5. Kapitel

Während Mikhail sprach, trafen die Brüder Daratrazanoff ein. Alle vier waren große, auffallend gut aussehende Männer mit langem schwarzem Haar, das von Lederriemen zusammengehalten wurde. Sie hatten die gleichen klassischen Gesichtszüge, breite Schultern und schmale Hüften, die aufrechte Haltung eines Kriegers und dessen fließende, geschmeidige Bewegungen.

Darius, der jüngste Bruder, war nicht weniger kampferprobt als der älteste. Intelligent, klug und befähigt, das Unmögliche zu tun. Er hatte die schwarzen Augen der karpatianischen Rasse und den grimmigen Mund, der mit zu viel Wissen um den Tod einherging. Neben ihm standen die legendären Zwillinge Lucian und Gabriel, die jahrhundertelang für das karpatianische Volk gejagt und gekämpft hatten. Gabriel lächelte, als er Nicolas zur Begrüßung die Unterarme drückte. Lucians und Darius’ Mienen blieben unbewegt, aber ihre Augen strahlten aufrichtige Wärme aus, als sie ihren Prinzen begrüßten.

Die sehr zierliche Frau mit dem koboldhaften Gesicht, dem kurzen, platinblonden Haar und den klugen dunklen Augen, die an Lucians Seite stand, war seine Seelengefährtin Jaxon. Sie war Polizistin gewesen – oder war es vielleicht immer noch, aber heute jagte sie mit ihrem Gefährten auch Vampire. Nicolas stimmte ganz und gar nicht mit der modernen Ansicht überein, dass Frauen – nicht einmal gut trainierten Frauen, die kämpfen konnten – erlaubt werden sollte, sich in Gefahr zu bringen. Aber Jaxon war nicht seine Gefährtin, sondern Lucians, ihres berühmtesten Kriegers, der ihr nun mal erlaubte, mit ihm in den Kampf zu ziehen. Vielleicht war es pure Arroganz seitens des Kriegers, ein übersteigertes Selbstvertrauen, seine Seelengefährtin in jeder Situation beschützen zu können, doch Nicolas war der Meinung, dass Jaxon genau wie alle anderen Frauen von den bösartigen Kreaturen, die die Untoten waren, ferngehalten werden müsste.

Frauen sollten beschützt und verehrt, aber gewiss nicht auf einem Schlachtfeld Gefahren ausgesetzt werden. Ein Jäger konnte sich nicht darum kümmern, seine Gefährtin zu beschützen, wenn er den Vampir bekämpfte. In früheren Zeiten gaben die meisten fürs Leben verbundenen Paare die Jagd ganz auf, anstatt zu riskieren, beide dabei umzukommen. Es war einer der Hauptstreitpunkte zwischen den Brüdern de la Cruz und Malinov und Vladimir Dubrinsky. Selbst damals war die Geburtenrate schon stark gesunken. Keiner von ihnen war der Ansicht gewesen, dass Frauen erlaubt werden sollte zu kämpfen, weil sie nicht die Härte ihrer Männer besaßen. Was nichts mit Kraft zu tun hatte – aber sehr viel mit der Düsternis, die den männlichen Karpatianern innewohnte.

Nicolas verbarg seine wahren Gefühle jedoch hinter einer ruhigen Fassade, als er Gregori, den vierten Daratrazanoff, begrüßte. Er war Mikhails stellvertretender Kommandeur und ein Mann, der keine Gnade kannte, wenn es um die Feinde des Prinzen ging. Er war ein erbarmungsloser Wächter, aber auch weit und breit als der begabteste Heiler der Karpatianer bekannt. Statt der glitzernden schwarzen Augen seiner Brüder hatte er silbrig schimmernde, die jedermann abschätzend und kritisch musterten. Er sah körperlich gestählt und gesund aus und war überhaupt nicht blass von seinem Kampf, einen Menschen vor den Parasiten zu erretten.

»Danke für alles, was du heute Nacht für Laras Freund getan hast«, sagte Nicolas zu ihm. »Wie geht es dem Jungen?«

Ein grimmiger Ausdruck, der schon ein enormes Zeichen von Gefühl für Gregori war, huschte über sein Gesicht. »Ich habe mein Bestes getan, um seinen Körper von den Parasiten zu befreien, aber wie viel Schaden sie wirklich angerichtet haben, kann ich nicht sagen. Ich hoffe, dass er wieder ganz genesen wird, doch ich rechne nicht damit. Sein Freund bleibt bei ihm, und Slavica, die Wirtin des Gasthofs, wird hin und wieder nach ihm sehen. Falls nötig, ruft sie mich.« Gregori blickte sich in der Höhle um, und ein bisschen Wärme schlich sich in seine hellen Augen. »Es ist lange her, seit ich das letzte Mal an diesem Ort war – zu lange.«

Seine Brüder nickten zustimmend.

Weitere Gespräche mussten aufgeschoben werden, als Jacques Dubrinsky, der Bruder des Prinzen, eintrat. Er hatte rabenschwarzes Haar, schwarze Augen und eine schmale weiße Narbe um den Hals, eine weitere an seinem Kinn und an der Wange, und es hieß, er habe auch eine furchtbar ausgezackte, runde auf der Brust. Da Karpatianer nur sehr, sehr selten Narben hatten, mussten die ihm zugefügten Verwundungen wirklich furchterregend gewesen sein. Er war Folterungen zum Opfer gefallen, die ihn fast den Verstand hatten verlieren lassen. Selbst heute noch blieb er die meiste Zeit für sich.

Nicolas trat vor, um ihn zu begrüßen, und drückte ihm die Unterarme.

»Bur tule ekämet kuntamak«, sagte Jacques. »Freut mich, Bruder. Es ist lange her, seit wir uns gesehen haben. Wie geht es Manolito?«

»Er ist wieder bei bester Gesundheit und hat auch seine Seelengefährtin gefunden. Ihr Name ist MaryAnn Delaney. Ich glaube, du kennst sie. Und wie geht es deiner Frau? Und dem Kind?«

»Shea ist wohlauf, und unser Sohn gedeiht sehr gut. In ein paar Tagen feiern wir die Namensgebung.«

»Das sind gute Nachrichten«, sagte Nicolas. »Die besten Nachrichten für alle.«

Flügelgeflatter kündigte zwei weitere Karpatianer an. Vikirnoff von Shrieder und seine Seelengefährtin Natalya verwandelten sich im Höhleneingang und begaben sich zu der kleinen Gruppe. Nicolas drückte Vikirnoffs Arme, ein bisschen erstaunt, dass auch Natalya dem Ruf zur Ratsversammlung der Krieger gefolgt war. Er hätte nie gedacht, dass Vikirnoff, ein uralter Krieger mit enormen kämpferischen Fähigkeiten, seiner Frau erlauben würde, sich in Gefahr zu begeben.

