8. Kapitel
Nicolas fror. Es war kalt. Zum ersten Mal in seinem Leben war es ihm unmöglich, seine Körpertemperatur zu regulieren, egal wie oft er es versuchte. Die Kälte war lähmend – und da war so viel Angst, die ihn wie in gigantischen Wellen überflutete. Angst war kein Gefühl, mit dem er vertraut war, und diese Wellen waren so überwältigend, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht brachten, ihm den Magen umdrehten und sein Herz wie wild zum Schlagen brachten. Er fragte sich nicht einmal, wieso, weil er ja eigentlich keines haben – oder hören – dürfte, solange er außerhalb seines Körpers war, sondern akzeptierte einfach, was geschah, und eilte Lara weiter nach.
Er fand sie im Körper eines Kindes. Sie war so klein, und ihr Herzchen schlug so furchtbar aufgeregt. Panische Angst – ihre Angst – beschlich seinen Geist und erfüllte jeden Winkel, bis sie sich in seiner Seele festgesetzt hatte. Durch entsetzte Augen starrte er auf einen Mann, der an eine Wand aus Eis gekettet war. Eine junge Frau saß weinend neben ihm und versuchte, ihm den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.
Razvan, Laras Vater.
Nicolas rang nach Atem und versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was geschah. Razvan war nahezu völlig blutleer, schwach und kaum noch in der Lage, sich klar auszudrücken. Seine Stimme zitterte und war so leise, dass die Frau sich vorbeugen und ihr Ohr an seine Lippen halten musste, um ihn zu verstehen.
»Shauna, bring sie hier heraus, bevor es zu spät ist! Du musst sie gehen lassen.«
Laras Mutter schüttelte den Kopf. »Sie ist zu klein, Razvan, sie würde es allein nicht schaffen«, murmelte sie unter Tränen.
»Es ist besser, wenn sie stirbt, als ihn an sie heranzulassen.«
»Ich kann das nicht. Ich könnte es nicht ertragen, dich und sie zu verlieren. Es muss noch einen anderen Weg geben.«
»Ich brauche Blut, und du hast mir schon zu viel gegeben.«
»Sie hasst es, Blut zu spenden. Sie ist noch zu jung, um zu verstehen«, sagte Shauna abwehrend, nahm das kleine Mädchen mit den roten Locken dann aber doch auf ihren Schoß.
Statt sich getröstet zu fühlen, wurde Nicolas nun auch noch von Shaunas Ängsten überflutet. Da er selbst gerade in dem Körper des Kindes Lara lebte, wehrte er sich gegen die Arme, die ihn festhielten, und trat um sich, schlug und biss, als Shauna den Kinderarm nach dem Mann ausstreckte, der blass und schwer gezeichnet in den Ketten hing. Nicolas’ Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment explodieren. Er versuchte, sich wegzudrehen, um den Zähnen zu entgehen, die auf sein kleines, freigelegtes Handgelenk zukamen. Er war immer schnell und stark gewesen und hatte seine Fähigkeiten schon in sehr frühem Alter optimiert, als andere Jungen vom Gestaltwandeln nur hatten träumen können, aber jetzt lag es nicht einmal in seiner Macht, sich zu befreien. Er konnte nur abwarten und hilflos zusehen, wie diese scharfen Zähne immer näher kamen.
Sein Körper schreckte, angeekelt vor dem heißen Atem des Mannes, zurück. Dann hörte er ein Wimmern und spürte den verzweifelten Kampf von Laras Geist, sich zu befreien. Ihr kleiner Arm war schon mit Narben übersät. Dies war nicht das erste Mal, und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Es gab kein Entkommen vor diesen scharfen Zähnen, die ihre Haut zerfetzten, um an die winzigen Adern darunter heranzukommen.
Nicolas schob Lara hinter sich und schirmte sie ab, sodass sich die Zähne in sein eigenes Handgelenk bohrten. Der Schmerz, der ihn dabei durchzuckte, verschlug ihm den Atem und war wie ein Fausthieb in den Magen. Seine Sicht verdunkelte sich und verschwamm. Er konnte den Schmerz nicht minimieren, wie er es immer vermocht hatte, er musste sich davon durchfluten lassen und ihn akzeptieren, um nicht das Bewusstsein zu verlieren. Selbst als Kind hatte er schon den Schmerz bei den vielen Missgeschicken beherrschen können, die ihm passiert waren, wenn er sich zu nahe am Boden zurückverwandelt hatte oder in vollem Flug gegen einen Baum geprallt war. Doch obwohl er heute ein Mann und viel erfahrener war, war er so vollständig mit Laras Geist verschmolzen, dass er, als er diese frühen Jahre miterlebte, ebenso hilflos war, wie sie es gewesen war – und immer noch war. So inniglich mit ihr verbunden, war er kein Karpatianer mehr, der Schmerz beiseiteschieben konnte, sondern musste ihn durchleiden, so wie dieses kleine Kind es tat.
Er spürte jeden einzelnen Zahn, der ihm Haut, Gewebe und Muskeln aufriss, fühlte den Einstich in seine Vene und merkte, wie die Lebenskraft aus seinem Körper wich. Sein Geist schrumpfte, bis er sich so klein und verletzlich fühlte, dass es sogar den Rahmen seiner Vorstellungskraft sprengte. Nicht einmal in den schlimmsten Momenten seines Lebens war er sich so hilflos vorgekommen. Die Lippen, die das Blut aus seinem Körper saugten, fühlten sich räuberisch und gierig an. Seine Glieder wurden bleiern, sein Herz kämpfte, um einen Takt zu finden, und seine Lungen rangen nach Luft.
»Schluss! Hör auf, Razvan!«, schrie Shauna und stieß den saugenden Mund von dem kleinen Handgelenk weg. »Du bringst das Kind noch um.«
Razvan fuhr zurück. Tränen liefen ihm übers Gesicht. »Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid, Lara. Shauna, das wird jetzt zu gefährlich. Ich kann mich nicht mehr beherrschen. Ich werde wie er.«
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Shauna heftig. »Du bist nicht wie er. Du wirst nie so sein wie er.« Sie wiegte ihr kleines Mädchen in den Armen und versuchte, es zu beruhigen.
Razvan beugte sich vor und strich mit der Zunge über die Wunde, um sie zu verschließen. Nicolas wusste jedoch, dass mit dem heilenden Speichel irgendetwas nicht in Ordnung war und er das Fleisch weder betäuben noch vernünftig heilen konnte. Das war der Grund, warum das kleine Handgelenk mit Narben übersät war und sich für Lara jeder Biss so anfühlte, als würde sie mit Messern malträtiert!
