt nicht zur Wehr setzen könnte, wenn ich gefunden würde? Du weißt, was meine Feinde tun würden, wenn sie meinen Körper fänden, und trotzdem würdest du mich derart hintergehen?«
Die Wellen des Zorns, die von ihm ausgingen, überschwemmten Lara und ließen sie vor ihm zurücktaumeln. Er sah jetzt wirklich wie ein Wolf aus, mit seinen gebleckten Zähnen und dem harten, grausamen Zug um seinen Mund. Es gab kein Erbarmen in ihm für seine Feinde, und als er gesehen hatte, dass sie vorhatte, ihn Gefahren auszusetzen, war sie zu seiner Feindin geworden.
Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, aber sie unterdrückte ihn, drehte sich auf dem Absatz um und rannte los – wohin, wusste sie selbst nicht. Sie wusste nur, wenn sie blieb, würde die volle Wucht seines Zornes sie treffen, und er sah ganz so aus, als könnte er sie umbringen.
Schnell wie ein Löwe, der keine Mühe hatte, seine Beute einzuholen, war er bei ihr, riss sie zurück und drehte sie zu sich um. Lara warf ihren freien Arm hoch, um sich vor Schlägen zu schützen, die jedoch ausblieben. Stattdessen packte Nicolas sie an den Oberarmen und schüttelte sie einmal hart. »Ich schlage keine Frauen. Aber wenn eine es verdient hätte, wärst du es.«
Indem er noch immer fest ihren Arm umklammerte, zog er sie durch den großen Höhlenraum zu der kleineren Kammer, in der das breite, altmodische Bett prangte. Das wilde Pochen ihres Herzens dröhnte beiden in den Ohren. Er warf sie auf die Matratze und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte schwarze Haar.
»Fass mich ja nicht an!«, zischte Lara und kroch zu der am weitesten entfernten Ecke vor dem Kopfteil.
Nach einer blitzschnellen Bewegung, die sie nur verschwommen wahrnahm, stand er jedoch schon wieder vor ihr und zeigte ihr, dass sie nicht entkommen konnte. »Glaubst du, ich könnte dich nicht dazu bringen, mich zu wollen? Du bist meine Seelengefährtin. Dein Körper reagiert auf meinen, ganz gleich, was dein lächerlicher Mund auch sagen mag.« Der Zorn in seinen Augen wich einem abschätzenden Blick. »Willst du deine Macht mit meiner messen? Ich könnte mir deinen Körper schnell gefügig machen, dann würdest du mich Tag und Nacht begehren. Vielleicht würde es unser beider Leben ja vereinfachen.«
Lara, die das sofortige Prickeln ihres Körpers spürte, der mit ungeahnter Heftigkeit nach Nicolas verlangte, war entsetzt. Sie brannte von Kopf bis Fuß vor Verlangen, allein schon der Intensität seines Blickes und des leisen, verführerischen Tonfalls wegen, den er benutzte, so als berührte er bereits ihre nackte Haut mit seinen Händen und seinen Fingerspitzen. Sie hegte nicht den kleinsten Zweifel, dass er sie sich hörig machen konnte und sie dann nichts weiter als eine Marionette an seiner Seite wäre. Er war so grausam, ein richtiges Monster, nur eben in der Gestalt eines gut aussehenden Mannes.
Ihr Messer an ihrer Hüfte zu spüren, war ein beruhigendes Gefühl. Entweder er oder sie. Sie suchte nach einem Weg, ihn zu entwaffnen und die Spannung zwischen ihnen aufzulockern. Ihr Plan war immer noch sehr gut, wenn sie Nicolas nur noch etwa eine Stunde länger ruhig halten konnte. Die Sonne musste bereits ziemlich hoch am Himmel stehen, denn auch sie fühlte sich schon ein bisschen träge. Egal wie mächtig er war, er konnte nicht für immer wach bleiben. Irgendwann würde er sich in die Erde begeben und schlafen müssen.