Nicolas sah sie an. Natalya entstammte der Linie der Drachensucher. Sie hatte herrliches, leuchtend rotes Haar und Augen, die von hellem Grün zu Blau changierten. Alles an ihr verriet ihre Abstammung, von ihrem klassisch guten Aussehen bis hin zu dem Strahlen ihrer Haut und den farbenfrohen Bändern, die sie in ihrem Haar trug. Sie war als Kämpferin bekannt – und als Schwester Razvans, der wiederum Laras Vater war. Nicolas entfernte sich diskret von Vikirnoff, weil er befürchtete, dass er zu dem Thema »kämpfende Frauen« nicht würde schweigen können, weil Natalya ein enormer Gewinn für Xavier wäre, wenn sie ihm in die Hände fiele.

Nicolas schüttelte den Kopf und bemerkte dann, dass Gregori ihn mit seinen durchdringenden silbernen Augen musterte. Der Heiler wusste, was er gedacht hatte.

»Und ich bin ganz deiner Meinung«, sagte er dann auch, als er an Nicolas vorbeiging, um sich neben Mikhail zu stellen.

»Du bist seiner Meinung in Bezug auf was? Und wen?«, fragte Mikhail und wandte sich von Darius ab, mit dem er gerade gesprochen hatte. »Es kommt nicht oft vor, dass du mit irgendetwas einverstanden bist, Gregori.«

»Ich glaube, eines der Themen, die wir zur Diskussion stellen müssen, ist das Wohlergehen unserer Frauen und Kinder – aller Frauen, einschließlich jener, die glauben, Vampire bekämpfen zu müssen.«

Mikhail entblößte seine weißen Zähne. »O jelä peje terád. Möge die Sonne dich versengen, Gregori, aber du wirst mich nicht in Schwierigkeiten mit meiner Seelengefährtin oder meiner Tochter bringen. Du kannst deine Drecksarbeit selbst erledigen ...« Er schloss Nicolas in seinem Blick mit ein. »Und du die deine.«

Gregori zuckte mit den Schultern. »Du kannst fluchen, so viel du willst, aber es ist ein Thema, mit dem du dich auseinandersetzen musst, Mikhail.«

»Ich? Oh, nein, von wegen! Ich denke nicht daran, mir den ganzen Ärger einzuhandeln. Wenn wir dieses Thema anschneiden, werdet ihr alle laut und deutlich eure Meinung dazu äußern, und die Frauen werden sich erheben wie mein schlimmster Albtraum.«

»Ich meine es ernst«, beharrte Gregori. »Wenn wir schon die volle Ratsversammlung einberufen, sollten wir auch alle Themen ansprechen.«

Mikhail nickte. »Ich weiß, dass es besprochen werden muss, Gregori, aber du und ich, wir wissen, dass die alten Zeiten längst vorbei sind. Und selbst damals gab es einige Frauen, die Kriegerinnen waren.«

»Doch sie waren keine Seelengefährtinnen«, warf Nicolas ein. »Keine Frauen, die uns Kinder gebären konnten oder, wenn sie verloren waren, ihren Gefährten mit sich nahmen.«

Mikhail zuckte die Schultern. »In den alten Zeiten waren nur wenige Seelengefährtinnen Kriegerinnen. Aber die Zeiten haben sich geändert, und heute ist unsere Spezies vom Aussterben bedroht.«

»Umso mehr Grund, die wenigen Frauen, die wir haben, zu beschützen«, sagte Nicolas. »Manchmal sind die alten Gebräuche gut, Mikhail. Unsere Frauen haben nicht zu den Waffen gegriffen, nur um zu zeigen, dass sie es konnten.«

»Die Frauen, von denen du sprichst, sind nicht als Karpatianerinnen zur Welt gekommen. Unsere Spezies sieht menschlich aus, und wenn wir eine menschliche Frau an uns binden, denkt sie wie ein Mensch, auch wenn sie durch den Blutaustausch verwandelt wird. Im Laufe der Jahrhunderte mussten menschliche Frauen für ihre Rechte kämpfen ...«

»Das ist ein schwaches Argument«, unterbrach ihn Gregori. »Was tun wir hier in dieser Höhle? Wir schwören unserem Volk die Treue. Wir schwören, ihm zu dienen, was immer auch für Opfer das erfordern mag. Unsere Seelengefährtinnen haben das nie getan. Sie verstehen nicht, dass auch sie Opfer bringen müssen, um unsere Spezies vor dem Aussterben zu bewahren. Wir haben eine Handvoll Paare, weniger als dreißig, Mikhail. Unsere Kinder brauchen gute fünfzig Jahre, um das Erwachsenenalter zu erreichen. Glaubst du wirklich, dass wir es uns leisten können, auch nur eine Frau zu verlieren? Oder ein Paar?«

»Nein, aber ich weiß auch, dass wir uns im Krieg befinden und von allen Seiten von Feinden umgeben sind. Und dass wir uns nicht erlauben können, uneinig zu sein.«

»Wir sind uns nicht uneinig«, sagte Gregori. »Kein Mann will, dass seine Frau kämpft.«

Ein leises Lächeln um die Lippen, schüttelte Mikhail den Kopf. »Du denkst also, wir sollten unseren Frauen befehlen, sich ruhig zu verhalten und uns die Entscheidungen treffen zu lassen? Dann sind es nicht die Männer, die zerstritten sein werden, sondern die Frauen. Und zwar mit uns. Ich erinnere euch nur an den Begriff freier Wille. Habt ihr dieses kleine Detail vergessen? Das ist es, was wir unseren Frauen nehmen, wenn wir sie an uns binden. Fahren wir damit fort, nachdem sie unsere Seelengefährtinnen sind? Vermutlich könnten wir sie zu bloßen Marionetten machen, die uns zu Willen sind und tun, was wir ihnen sagen. Aber ich weiß, dass sowohl Raven als auch Savannah eher in die Sonne gehen würden, als sich einer solchen Sklaverei zu beugen.«