»Beeil dich jetzt! Sie muss hier weg. Er wird jeden Moment kommen.«
Razvan rutschte ein wenig zur Seite, um ein Loch in dem Eis freizulegen. Wo es früher weiß oder bläulich gewesen war, war es jetzt rot mit rosa Kanten. Razvan hatte sein eigenes warmes Blut dazu benutzt, einen winzigen Tunnel in dem Eis unter ihm freizulegen.
Shauna zog das Kind leise schluchzend an sich und drückte es noch einmal fest. Dann stieß sie die Kleine abrupt in den engen Tunnel und gab ihr einen Stoß. »Geh! Schnell. Folg dem Wasser nach draußen!«
Das Eis drückte auf den schmalen Körper und zerkratzte seine zarte Haut. Nicolas spürte die Schürfwunden an Händen und Knien und die heißen Tränen im Gesicht, als er nach vorne rutschte. Sich umzudrehen war nicht möglich. Als er rückwärts kriechen wollte, statt in diesen engen, dunklen Gang mit dem starken Blutgeruch, wurde sein Körper nur noch fester eingeklemmt. Panik erfasste ihn. Nicolas versuchte, kleiner zu werden, um aus dem Tunnel herauszukommen. Das Eis lastete schwer auf seinem Rücken, und über ihm und überall um ihn herum ächzte es Unheil verkündend, weil der starke Druck die Wände ununterbrochen veränderte.
Außerdem bekamen seine Lungen nicht genügend Luft. Sein Kopf dröhnte schon vom Sauerstoffmangel, und er fürchtete zu ersticken. Er wusste, dass Lara ganz genauso reagierte wie er und konnte es nicht fassen, dass er außerstande war, ihr zu helfen. Er empfand überwältigende Zärtlichkeit für Lara, die Erwachsene, die als Kind derart gelitten hatte, und Wut und Enttäuschung über sich selbst und seine Unfähigkeit, sie vor dem erneuten Durchleben dieser Gräuel zu beschützen. Nicolas schlug gegen das Eis und versuchte, es mit purer Willenskraft zu brechen, um sie zu befreien, aber es gab kein Entkommen aus dem engen Raum. Er schlug sich nur die Fäuste blutig.
Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er Platzangst kennen. Er war hier unten gefangen, und es gab keinen Ausweg. Seine enorme Kraft bewirkte nichts. Kein Zauberspruch erlöste ihn. Er konnte keine Energie weben und sie benutzen. Egal wie sehr er sich bemühte, mit purer Kraft das Eis zu zerschlagen und auszubrechen, befand er sich doch in dem Körper eines dreijährigen Mädchens, das seine Macht und Fähigkeiten nicht besaß. Es war unmöglich, hier herauszukommen.
Laras Geist regte sich. So fest, wie sie miteinander verschmolzen waren, ließ sich fast nicht sagen, wo der eine begann und der andere aufhörte. Ihre Seelen waren inniglich miteinander verbunden. Geh!, flüsterte sie mit schwacher Stimme. Du brauchst das hier nicht mitzumachen. Ich habe es schon einmal überlebt und werde es auch diesmal überleben.
Nicolas war nicht sicher, dass das stimmte. Sie war kaum noch am Leben, und außerdem kam es für ihn ohnehin nicht infrage, seine Gefährtin im Stich zu lassen, damit sie noch einmal durchlebte, was auch immer sie durchleben musste, um zu ihm zurückzukommen. Er hatte sie in die Vergangenheit zurückgestoßen, und jetzt würde er sie mit allem abschirmen, was er in sich hatte, um sie wenigstens vor den schlimmsten ihrer Erinnerungen zu bewahren. Egal was es erforderte, er würde sich in allem vor sie stellen. Rest, o jelä sielamak. Licht meiner Seele, ich werde dich nicht hier zurücklassen. Die Zärtlichkeit in seiner Stimme überraschte ihn ebenso sehr wie das Gefühl in seinem Herzen.
Etwas Scharfes bohrte sich in seinen Knöchel, so tief, dass er es bis in den Knochen spürte. Sein Körper wurde plötzlich zurückgezerrt. Eis riss ihm die Haut von Schultern, Armen und Hüften. Er versuchte, nach hinten auszutreten, um abzuschütteln, was immer ihm den Knöchel durchbohrt hatte, doch das Einzige, was er damit erreichte, war schier unerträglicher Schmerz. Sein Körper wurde so schnell durch den Tunnel zurückgeschleift, dass Nicolas kein Stückchen heiler Haut mehr an sich zu haben glaubte, als er in das Eiszimmer hinaufgezerrt wurde.
Oben fiel er auf den hart gefrorenen Boden, und Grauen packte ihn, als er die scheußlichste aller Kreaturen sah – Xavier. Shauna lag auf dem Boden und blutete aus Mund und Nase. Auf ihrer Haut bildeten sich bereits blaue Flecken. Sie streckte die Hände nach ihrem kleinen Mädchen aus, aber Xavier stieß die Frau mit einem Tritt beiseite und riss Lara – und mit ihr Nicolas – an ihren roten Locken hoch. Achtlos warf er das Kind gegen die Höhlenwand und zerschlug den kleinen Körper skrupellos.
Xavier war eine Masse aus sich zersetzendem Fleisch, verfaulten schwarzen Zähnen und mitleidlosen silbrigen Augen. Voller Entsetzen beobachtete Nicolas, wie der abscheuliche Dämon nun die Frau wiederholt in die Rippen trat, bis sie zerbrachen, und dann mit ihrem Gesicht und ihren Beinen weitermachte, bis auch dort die Knochen brachen.
Razvan warf sich so heftig in die Ketten, dass sie ihm in die Haut schnitten und das Blut aus seinen Wunden auf das Eis hinuntertropfte. Ein heiserer, hoffnungsloser Schrei entrang sich seinen Lippen, und blutrote Tränen liefen ihm über die eingefallenen Wangen. »Ich war das! Rühr sie nicht an. Ich werde alles tun, was du verlangst. Bitte ...« Weinend ließ er sich zurückfallen und schlug mit den Fäusten auf das Eis, bis auch sie ganz blutig waren.
Xavier ignorierte ihn und fuhr fort, Shaunas Körper mit Fußtritten zu traktieren. »Sieh dir an, wozu du mich gebracht hast!«, brüllte er Lara dabei an. »Sieh sie dir an, deine Mutter, wie sie deine Strafe auf sich nimmt, obwohl du es bist, die diese Behandlung verdient hätte. Es ist deine Schuld, dass sie so leiden muss.« Er griff nach dem Kind, schleifte es am Haar über den Boden und schleuderte es mit dem Gesicht nach unten neben seine Mutter. »Du stiehlst ihr den letzten Atem, du undankbares Balg. Wozu bist du schon zu gebrauchen, außer um mich mit Nahrung zu versorgen? Sieh nur, du hast deine eigene Mutter umgebracht!«
Er spuckte auf den Leichnam und griff in die Tasche seiner langen Tunika, aus der er ein Glas mit sich ringelnden und windenden weißen Parasiten hervorzog. »Meine kleinen Freunde werden mit Freuden ihren Dreck wegputzen, auch wenn es ein paar Tage dauern wird. Was für ein Festessen für sie!«, sagte er und leerte das Glas mit den Parasiten über Shaunas regungslosem Körper aus. Die widerlichen Schmarotzer schwärmten augenblicklich über Laras Mutter aus.