»Ich hatte nicht vor, dich ohne Schutzzauber allein zu lassen.«
»Deine Schutzzauber dürften jedem Vampir und Magier von hier bis zur Sonne und zurück bekannt sein. Und versuch ja nicht, mich zu belügen. Ich habe nichts davon gesehen, dass du vorhattest, mich während meines Schlafes zu beschützen. Du hast nicht einmal einen einzigen Gedanken daran verschwendet.«
Sie wollte seine Anschuldigung zurückweisen, aber er hatte recht, sie hatte an nichts anderes gedacht, als wegzulaufen. Bevor sie es verhindern konnte, packte jetzt auch sie die helle Wut. »Wer beschützt schon den, der ihn gefangen hält? Wer ist jetzt hier unlogisch und unvernünftig? Du kannst nicht beides haben.« Kupferfarbene Strähnen durchzogen auf einmal ihr hellrotes Haar, als sich ihr in hilfloser Wut der Magen umdrehte.
Nicolas’ schwarze Augen glitzerten bedrohlich. Er ergriff Laras Handgelenk und zog sie so ruckartig zu sich heran, dass ihr Umhang vorn aufklaffte und die Messerscheide an ihrem Gürtel sichtbar wurde. Mit einer Hand griff er unter den Stoff, riss das Messer aus der Scheide und schleuderte es durch den Türbogen in den Teich, wo es in das dampfend heiße Wasser platschte und darin unterging.
Lara hatte ein äußerst seltsames Gefühl. Da war ein Teil von ihr, der sich wie ein Fötus zusammenrollen wollte, ein anderer, der verbissen weiterkämpfen wollte, aber auch einer, der auf höchst beängstigende Weise reagierte – mit einem Schauer der Erwartung, der ihr den Magen zusammenkrampfte und ein Flattern und Prickeln in ihrer Mitte auslöste.
»Hast du das getan, damit ich dir das Messer nicht ins Herz stoße, wenn du schläfst?«, schürte sie seinen Ärger, weil sie die samtweiche Verführung in seiner Stimme fürchtete – und das brennende Verlangen, das in seinen Augen schwelte. Sie hatte Angst vor der Reaktion ihres Körpers auf ihn, und mehr als je zuvor befürchtete sie, er könnte ihren Willen brechen.
Nicolas schenkte ihr ein Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte und nicht mehr als ein Aufblitzen von starken, weißen Zähnen war. Ihr sank das Herz, als sie seine verlängerten, spitzen Eckzähne sah. Der Effekt war nur geringfügig, aber er war da. Sie versuchte, sich kleiner zu machen, als er sich neben ihr ausstreckte, doch mit einer seiner großen Hände umfasste er ihr Gesicht und zwang sie, ihn anzusehen und den Blick seiner hypnotischen Augen zu erwidern.
»Du hast schon einmal versucht, mich zu erstechen. Aber dann hast du das Leben für uns gewählt, und ich erwarte von dir, dass du Wort hältst.« Sein Daumen glitt verführerisch über ihre Unterlippe, während er sprach.
Lara riss den Kopf hoch. »Du versuchst, mich einzuschüchtern.«
Ein Ausdruck der Ungeduld huschte über sein Gesicht. »Ich glaube nicht, dass ich mir dazu große Mühe geben muss. Ich habe dir mein Bewusstsein geöffnet, dir vollen Zugang zu meinem Geist erlaubt, dir alles anvertraut, was ich bin, doch du hast deinen Geist vor mir verschlossen, mich abscheulicher Verbrechen beschuldigt und mir von Anfang an misstraut. Ich werde dieser Auseinandersetzung langsam müde.«
Lara hoffte, dass es so war. Dass er ihrer so müde wurde, dass er in die Erde gehen und sie allein lassen würde, damit sie die Flucht antreten konnte. Sie sagte jedoch nichts. Nicolas rutschte näher an sie heran, bis er ihr so nahe war, dass er überall zu sein schien, sie förmlich zu umhüllen schien. Er nahm wieder ihre Hand und streckte seine andere mit der Handfläche nach oben aus. Adern aus Mineralien erschienen in den Zimmerwänden und leuchteten auf, als wären sie glühend heiß. Lara schloss die Augen vor dem jähen, hellen Licht. Dann spürte sie eine Bewegung an ihrem Arm, und etwas Warmes, Schweres schloss sich um ihr Handgelenk. Als sie erschrocken die Augen aufriss, sah sie, dass Nicolas sein Handgelenk in eine zweite Eisenschelle steckte und sie aneinanderkettete.
Lara wurde blass und riss an ihrem Arm. »Was machst du da?« Mit der freien Hand versuchte sie, die eiserne Schelle von ihrem anderen Arm abzustreifen, aber sie saß zu fest.