»O jelä peje terád. Hol dich die Sonne, Mikhail«, brummte Gregori. »Auf deine alten Tage bist du noch modern und liberal geworden.«

Nicolas wandte sich von dem Prinzen ab, als ein weiteres Paar, Vikirnoffs Bruder Nicolae und seine Seelengefährtin Destiny, eintrat. Nicolas wollte sich die Frau genauer ansehen, die als Kind von einem Vampir gefangen genommen worden war. Sie hatte jahrelang die Qual des mit zellfressenden Parasiten verseuchten Blutes eines Vampirs ertragen. Die mittelgroße, sehr kurvenreiche Frau, die dichtes schwarzes Haar, große blaugrüne Augen und ausgeprägte Muskeln hatte, bewegte sich mit der Anmut und Geschmeidigkeit einer gut trainierten Kämpferin. Nicolas fiel auf, wie ruhelos ihre Augen durch die Höhle schweiften und jede Einzelheit wie Ein- und Ausgänge, den großen Kamin oder das Labyrinth von Tunneln in sich aufnahmen.

Destiny war sehr eng mit Manolitos Gefährtin MaryAnn befreundet. Sie sah jede Person im Raum an, musterte sie abschätzend und ließ ihren Blick dann noch ein bisschen länger auf ihr verweilen. Nicolae, ihr Seelengefährte, war in Bezug auf sie sehr wachsam, stellte Nicolas anerkennend fest, als er Nicolae zwischen seine Frau und die alleinstehenden Männer im Raum treten sah. Wie die meisten Karpatianer war er groß und muskulös und hatte langes schwarzes Haar und kühle dunkle Augen.

»Du bist Nicolas, Manolitos Bruder«, begrüßte Destiny ihn und kam auf ihn zu, was ihren Gefährten zwang, mit ihr mitzugehen, um sie zu beschützen.

Ein klassischer Fehler, den Frauen machten, war zu vergessen, dass jeder eine Gefahr sein konnte, selbst hier, an diesem geheiligten Ort der Macht. Nicolas seufzte und schüttelte den Kopf. Seine Frau würde lernen, wo ihr Platz war, und auch alle nur möglichen Sicherheitsmaßnahmen, die er sich für sie denken konnte.

»Wie geht es MaryAnn?«, erkundigte sich Destiny.

»Sie ist glücklich«, antwortete Nicolas. »Ich habe Neuigkeiten, möchte aber lieber damit warten, bis alle sich versammelt haben. Ich habe dir einen Brief von MaryAnn mitgebracht«, schloss er und schob eine Hand in sein Hemd.

Destinys Augen verengten sich, ihr Blick wurde kühl und wachsam. Fast unmerklich verlagerte sie ihr Gewicht auf die Fußballen und wandte sich mit einer ebenso unauffälligen Bewegung ein wenig ab, die sie in eine gute Position brachte, um sich, falls nötig, zu verteidigen. Wie einstudiert veränderte im selben Moment auch ihr Partner seine Haltung, um ein paar Schritte zwischen sie zu bringen und ihnen reichlich Bewegungsfreiheit zu verschaffen. Was Kämpfen anging, waren die beiden offenbar ein gutes Team. Trotz seiner unerschütterlichen Abneigung dagegen, dass Frauen Vampire jagten, konnte selbst Nicolas sehen, dass sie in perfektem Einklang miteinander waren. Was es trotzdem noch längst nicht richtig machte.

Er zog den Brief aus seinem Hemd und gab ihn aus Höflichkeit Nicolae. Wie es sich gehörte unter Kriegern. Nicolae drehte den Umschlag in seiner Hand, um ihn zu überprüfen, bevor er ihn an seine Gefährtin weiterreichte.

»Danke«, sagte Destiny zu Nicolas. »Ich weiß es zu schätzen, dass du ihn mir persönlich gibst.«

Zuerst hielt er ihre Bemerkung für Sarkasmus, weil er den Brief ja ihrem Gefährten übergeben hatte, aber dann merkte er, dass das Paar wirklich völlig auf einer Wellenlänge war. Destiny war nicht verärgert über Nicolaes Fürsorglichkeit, sondern akzeptierte sie als etwas, das ihr zustand.

Ein weiterer Karpatianer gesellte sich zu ihnen. Es war Dominic vom Clan der Drachensucher, Razvans Großonkel und Laras Urgroßonkel, auch wenn Karpatianer in solchen Verwandtschaftsgraden selten einen Unterschied machten. So wie Lara ihre Großtanten »Tanten« nannte, würde sie auch Dominic ihren »Onkel« nennen.

Nicolas betrachtete sein ernstes Gesicht. Die Familie der Drachensucher war eines der machtvollsten Geschlechter der karpatianischen Gemeinde. Dominic war ein großer, breitschultriger Mann mit metallisch grünen Augen, die ein Erbe seines Clans waren, die Augen von Sehern, deren Farbe sich je nach Stimmung oder auch im Kampf veränderte. In der letzten Schlacht, die sie geführt hatten, um Mikhail und die karpatianische Rasse vor dem Untergang zu retten, hatte Dominic schwere Verbrennungen an der Schulter, am Arm darunter und am Nacken und auf der anderen Seite seines Gesichts davongetragen. Die schon halb verblassten Narben, der Beweis für seine furchtbaren Verbrennungen, waren noch da, wenn man genau hinsah. Seltsamerweise trugen diese Narben zu seiner gefährlichen Ausstrahlung noch bei. Seine grünen Augen nahmen wachsam alles in sich auf, dann blieben sie einen Moment lang auf Natalya ruhen.

Schließlich schlenderte er zu Mikhail hinüber, aber Gregori trat ihm in den Weg, was Nicolas wieder daran erinnerte, dass Dominic einer der wenigen Ältesten war, die Mikhail nicht die Treue geschworen hatten. Früher hatte er Vladimir gedient und war erst kürzlich wieder zurückgekehrt. Er hatte an der Seite des Prinzen gekämpft, sogar sein Leben aufs Spiel gesetzt, um ihn zu retten, aber einen Treueeid hatte es nie gegeben. Jacques ging auf der anderen Seite seines Bruders in Position, um Mikhail zu beschützen. Auch Nicolas merkte, dass er sich unwillkürlich in Kampfnähe begab. Niemand konnte sich erlauben, das Leben des Prinzen zu riskieren – genauso wenig, wie sie das bei ihren Frauen konnten.