Mit einem irren, schadenfrohen Glitzern in den silbrigen Augen riss Xavier Lara hoch, ließ lachend eine Handschelle um ihr Handgelenk zuschnappen und befestigte sie an der Kette ihres Vaters, bevor er davonhumpelte.
Lara hatte fast keine Bewegungsfreiheit und war daher gezwungen, neben ihrer toten Mutter zu sitzen, während ihr Vater sich stöhnend hin und her warf und sie mitansehen mussten, wie die Parasiten über Shauna herfielen.
Es könnten Stunden oder Tage gewesen sein, in denen Nicolas so dasaß, traumatisiert von der Brutalität des ärgsten Feindes der Karpatianer. Er hatte geglaubt, das Böse gründlich kennengelernt zu haben in all den Jahrhunderten der Jagd auf die Vampire, doch das, was er hier sah, war noch viel, viel schlimmer. Xavier hatte die Frau seines Enkels vor dessen Augen und denen ihres Kindes ermordet. Und nun zwang er sie auch noch, die langsame Vernichtung ihres Körpers durch die räuberischen Parasiten mitzuerleben. Kein Wunder, dass Lara Flashbacks hatte, wenn sie das Gewürm in Verbindung mit Gregoris ungewöhnlicher Augenfarbe sah! Und Nicolas konnte jetzt auch verstehen, dass ihre Tanten und ihr Vater Laras Erinnerungen so tief in ihr vergraben hatten.
Wir sind bei dir, Lara, flüsterte eine leise Stimme. Hab keine Angst, wir sind ganz nah. Sieh nicht zu dem Körper auf dem Boden hin! Der gehört nicht länger deiner Mutter. Sie ist an einen sicheren Ort gegangen, wo das Monster sie nicht erreichen kann.
Nicolas konzentrierte sich auf die Stimmen, die ermutigende Worte flüsterten, Geschichten erzählten und einem kleinen Mädchen zu helfen versuchten, das Ungeheuerliche zu ertragen. Ohne ihre Großtanten hätte Lara entweder aufgegeben oder den Verstand verloren. Er merkte, wie er sich an ihre Stimmen klammerte und sich von dem sanften Zwang in ihnen beruhigen ließ, als auch schon die nächste Etappe von Laras Kindheit begann.
Die Phase der Angst kam immer zuerst, erkannte er. Ihr Geist wandelte auf den Wegen ihrer Kindheit und arbeitete sich langsam aus ihrer Vergangenheit zur Oberfläche – und zu ihm – vor. Sie schaffte es, ein paar Jahre voranzukommen, bevor sie sich wieder in dem Netz des Schreckens verfing, das sie in ihren Erinnerungen gefangen hielt.
Mit sechs war sie klein und dünn, unterernährt und fast immer allein. Sie hatte eine winzige Kammer, in der sie, nur mit einer dünnen Decke und ihrer zunehmenden Fähigkeit, ihre Temperatur zu regulieren, direkt auf dem Eis schlief. Aber es war schwierig für sie, die Wärme festzuhalten, und ihr ständiges Frösteln verhinderte, dass sie an Gewicht zunahm. Die Tanten waren ihr einziger Halt, sie redeten Tag und Nacht mit ihr, erzählten ihr von weit entfernten Orten und brachten ihr so viel bei, wie ein Kind verstehen kann. Sie pflanzten ihr Lektionen und Richtlinien für spätere Zeiten ein, wenn sie älter sein und sich des Wissens würde bedienen können, um mehr Gebrauch von ihrer Macht zu machen.
Nicolas erfuhr, dass die Tanten ebenso regelmäßig ausgeblutet wurden wie Razvan, ja, oft sogar gefroren und in Eisblöcken gehalten wurden, sodass sie beim Auftauen grausam litten, und dass Lara ihre Qualen ebenso mitbekam wie die ihres gepeinigten Vaters. Es waren nur ihre Stimmen, die sie davor bewahrten durchzudrehen.
Nicolas bewegte sich mit ihr auf die Oberfläche zu, hielt ihren Geist umfangen und hauchte ihm Wärme ein, um den Anschluss zu ihr wiederherzustellen. Er brauchte ihr Vertrauen ... und hatte es auf die schlimmstmögliche Weise selbst zerstört. Das war ihm mittlerweile klar geworden, und er verstand jetzt auch, wie es war, sich klein und hilflos vorzukommen – und völlig hoffnungslos. Er verstand voll und ganz, warum sie den einzigen Ausweg, der ihr offenstand, gewählt hatte, und dass er die Schuld daran trug, dass sie sich nun schon wieder furchtbar hilflos fühlte.
Als eine neue Welle der Furcht sie überschwemmte und wie eine Flutwelle über ihr zusammenschlug, wusste er, dass sie wieder in einem bedeutsamen Moment ihres Lebens gefangen war. Sie merkte es sofort, als er wieder vor ihren Geist trat, sie mit seinem Schutz umgab und die Wellen der Angst mit seinem eigenen Geist abfing.
Tu das nicht! Geh nur, verschwinde von hier, solange es noch möglich ist! Wir werden diesen Ort vielleicht nie wieder verlassen können.
Ich gehe nicht ohne dich, Lara. Es waren meine Sünde, mein Versagen, die dich wieder hierher gebracht haben. Ich lasse dich nicht hier zurück. Wenn wir bleiben, bleiben wir zusammen.
Und das war nicht nur so dahingesagt. Er umarmte den Körper dieses Kindes, als es mit untergezogenen Beinen auf dem Boden saß und das Bild eines Drachen auf die Eiswand zeichnete. Ein erstaunlich detailliertes Bild für ein so kleines Mädchen. Ihre kleinen Finger umklammerten den schmalen Griff einer Gabel und ritzten mit bemerkenswerter Sorgfalt Schuppen in den Körper des Drachen und in seinen langen Schwanz. Ganz und gar in ihre Kunst vertieft, ließ Lara sich viel Zeit mit ihrem Werk und summte dabei vor sich hin.
Ein leises Geräusch riss sie aus ihrer Konzentration. Lara versteifte sich und ließ langsam die Hand von der Zeichnung sinken, während sie einen angstvollen Blick über ihre Schulter warf. Razvans breite Schultern füllten den Eingang zu der kleinen Kammer aus. Seine Augen waren dunkel vor Kummer, sein Gesicht ganz grau vor Qual. In einem Moment sah er wie ein attraktiver Mann aus, der zu viel Schmerz gesehen hatte, im nächsten krümmte sich sein Körper wie unter einer schrecklichen Belastung. Sein Gesicht verzerrte sich, und seine Augen verdrehten sich, als kämpfte er gegen einen unsichtbaren Feind an.