Nicolas, der etwas vor sich hin murmelte, beachtete sie nicht einmal. Dann spürte sie die aufflammende Macht und wusste, dass er Schutzzauber wirkte und die Handschellen mit Magie verstärkte, sodass sie keine Chance haben würde, sie noch loszuwerden, wenn sie nicht schnell etwas unternahm.
Lara unterdrückte ein Schluchzen und antwortete mit ihrer Magie auf seine. Eisen, das bindet und in Fesseln legt, ich suche zu lösen, was mich gefangen hält. Ich rufe dich, Metall, blende ihn mit Licht und schmiede mir einen Schlüssel, um den Zustand aufzuheben! Macht entflammte, als Minerale aus der Erde sich mit gleißendem Licht verbanden und einen Schlüssel formten.
Nicolas fuhr zu Lara herum, stieß sie auf das Bett und drückte ihre Arme darauf, damit sie nicht die Hände heben und Energie in Muster leiten oder den Schlüssel ergreifen konnte, während er schnell einen Gegenzauber sprach.
Hör auf mit deinen Entfesselungsbemühungen! Ich übernehme deine Energie und mache sie zur meiner.
Der Schlüssel verschwand in einem Aufblitzen von Licht, und sofort begriff Lara, dass sie es mit Nicolas nicht aufnehmen konnte. Er war viele Jahrhunderte alt und sie sehr aus der Übung. Sie hatte vergessen, dass in den alten Zeiten, als er noch jung gewesen war, Magier und Karpatianer ihre Geheimnisse miteinander geteilt hatten. Sie war hilflos, vollkommen in seiner Gewalt, eine Gefangene ohne Aussicht zu entkommen. Mit schmalen Augen blickte sie zu ihm auf und hätte ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen. Aus Angst vor den Folgen nahm sie sich aber zusammen. Er beugte sich zu ihr vor, so weit, dass sie die langen dunklen Wimpern sehen konnte, die seine brennenden Augen beschatteten, und strich mit seinen Lippen über ihren Mundwinkel.
»Du siehst aus wie ein gefangenes Kätzchen, das mir zu gern das Gesicht zerkratzen würde. Aber schlaf jetzt besser, Lara! Wir werden das alles später klären.«
Damit legte er sich zurück, zog sie mit sich, als er sich auf die Seite drehte, schloss die Augen und beachtete sie nicht weiter. Lara hielt den Atem an und wartete, nicht sicher, worauf sie achten musste. Doch es dauerte nicht lange, bis sie es erfuhr. Mit einem einzigen rasselnden Geräusch entwich sein Atem seinem Körper, und Nicolas blieb völlig reglos liegen. Sie war an einen toten Mann gekettet.
Das Zittern begann irgendwo in ihren Beinen und wurde so stark, als es an ihr hinaufkroch, dass sie Angst hatte, Krämpfe zu bekommen. Ihr Herz schlug zu schnell, zu laut, ihre Brust schmerzte, ihre Lungen brannten vor Sauerstoffmangel, und ihr Bewusstsein schrie und protestierte, als sie hilflos auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. Sie war eine Gefangene, ohne Kontrolle, ohne Macht und Mitspracherecht über ihr eigenes Leben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Nicolas Sex von ihr verlangen und sie sich seinen Wünschen beugen würde, weil sie ihren Körper nicht daran hindern konnte, den seinen zu begehren.
Sie erschauderte. Von da an würde er anfangen, ihr Blut zu nehmen. Es lag in der Natur der Karpatianer, beim Geschlechtsakt Blut zu nehmen, und sie hatte mehr als einmal Nicolas’ Wunsch gespürt, es bei ihr zu versuchen. Aber sie wäre lieber tot als hörig und versklavt. Sie könnte gar nicht weiterleben, ohne ihr Leben in der Hand zu haben und selbst bestimmen zu können, was sie tat. Sie konnte sich nicht erlauben, sich als Nahrung benutzen zu lassen oder – was ihrer Befürchtung nach geschehen würde -als Sexspielzeug und Nahrung herhalten zu müssen.
Lara dachte an ihre Vergangenheit, vergegenwärtigte sich die wenigen Erinnerungen, die sie an ihre Kindheit hatte, und wusste, dass sie diese Zeiten nicht noch einmal als Erwachsene durchleben könnte. Sie lag wach, während die Sonne zu ihrem höchsten Punkt anstieg und auch ihr Körper so bleiern wurde, dass sie sich fast nicht mehr bewegen konnte. Als die Sonne unterzugehen begann, probierte sie verschiedene Zauber aus, um sich von der Eisenschelle, die sie an Nicolas band, zu befreien, doch egal, was sie auch versuchte, sie kam nicht gegen seine Zauber an.