Dominic machte eine angedeutete Verbeugung. »Én Jutta félet és eskämet«, sagte er, während er Mikhails Unterarme drückte. Ich grüße einen Freund und Bruder.

»Veri olen piros«, erwiderte Mikhail förmlich. Das Blut sei rot. Der Gruß war ganz wörtlich zu verstehen, weil er die Hoffnung ausdrückte, dass der andere Karpatianer bald wieder Farben sehen möge.

Dominics Schulterzucken war sehr beredt. Er hatte seine Seelengefährtin in all den Jahrhunderten seiner Existenz noch nicht gefunden und wartete auch nicht sichtlich angespannt darauf.

Julian Savage, ein großer, muskulöser und ungewöhnlich blonder Karpatianer mit goldbraunen Augen, kam mit einem Mann namens Barack. »Mein Bruder Aidan bedauert sehr, nicht anwesend sein zu können«, sagte Julian zur Begrüßung. »Er und Alexandria sind in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Er wäre gekommen, wenn er sich in Rufweite befunden hätte. Dayan ist schon unterwegs. Er überprüft nur noch den Himmel nach Anzeichen von Untoten.«

Als Nächster erschien Falcon, mit zwei hochgewachsenen, fremden Karpatianern an seiner Seite. Einer von ihnen, ein Ältester, kam Nicolas bekannt vor – er glaubte, ihm im Laufe der Jahre schon einmal begegnet zu sein -, der andere hingegen war ihm völlig unbekannt. Da Nicolas einen Großteil seines Lebens in Südamerika verbracht hatte, fern seiner Heimat und ohne Kontakt zu den Karpatianern, durchrieselte ihn eine freudige Erregung bei dem Gedanken, wieder einmal unter den großen Männern seiner Zeit zu sein und, wie in den alten Zeiten, Schulter an Schulter mit ihnen zu stehen.

Dayan, der Gitarrist bei den Dark Troubadours und Vater eines der wenigen weiblichen Kinder war, war mit Traian und seiner Seelengefährtin Joie gekommen. Nicolas verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, seine Missbilligung zu verbergen. Auch einige der anderen blickten zu den Frauen hinüber und schüttelten den Kopf. Er war also offensichtlich nicht als Einziger der Meinung, dass Karpatianer mehr um die Sicherheit ihrer Seelengefährtinnen besorgt sein sollten.

Noch weitere Krieger trafen ein, einige zu zweit oder zu dritt und andere allein. Nicolas erkannte ein paar der Männer, die meisten waren ihm aber fremd. Die Karpaten waren nicht länger sein Zuhause, obwohl er seine Heimat liebte und die Erde dort fruchtbar und belebend war. Und auch diesen geheiligten Ort und den Ruf der Brüder zur Ratsversammlung hatte er vermisst.

Der Letzte, der erschien, war ein hochgewachsener Mann mit einem Gesicht, das wie in Stein gemeißelt war. Leise trat er ein und blieb in einiger Entfernung von den anderen stehen. Nicolas erkannte in ihm die kühle Reserviertheit eines Mannes, der schon unzählige Schlachten gesehen hatte und wusste, dass noch viele andere kommen würden. Eines Mannes ohne Seelengefährtin, getrieben von dem Wahnsinn der sich in seiner Seele ausbreitenden Düsternis. Dieser Mann war Dimitri, der Hüter der Wölfe, und er stand sehr aufrecht da und blickte den anderen Kriegern in die Augen – aber er stand allein.

Die Karpatianer bildeten einen lockeren Kreis. Gregori schwenkte die Hand, um die Kerzen an den runden Wänden des saalartigen Raumes zu entzünden. Sofort erwachten die riesigen Kristalle zum Leben und begannen, gedämpfte Farben zu verströmen. Dies war der einzige geheiligte Ort, an den sich ein hartgesottener Krieger am Rande des Wahnsinns begeben und immer noch einen Anschein von Frieden verspüren konnte. Vielleicht waren es die Halluzinationen, die von den glitzernden Kristallen in Verbindung mit der enormen Hitze hervorgerufen wurden, aber sowie die Kerzen angezündet waren und die heiligen Rituale begonnen hatten, wurden die Jäger, die der Finsternis schon zu erliegen drohten, für kurze Zeit wieder revitalisiert.

Einige Krieger behaupteten, die öde graue Welt sei nach dem kurzen Aufschub noch schwerer zu ertragen, doch Nicolas hatte die Höhle der Krieger stets als eine Welt des Trostes empfunden, die einen Sinn ergab in all dem Wahnsinn, den sie lebten. In langen Jahrhunderten ging es oft Hand in Hand, dass die Rituale tröstlich und die traditionellen alten Bräuche beruhigend waren.

»Wir haben viel zu besprechen, Freunde«, ergriff Mikhail das Wort. »Ich danke euch allen, dass ihr gekommen seid. Nicolas hat uns Nachrichten gebracht, die uns helfen werden, die Denkweise unserer Feinde zu verstehen.«

Trotz seiner Fähigkeit, seine Körpertemperatur zu regulieren, drang die Hitze der Höhle Nicolas unter die Haut, und schon verspürte er die Wirkung der Kristalle, die die kleinen Wunden in seinem Körper heilten und seinem Geiste Klarheit brachten. Alles wurde schärfer, klarer, und sein Kameradschaftsgeist vertiefte sich, sodass er die Meinung eines jeden Kriegers hören wollte und für alle Anschauungen offen war.

Mikhail trat in die Mitte des Kreises und blieb neben einer dicken, blutroten Säule aus kristallinen Mineralien stehen. Sie reichte Mikhail gerade mal bis zur Schulter und war damit eine der kürzesten im Raum, an ihrem Ende aber scharf wie ein Rasiermesser. Der Prinz hielt seine Hand über die kristallene Spitze, und augenblicklich wurde es still im Raum, und die Karpatianer hielten erwartungsvoll den Atem an. Als Mikhail zu sprechen begann, tat er es in der uralten Sprache seiner Vorfahren, die auch heute noch von ihrem Volk gesprochen wurde.