»Lauf, Lara! Lauf weg, Kind! Verschwinde! Er ist in mir, er hat meinen Körper in Besitz genommen, und ich kann ihn nicht hinauswerfen. Geh!«
Doch noch während er sie warnte, veränderte sich seine Stimme und wechselte von Besorgnis zu meckerndem Gelächter. Und obwohl es Razvan zu sein schien, der in der Tür stand, roch Lara Xavier, den verrottenden Kadaver eines Mannes, der sich weigerte zu sterben. Nicolas spürte ihre Anspannung, das wilde Pochen ihres Herzens und die Angst und das Entsetzen, die von ihr Besitz ergriffen. Auf allen vieren wich sie zurück und kauerte sich zitternd an die Wand.
»Was ist das?«, fragte Xavier/Razvan, als er vor ihrer Zeichnung stehen blieb.
Lara schwieg, aber ihre kindlichen Züge waren von Furcht geprägt, als sie die Hände hinter dem Rücken versteckte. Nicolas schob sie hinter sich – gerade rechtzeitig, denn Xavier fuhr herum und versetzte ihm einen derart harten Schlag, dass er durch den Raum geschleudert wurde.
»Antworte!«, zischte Xavier/Razvan missmutig.
Lara/Nicolas rappelte sich auf. »Mein bester Freund.«
Razvans Gesicht verzerrte sich, als setzte er sich wieder gegen Xavier zur Wehr. Er zitterte am ganzen Körper, und eine einzelne blutrote Träne lief über sein Gesicht. Für einen Moment streckte er die Hand aus, aber dann krümmten sich seine Finger abrupt zur Faust, und er fauchte höhnisch: »Freund? Denkst du etwa, diese Drachen wären deine Freunde? Warum sollte ein solch mächtiges Wesen sich mit jemandem wie dir anfreunden? Du bist doch überhaupt nichts wert, du jämmerliche kleine Kreatur.«
Wieder gackerte er böse los, und Nicolas lief es kalt über den Rücken, denn dieses meckernde Gelächter war jetzt ganz und gar Xaviers. Und wieder verspürte Nicolas diese ohnmächtige Hilflosigkeit, weil er wusste, dass er diesen Mann nicht aufhalten konnte. Er war ein sechsjähriges Kind – oder befand sich doch im Körper dieses Kindes -, blutarm und zerbrechlich, allein und ohne Hoffnung auf Entkommen. Und dann sah er plötzlich den Drachen aus der Wand hervorkommen, zunächst nur mit einem Fuß, den er dehnte und streckte, bis die scharfen Krallen sich gefährlich krümmten, und dann mit dem Kopf. Seine Augen blinzelten einen Moment lang, bevor ein rotes Glühen darin erschien. Der mächtige Schwanz peitschte gegen das Eis an der Wand, und dann brach der Drache ganz daraus hervor und landete nicht weit von Lara entfernt auf dem Boden.
Nicolas schob sie noch weiter hinter sich und umfing beschützend ihren Geist mit seinem, als er spürte, wie sie in banger Erwartung zusammenzuckte. Es würde schlimm werden, was jetzt kam. Er wusste, dass dies nicht nur physische, sondern auch psychologische Kriegsführung war, ein grausamer Versuch Xaviers, alle Hoffnungen der Kleinen zu zerstören, indem er einen erfundenen Kindheitsfreund, der die Gestalt ihrer geliebten Tanten annahm, gegen sie benutzte. Oder indem er in den Körper ihres Vaters eindrang, sodass der ihr den größtmöglichen Schaden zufügte, ihr Vertrauen missbrauchte und dafür sorgte, dass ihr gar nichts mehr blieb, was ihr noch ein Halt sein könnte. Und Nicolas vermochte sich nicht einmal vorzustellen, wie Razvan litt, dem zumindest in einem Teil seines Bewusstseins klar zu sein schien, dass sein Körper dazu benutzt wurde, sein Kind zu quälen.
Der Drache wiegte den Kopf vor und zurück, verdrehte die Augen und konzentrierte sich dann auf das Kind. Zischend und fauchend sprang er Lara/Nicolas an, und als sie im letzten Augenblick herumfuhren, hinterließen die Krallen tiefe Furchen in Nicolas’ Rücken. Er ging zu Boden und rollte sich wie ein Fötus zusammen, als der Drache nach seinen Beinen schnappte und mit seinem stacheligen Schwanz ausholte.
Besessen wie er von Xavier war, lachte Laras Vater, trat nach Nicolas/Lara und ermunterte den Drachen, Feuer zu spucken, bis sie schrie und Nicolas mit ihr brüllte.
Wehr dich nicht! Lass ihn nehmen, was er von dir will!, rieten ihr zwei weibliche Stimmen einhellig, und Nicolas merkte sofort, dass Lara mit beiden Füßen auszutreten begonnen hatte, aber nicht zu dem Drachen, sondern zu ihrem Vater hin.
Der Drache wiederholte seinen Angriff in einem Anfall wahnsinniger Raserei von Zähnen und Krallen. Nicolas spürte, wie seine Haut in Fetzen gerissen wurde und Muskeln unter diesen scharfen Krallen zerrissen. Die Bisse waren schmerzhaft, aber nicht tief. Das Schlimmste waren die Feuerstöße, die über seinen Kopf hinwegzischten und seine empfindliche Haut versengten, auf der sich unverzüglich Blasen bildeten.
Plötzlich ungeduldig geworden, schwenkte Xavier/Razvan die Hand, worauf der Drache sich in Nichts auflöste. Dann bückte er sich und zerrte Lara/Nicolas auf die Beine, riss mit seinen Zähnen das kleine Handgelenk auf und hockte sich hin, um gierig das frische rote Blut in sich hineinzusaugen. Nicolas unterdrückte ein gequältes Aufstöhnen über das Brennen und Pochen in seinem Arm. Ihm drehte sich der Magen um, und wieder einmal wurde sein Sichtfeld an den Rändern ganz dunkel.
Doch Lara wehrte sich urplötzlich, holte weit mit ihrem Arm aus und stieß Razvan die geschärften Zinken ihrer kleinen Gabel in die Kehle. Xavier schrie auf, stieß sie von sich und presste seine Hand an seinen blutenden Hals. Lara fuhr mit der Zunge über ihr Handgelenk und wich langsam zurück.
Nicolas wollte sie an sich drücken, so gerührt war er. Trotz der Schmerzen und der absoluten Hoffnungslosigkeit ihrer Lage setzte Lara sich zur Wehr und ließ sich nicht von einem Monster ihres Mutes berauben.