Die Augen feucht vor Tränen, blickte sie zu der mit Edelsteinen besetzten Decke auf, ohne sie zu sehen. Da war noch so viel, was sie zu tun versprochen hatte, doch dazu war es zu spät. Ihr wichtigstes Versprechen hatte sie sich selbst gegeben, und sie weigerte sich, irgendetwas anderes auch nur in Betracht zu ziehen. Sie musste einfach nur genügend Mut aufbringen, um den einzigen Ausweg zu nehmen, der ihr noch blieb.
Nicolas erwachte allmählich, tat alle paar Minuten einen kleinen Atemzug und ließ seinen Geist und Körper Frieden in der Stille finden. Lara hatte ihm wehgetan, und er konnte sich nicht erinnern, wann ihm so etwas zum letzten Mal passiert war. Er hatte ja nicht einmal gewusst, dass irgendjemand dazu in der Lage war. Nicolas wusste nur, dass er den Schlaf jetzt eigentlich abschütteln und sich mit Lara auseinandersetzen müsste, doch vorher musste er seine völlig ungewohnten Gefühle in den Griff bekommen. Sie hatte ernsthaft seinen Stolz verletzt, als sie ihm vorgeworfen hatte, süchtig nach dem Rausch der Macht zu sein. Ehre, nicht Sucht, hatte ihn in all diesen Jahrhunderten aufrechterhalten, und diese Ehre war das Einzige, was er ihr zu bieten hatte. Doch selbst die hatte Lara ihm mit ihrer gedankenlosen Beschuldigung genommen.
Er hätte sie erwürgen können, gleichzeitig jedoch war das Bedürfnis, sie zu küssen, ihren Körper mit dem seinen zu beherrschen, in ihm erwacht wie ein furchtbarer Dämon, der von seinem Kopf Besitz ergriffen hatte. Sie hätte froh sein sollen über seine Ehre, denn ohne diese hätte sie sich nackt und stöhnend unter ihm wiedergefunden. Sie schuldete ihm Ehrerbietung und Respekt. Lara war noch so jung und unerfahren in allem, dass sie sich auf seine Weisheit verlassen und ihm vertrauen müsste. Er hatte nur versucht, sie zu beschützen, aber sie versteifte sich darauf, sich wie so viele andere Frauen zu verhalten und dumme und gefährliche Dinge zu verlangen, ohne sie durchdacht zu haben.
Ihm war, als drückte ein Gewicht auf seine Brust, was ein äußerst seltsames Gefühl war in diesem eigentlich schwerelosen Zustand zwischen Schlaf und Wachsein. Seine Handgelenke brannten und schmerzten. Furcht kroch seinen Rücken hinauf und fand den Weg in sein Bewusstsein. Sein Geist reagierte, griff abrupt nach seinem Körper und nahm ihn in Besitz. Nicolas war sofort hellwach.
Er hörte das Geräusch von angestrengtem, flachem Atmen und roch – den Tod. Als er sich bewegte, spürte er Laras eisig kalten Körper an dem seinen, wandte sich ihr erschrocken zu und sah ihr Gesicht, ihre weit offenen, blicklosen Augen, mit denen sie zur Decke aufstarrte, ohne etwas zu sehen. Mit einer schnellen Handbewegung löste er die Eisenschellen auf, um sich vor sie hinknien zu können, und fast blieb ihm das Herz stehen – um ihm dann bis in den Hals zu springen, als er ihren schlaffen Arm ergriff. Ihr Handgelenk war aufgerissen – offenbar hatte sie ganz bewusst versucht, ihr Leben zu beenden. Ihre eigenen Zähne hatten ihr diese klaffenden Wunden beigebracht und ihre Vene geöffnet, sodass ihr Blut bereits am Bett hinunterlief.
Veriak ot en Karpatiiak. Köd alte hän. Beim Blut des Prinzen. Verflucht sei die Finsternis. Was hatte sie getan?