»Blut unserer Väter – Blut unserer Brüder! Wir suchen eure Weisheit, eure Erfahrung und euren Rat. Vereint euch mit euren Kriegerkameraden und weist uns durch die Blutsbande den rechten Weg! Wir geloben unserem Volk unerschütterliche Treue, Entschlossenheit in der Not, schnelle und tödliche Vergeltung, Mitgefühl mit jenen in der Not, Kraft und Ausdauer über die Jahrhunderte und vor allem ein Leben in Ehre. Unser Blut verbindet uns.«

Mikhail zog seine Hand über die Spitze der kristallenen Säule, die mühelos sein Fleisch durchschnitt. Sofort bedeckte leuchtend rotes Blut das scharfe Ende des dicken Pfeilers. »Unser Blut vermischt sich mit dem euren und ruft nach euch. Schenkt unserem Ruf Gehör und kommt!«

Als das Blut des Prinzen sich mit dem lang dahingegangener Krieger mischte, begannen die Kristalle zu leuchten und Licht und Farbe wie die Morgenröte abzugeben – funkelnde rote Lichter erhellten den Raum, und smaragdgrüne Streifen zogen sich wellenförmig an der Wand entlang. Das ständig wechselnde Schauspiel pulsierte vor Leben, als es den Prinzen des karpatianischen Volkes erkannte.

Ein zunächst nur leises Gemurmel erhob sich zu einem klangvollen Gesang, als die versammelten Karpatianer mit ihrem uralten Ritual begannen. »Veri isäakank veri ekäakank. Veri olen elid. Andak veri-elidet Karpatiiakank, és wäkesarna ku meke arwa-arvo, irgalom, hän ku agba, és wäke kutni, ku manaak verival. Veri isäakank veri ekäakank. Verink sokta; verink kana terád. Akasz énak ku kana és juttasz kuntatak it.« Blut unserer Väter – Blut unserer Brüder. Blut ist Leben. Wir widmen dieses Leben unserem Volk und schwören ihm Ehre, Gnade, Redlichkeit und Ausdauer. Blut unserer Väter – Blut unserer Brüder. Unser Blut vermischt sich mit dem euren und ruft nach euch. Schenkt unserem Ruf Gehör und kommt!

Gregori trat vor Mikhail und ließ sich auf ein Knie nieder. »Ich widme mein Leben unserem Volk und schwöre ihm bei meinem Blut die Treue.« Damit ließ er seine Hand auf die kristallene Pfeilerspitze fallen und wartete, bis sich sein Blut mit dem Mikhails und dem aller schon dahingegangenen Vorfahren vermischte. Dann hielt er dem Prinzen die Hand hin.

»Als Stellvertreter unseres Volkes nehme ich dein Opfer an«, antwortete Mikhail feierlich auf den Schwur und nahm das von Gregori angebotene Blut, um ihn jederzeit finden zu können, wo immer er auch sein mochte, jederzeit und allerorts. Dieses Ritual machte den Jäger verwundbar, denn sollte er beschließen, seine Seele aufzugeben und Vampir zu werden, würde er leicht aufzuspüren sein. Viele entschieden sich gegen die Teilnahme, weil sie die Konsequenzen kannten. Gregori hatte Mikhail schon oft gedrängt, das Ritual zur Pflicht zu machen, aber Mikhail war ein eiserner Befürworter des freien Willens.

Gregori erhob sich, und Lucian trat vor, um seinen Platz einzunehmen, legte seine Hand auf die Pfeilerspitze, vermischte sein Blut mit dem seiner Vorfahren und kniete vor Mikhail nieder, um seinen Treueschwur zu leisten und dem Prinzen zum Zeichen seiner Verwundbarkeit sein Blut zu geben.

Nicolas hielt den Atem an, als Jaxon, Lucians Seelengefährtin, ihm zu der Säule folgte. Dieses Ritual war das geheiligteste eines Kriegers. Von den drei weiblichen Jägern war sie zudem die unerfahrenste. Falls das Kristall sie abwies, würde das Nicolas’ Argument, dass Frauen beschützt werden mussten, unterstützen und erhärten.

Der kathedralenähnliche Saal füllte sich mit dem Klang von tiefen Männerstimmen. Das Summen der Kristalle harmonisierte mit dem Gesang und erzeugte eine starke, wehmütige Melodie. Dampf waberte auf, als Jaxon sich der dunkelroten Säule näherte. Sie sah klein und zerbrechlich aus neben der mächtigen, jahrhundertealten Kristallsäule, doch ohne Zögern ließ sie ihre flache Hand auf die geschärfte Spitze fallen. Das Summen der Kristalle veränderte sich leicht, fuhr aber stark wie immer fort, es war nur eine weichere, femininere Note hinzugekommen. Als Jaxon vor Mikhail niederkniete, um den Treueschwur zu leisten, nahm ihre Haut ein sanftes Glühen an.

Als Nächster trat Nicolas vor Mikhail. Er hatte dieses Ritual schon viele Male ausgeführt, doch da seine Erinnerungen über die Jahrhunderte verblasst waren, war er nicht gefasst auf das Ausmaß der Empfindungen, die ihn übermannten. Im selben Moment, in dem sich sein Blut mit dem seiner Vorfahren vermischte, rief seine Seele die Seelen der Krieger an, die nicht mehr waren – und sie antworteten, erfüllten ihn mit Kraft und verliehen ihm Klarheit, sodass jede Einzelheit für ihn sehr deutlich und lebendig war.

Sein Herz schlug in einem anderen Rhythmus, er hörte das Auf und Ab des Blutes, das durch seine Adern rauschte wie die Ebbe und Flut der endlosen Gezeiten. Er spürte die heilende, Klarheit bringende Energie, die von den Kristallen erzeugt wurde, und unter dem Wald von Kristallen, Hunderte von Fuß weit unter ihm, spürte er das Magma, die natürliche Gesteinsschmelze im Erdinneren, deren Hitze sich auf die Höhle übertrug. Die Hitze und das Feuer fachten die Bedürfnisse seines Körpers an und steigerten sein Verlangen nach seiner Gefährtin. Die längst dahingegangenen alten Krieger sprachen in der Sprache seines Volkes zu ihm: Eläsz jeläbam ainaak. Kulkesz arwa-arvoval, ekäm. Arwa-arvo ölen gaeidnod, ekäm. Mögest du lange leben im Licht. Geh mit Ehre, Bruder. Möge Ehre dich leiten, Bruder ... Die Stimmen fuhren fort und ermutigten ihn, den Weg des Kriegers zu beschreiten, so wie auch sie es vor ihm getan hatten.

Dann nahm Mikhail sein Blut, und Nicolas verspürte die sofortige Verbindung zu dem karpatianischen Volk, zu Männern und Frauen gleichermaßen, und die Einheit von Stärke und Entschlossenheit.