Xavier bekam einen Tobsuchtsanfall. Speichel lief an seinem Kinn hinunter, als er Lara die Kleider vom Leibe riss und dann mit seinen Händen ein kompliziertes Muster in der Luft beschrieb. Wasser strömte von der Decke auf sie herab, sie wurde von den Füßen gerissen und in das Eis zurückgeschleudert. Die Mauer öffnete sich, um sie aufzunehmen, legte sich um ihren Rücken, ihren Po und ihre Beine und ließ ihre Haut am Eis festfrieren.
Erst dann beruhigte sich Xavier. In einiger Entfernung von ihr stellte er Wasser und Essen hin. »Wenn du essen oder trinken willst, wirst du dich von der Wand losreißen müssen. Wenn du es nicht tust, lasse ich dich dort verrotten und schicke meine kleinen Freunde herein, um deinen Kadaver aufzufressen.«
Nicolas sah, wie er hinausschlurfte und das Kind mit seinen unerträglichen Schmerzen, den blutüberströmten Beinen und dem schon halb am Eis festgefrorenen Rücken allein ließ. Er wollte weinen, etwas zerschlagen, Lara in die Arme nehmen, an sein Herz drücken und sie ihr Leben lang beschützen. Und vor allem wollte er Xavier töten.
Wieder verlor die Zeit für Nicolas ihre Bedeutung. Er trieb auf einem See aus Schmerz dahin, bis die Stimmen wiederkamen. Leise. Eindringlich. Ermutigend. Sie sprachen von Hoffnung und flüsterten liebevolle Worte. Stimmen, an denen er sich festhalten konnte, sanfte Stimmen, die ihn vor der völligen Verzweiflung retteten.
Und dann merkte er, dass er wieder einmal mit Laras Geist auf die Oberfläche zustrebte. Ihr Licht war ein bisschen heller, aber sie fühlte sich zerschlagen und mitgenommen – genau wie er. Er versuchte, sich zu beeilen, damit sie nicht noch ein weiteres Ereignis aus ihrer Vergangenheit durchleben musste. Ihm reichte es – er hatte genug gesehen und erlebt. Nie wieder wollte er sich derart hilflos und verletzlich fühlen. Er behütete Lara, umhüllte sie mit Trost und Wärme – und spürte ihr Zaudern, als die Chance zu fliehen näherrückte.
Lara fürchtete sich mehr vor ihm als vor ihrer Vergangenheit! Ihre Kindheit hatte sie bereits durchlebt und überlebt. Er war für sie der Teufel, den sie noch nicht kannte, und in ihrer Beziehung hatte er die ganze Macht.
Ich bin alles, wofür du mich hältst, aber ich kann lernen. Und ich werde lernen, Lara. Ich habe viele Fehler, päläfertiil, von denen der nicht geringste Arroganz ist, aber ich scheue mich nicht, meine Fehler zuzugeben. Komm mit mir, Lara! Komm zurück zu mir und gib mir eine zweite Chance!
Er hatte akzeptiert, dass sie in seiner Obhut war – von dem Moment an, als er zum ersten Mal ihre Stimme gehört und gewusst hatte, dass sie ihn gerettet hatte. Er hatte beschlossen, für sie zu tun, was er konnte, und für die Befriedigung all ihrer Bedürfnisse zu sorgen. Er hatte nicht erwartet, bei ihr auf Widerstand oder Misstrauen zu stoßen, im Grunde war es ihm jedoch egal gewesen; sein Herz war nicht beteiligt gewesen, und er war einfach ohne den kleinsten Zweifel davon ausgegangen, dass er alles so haben konnte, wie er wollte. Er hatte es sogar für sein gutes Recht gehalten. Irgendwo in dieser letzten Nacht war ihm jedoch klar geworden, dass die Dinge sich geändert hatten. Der Stein in seiner Brust begann allmählich, im gleichen Rhythmus wie ihr Herz zu schlagen, und er merkte, dass er fürsorglicher wurde und immer mehr Zärtlichkeit für Lara empfand.
Irgendetwas packte sie, entriss ihm wieder ihren Geist und hielt den Genesungsprozess auf. Nun machte Nicolas sich Sorgen, dass er sie zu spät gefunden und sie sich schon zu weit zurückgezogen hatte oder dass sie tatsächlich ihren Verstand geopfert hatte, um dem Wahnsinn zu entkommen, der sie umgab. Er eilte ihr nach und folgte ihr zu dem Netz, in dem ihr Geist sich in Erinnerungssträngen verheddert hatte, die sich rasend schnell um sie woben, um sie wieder einmal gefangen zu nehmen und ein Entkommen zu verhindern.
Jetzt war sie etwa ein Jahr älter, ihr Haar war heller in dem flackernden Kerzenlicht. Er konnte die ersten Anzeichen des Drachensucher-Erbes in ihrer Haarfarbe sehen, den kupferfarbenen Schimmer in den helleren roten Strähnen. Ihre Augen waren abwechselnd seegrün oder strahlend blau. Sie stand an einer Seite des großen Raumes mit der kathedralenähnlichen Decke, verbarg sich hinter einer Säule und machte sich ganz klein, weil sie wohl nicht von Xavier und Razvan gesehen werden wollte, die einander gegenüberstanden.
Lara, flüsterten die schon vertrauten weiblichen Stimmen. Xavier darf nie erfahren, dass du weißt, was er deinem Vater antut. Er würde dich umbringen. Du kannst es auch deinem Vater nicht sagen, nicht einmal, um sein Gewissen zu erleichtern, denn wenn Xavier seinen Körper in Besitz nimmt oder Razvan anderswie von ihm beherrscht wird, wird er all eure Geheimnisse verraten.
Ich weiß, dass mein Vater mir nichts Böses will, und wenn ich es ihm sage, wird er vielleicht sogar noch härter kämpfen. Hoffnung – und auch ein bisschen Trotz -schwangen in der kindlichen Stimme mit.
Er wird dich verraten. Nicht, weil er es will, sondern weil er gar nicht anders kann, Lara!
Ihr seid viel länger Gefangene gewesen. Lara war verärgert und glaubte ihnen nicht. Und euch kann Xavier nicht beherrschen.
Razvan ist gefoltert worden, Lara, und Xavier hat mit ihm herumexperimentiert, immer und immer wieder. Dein Vater ist mit seiner Gesundheit und Kraft am Ende. Xavier kann sich die Macht eures Blutes noch immer nicht erklären. Sobald er es tut, wird es keine Chance mehr geben zu entkommen.
Nicolas spürte den Hang zum Eigensinn in Lara. Sie antwortete ihren Tanten nicht, weil sie sie nicht mit einer glatten Lüge täuschen wollte, aber dennoch fest entschlossen war, zu ihrem Vater zu gehen und ihr Wissen mit ihm zu teilen.