Fluchend hob er ihr Handgelenk an seinen Mund, um die Wunde mit seiner Zunge und seinem heilenden Speichel zu verschließen. Lara! Komm zurück zu mir! Es war ein Befehl. Und er war furchtbar wütend, dass sie so etwas getan hatte.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wusste sie nicht, was passieren würde? Lara! Verzweiflung packte ihn. Sie hatte sich wie ein Wolf verhalten, der in eine Falle geraten war und sich lieber selbst den Fuß abbiss oder sein Leben beendete, als sich gefangen nehmen und einsperren zu lassen. Und er hatte neben ihr gelegen, wütend und selbstgerecht, und die ganze Zeit war sie dabei gewesen, ihrem Leben still und leise ein Ende zu bereiten.
Er nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft, während er seinen physischen Körper ablegte, um in den ihren einzudringen. Sie brauchte Blut. Schnell. Ihr Körper bemühte sich, doch ihr Geist hatte sich schon abgeschaltet, um einen Gehirnschaden zu vermeiden. Hätte sie menschliches und Magier-Blut gehabt, aber kein karpatianisches, wäre sie schon tot.
Er fand ihren Geist, der vor seinem Licht – vor ihm – zurückschreckte. Komm zu mir, o jelä sielamak! Bleib bei mir, Licht meiner Seele!
Seine Arroganz hatte sie dazu getrieben. Er hatte sie nicht als Person, sondern mehr wie sein Eigentum gesehen. Als seine Retterin, sein Besitz, seine Frau, die tun sollte, was er von ihr verlangte. Er war so von sich überzeugt gewesen, sich seiner eigenen Unfehlbarkeit so gewiss. Nicolas de la Cruz, der so sicher war, zu wissen, was das Beste für jedermann war, dass er sogar seinen Brüdern vorschrieb, wie sie ihre Frauen behandeln sollten, denn schließlich war er doch schneller, klüger und an Erfahrung reicher. Und trotzdem hatte er seine eigene Seelengefährtin, die Frau, der er geschworen hatte, sie zu beschützen und glücklich zu machen, dazu getrieben, sich eher das Leben zu nehmen, als sich ihm zu unterwerfen.
Leise, zärtlich und beruhigend sprach er zu ihr, während er ihren Geist umfing und an sich band, um zu verhindern, dass sie sich zu weit entfernte, um sie noch zurückholen zu können. Als sie in Sicherheit war, kehrte er in seinen eigenen Körper zurück.
Er hatte ihr zeigen müssen, wer das Sagen hatte. Er hatte sich Autorität verschaffen müssen wie ein Eroberer, um ihr zu beweisen, dass es gut für sie wäre, auf ihn zu hören. Das war sein Fehler gewesen. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sie kennen- und verstehen zu lernen oder ihr auch nur Anerkennung dafür zu zollen, dass sie ihr Wort hielt. Sie hatte für sie und ihn das Leben gewählt, sich ihm für immer anheimgegeben und ihm vertraut. Und dieses Vertrauen hatte er zerstört – und damit sie und ihn.
Er hatte sie nicht als unabhängige, selbstständige Person mit eigenen Gedanken und Gefühlen gesehen. Seine Familie war mit dem Fluch geschlagen, von allem etwas »zu sehr« zu sein. Zu intelligent. Zu schnell. Zu selbstsicher. Zu finster ... In der Dunkelheit der Höhle, tief unter dem Erdboden, den eiskalten Körper seiner Seelengefährtin in den Armen, gestand Nicolas sich zum ersten Mal die Wahrheit ein.
Er verlängerte seinen Fingernagel und zog ihn über seine Brust, um seine Schlagader zu öffnen. Er konnte Lara nicht einmal versprechen, seine Fehler nicht zu wiederholen, weil die Finsternis, die von Anfang an schon in ihm gewesen war, mit den Jahren noch zugenommen hatte. Selbst in Gegenwart seiner Gefährtin war sie eine lebende, atmende Entität in ihm, die verlangte, dass alle anderen in seiner Nähe sich nach seinen Anweisungen richteten.
Ich werde so gut wie möglich gegen meine Natur ankämpfen, Lara, flüsterte er ihr zu, als er ihren Mund an die kleine Wunde über seinem Herzen drückte. Ich werde alles für dich sein. Komm zurück zu mir und lass mich dir zeigen, dass ich alles sein kann, was du brauchst! Er hatte sich nur Gedanken darüber gemacht, wie sehr sie sich verändern musste, um zu sein, was Nicolas de la Cruz brauchte. Wie hatte er nur so borniert sein können?