Einer nach dem anderen folgten die Krieger und die restlichen Frauen, bis nur ein Einziger das Ritual noch nicht vollzogen hatte.

An seinem Prinzen vorbei blickte Gregori zu dem Mann, der, die Arme vor der Brust verschränkt und mit dem Rücken an der Wand, links von ihnen in der Nähe des Eingangs stand. Gregoris silbrige Augen blickten herausfordernd in die metallisch grünen Dominics, die ihn als Angehörigen der Drachensucher-Familie auszeichneten. Tiefes Schweigen legte sich über den Saal. Das Summen der Kristalle wurde lauter, nachdrücklicher, als riefe es den letzten Krieger.

»Kein Mann sollte gezwungen werden, Treue zu schwören, Gregori«, wies Mikhail ihn sanft zurecht. »Dominic, du hast unserem Volk immer treu gedient. Niemand, ich am allerwenigsten, zweifelt deine Ehre an. Es genügt, dass du meinem Vater einen Eid geleistet hast.«

Bevor Gregori etwas sagen konnte, schüttelte Dominic den Kopf und trat mit ruhigen, gemessenen Schritten vor. »Es sind schwere Zeiten, und man kann nicht wissen, wer Freund ist oder Feind. Gregori würde seiner Position nicht gerecht, wenn er dich nicht gut beschützen würde. In den vergangenen Jahren habe ich meine verlorene Schwester gesucht, aber ich weiß, dass sie tot ist, diese Welt schon längst verlassen hat und ich sie nicht mehr retten kann. Und sie würde auch nicht wollen, dass ich sie aus der Schattenwelt zurückhole, denn nun ist sie endlich bei ihrem Seelengefährten, und ich hoffe aus tiefster Seele, dass sie ihren Frieden gefunden hat.« Er schwieg einen Moment. »Es ist an der Zeit, meine Pflichten unserem Volke gegenüber wiederaufzunehmen.«

Auch er drückte seine Hand auf die kristallene Spitze, und tiefrotes Blut quoll über so viele andere Schattierungen von Blut hinweg. Das Licht im Raum wechselte nun auch die Farbe; Dampf stieg auf, und einige der riesigen Kristalle nahmen ein sanftes weißes Leuchten an, als wäre der Mond in die Höhle eingedrungen und werfe ein beifälliges Licht auf Dominic. »Ich widme mein Leben unserem Volk und schwöre ihm bei meinem Blut die Treue«, sagte er und reichte dann Mikhail die Hand.

Der Prinz akzeptierte das Geschenk und nahm Dominics Blut in sich auf. »Als Stellvertreter unseres Volkes nehme ich dein Opfer an.«

Dominic erhob sich. »Jemand muss sich in das Lager unserer Feinde einschleichen und herausfinden, was sie als Nächstes planen. Unsere Frauen und Kinder sind in Gefahr, und wir können nicht ignorieren, dass wir weniger als dreißig Frauen haben, um unsere Spezies wiederaufzubauen. Unsere Frauen müssen ihre Verantwortung unserem Volke gegenüber anerkennen.« Er richtete seinen Blick einen Moment lang auf Natalya und ließ ihn dann zu jeder anderen Frau in der Höhle weiterwandern. »Sie dürfen ihr kostbares Leben nicht unnötigerweise noch mehr in Gefahr bringen. Ich melde mich freiwillig als Spion im Lager der Vampire.«

Mikhail schüttelte den Kopf. »Ihr Blut sagt ihnen, wer einer der ihren ist. Die Parasiten, die sie in ihren Organismus injizieren, rufen einander. Das haben wir über Destiny herausgefunden.«

»Gregori hat einen Vorrat an Vampirblut, und ich kann es zu mir nehmen.«

Destiny schnappte nach Luft und griff sich an die Kehle. »Das darfst du nicht! Es frisst an dir in jedem wachen Moment deines Lebens.«

»Du bist nicht ausreichend geschützt«, fügte Gregori hinzu. »Du hast schon zu viele Jahrhunderte mit der Düsternis gelebt, und die Parasiten würden dich irgendwann über die Grenzen deines Durchhaltevermögens treiben. Ohne eine Seelengefährtin, um dich zurückzuführen, wäre es purer Selbstmord – oder schlimmer noch, denn aller Wahrscheinlichkeit nach würdest du dem Ruf der Untoten erliegen.«

»Deshalb will ich, dass du, deine Brüder, Nicolas und Dimitri mein Blut nehmt. Ich glaube, dass ich mit meinem Drachensucher-Erbe eine größere Chance habe, länger auszuhalten, vielleicht sogar ein Jahr, bevor ich unterliege. Und sollte ich tatsächlich der Dunkelheit anheimfallen, werden sechs unserer erfahrensten Jäger in der Lage sein, mich aufzuspüren.«

Mikhail schüttelte den Kopf. »Wir können uns den Verlust eines Angehörigen der Familie der Drachensucher nicht leisten, Dominic.«

»Ihr habt Natalya und Colby. Auch sie entstammen dem Geschlecht der Drachensucher. Möglicherweise der junge Skyler ebenfalls. Und nun auch noch diese neue junge Frau, Lara, die Nicolas’ Seelengefährtin ist. Die Linie der Drachensucher wird fortbestehen. Ich habe die Gefährtin, die mir bestimmt ist, in all diesen Jahrhunderten nicht gefunden und bin müde geworden. Erlaubt mir, unserem Volk diesen letzten Dienst zu erweisen. Ich werde mein Bestes tun, meine Ehre zu bewahren, und in die Sonne gehen, bevor es nötig wäre, mich zu jagen, aber wenn nicht, werden die Vorbereitungen schon getroffen sein. Ich werde diesen Jägern Zugang zu meinen Erinnerungen gewähren, damit ihnen permanent bewusst sein wird, wie ich als Kämpfer funktioniere. Was ihnen hoffentlich als Beispiel dienen wird.«

Lautstarker Protest erhob sich in der Höhle. Das Summen der Kristalle wurde lauter, und sie strahlten eine Unmenge von Farben aus. Mikhail legte seine Hand an die blutrote Säule und atmete tief durch.

»Vielleicht sollten wir diese Diskussion verschieben, bis wir gehört haben, was Nicolas zu sagen hat«, erklärte er.