Als spürten die Tanten Laras grimmige Entschlossenheit, versuchten sie es noch einmal und sprachen in perfektem Einklang mit sanften, melodiösen Stimmen auf sie ein. Nicolas erkannte die Fäden eines mit der Stimmlage verwobenen Zwanges. Beide Frauen waren schwach, und die Suggestion würde bei einem stärkeren Geist nicht wirken, aber auch Lara war nicht gesund, und ihr Geist war nahezu gebrochen worden.
Lara, du darfst deinem Vater keine Informationen geben, die Xavier ja doch nur gegen ihn verwenden würde. Razvan würde nicht wollen, dass du das tust. Er hat Xavier in all diesen langen Jahren standgehalten und sich gegen ihn gewehrt, weil sein Drachensucher-Blut so stark ist. Xavier weiß, dass es mit Razvan bald zu Ende gehen wird und er einen Ersatz für ihn finden muss. Wenn du deinem Vater ausgerechnet jetzt, da er am schwächsten ist, Informationen gibst, mit denen Xavier dir wehtun könnte, wird Razvan überzeugt sein, alle Ehre verloren zu haben.
Das Kind, das Lara war, kniff die Augen zusammen. Sie verstand nicht wirklich alles, was die Tanten ihr sagten. Aber sie hatte begriffen, dass sie ihren Vater nicht mit ihrem Wissen trösten konnte, dass Xavier sich entweder seinen Körper zu eigen machte oder ihn mit einer Kombination aus Drogen und Magie dazu brachte, seine Befehle auszuführen.
Nicolas merkte, dass Lara ihm noch mehr entglitt und die überwältigende Verzweiflung, die sie beherrschte, noch stärker war denn je. Mit einem wehmütigen Ausdruck starrte sie ihren Vater an. Nicolas wurde von dem starken Drang erfasst, sie in die Arme zu nehmen und sie an sich zu drücken, aber erstens hatte er keinen wirklichen Körper, und zweitens vertraute sie ihm noch immer nicht. Und jetzt verstand er auch, warum. Verstand ihr Bedürfnis nach Kontrolle und Freiheit. Und natürlich verstand er auch ihre starke Abneigung dagegen, sich von irgendjemandem ihr Blut nehmen zu lassen.
Razvan sah sehr geschwächt aus, sein einst so gut aussehendes Gesicht war entstellt von Qual und Leiden. Tiefe Falten durchzogen es, und die Ketten um seine Arme und Beine hatten bleibende Brandnarben von dem Vampirblut hinterlassen, mit denen sie besudelt waren. Kraftlos lehnte er sich an eine Säule, ohne auch nur zu versuchen, von Xavier wegzukommen, der eine kleine Phiole aus der Tasche seines Gewandes zog. Nicolas spürte, wie Lara sich versteifte, wie ihr kleiner Geist zurückwich.
Interessiert trat er vor sie, um sie abzuschirmen gegen das Schreckliche, das sie erwartete. Xavier experimentierte offensichtlich mit Razvan, und Nicolas erhielt nicht nur die verschiedensten wichtigen Informationen über seine Seelengefährtin, sondern erfuhr auch Dinge, die den Karpatianern nützlich sein würden. Nicolas wünschte jetzt, er könnte Dominic daran hindern, seine Pläne weiterzuverfolgen. Wenn Xavier sich veranlasst gesehen hatte, mit Razvan herumzuexperimentieren, weil dieser Drachensucher-Blut in seinen Adern hatte, wäre Dominic zweifellos ein wertvoller Gewinn für Xavier. Die meisten Experimente drehten sich offenbar darum, die Kontrolle über die Karpatianer zu erlangen oder einen Weg zu finden, sie gefangen zu nehmen, aber am Leben zu erhalten.
Ihres Blutes wegen, flüsterte Laras Stimme ihm zu, aber es war die der erwachsenen Frau und nicht die des Kindes. Er will euer Blut auf die gleiche Weise, wie ihr es von euren Quellen wollt. Er wird euch gefangen halten und euch leer saugen. Ihr wärt nichts als eine Nahrungsquelle für ihn.
Nicolas’ Stimme war von tiefer Zärtlichkeit geprägt, als sein Herz das ihre zu erreichen suchte. Lara. Ich will dich nicht deines Blutes wegen. Komm zu mir zurück! Bin ich wirklich schlimmer als diese Hölle in deiner Vergangenheit?
Für einen Moment glaubte er, diese erste Schlacht gewonnen zu haben, aber dann bewegte sich Xavier, und das Kind war wieder da und erschauderte genauso heftig wie sein Vater. Die kleine Lara versteckte sich wieder hinter der Säule, als Xavier, die Phiole in den knotigen Fingern, über den Boden der Eishöhle zu ihrem Vater hinüberhumpelte.
»Du hättest mir geben sollen, was ich haben wollte. Mir deine Schwester zu überlassen, war wirklich nicht zu viel verlangt im Austausch gegen dein Leben und das deiner Kinder.« Der alte Mann schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Und so viele Kinder! Du hast deine arme tote Frau betrogen. All diese reizvollen jungen Frauen, die willens waren, mit dir das Bett zu teilen und dir Kinder zu schenken, damit du ihnen das Leben aussaugen konntest.«
Razvan machte eine ärgerliche Bewegung. »Du hast ihnen das Leben ausgesaugt und mich gezwungen, meine Frau zu hintergehen. Sie kannte die Wahrheit und wusste, dass du meinen Körper benutztest. Lass mich sterben, alter Mann! Ich habe dir schon viel zu lange gedient und kann dir nicht mehr nützlich sein.«
Lara zuckte zusammen und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre rotgoldenen Locken in alle Richtungen flogen. Verlass mich nicht, Vater! Das könnte ich nicht ertragen.
Dir zuliebe wird er am Leben bleiben, Kind, flüsterten die Tanten beruhigend. Du bist der einzige Grund für ihn weiterzuleben.
Nicolas empfand den Klang der beiden sanften Frauenstimmen als sehr beruhigend. Ohne sie hätte Lara – und höchstwahrscheinlich auch ihr Vater – schon vor Jahren den Verstand verloren. Die beiden gefangenen Frauen hielten die Hoffnung wach. Wie konnten sie das, da beide doch selbst schon von Kindesbeinen an Gefangene gewesen waren und Xaviers Blutdurst hatten stillen müssen? Das Drachensucher-Blut in ihnen musste sehr, sehr stark sein.
Razvan hob den Kopf, sein Blick glitt durch den Raum und suchte das Kind, von dem er annahm, dass es die Konfrontation zwischen ihm und ihrem Großvater mitansah. Lara erstarrte und presste sich an die Säule, so fest sie konnte, um nicht entdeckt zu werden.