Lara reagierte nicht. Weder auf den Geruch seines Blutes noch auf seine liebevollen Worte. Am Ende musste er, wenn auch nur äußerst ungern, zu einem Zwang greifen. Wie könnte sie sich je dazu entschließen, mit jemandem wie ihm zu leben? Und wie könnte er sie vor seiner eigenen Natur beschützen? Selbst jetzt noch, da sie so eindeutig den Tod einem Leben mit ihm vorzog, versuchte er, ihr seinen Willen aufzuzwingen.
Juosz és olen ainaak sielamet jutta! Trink und werde eins mit mir! Lebe mit mir! Ich werde nie perfekt sein, aber alles in meiner Macht Stehende tun, um dich glücklich zu machen. Trink und lebe! Es war ein Befehl – ein mit einem Zwang unterlegter Befehl, in den er alle Macht legte, die er aufzubringen vermochte, weil er Lara nicht gehen lassen konnte. Er wollte, dass sie lebte, und er würde den Rest der Zeit, die ihnen blieb, versuchen, sie davon zu überzeugen, dass er das Richtige getan hatte.
Ihr Mund bewegte sich an seiner nackten Brust, und die unerwartete Reaktion seines Körpers darauf traf ihn völlig unvorbereitet. Die Hitze, die zu Feuer explodierte. Die fast schmerzhafte Erregung, die ihn erfasste. Das Brennen seines Blutes in seinen Adern ... Nicolas warf den Kopf zurück und nahm das Gefühl in sich auf, so tief er konnte, und hielt es fest. Es war der Ruf eines Karpatianers an seine Seelengefährtin. Seine Seele hatte die ihre gerufen, und sie hatte seinen Ruf beantwortet. Ihr Geist und der seine suchten einander, sie brauchten die beständige Nähe zwischen ihnen. Und jetzt rief sein Körper, fest entschlossen, den ihren zu erwecken. Aber wo war sein Herz? Hatte er überhaupt eines? War das ein Teil des Fluchs seiner Familie? Vielleicht hatten sie ja wirklich alle kein Herz – oder auch vielleicht nur er nicht. Obwohl er jetzt gerade, in diesem Augenblick, das Gefühl hatte, als bräche das seine entzwei. Er litt für sich und sie zugleich.
Seine Lebenskraft durchflutete Laras verhungernden Körper; Organe, Gewebe und Hirn griffen instinktiv und gierig nach der Nahrung – nach dem Leben. Nicolas sorgte dafür, dass er ihr nicht nur ausreichend Blut gab, um zu ersetzen, was sie verloren hatte, sondern genug für einen formellen Blutaustausch. Ihren ersten wirklichen Austausch, der auch dringend nötig war. Nicolas musste ein gewisses Maß an Kontrolle finden, um die Düsternis zu bekämpfen, die in den letzten paar Jahrhunderten so stark in ihm geworden war. Seine einzige Befürchtung war gewesen, zum Vampir zu werden, der verabscheuungswürdigsten aller üblen Kreaturen, doch nun, da seine Seelengefährtin Licht in seine Finsternis brachte, hätte er sich vielleicht sogar noch mehr sorgen müssen. Denn ohne den formellen Blutaustausch – selbst nach dem Inbesitznahme-Ritual noch –, bis sie in Körper, Seele und Geist miteinander eins geworden waren, stellte er eine Gefahr für alle dar, insbesondere für Lara.
Nicolas hielt sie fest an seiner Brust in den Armen und wiegte sie noch immer wie ein kleines Kind. Die Sonne war schon vor einiger Zeit untergegangen, und der Abend nahte. Nicolas hatte keine Ahnung, wann sie sich verletzt hatte oder wie lange sie vorher wach gelegen und darüber nachgedacht hatte, es zu tun, denn ihr Geist war weit entfernt von ihrem Körper.
»O jelä sielamak! Licht meiner Seele, komm zurück zu mir!«
Sie begann plötzlich zu zappeln, und sein erster Gedanke war, dass sie ihm unbedingt fernbleiben wollte, aber dann merkte er, dass ihr Geist woanders festgehalten wurde. Sie war auf einem Meer von Blut davongetrieben, und wo auch immer ihr Geist gewandelt war, ob in der Vergangenheit, der Gegenwart oder in der Schattenwelt, steckte sie jetzt in einem Netz fest, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte. Ohne Zögern ließ Nicolas seinen Geist voll und ganz mit ihrem verschmelzen und folgte dem Pfad, um sie zu finden und ins Land der Lebenden zurückzuführen.