»Bei allem gebotenen Respekt, Mikhail – aber du kannst nicht zulassen, dass ich irgendetwas höre, das Nicolas oder andere zu sagen haben. Denn wenn ich gehe, darf ich nichts von euren Plänen oder Strategien wissen. Wir sind im Krieg, und die Existenz unserer Spezies steht auf dem Spiel. Die hier zu treffenden Entscheidungen werden keine leichten sein.« Dominics Blick glitt suchend über die Versammlung und blieb an den drei Frauen hängen – Natalya, Destiny und Jaxon. »Sie werden für uns alle schwierig sein. Wir müssen Opfer bringen und erkennen, was der beste Nutzen der uns zur Verfügung stehenden Mittel ist. Die Entscheidungen sind nicht leicht, und sie werden auch nicht gern gesehen sein, aber sie müssen getroffen werden. Ich dagegen bin entbehrlich. Ich habe das Blut, das sich gegen den Ruf der Dunkelheit am längsten wehren wird. Mein Geschlecht ist nicht mit der zusätzlichen Last von anderen Blutlinien behaftet.« Dominic blickte kurz zu Nicolas hinüber und bedachte ihn mit der angedeuteten, respektvollen Verbeugung eines Kriegers.

Nicolas schüttelte den Kopf und spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete. Dominic war eine lebende Legende, etwa so wie Lucian und Gabriel. Er kannte – und verstand – den Fluch der Düsternis, der auf den Brüdern de la Cruz lag. Sie kämpften, um ihre Ehre aufrechtzuerhalten, und hatten es dieses schleichenden Makels wegen schon ihr Leben lang getan. Nun, da er vor die Ratsversammlung treten und gestehen musste, dass er und seine Brüder bei der Verschwörung zum Untergang der Karpatianer ihre Hand im Spiel gehabt hatten, verstand Dominic die furchtbare Belastung, die die Brüder de la Cruz über Jahrhunderte hinweg ertragen hatten.

»Niemand ist entbehrlich«, sagte Gregori. »Kein einziger Krieger und schon gar nicht einer von deiner Weisheit und Erfahrung.«

Nicolas blieb still, als andere Männer ihre Meinung äußerten. Hier in dem geheiligten Saal, mit ihrem Blut, das sich mit dem ihrer Vorfahren vermischte, in dem Dampf, der sie reinigte und läuterte, und umgeben von den Kristallen, die ihren Geist klärten und verschärften, wurden alle mit großem Respekt gehört. Aber Nicolas wusste, dass Dominic das Blut zu sich nehmen würde, und bedauerlicherweise musste er ihm zustimmen: Es war das Richtige, weil ihre gesamte Spezies auszusterben drohte.

Dominic hatte recht. Die Karpatianer mussten wissen, was Xavier und seine Verbündeten aus Vampiren und Jaguarmenschen im Schilde führten. Sie brauchten einen Spion in ihrem Lager. Die Brüder Malinov würden niemals der Versuchung widerstehen können, einen so mächtigen Karpatianer wie Dominic in ihre Reihen aufzunehmen, und ganz sicher würde Xavier glauben, er hätte damit einen großen Coup gelandet. Die Rückkehr von Rhiannons Bruder wäre ein Sieg und ein Triumph für ihn.

Nicolas’ Blick begegnete dem Mikhails. Der unverhohlene Kummer, den er darin sah, spiegelte seinen eigenen wider. Auch Mikhail wusste, dass Dominic den Kriegern zwar zuhören würde, sich letztendlich aber von niemandem von seinem Vorhaben würde abbringen lassen. Jemand musste es tun, und die vernünftigste Wahl war Dominic.

Für einen Moment waren die Linien im Gesicht des Prinzen tief und ausgeprägt; sein Mund war zu einer grimmigen Linie verzogen, und er sah älter aus und müde von der Last, die auf seinen Schultern ruhte.

Im Saal trat Stille ein. Mikhail richtete sich zu seiner vollen Größe auf, ein dunkelrotes Glühen erschien in seinen schwarzen Augen. Sein ganzes Gesicht veränderte sich, sodass er nun sehr majestätisch aussah, jeder Zoll der Anführer der Krieger, die sich hier versammelt hatten, um Entscheidungen von großer Tragweite zu fällen. Dampf umwaberte ihn, und einige der Kristalle um ihn nahmen weichere Farben an, bis es so aussah, als schiene der Mond bis tief unter die Erde, um den Prinzen der Karpatianer anzustrahlen. Die Farben der Morgenröte flimmerten vor Leben und waren wie blutrote Ströme, die durch einen Ozean von Farbe flossen.

»Du ehrst dein Volk mit deiner Tapferkeit, Dominic«, sagte Mikhail mit tiefer, volltönender Stimme, die den ganzen Saal erfüllte. »Und deshalb sei es so. Die Karpatianer werden dein Opfer nie vergessen.«

Dominic starrte auf seine geballte Faust herab, bevor er langsam die Finger öffnete. Einer seiner Nägel verlängerte sich, er zog ihn scharf über sein Handgelenk und hielt dann Gregori den Arm hin. Der Heiler der Karpatianer rührte sich nicht, sein Gesicht blieb eine ausdruckslose Maske. Mikhail hob die Hand zum Zeichen, dass es ein Befehl war, ein Dekret, dem sich niemand widersetzen konnte. Und so trat Gregori als Erster vor, gefolgt von Lucian, Gabriel und Darius, und alle nahmen das Blut, das Dominics Verbindung mit ihnen besiegelte. Als Nächster trat Dimitri vor, und dann war Nicolas an der Reihe, stolz, seinen Platz neben dem Krieger einzunehmen, den er für einen der größten aller Zeiten hielt.

Im Namen des karpatianischen Volkes sandte der Prinz Dominic zu einer Existenz, die weitaus schlimmer war, als irgendein Karpatianer es sich vorzustellen vermochte. Das Geschlecht de la Cruz war mit dem Fluch der Düsternis behaftet, aber sie waren auch mit unerschütterlicher Stärke und Ehre beschenkt worden. In den vergangenen Jahrhunderten war kein einziger Angehöriger des Stammes der Drachensucher je dem Geflüster erlegen, das immer lauter wurde, wenn man ohne Hoffnung, ohne Emotionen lebte. Und Dominic, dieser Letzte eines großartigen Geschlechts von Kriegern, wurde mit dem giftigen Blut des Vampirs in den Adern, das ihn von innen heraus verzehren würde, zum Spionieren in das Lager ihres Feindes geschickt.