Xavier stieß mit einem lang gezogenen Zischen den Atem aus. »Ich glaube, wir können immer noch ein paar Kinder aus dir herausholen, bevor ich mit dir fertig bin. Dank dir können meine Armeen sich jetzt untereinander erkennen und sogar ihre Existenz vor diesen dummen Karpatianern verbergen. Und ich kann selbst den stärksten Gefangenen festhalten und mich von dem Blut des mächtigsten Unsterblichen ernähren, was ich dir auch zu verdanken habe. Warum sollte ich ein solch nützliches Werkzeug so überstürzt loswerden wollen? Du magst zwar nicht das reine Blut haben, das ich selbst benötige, aber du gibst es immerhin an deine Kinder weiter.«
Aus vergangenen Jahrhunderten erinnerte sich Nicolas, dass Xavier immer gern im Vordergrund gestanden hatte. Er hatte sich für brillant und mächtig gehalten und hatte stets gewollt, dass jeder in seinem Umkreis das auch wusste. Nicolas hatte ihn schon immer für ausgesprochen egoman gehalten. Xavier prahlte gern und schien überzeugt davon zu sein, dass die Welt ihm Ergebenheit und Respekt schuldete. Er glaubte, das Recht auf jede Frau zu haben, die sein Interesse weckte. Lange bevor Rhiannon verschwand, hatten viele junge Magierinnen ihr Leben der Erfüllung seiner Wünsche und Bedürfnisse gewidmet. Sehr oft hatte Xavier die karpatianischen Männer mit Geschichten über sein erotisches Geschick und seine Eroberungen unterhalten, aber nie gemerkt, wie wenig Respekt sie ihm entgegenbrachten, weil er keine Achtung vor den Frauen hatte.
Nun, da er sich seit Jahrhunderten verbergen musste, hatte Xavier außer seinen Gefangenen niemanden mehr, vor dem er große Reden schwingen konnte, und es war nur allzu offensichtlich, dass er Razvans Qual genoss. Nicolas war sicher, dass Xavier Razvan hasste, weil dessen Drachensucher-Blut so stark war. Xavier war Magier, wollte unsterblich sein und von anderen gefürchtet und bewundert werden, und er fühlte sich den Karpatianern deutlich überlegen. Razvan kam einem Karpatianer zu nahe, was seine ungebrochene Kraft und seinen Ehrenkodex anging. Er hatte seine Schwester beschützt und verzweifelt versucht, auch seine Kinder zu beschützen, während er unentwegt gefoltert und zu Experimenten benutzt wurde. Ja, Xavier musste Razvan hassen, weil er ihn nicht hatte brechen können, und diese fortwährende Missachtung würde seinen Enkel teuer zu stehen kommen.
»Du hättest fliehen können, als du vor so vielen Jahren freikamst«, erinnerte Xavier ihn, »aber du bist zu mir zurückgekrochen wie ein Hund zu seinem Herrn.«
Razvan schüttelte den Kopf. »Wie immer schaffst du es, die Geschichte zu verändern, wie es dir gerade passt. Soweit ich mich erinnere, bin ich dir nach Nordamerika gefolgt, weil du ein Kind entführen und es hierher bringen wolltest. Aber das ist dir zum Glück ja nicht gelungen, was?«
Xavier brach in ein irres, blindwütiges Toben aus und begann, mit einer dünnen Peitsche auf Razvan einzuschlagen, immer wieder, bis Laras Vater schlaff in seinen Ketten hing.
Ohnmächtige Wut erfasste Nicolas. Er ertrug es nicht, Razvan so hilflos und gequält zu sehen, ausgepeitscht von einem Monster, nur weil er versucht hatte, ein Kind zu retten. Nicolas zitterte, so stark war sein Bedürfnis, einzugreifen und zurückzuschlagen, aber unter den gegenwärtigen Umständen konnte er seine eigene Macht nicht einsetzen und hasste sich dafür, dass er nicht in der Lage war, Razvan zu retten. Diese Emotionen waren so stark, dass er einen Moment brauchte, um zu erkennen, dass der leidenschaftliche Drang des Kindes, seinem Vater beizustehen, nicht minder stark war als der seine.
Die kleine Lara sprang hinter den Säulen hervor und rannte über das Eis auf Xavier zu. Nicolas blieb kaum Zeit, sich vor sie zu werfen, als sie den Magier mit aller Kraft in die Kniekehle trat. Der alte Mann geriet ins Taumeln und brach aufheulend auf dem harten Eisboden zusammen. Lara versuchte, ihrem Vater die Ketten abzunehmen, wobei sich das ätzende Vampirblut durch ihre Fingerspitzen brannte. Nicolas empfand den scharfen Schmerz, der ihm jäh den Atem raubte, wie ein Messer, das sich bis in seine Knochen bohrte. Lara fuhr zu Xavier herum, der sich aufzurappeln versuchte, hockte sich vor ihn hin und klopfte die Taschen seiner langen Tunika nach dem Schlüssel zu den Ketten ab.
Xavier versetzte ihr jedoch einen brutalen Schlag, der sie regelrecht durchs Zimmer schleuderte. Nicolas konnte spüren, wie das Drachensucher-Blut in ihr hochkochte und ihren Körper in seinen katzenhaft geschmeidigen Bewegungen unterstützte. Ihr selbst war anscheinend nicht einmal bewusst, wie geschickt sie auf den Füßen landete, ein siebenjähriges, untrainiertes Kind, das sich jedoch schon mit unglaublicher körperlicher Behändigkeit bewegte. Sie stürzte sich von Neuem auf den alten Mann.
Diesmal war Xavier jedoch schon darauf vorbereitet. Er riss sie nieder und schlug mit seiner Peitsche auf sie ein. Die Schläge hinterließen hässliche rote Striemen auf ihrem Körper. Sie rollte sich zusammen und schützte mit den Händen ihren Kopf, als Xavier immer weiter auf sie einpeitschte.
»Du willst ihn befreien? Bist du sicher, Mädchen? Denn er wird dein Blut riechen und dich beschnüffeln wie ein hungriger Hund. Und dann wird er dich in Stücke reißen, weil er seit Tagen schon kein Blut bekommen hat.« Mit diesen Worten trat und stieß der Alte sie auf ihren Vater zu.
Razvan warf sich in die Ketten, schrie Xavier Drohungen zu und beschwor Lara wegzulaufen. Nicolas konnte sich nicht erheben. Der Schmerz der Peitschenhiebe, die Verbrennungen und wahrscheinlich auch die eine oder andere gebrochene Rippe waren zu viel für den kleinen Körper, den sie momentan bewohnten. Er konnte nur hilflos daliegen und Laras Geist so gut wie möglich abschirmen, als Xavier eine Nadel in Razvans Nacken stach und ihm eine gelbliche Flüssigkeit injizierte.
Dann trat der Magier von seinem Enkelsohn zurück, um alles Weitere mit schadenfrohen Blicken zu verfolgen. »Sie will, dass du frei bist, Razvan, und ich gewähre ihr den Wunsch.«
Tatijana! Branislava! Ihr müsst ihr helfen. Bitte bringt sie weg von mir! Blockiert ihren Geist und auch den meinen! Ich könnte es nicht ertragen, ihr schon wieder wehzutun. Das ist zu viel, sogar für mich.
Nicolas hörte Razvans lautlose Bitte in seinem Geist und spürte, wie Laras kleiner Körper sich aufzurappeln versuchte. Er konnte sehen, wie sich Razvans Gesicht verzerrte und wie Xavier mit einem hämischen Grinsen von ihm zurücktrat. Dann begannen Razvans Augen rot zu glühen, und seine Zähne verlängerten sich.
Die Angst hatte Nicolas so fest im Griff, dass sie ihn schier von innen heraus zu verzehren drohte. Mit Lara kämpfte er sich auf und versuchte, seine Finger in das Eis zu bohren, um voranzukommen, rutschte jedoch nur aus. Razvan hob witternd wie ein Hund den Kopf – und roch das Blut, wie Xavier es schon vorausgesagt hatte. Langsam wandte Razvan den Kopf, bis sich sein irrer Blick auf Lara richtete.
Sie wimmerte vor Angst und versuchte wegzukriechen, aber er sprang sie knurrend an und leckte das Blut von den Peitschenstriemen von ihrer Haut. Sie wehrte sich und versuchte, ihn fortzustoßen, doch er zerrte ihren Arm zu sich heran und schlug seine scharfen Zähne in ihr Handgelenk. Lara schrie und schrie, als könnte sie nicht mehr damit aufhören.
Nicolas spürte den schmerzhaften Biss, das Zerreißen von Muskeln und Gewebe, den Stich in seiner Vene. Es brannte. Viel schlimmer noch als die körperlichen Qualen war jedoch das Wissen, wie entsetzlich hilflos er in dieser Lage war. Egal, wie sehr er sich auch wehrte oder um sich schlug, es war unmöglich, diesen Zähnen zu entkommen, die ihm das Fleisch zerfetzten und das Blut aussaugten.
Mit jedem Moment wurde er schwächer, bis er das Gefühl hatte, nicht einmal mehr die Arme heben zu können, um seinen unvermeidlichen Tod vielleicht doch noch abzuwenden. Fast begrüßte er ihn sogar. Besser tot, als sich so hilflos fühlen zu müssen. Nicolas’ Herz verkrampfte sich vor Schreck. Das war das Gefühl, das er in Lara hatte entstehen lassen! In seiner Dummheit hatte er zugelassen, dass sie sich hoffnungslos und verzweifelt, schwach und verwundbar fühlte anstatt stark und geliebt. Das war die Sünde, die für immer auf seiner Seele lasten würde.
Xavier stieß Razvan weg und zog Laras Arm an seinen Mund. Der Schmerz, den die Zähne des Magiers verursachten, war noch schlimmer als der von Razvans. Aber Xaviers Enkel gab nicht auf, sondern krallte sich an Lara fest und knurrte böse, als die beiden Männer handgreiflich wurden und wie Hunde um einen Knochen kämpften. Lara weinte leise, bis ihr Körper sogar dazu schon zu schwach war. Keuchend und nach Atem ringend, lag sie da, als Xavier Razvan mithilfe von Magie unter Kontrolle brachte, ihn in einem Energiefeld einschloss und ihn zu seinen Ketten zurückführte.
Das Gesicht des alten Mannes war eine Maske des Zorns, als er danach zu dem Kind herumfuhr, das geschwächt am Boden lag. »Du wagst es, mich anzufassen? Mich zu treten? Ich gebe dir zu essen, ja schenke dir sogar das Leben, du undankbares kleines Ding«, fauchte er, als er Lara an den langen rotgoldenen Locken packte, die ihr Gesicht umrahmten, und sie auf die Beine zog.
Energie begann zu knistern, und Lichter blitzten um seine ausgestreckte Hand auf. Eine spitze, scharf aussehende Schere erschien darauf. Ohne jede Vorwarnung begann Xavier nun, Lara eine dicke Strähne nach der anderen abzuschneiden, sodass sich große Ballen seidigen Haares auf dem Eis zu seinen Füßen türmten. Lara schrie und zappelte und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. Aber Xavier packte ihr Haar nur noch fester und schnitt weiter, wobei er beinahe heiter vor sich hin summte.
Entsetzt stieß Nicolas Lara beiseite, weil er wusste, dass Xavier sie mit voller Absicht demütigte, indem er ihr das Haar so dicht wie möglich an der Kopfhaut abschnitt. Aber dagegen konnte Nicolas etwas tun. Lange Strähnen seines schwarzen Haares begannen, auf Laras kupferfarbene Locken herabzuregnen, bis es jede Spur des seidigen Rots verdeckte.
Karpatianer hatten langes, schnell wachsendes Haar, das fast so dicht wie ein Tierfell war, und nur wenige schnitten je ihr Haar. Langes Haar war eine geheiligte Tradition in ihrer Kultur, und besonders die Ältesten ihrer Gemeinde hatten eine Abneigung gegen kurz geschorene Köpfe. Nicolas bildete da keine Ausnahme, und deshalb drehte sich ihm fast der Magen um, als sein glänzendes schwarzes Haar in dicken Büscheln auf den Boden fiel,
Etwas regte sich in Laras Geist. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie war seine Seelengefährtin, und so wie ihr Kummer Nicolas belastete, belastete der seine sie. Sie drang noch tiefer in sein Bewusstsein ein und gab ihm die Erlaubnis, sie von ihren Kindheitserinnerungen fortzuziehen. Nicolas zögerte keine Sekunde lang, denn ihre unerwartete Kapitulation war ein Geschenk für ihn. Schnell umfing er ihren Geist mit seinem und versetzte sie in die Gegenwart zurück. Er konnte jetzt voll und ganz verstehen, warum ihre Tanten und ihr Vater ihre Erinnerungen blockiert hatten. Nicolas hatte sie selbst mit ihr durchlebt und war noch immer zutiefst erschüttert und ganz krank davon.
Er hielt Lara in den Armen und blickte auf ihr Gesicht herab, atmete für sie beide und rief leise ihren Namen. »Komm zurück zu mir, o jelä sielamak. Licht meiner Seele, Lara, komm zu mir!«
Blinzelnd öffnete sie die Augen, die feucht von Tränen waren. Ihr Gesicht war eine Maske der Erschöpfung, ihre Lippen zitterten. Ihre Finger rutschten ab von seinem Arm, als sie sich an ihm festzuhalten versuchte. Lara hob die Hand und starrte sie, entsetzt über das Blut daran, mit großen Augen an.