Nicolas, der von solcher Größe nicht den Blick abwenden konnte, sah Dominic ruhig und offen in die Augen. Er konnte ihn nicht retten, aber er konnte ihn zumindest ehrenvoll verabschieden und ihm den gebührenden Respekt erweisen. Dominic gab ihm sein Blut und drückte dann seine Unterarme, wie es unter Kriegern üblich war.

»Arwa-arvod mäne me ködak«, sagte Nicolas leise. Möge deine Ehre die Dunkelheit zurückhalten. Kämpfe mit aller Kraft dagegen an.

»Kulkesz arwaval«, sagte Gregori. Geh mit Größe. »Jonesz arwa arvoval.« Und kehr zurück mit Ehre.

Mikhail trat näher. »Jonesz arwa arvoval.« Kehr zurück mit Ehre. Er schloss ganz fest seine Hände um Dominics Unterarme, und einen Moment lang standen sie so dicht voreinander, dass sich ihre Zehen berührten.

»Es ist das Richtige«, versicherte Dominic mit leiser Stimme, als er die Unterarme seines Prinzen drückte. »Das einzig Richtige. Gib mir ein paar Wochen Zeit und lass jemanden das Gerücht von meiner Verwandlung verbreiten. Sorg dafür, dass es geschickt gemacht wird. Es wird das Gespräch des Tages sein, dass der Erste aus dem Geschlecht der Drachensucher dem Ruf der Dunkelheit erlegen ist. Die Leute werden reden, aber die Neuigkeit darf nicht aus deinem Umfeld kommen. Das Gerede wird den Feind erreichen, und die Brüder Malinov werden zu mir kommen, um mich für ihre Seite zu gewinnen.«

Aus einem Kästchen nahm Gregori die kostbare Phiole mit dem Vampirblut und überreichte sie Dominic, der den Stöpsel herauszog und ihren Inhalt ohne Zögern trank. Absolute Stille herrschte in dem großen Raum. Sogar die Kristalle hörten auf zu summen. Niemand sprach oder bewegte sich, bis Dominic sich leicht vor allen verbeugte und ging – allein, wie er gekommen war.

Mit einem erstickten Laut wandte Destiny den Kopf ab und barg ihr Gesicht an der Brust ihres Gefährten. »Es ist, als zerrisse ein Rasiermesser dein Innerstes«, murmelte sie, als grausige Erinnerungen sie bestürmten.

Nicolae nahm sie in die Arme und drückte sie an sich, während er leise und beruhigend auf sie einsprach.

Etwas Weiches, Zärtliches erwachte in Nicolas, als er die beiden beobachtete. Nicolaes Körperhaltung war nicht nur beschützend, sondern auch sehr liebevoll. Und als Destiny ihr Gesicht zu ihrem Mann erhob, konnte Nicolas darin die gleiche Liebe strahlen sehen. Er hatte das nicht. Er besaß weder Laras Respekt noch ihre Zuneigung, von ihrer Liebe ganz zu schweigen. Nicolae hatte einen Schatz, ein Geschenk, etwas so Kostbares – eine Seelengefährtin war etwas geradezu Unglaubliches -, und so reich beschenkt sollte er wirklich nicht so dumm sein und das Risiko eingehen, sie zu verlieren.

Mikhail wandte sich seinen Kriegern zu. »Wir haben noch viel zu besprechen, bevor die Nacht vorüber ist. Nicolas hat uns Neuigkeiten von unseren Feinden und ihren Plänen mitgebracht. Er wird heute Nacht zu euch sprechen. Eine junge Frau ist in unserem Dorf erschienen und hat sich als Nicolas’ Seelengefährtin herausgestellt. Er hat Anspruch auf sie erhoben und sie an sich gebunden, auch wenn das Ritual noch nicht vollendet ist.« Sein Blick glitt zu Natalya. »Wir glauben, dass seine Seelengefährtin Lara die Tochter Razvans ist.«

Natalya gab einen einzigen kleinen Laut von sich. Ihr Zwillingsbruder war viele Jahre für sie verloren gewesen. Sie hatte angenommen, ihn vor einiger Zeit im Kampf getötet zu haben, aber dann war er in Gestalt einer alten Frau, von deren Körper er Besitz ergriffen hatte, zurückgekehrt und hatte Shea und ihr ungeborenes Kind ermorden wollen.

»Lara und ich haben Grund zu der Annahme, dass Razvan zu Experimenten benutzt wurde und möglicherweise längere Zeit ein Gefangener war, bevor er aufgab und Xavier erlag«, griff Nicolas den Faden auf.

»Ich will mit Lara sprechen!«, rief Natalya.

Nicolas schüttelte den Kopf. »Wir haben das Ritual noch nicht vollendet. Sie vertraut uns nicht und hat böse Erinnerungen an ihren Vater. Ich will sie nicht aufregen. Sie braucht Zeit.«

Natalyas Augen wechselten von Dunkelgrün zu kaltem Blau. »Sie würde sicher mit mir sprechen wollen.«

Nicolas zuckte die Schultern, was seine Muskeln in Bewegung brachte und Vikirnoff veranlasste, sich ein bisschen vor seine Gefährtin zu schieben. »Das kümmert mich im Moment nicht. Sie weiß nichts von dir, und ich werde ihr auch nichts erzählen, bis wir unser Leben geregelt haben. Ich habe im Augenblick wenig Einfluss auf sie, und wenn, dann nur durch unsere Seelenverwandtschaft, und ich werde nichts riskieren.«

Natalya öffnete den Mund, um zu protestieren, aber plötzlich fuhr Mikhail herum, und sein ganzes Verhalten veränderte sich, als er mit schmerzerfüllter Miene sekundenlang Gregori und danach seinen Bruder ansah. Sein Körper begann zu flimmern, und ohne ein Wort zu sagen, verwandelte sich der Prinz und warf sich in die Luft.

Gregori wurde blass. »Wir werden die Versammlung verschieben müssen. Hoffentlich können wir sie so bald wie möglich nachholen. Ich muss mit Mikhail zu Raven«, sagte er und war fast ebenso schnell verschwunden wie der Prinz.

Lucian und Gabriel traten vor und sahen die anderen Krieger an. »Geht mit Ehre! Wir treffen uns wieder, wenn der Prinz uns ruft.«

Nicolas wartete nicht, bis Natalya oder Vikirnoff ihn mit Fragen nach Lara bedrängen konnten, sondern nahm augenblicklich die Gestalt einer Eule an und machte sich auf den Weg nach Hause – und zu Lara.